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Impressum

Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg

Copyright für diese Ausgabe © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München

 

 

Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:

 

 

ISBN Printausgabe 978-3-499-42340-6

ISBN E-Book 978-3-688-11545-7

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-688-11545-7

Die Hauptpersonen

Markus («Mark») Ohle

hat eine Idee und kriegt dann kalte Füße.

Gisela Naumann

hat (u.a.) hübsche Knie und – zufällig – eine Information.

haben, zart ausgedrückt, romantische soziale Ideen und infolgedessen die Polizei auf dem Hals.

Holger Kornblum

hat eine Nase für die richtige Story und fällt trotzdem rein.

Kommissar Krabs

hat’s an der Bandscheibe – und den richtigen Riecher.

Der junge Mann, der da im Lichtkreis der Korblampe sitzt und nachdenklich auf die Tasten seiner Reiseschreibmaschine guckt, heißt Markus Ohle.

Er ist mittelgroß, was man jetzt nicht sehen kann, da er eher ein Sitzriese ist, also mit etwas zu kurzen Beinen durchs Leben läuft, mittelblond, graublauäugig, recht kräftig, aber mehr drahtig als bullig, sechsundzwanzig Jahre alt und von überwiegend heiterer, ein bißchen oberflächlicher Gemütsart, was sich auch in seinem Gesicht ausdrückt, einem netten, sympathischen, lausejungehaften Gesicht mit Lachfalten um die Augen, einem Gesicht jedoch, das kaum jemand durchgeistigt nennen würde.

Der junge Mann, nach seinem Beruf gefragt, nennt sich Journalist. Das heißt, er arbeitet als Fotoreporter im festen Anstellungsverhältnis (mit Beteiligung am Weiterverkauf seiner Bilder – wenn sie mal weiterverkauft werden) für die große Illustrierte Weltblick.

Daß sich Ohle ‹Journalist› nennt, wo ‹Fotoreporter› doch korrekter wäre, ist bezeichnend für ihn. Das, was er hat und erreicht hat, genügt ihm nie. Und außerdem ist er der festen Überzeugung, so wie die Redakteure und anderen Schreiber des Blattes, so könne er allemal schreiben. Er ist ehrgeizig; er hat, was er für literarischen Ehrgeiz hält – Literatur ist, was gedruckt wird, egal wo. Also auch Reportagen in Illustrierten … Warum nicht? Auch zwischen leinenüberzogenen Buchdeckeln steht manchmal Mist, und was wirklich Literatur ist und was nicht, darüber wird sowieso erst hundert Jahre später befunden.

Einem uneingeweihten Beobachter würden die äußeren Umstände, unter denen Markus Ohle – der sich selbst gern ‹Mark› nennt und nennen hört – hier vor der Reiseschreibmaschine sitzt, seltsam, ungewöhnlich … vielleicht sogar verdächtig vorkommen.

Erstens das Haus: ein hübsches, gut zwanzig Jahre altes Wochenendhaus, vollunterkellert, zwei Räume – Wohnraum und wohnliche Küche im Erdgeschoß, zwei Schlafräume mit schrägen Wänden unter dem Dach. Alles ein bißchen verwohnt, mit starken Gebrauchsspuren, aber sehr gemütlich und durchaus persönlich eingerichtet. Und außerordentlich romantisch gelegen – direkt in den Waldrand gekuschelt; fünfzig Schritte weiter verwilderte Fischteiche zwischen Weiden und Wacholder. Das Haus ist nur über einen gerade autobreiten Sandweg zu erreichen, der sich wie ein verlorener Schnürsenkel durch die Heide schlängelt. Gut zehn Minuten Fahrt im zweiten Gang bis zur schmalen Landstraße, auf der man erst nach fünf Kilometern das nächste Dorf erreicht … wie es der Eigentümer geschafft hat, hier, mitten im Landschaftsschutzgebiet, eine Baugenehmigung zu bekommen, das wäre interessant zu erfahren. Aber von Bedeutung für diese Geschichte ist es nicht, und auch Markus (Mark) Ohle hat nichts damit zu tun.

