Der Hammer

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2020

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Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Markos Botsaris, 1874 (oil on canvas), Gerome, Jean Leon (1824–1904) / Private Collection / Bridgeman Images

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ISBN 978-3-644-00152-7

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00152-7

In einer Zeit, als es noch Abenteuer gab und fremde Welten, als die eigene Welt noch klein war und deshalb groß, lag in Graz eine Frau im Bett und wartete unter Schmerzen auf die Wehmutter, die nicht kam. Es war der neunte Juni siebzehnhundertvierundsiebzig. Ihr Mann Josef war Gubernialrat und seit Tagen in der Krain und in Oberkärnten auf Jesuitengütern unterwegs, um Steuern einzutreiben. Ninette, wie man Anna Hammer rief, war keine zwanzig Jahre alt und wischte sich selbst den Schweiß von der Stirn. Im Bett war es feucht, als hätte sich etwas aus ihr heraus entleert. Sie erschrak. Ihr Unterleib krampfte. Noch war es dunkel. Sie hatte sich zur Tür der Nachbarn geschleppt, als die Schmerzen zu groß geworden waren. Margarete, die Frau des Gelbgießers Egger, hatte ihr versprochen, nach der Wehmutter zu suchen. Sie selbst war kinderlos und traute es sich nicht zu, ihrer Nachbarin eine Hilfe zu sein.

Wieder schrie Ninette auf. Das Kind in ihr gebärdete sich wie toll. Wie lang war Margarete schon fort? Ninette versuchte sich abzulenken, indem sie in Gedanken dem Weg folgte, den Margarete auf der Suche nach der Wehmutter nehmen musste. Beim Perückenmacher Gränäthä vorbei, beim Haus des Schlossbergtürmers Weeß die Gasse nach links, dort wohnte der Schiffklampfelmacher Pallwein. Dann der Wachskerzler

Im Haus der Hammers lebten noch der Kleinuhrmacher Khopp und der Salpetersieder Geyer, beide Großkunden des Geisterbrenners Schäffer. Ihnen traute sie daher nicht über den Weg. Ständig stritten sie sich betrunken, ob es Graz oder Grätz heißen müsse. Khopp trank so viel, dass er stark zitterte. Er bekam seine Kleinuhren kaum mehr in den Griff, was dazu führte, dass er aus Verzweifelung noch mehr trank. Der Salpetersieder Geyer wiederum war wie eine Plage. Er roch nach dem verrieselten Urin und den Exkrementen, die er aus der Erde grub, und dumpf nach der Pottasche, die er beidem zufügte. Geyer sah aus, wie Ninette sich den Satan vorstellte. Keinen ihrer beiden Nachbarn hätte sie in diesen Stunden gerne an ihrer Seite gehabt.

 

In Boston hatten die Kolonisten guten Tee ins Meer gekippt. Was für dumme Menschen, fand Ninette, und sie verstand, dass der englische König Georg streng reagiert hatte. Die Engländer liebten Tee, und jeder Dummkopf wusste, dass man Tee in kochendes Wasser schütten musste. In Italien war ein Vulkan ausgebrochen. Das war ihr egal. In ihr war auch ein Vulkan ausgebrochen. So fühlte es sich an. Wieder biss sie in die grobe Decke. Der französische König war gestorben, der neue hieß auch Ludwig. Der Sechzehnte. Wie viele da wohl noch folgen würden? Das alles wusste sie von Josef, der auf seinen Reisen viele Neuigkeiten erfuhr. Wenn er in Postkutschen saß, in Gasthäusern schlief oder von den Jesuiten, die nicht nur beteten, sondern am Weltgeschehen beteiligt sein wollten. Die Türken hatten einen neuen Sultan. Sie hatte sich den Namen nicht merken können. Ein Ü kam im Namen vor, aber der neue Sultan bedeutete sicher nichts Gutes. Sie war aufgewachsen in der Furcht vor den Osmanen. Schon als Kind hatten ihr diese dunklen Gestalten, diese unchristlichen Barbaren schlaflose Nächte bereitet.

Jetzt war es ihr ungeborenes Kind. In dieser Nacht beneidete sie ihre Nachbarin um deren Kinderlosigkeit. Die Schmerzen waren ein zu hoher Preis für alles, was da kommen mochte. Sie richtete sich auf und sah aus dem kleinen Fenster in die Dämmerung. Hilfesuchend. Aber da nahte keine.