Zweitens: Warum sitzt ein junger Mann vom Schlage Ohle an einem milden Juniabend ausgerechnet hier draußen in der Einsamkeit, statt an der Bar des nächst gelegenen Hilton-Hotels? Und warum, wenn er schon hier sitzt und schreibt, oder zu schreiben vorhat, wie es den Anschein hat – warum, zum Kuckuck, sperrt er den milden Juniabend aus? Warum hat er die beiden Türen des Häuschens von innen verschlossen, alle Vorhänge zugezogen und die Holzläden vor den Fenstern auch noch dichtgemacht, damit kein noch so winziger Strahl der Korblampe – propangasgespeist – nach außen dringt?

Drittens: Was ist das, was der junge Mann da schreibt? Es muß etwas ganz und gar Ungewöhnliches sein, denn er macht abwechselnd ein tiefernstes, richtig angestrengtes Gesicht – und dann plötzlich schmunzelt er, grient mit breitgezogenem Mund, klopft sichtlich vergnügt mit der Faust auf den rustikalen Wohnküchentisch, lacht ab und zu sogar laut oder wiederholt im halblauten Selbstgespräch, was er geschrieben hat – wiederholt es genüßlich, als wolle er den Klang seiner Worte schmecken, wie einer ein selbsterfundenes Gericht kostend prüft …

Die Heiterkeitsausbrüche Ohles, könnte der uneingeweihte Beobachter denken, kommen am Ende aus der Whiskyflasche, die hinter der Schreibmaschine auf dem Tisch steht und mitwackelt, wenn der junge Mann die Tasten traktiert. Aber das ist nicht so. Ohle hat erst zwei Glas getrunken. Nicht aus Sparsamkeit, er ist nicht sparsam – das sieht man schon an der teuren Scotch-Marke –, auch nicht aus Enthaltsamkeit oder Selbstdisziplin; nein, beileibe nicht. Ohle ist weder enthaltsam noch sonderlich diszipliniert – nein, er trinkt wenig, weil er schreibt; weil er fasziniert ist von der Geschichte, die er im Kopf hat, deren Anfang auch schon auf dem Papier steht inzwischen und von der so sehr viel für ihn abhängt … Unendlich viel. Lebensentscheidend viel.

Was ist das für eine Geschichte? Was steht auf dem ersten Bogen, den Markus Ohle in die Schreibmaschine gespannt hat, vor der er hier sitzt, an einem milden Juniabend bei verrammelten Türen und verhängten Fenstern, in einem kleinen, verwohnten, gemütlichen Wochenendhaus mitten in der Heide, weit abseits jeder menschlichen Ansiedlung … Was steht auf dem Bogen?

***

Ich, die Geisel

Der Kerl springt auf mich zu und zischt: «Keine falsche Bewegung, Junge, sonst bist du hin!»

Ich erstarre. Ich fühle, wie mir das Herz stockt. Ich bin so erschrocken, daß ich keinen klaren Gedanken fassen kann. Dazu dieses harte Ding in meinem Rücken, das mir gegen das linke Schulterblatt gedrückt wird. Und wieder die Stimme der Kerls, diese böse, zischende Stimme hinter der Strumpfmaske: «Los – steig ein!» sagt die Stimme – und es gibt keinen Widerspruch gegen diesen Tonfall, wenn ich nicht Selbstmord begehen will. Also

 

Markus Ohle freut sich. «Schön», sagt er laut zu sich selber. «Richtig dufte. Wenn das nicht gelesen wird …» Und er schreibt weiter:

 

steige ich in den Wagen.