Als die Sonne im Osten aufging, drängte das Kind mit aller Kraft hinaus in die Welt. Als würde es magisch von der morgenländischen Seite angezogen. Ninette schrie so laut, dass den Perücken beim Perückenmacher Gränäthä die Haare hochstanden und sogar die kastrierten Kapaune beim Kapaunhändler Paull kurz mit ihrem heiseren, tremolierenden, fast

Der Sprachknabe

Zwei, drei. Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt, jeder Schultag um sieben Uhr mit dem Gebet bei den Peiserstöcks. Josephs Kostherr war ein geborener Bauer, klein und verwachsen, und hatte es sich gemeinsam mit seiner Frau auf der niedersten Stufe krassester Bigotterie eingerichtet. Ihre Hauptsorge für den ihnen anvertrauten Kostknaben bestand darin, das regelmäßige Messehören zu überwachen und ihm die unzähligen Gotteshäuser der Hauptstadt zu zeigen. Die über zweihundert Kirchen und ihre Glocken. Peiserstöck, der Kürbisgesichtige, liebte die heiligen Stimmen der Glocken. Und es läutete immer in Wien. Fünfzig verschiedene Klänge zur Raum- und Zeitorientierung. Wien markierte das Zentrum des Glockeneuropas, die Glocken waren die offizielle Stimme der Reichshaupt- und Residenzstadt. Die bekannteste Glocke, die Pummerin, hing im Südturm des Stephansdoms. 1711 von Johann Achamer aus türkischen Kanonen gegossen, die man bei der glorreichen Verteidigung der Stadt kein Menschenalter zuvor erbeutet hatte, wog sie mehr als 40000 Pfund inklusive Klöppel und Joch, aber ihren tiefen Klang hörte man nur zu besonderen Anlässen. Am Heiligen Abend, am Stephanitag, zum Jahreswechsel, zur Osternachtfeier, zu Fronleichnam, Mariä Himmelfahrt und an Allerseelen. Der Hausinspektor Peiserstöck stand dann jedes Mal mit

Die Wohnung der Peiserstöcks gehörte zum Klangterritorium von St. Anna. Die Glocke von St. Anna war Joseph inzwischen die vertrauteste. Sie läutete ihn durch den Tag. Morgens, mittags das Angelusläuten, dazu das Freitagsläuten, mit dem man einmal wöchentlich der Todesstunde Jesu gedachte, mehrmalige Aufrufe zum Gottesdienst, jeweils unterschiedlich intoniert an Werk-, Sonn- und hohen Festtagen. Das geübte katholische Ohr kannte sich aus. Dazu läutete es bei besonderen Anlässen wie Geburt, Taufe, Hochzeit und Begräbnissen. Die Glocken warnten vor Sturm und gefährlichen Angriffen, sie riefen zu Versammlungen und zum Schließen der Wirtshäuser. Bei Bränden bimmelte die «Feuerin», das «Zügenglöcklein» begleitete Sterbende, die eben in den letzten Zügen lagen. Beim Tod eines Mannes läutete es dreimal, bei dem einer Frau zweimal, bei einem Kind einmal. Für die Peiserstöcks hatte es im letzten Jahr zweimal geläutet. Zweimal einmal.

«Ich muss los», sagte Joseph.

Die Peiserstöcks bekreuzigten sich. Für den Sohn, der am Faulfieber, und die Tochter, die an der Bangigkeit der Kinder zugrunde gegangen war. Schon stand er bei der Tür.

«Eins?»

Der Peiserstöck nickte, soweit Joseph das durch die dichten Schwaden des Herdfeuers erkennen konnte.

«Zwei, drei.» Das Hühnchen und das Judenohr. So zählten die Soldaten in Paris seit ihrer Revolution. Die Franzosen hatten ihr Hirn unter der Guillotine verloren. Und welcher Dummkopf war auf die Idee gekommen, den Monaten neue Namen zu geben und der Uhrzeit einen neuen Verlauf? Nicht Oktober, November und Dezember, sondern Weinlese, Nebel und Gefrierender Nebel? Vendémiaire, Brumaire und Frimaire? Joseph war im Juni geboren, einem warmen Tag in der

«Geht die nicht immer nach, wenn die Minute hundert Sekunden hat?», hatte Joseph ihn gefragt.