Am Steuer sitzt ein zweiter Bursche. Das Auto ist warm, als ob es länger in der Sonne gestanden hätte. Der Druck an meinem Schulterblatt läßt nach. Eine Chance! Ich hebe den zweiten Fuß nicht ins Wageninnere, sondern lasse mich rückwärts fallen und will schreien, aber da kriege ich einen Schlag ins Genick und einen zweiten auf den Hinterkopf, daß ich für einen Augenblick die Besinnung verliere. Und dann

 

Markus Ohle läßt die Hände sinken. «Ich muß noch deutlicher sagen, daß ich die Männer nicht kenne, verdammt», murmelt er. «Fremde. Nie zuvor gesehen …»

Er greift nach der Flasche und gießt sich den dritten Whisky ein. Es ist warm in der Wohnküche. Stickig und warm. Markus Ohle steht auf, zündet sich eine Zigarette an und denkt nach.

Wie hat das eigentlich wirklich angefangen? überlegt er. Wann hat es angefangen? Wenn man’s genau nimmt … Also, eigentlich mit dem Mädchen. Als das Mädchen mit zu mir kam und … Ja, da hat es angefangen.

1

Das Mädchen, das ihm gegenübersaß, hatte sehr hübsche Knie. Weder solche Puddingwülste, wie manche Mädchen sie haben, noch knochig-hagere Knie, wie Pfadfinder oder Fußballer sie haben.

Sehr hübsche Knie.

Es müßte Spaß machen, dachte Mark, mit der Mittelfingerspitze die Konturen der Kniescheibe nachzuzeichnen. Und dann die Handfläche in die schmale Kniekehle schmiegen … Langsam, ganz, ganz sachte. Warme Hand in kühler Kniekehle …

Aber jetzt noch nicht.

Noch nicht.

Das Mädchen war zum erstenmal in seiner Wohnung, und es sah aus, als ob man sehr behutsam mit ihm umgehen müsse. Nicht die Rocker-Tour: ‹Komm, Butze, laß uns bumsen!› (die erstaunlicherweise manche Mädchen so gerne mögen, weil sie Primitivität mit Männlichkeit verwechseln). Aber auch nicht die schmalzige Masche mit rosa Licht und Sweet Music und solchem Kokolores.

Bißchen Musik, dachte Mark, wär aber vielleicht gar nicht so falsch … Er stand auf und suchte in dem Plattenstapel auf dem Bücherregal. «Bißchen Musik?» fragte er.

«Kommt drauf an», sagte das Mädchen. Es hatte eine rauhe Stimme – wie ein Blumentopf über Ziegelsteine geschoben.

Mark wußte noch nicht so recht, woran er war. Er legte Jacques Loussier auf. Play Bach. Das perlt so reizend, wenn es vielleicht auch nicht gerade stimulierend ist. Aber es schadet auf keinen Fall. Außerdem, überlegte er, ist es so ’ne Art Test. Mädchen, die Play Bach hübsch finden, sind meistens nette Mädchen; lustige Mädchen, die mitspielen, und keine Trantüten.

«Hübsch!» sagte das Mädchen.

Er stand jetzt hinter dem Sessel, in dem die Kleine hockte. Sie hatte sich in die bequemen Polster gekuschelt wie eine Katze. Er betrachtete ihren Nacken mit den zarten Halswirbeln und dem kleinen Haargekräusel, wanderte mit den Augen über die runden braunsamthäutigen Schultern und Arme, die das buntbedruckte Baumwollkleidchen freigebig offenlegte, ließ den Blick für einige Sekunden auf den sanften Schatten im Ausschnitt ruhen und folgte dann der perspektivisch verkürzten, weichen Bauch- und Oberschenkelkurve, bis seine Augen wieder bei den Knien angelangt waren.

«Ja …» sagte er und mußte sich räuspern, «ja … Sehr, sehr hübsch!» Er widerstand nur mit Mühe der Versuchung, das Mädchen anzufassen. «Was zu trinken?» fragte er und hatte immer noch den Aufregungsfrosch in der Kehle.

«Ja, gern.» Die Kleine schüttelte kurze dunkelblonde Locken und sah sich mit einer halben Drehung nach ihm um. «Sehr gern. Eine Cola.»

«Alles andere», sagte er verlegen: «Gin Tonic, Cognac, Whisky, Bier, Korn, Orangensaft – alles, aber keine Cola.»

«Macht nichts … Dann ein Bier, ja?» Sie sah sich im Zimmer um, legte den Kopf schief und pustete anerkennend die Luft aus, so daß ihre hellroten, vollen Lippen sich spitzten wie zum Pfeifen oder zu einem Kuß beim Pfänderspiel auf Kindergeburtstagen. «Schöne Wohnung! Wohnst du allein hier?»

Ihre unverhohlene Bewunderung war deutlich zu spüren. Sie staunte über die vielen Bücher, über die hellbraunen Wildledersessel, den niedrigen großen Tisch mit der Schieferplatte, über den dicken Berberteppich, den Biedermeierschrank mit den Flaschen und Gläsern, über alle die schönen Sachen, denen sie ja nicht ansehen konnte, daß sie zum Teil noch nicht bezahlt waren oder daß sie – wie zum Beispiel die acht Meter Klassiker im Bücherregal – von Mark nur angeschafft worden waren, um Eindruck zu schinden. Er hatte noch nie einen Blick in einen der zwölf Goethe-Bände getan und hatte auch gar keinen Appetit darauf. Aber zwischen die Seiten einzelner Bände steckten Lesezeichen; auch bei Wieland, dessen in Halbleder gebundene Weisheiten äußerst preisgünstig gewesen waren, und bei Heine, Mörike, bei Schiller selbstverständlich und sogar bei Freiligrath hatte er Zettel zwischen die Seiten geschoben. Mark wäre in arge Verlegenheit geraten, wenn ihm jemand gesprächsweise einschlägige Fragen gestellt hätte, aber das hatte bisher noch niemand getan. Bei den Leuten, mit denen er normalerweise Umgang hatte, war die Gefahr auch nicht besonders groß.

«Ja, allein», antwortete er, «wenigstens meistens.»

Sie lachte, und er merkte, daß er etwas Dummes gesagt hatte.

«Ich meine, wenn … Außer … Also, wenn meine Mutter mich besucht, oder ein Freund oder so …»

Sie lachte noch mehr. «Und heute abend soll ich wohl das ‹Oder So› sein, wie?» fragte sie spöttisch.

Mark war darauf nicht gefaßt und wußte nicht, was er antworten sollte. Natürlich sollte sie das ‹Oder So› sein. Warum fragte sie? Warum war sie sonst mitgegangen? Er hatte mehr als zwei Stunden mit ihr getanzt, hatte sie an der Bar zu einem Champagnercocktail eingeladen, gefragt, ob er sie nach Hause fahren dürfe und dann im Auto vorgeschlagen, in seiner Wohnung noch einen Kaffee zu trinken und eine Stunde zu schwatzen – meine Güte – schwatzen! – und sie hatte ja gesagt. Hatte sie wirklich geglaubt, er würde Kaffee kochen und Anekdoten erzählen?

«Also Bier, okay …» Er rettete sich in die Rolle des aufmerksamen Gastgebers, statt ihre Frage zu beantworten. «Kellerkalt oder aus dem Kühlschrank?»

«Das ist egal», sagte die Kleine lächelnd, nahm sich eine Zigarette aus der Achatschale auf dem Couchtisch und suchte nach Zündhölzern.

Mark gab ihr mit seinem Feuerzeug – DM 9,50, sah aber aus wie von Dupont – Feuer.

«Danke!» sagte sie und mußte gleich darauf husten.