«Nein, sie geht vor», hatte der kluge Abbé geantwortet. «Vielleicht viel zu weit vor.» Mit den Uhren hatte sich auch die Sprache verändert. Seit der Abschaffung des Adels war Französisch vulgär geworden. In der Akademie hatten die Sprachknaben unter der Hand Zugang zu französischen Pamphleten wie dem Père Duchesne, in denen Marie-Antoinette als schlimmste Dirne Frankreichs beschimpft wurde. Sie habe sich mit ihren Dienern im Schmutz gesuhlt und es sei unmöglich zu sagen, welcher Kerl für die kümmerlichen, eitrigen Buckelzwerge verantwortlich war, die aus ihrem faltigen, dreiwülstigen Bauch kämen.

Wie konnte man auf diese Weise über Königinnen sprechen? Franz Maria von Thugut, mit dem sich Joseph angefreundet hatte, war im Besitz eines französischen Nachttopfes, der mit Allegorien aus den Tagen der Revolution bemalt war.

«Da macht’s Scheißen Freude», hatte Franz Maria, der Sohn des Vizestaatskanzlers, gesagt und mit Joseph gemeinsam seine Blase auf die Revolution geleert. Ihr Strahl traf die Bastille.

«Liberté, Fraternité? Egal», sagte Franz Maria verächtlich. «Wie lächerlich ist die Idee, ich sei so viel wert wie unser Diener. Unser Diener ist so viel wert wie sein Bruder, also

Joseph nickte, aber er wusste, dass er selbst gemeint war. Sein Vater war Sohn eines einfachen Gärtners gewesen, geboren in Katzelsdorf, weit weg von der Hauptstadt. Immerhin Verwalter der ehemaligen Jesuitengüter in den Kronländern Steiermark, Kärnten und der Krain.

Als Joseph elf Jahre alt war, hatte ihn der Vater zu einer Reise zu einem Gut in Kärnten mitgenommen. «Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt», hatte sein Vater gesagt, als sie aus dem Haus traten.

In einer Kutsche verließen sie Graz. In den Dörfern außerhalb der Stadt schauten aus den kleinen Fenstern der Holzhäuser neugierige Köpfe mit breitkrempigen, grünen Hüten dem vorbeieilenden Wagen hinterher. Das sah Joseph noch vor sich. Es war Sommer, an den Bäumen hingen herrliche Kirschen. Mit dem Vater pflückte er sie, als sie Rast machten. Sie schmeckten nach süßem Licht.

Mädchen in kurzen Leibestrachten trugen Bündel von Futtergras auf dem Kopf.

Bei der Burgruine Hohenwang hielten sie. Ein Bauer, der neben der Ruine einen Baum fällte, zeigte ihnen eine Vertiefung im Schlossgraben.

«Das ist das Türkenloch», sagte er in bellendem Steirisch.

Hier hinein waren 1683 die heidnischen Leichname geworfen worden, die bei der neuntägigen, vergeblichen Bestürmung der Festung den Tod gefunden hatten.

«Es war ein tiefer Abgrund», bellte der Bauer. «Aber der war so vollgefüllt mit Türken, dass die Leichen sich aus dem Loch türmten. Erst später, als sie verwest sind, höhlte sich das Loch wieder.»

Auf der tosenden Drau setzten sie auf einem Floß zusammen mit zwanzig Menschen und mehreren Gipsfässern die

«An dieser Stelle hat es schon viele erledigt», schrie der Bootsführer. Zwei Hunde waren schon über Bord gegangen. Das Boot schoss pfeilschnell weiter. Gebete wurden gebrüllt, man hielt sich an den Händen, Joseph klammerte sich an ein Gipsfass. Er sah einen der Hunde in den tosenden Fluten untergehen. Und plötzlich beruhigte sich die Drau, und sie fuhren dahin, als seien sie eine fröhliche Landpartie.

Das erste Häuschen Kärntens an der Grenze, neben dem Torbogen, machte auf Joseph einen widerlichen Eindruck. Eine arme, von Schmutz und Kröpfen ganz entstellte Familie bettelte ihn und seinen Vater an.

«Sollen wir ihnen etwas geben», fragte Joseph.

«Nein», sagte sein Vater. «Der Kaiser hat die Leibeigenschaft abgeschafft. Jetzt liegt es an ihnen, etwas zu machen aus der Freiheit.»

In Unterdrauburg hatte ein Brand wenige Monate zuvor mehrere Häuser vernichtet. Manches lag noch wild und wüst durcheinander und entstellte den ohnedies unansehnlichen Ort noch mehr. Sie wanderten eine abgeschmackte Promenade entlang, im Kot bergauf und bergab, Richtung Lavamünd. Außer saurem Wein gab es im Gasthaus nichts.