Mark fragte sich, ob sie womöglich auf anderen Gebieten auch noch Anfängerin war. Hoffentlich heult sie nicht nachher, dachte er und spielte schon mit dem Gedanken, die Finger davon zu lassen. So was konnte kipplig werden – wie seinerzeit die Sache mit der Kindergärtnerin aus der Lüneburger Heide, die er fast nicht wieder losgeworden wäre … Nichts haßte Mark mehr als Tränen im Bett, als geschluchzte Liebes- und Treueschwüre und -forderungen. Möglicherweise kam am Ende auch noch eine wütende Mutter oder ein aufgebrachter Vater mit Grabesstimme und Zornesfalten und Regreßansprüchen wegen geraubter Unschuld und gebrochener Eheversprechen … Bloß das nicht!

Während er in der kleinen Küche Bierflaschen öffnete und die Gläser nochmals mit dem Geschirrtuch polierte, weil Frau Mell das nie ordentlich machte – immer sah man noch die Tropfenränder der Spülmaschine … Während er das alles tat, wog er das mögliche bevorstehende Vergnügen gegen die möglichen folgenden Fährnisse ab.

Daß die Kleine so spöttisch gefragt hatte, sprach eigentlich gegen die Gefahr, sie hinterher heulend am Halse zu haben. Andrerseits konnte der Spott auch Bemäntelung ihrer Angst sein, nicht wahr … Als er vorhin im Auto rein versehentlich seine Hand vom Schalthebel auf ihr Bein hatte gleiten lassen, war sie durchaus nicht ängstlich zusammengezuckt. Aber man wußte ja nie genau, woran man bei den Frauen war, zum Teufel! Diese Unsicherheit machte sie wiederum besonders reizvoll. Es wäre tödlich langweilig, wenn man immer schon im vorhinein wüßte, wie’s abläuft …

«Mal sehn», murmelte Mark und ging mit dem Tablett voller Bierflaschen, Gläser und dem stets erfolgreichen Schüsselchen guter Mixed Pickles ins Zimmer zurück.

Das Mädchen stand vor dem Bücherregal und studierte die Titel auf den Rücken der Bände. «So ’ne Menge Bücher … Hast du die alle gelesen?»

«Nein», gestand Mark und fügte sofort den üblichen Schwindel hinzu, «nicht alles. Aber viele schon …»

«Wann denn, um Himmels willen?» wollte das Mädchen wissen. «Das sind – na … zweitausend Stück …?»

«Dreitausendzweihundert mit den Taschenbüchern», korrigierte Mark.

«So viele!» staunte das Mädchen. «Und du bist – na – Mitte Zwanzig, ja?»

«Sechsundzwanzig.» Mark stellte das Tablett auf den Schiefertisch und trat neben die Kleine. Er war nicht so sehr viel größer als sie.

«Dann müßtest du ja seit fast zehn Jahren jeden Tag ein Buch gelesen haben, wenn du sie alle …» rechnete die Kleine.

«Ja», sagte Mark. «Ich lese auch viel. Unterwegs, wenn ich mit der Bahn unterwegs bin oder fliege. Oder abends im Hotel. Was soll man denn in so ’ner fremden Stadt abends machen? Da kannst du ins Kino gehen – oder ins Bett, lesen …»

«Ich weiß gar nicht, was du für einen Beruf hast», sagte sie. «Bist du Vertreter?»

«Reporter», sagte Mark, nahm sie sachte am Arm, der sich glatt und kühl anfühlte, und führte sie von dem Glatteis weg, das die Bücherwand für ihn darstellte. Er führte sie zur Couch.

«Setz dich hierhin, Gisela», sagte er, «es ist hier bequemer, wenn man an den Tisch muß. Die Sessel sind zu tief.»

Es war auch bequemer, sie gleich auf der Couch zu haben, als erst vom Sessel herüberlocken zu müssen, denn er war nun, nachdem er ihren festen, kühlen Arm berührt hatte, doch entschlossen, sie zu verführen. Außerdem roch sie gut. Nach Sommer und guter Seife und ein bißchen nach Achselhöhle, unheimlich gut und aufregend.

Sie setzte sich auf die Kante der Couch. Er goß Bier in die Gläser und prostete ihr, noch im Stehen, zu. Nach dem ersten Schluck, der auf ihrer gut geschwungenen Oberlippe eine weiße Schaumspur hinterließ, setzte er sich neben sie auf die Couch.

«Oh», sagte sie – aber das galt nicht seiner Nähe, sondern der immer erfolgreichen Schale Mixed Pickles, «oh – Pfeffergürkchen, meine Lieblingsnascherei … Lieber als Pralines! Woher weißt du das?»

«Ich hab dir’s angesehen», sagte er, beugte sich vor, nahm die Schale mit den eingelegten Gürkchen, Maiskölbchen, Silberzwiebelchen und Oliven und bot sie ihr an.

Dabei schob er seinen linken Arm langsam an ihrem schmalen Rücken hinauf und faßte sie um die Schultern. Sie kaute schnorpsend ein Gürkchen und noch eines und ein Maiskölbchen und zwei Oliven und ein weiteres Gürkchen und nahm anscheinend keine Notiz von seiner streichelnden Hand auf ihrer Haut. Er ließ die Hand leise in ihre Achselhöhle gleiten und unter der Achsel hindurch zu ihrer Brust.

Sie gab mit offenem Mund ein kleines Stöhnen von sich, mehr einen Seufzer, als er ihre Brust umfaßte, und senkte den Kopf.

2

Das Telefon auf dem unordentlichen Schreibtisch im Zimmer 403 des Polizeipräsidiums plärrte. Es klingelte nicht, es schnarrte nicht – es plärrte wie ein ungezogenes Kind, das von seinem nervösen Vater eine Ohrfeige geerntet hat.

Kommissar Krabs beugte sich vor und griff nach dem Hörer. Dabei verzog er das Gesicht, denn die Bewegung verstärkte den Schmerz in seinem Rücken. Auch der breite, moltongefütterte Ledergürtel, den er auf der bloßen Haut um die Hüfte trug, half nicht viel. So einen hartnäckigen Hexenschuß hatte der Kommissar seit Jahren nicht gehabt. Aber bei dem wechselhaften Wetter war das wirklich kein Wunder …

«Dezernat drei, Krabs», sagte er in die Muschel und setzte sich, den Hörer am Ohr, vorsichtig wieder zurück. Die Stimme, die ihm in den Gehörgang fuhr, war atemlos und rauh vor Erregung: «Hier Schütt», hechelte die Stimme, «Obermeister Schütt, Peter siebzehn … Wir sind über Funk von der Zentrale hierher beordert worden – Gartenstadt; Begonienweg, Ecke Rosmarienweg, Gaststätte Grüner Baum … Ja, und … und hier ist der Teufel los. Oder vielmehr, losgewesen. Das gesamte Inventar, also …» Die Stimme überschlug sich.

Krabs sagte: «Nu mal sachte, Kollege! So ’n aufgeregten Streifenwagenpolizisten hab ich ja lange nicht … Was gibt’s denn? Geht die Welt unter? Mal schön langsam: Was ist los in Ihrem Grünen Baum

Obermeister Schütt holte tief Luft, zwang sich zur Ruhe und berichtete: «Die Gaststätte Grüner Baum, ein Vorstadt-Bierlokal mit Kegelbahn und Kaffeegarten, war vor einer knappen halben Stunde von einer Bande junger Burschen innerhalb von fünf Minuten zu Kleinholz gemacht worden. Zwei Gäste und den Wirt hatten sie zusammengeschlagen. Die Wirtin lag mit Herzanfall und Nervenschock auf der einzigen heilgebliebenen Sitzbank. Ja, die Täter … Verschwunden wie ein Spuk bei Tagesanbruch. Keine Festnahme. Und die Betroffenen sagten – offenbar aus Angst vor der Rache der Banditen – weder Namen noch gaben sie sonstige Hinweise, obschon sie einzelne zu kennen schienen.

Kommissar Krabs hörte sich den Bericht an. «Das sieht mir sehr nach den ‹Putzern› aus, wie?» sagte er dann. «Oder meinen Sie, es sind Rocker gewesen? Mit was für Fahrzeugen sind die denn gekommen? Motorräder?»

«Nein, mit Autos – aber keiner hat sich Marken oder Kennzeichen gemerkt.»

«Mit Autos, so … Okay; also wahrscheinlich keine Rocker. Ich komme hin. In zwanzig Minuten. Halten Sie die Leute solange fest, die als Zeugen in Betracht kommen, ja?»

«Jawohl, Herr Kommissar!» rief Schütt zackig.

Krabs legte auf. Der verfluchte Rücken! Er versuchte mit ein paar Handgriffen Ordnung in die verschiedenen Papierstapel und durcheinanderliegenden Schriftstücke, Fotos, Zeitungsausschnitte und Listen zu bringen. Dabei fiel ihm die letzte Ausgabe Weitblick in die Hand.

«Ach ja, richtig …» sagte er halblaut zu sich selbst; «ich sollte ja Wenzel benachrichtigen, wenn … Das hab ich ihm versprochen.» Er sah nach der Uhr. «Halb zehn. Ob der wohl noch in seinem Büro …? Das sind ja auch so ’ne Spätarbeiter …» Er blätterte in seinem Adressenbüchlein, griff abermals zum Telefon und wählte.

«Ist Herr Wenzel noch im Haus?» fragte er die müde klingende Mädchenstimme, die sich gemeldet hatte.

«Mal sehn», sagte die Telefonistin.

Es knackte in Krabs’ Ohr – brrr, wie ein weit entferntes Maschinengewehr.

«Ich verbinde», sagte die Mädchenstimme. Wenzel war in der Leitung.

«’n Abend, Wenzel», sagte Krabs. «Sie gehören auch zu denen, die abends nicht ins Bett finden, was? Fünfundsiebzig-Stunden-Woche im Dienste der illustrierten Wahrheit, wie? Warten Sie nur, wenn ich das Ihrer Gewerkschaft petze!»

Jochen Wenzel, leitender Nachrichtenredakteur, Kettenraucher und hauptberuflich neugierig, lachte. «Daraus wird nichts. Meine Gewerkschaft ist nicht so straff organisiert wie Ihre, Kommissar. Wenn Sie petzen, gibt’s für mich weniger Ärger, als wenn ich petze … Stimmt’s?»

«Mag sein», sagte Krabs. «Aber wenn wir beide ‹Dienst nach Vorschrift› machen, haben Sie den größeren Trouble. Wenn bei mir zwei Ganoven drei Wochen länger alten Damen die Handtaschen klauen, ist es halb so wild, als wenn Ihr Blättchen statt mittwochsnachmittags erst donnerstagsfrüh der Menschheit die neuesten nackten Busen zeigt …»

«Das Wort ‹Blättchen› darf ich nicht gehört haben», sagte Wenzel, «denn es ist – zumindest, was die Menge angeht – eine Untertreibung. Wir haben fast zwei Millionen Auflage. Aber was die verspäteten Busen betrifft, da haben Sie recht.»

«Die Polizei hat immer recht!» sagte Krabs.

«Jawohl, Herr Kommissar!»

«Stehen Sie bequem, Grenadier Wenzel … Und seien Sie mal zwei Minuten ernst, wenn es auch nicht zum Stil Ihres berühmten Presseerzeugnisses paßt … Sie wollten benachrichtigt werden, wenn die ‹Putzer› wieder aufkreuzen, nicht wahr?»

«Ja», sagte Wenzel. «Sind sie?»

«Es sieht so aus, als ob die Demolierung einer Kneipe in der Gartenstadt auf ihr Konto geht. Ich fahre direkt hin. Gaststätte Grüner Baum: Begonienecke/Ecke Rosmarienweg.»

«Verhaftungen?»

«Bis jetzt nicht.»

«Ich schicke erst mal einen Fotografen hin», sagte Wenzel. «Und schönen Dank, Kommissar!»

«Dafür nicht», sagte Krabs; «manus manum lavat.»

«Wie bitte?» fragte der Redakteur.

Krabs stieg vom Sockel seiner humanistischen Bildung, der sowieso ziemlich morsch war, weil der Kommissar neun Zehntel des Auswendiggelernten längst vergessen hatte. «Eine Hand wäscht die andere», übersetzte er.

«Ach so …» Der Redakteur lachte. «Latein, nicht wahr? Damit kann ich leider nicht dienen. Das einzige, was ich – außer ein bißchen Deutsch – kann, ist Französisch.»

«Auch was Schönes», sagte Krabs, wollte grinsen und eine unanständige Bemerkung anfügen, verzog aber dann nur ächzend das Gesicht, weil sein Rücken wieder weh tat, als er den Telefonhörer in die andere Hand nahm.

«Alsdann …» sagte er schließlich nur und ließ ihn auf die Gabel fallen.

 

Jochen Wenzel goß sich aus der Flasche in seinem Schreibtisch einen Cognac ein, bewegte behutsam das Glas unter der Nase, schloß bei dem Duft genießerisch die Augen, nahm einen Schluck, schmatzte, lehnte sich in seinen Drehsessel und überlegte.

Er hatte in den dreizehn Jahren, in denen er beim Weitblick war, Nachrichten sammelte, auswertete, redigierte und druckreif machte, neben manchem anderen gelernt, daß es in dieser Branche keineswegs gut war, unüberlegt zu handeln. Es gab zu viele offene und versteckte Fettnäpfchen, in die man in einem solchen Hause treten konnte, wenn man spontane Ideen hatte oder gar spontane Maßnahmen traf: Eitelkeits-Fettnäpfchen, Eifersuchts-Fettnäpfchen, Ehrgeiz-Fettnäpfchen; solche, die mit Minderwertigkeitskomplexen gefüllt waren und andere, deren Inhalt aus Angst um den Sessel bestand, auf dem der oder jener saß. Zwischen allen diesen Empfindlichkeiten hindurchzulavieren war gar nicht immer so einfach. Wenzel kam sich oft wie ein alter Germane beim Schwertertanz vor – wenn die Darstellung stimmte, die er davon mal gesehen und die in ihm den Eindruck außerordentlich gefährlicher Artistik hinterlassen hatte.

Deshalb – weil er beim Schwertertanz der verflossenen dreizehn Jahre so viel gelernt hatte – überlegte Wenzel jetzt, wie er die Absicht realisieren könne, jemand zum Grünen Baum zu schicken, ohne damit die Kompetenzen eines anderen Ressorts zu verletzen … Vor einigen Wochen war in der Themenkonferenz die Rede auf die ‹Putzer› gekommen, als man über Banden im allgemeinen und besonderen gesprochen und beschlossen hatte, darüber mal was zu machen.

Die ‹Putzer› hatten von sich reden gemacht, weil sie völlig anders arbeiteten als alle anderen Banden, die sonst die Stadt und ihre Bürger unsicher machten.

Erstens waren es den Zeugenaussagen nach nur sechs Leute: fünf Burschen im Alter von etwa zwanzig bis fünfundzwanzig und ein Mädchen, das auf achtzehn, neunzehn geschätzt wurde. Zweitens waren sie bei ihren Überfällen offenbar nie betrunken, denn sie grölten nicht, torkelten nicht und redeten kein dummes Zeug, soweit sie überhaupt redeten. Drittens trugen sie keine Lederkleidung, aber Strumpfmasken, wenn sie ein Geschäft, ein Lokal oder einen Privatmann überfielen und ausplünderten. Viertens erklärten sie – und das war eigentlich das Ungewöhnlichste an ihnen – dem jeweiligen Opfer vorher stets ausführlich, warum gerade es ausgewählt worden war. Die Auswahl wurde vom Sprecher der Bande jedesmal moralisch begründet.