«Wo man nichts zu essen bekommt, lässt sich nichts kritisieren», sagte sein Vater, und sie zogen schweigend und hungrig sechs Stunden weiter in das Dorf Eis, das aus fünf Häusern bestand. Die Posthalterin war zugleich Gastwirtin, aber

In der Nacht träumte Joseph von Wurst und seiner früh verstorbenen Mutter.

Am nächsten Tag nahmen sie einen wohlbespannten Wagen nach Klagenfurt und ließen sich in dem schnell fahrenden Vehikel auf der jämmerlichen Straße hin- und herschleudern.

Auf den Feldern stand ausgemergeltes Rindvieh. Als es dunkel wurde, erleuchteten vereinzelte Flammen die Umgebung.

«Das sind Feuerbrände, die nutzen die Kärntner für das elendeste Getränk, das je auf der Welt gebraut wurde», erklärte ihm sein Vater. «Steinbier. Sie tun Steine in die Glut und bereiten daneben in einem Fass einen Wasseraufguss über Gerste, packen Wacholderbeeren hinein und ein paar Kräuter, aber keinen Hopfen. Danach werfen sie die glühenden Steine hinein. Sie trinken das dann ungeklärt und ungereinigt.»

«Und wie schmeckt das Bier?», fragte Joseph.

«Nach Rauch und Lehm. Es ist widerlich. Darum wird es auch nicht in Gläsern ausgeschenkt, es würde zu ekelhaft aussehen. Sie haben eigene, schwarze Krüge für ihr Teufelszeug.»

Der Bezirk bis Lieseregg ist der unglückseligste an Hervorbringung von Fexen, Trotteln und Kretins. Sein Vater hatte ihn vorgewarnt, aber die Wirklichkeit schlug jede Vorstellung. Es gab kaum ein Haus, vor dem man nicht diesen Stiefkindern der Natur begegnete. Joseph sah Kinder, die sich neckend mit Kot beschmierten, und Erwachsene, die lachend große Steine auf Vorübergehende warfen. Eine offensichtlich blöde Frau stürzte sich auf Josephs Vater, riss ihm ein Knäuel Haare aus und bestreute damit ihren Kopf. Zwergartig waren diese Unglücklichen. Mit dicken Köpfen, kleinen Augen und großen, hängenden Kröpfen. Als Haustiere hielten sie schwarze Schweine, die mit schlechter Nahrung leichter zu erhalten sind als rosafarbene. Wölfe und Bären müssen sich vor diesen

Die folgende Nacht verbrachte Joseph in einem Bett, auf dessen Leintüchern große Blutflecken waren. Er konnte kaum einschlafen, auch weil er sich vor dem Wirt fürchtete, einem schief gehenden Mann mit Kropf und Speckdrüsen, der sich ständig unter den Hut griff, offensichtlich bemüht, in seinen Haaren nicht vorhandene Gedanken zu finden.

Als er endlich erwachte, brannten sein Gesicht, sein Leib und seine Hände. Zecken, Schafkäfer und Achtfüßler hatten seinen Körper zerfressen. Er konnte die verdammten Tiere im erstickenden Tabakdampf aus der Pfeife des Wirtes kaum erkennen.

Da ein starkes Gewitter aufgezogen war, mussten sie noch eine Nacht länger bleiben. Am Abend füllte sich die Gaststube. Man reichte schwarze Krüge und Fleisch vom schwarzen Schwein. Die Kärntner waren ausgelassen. Sie sangen und schrien und lutschten an alten Steinen. Die Irre, die Josephs Vater Haare ausgerissen hatte, starrte sie an mit Augen, die sich im Kreis bewegten.

Das Essen schmeckte ihm nicht. Jeder Bissen wurde zum Würgapfel.

«Eine furchtbare Gesellschaft», flüsterte sein Vater. «Da wären mir Schneckenhändler und Juden lieber als diese armseligen Tröpfe.»

Ein schwarzer Krug zerschellte an der Wand. Zwei Männer sprangen auf und begannen eine Schlägerei. Der eine von beiden schlug mit seinem Krug dem anderen ins Gesicht, das schon vorher nichts Anmutiges hatte, nun aber immer mehr zu Brei zerfloss.

Josephs Vater, der als Verwalter auch für diesen Bezirk

«Lassen Sie. Das ist mein Sohn», sagte der Halbmensch.

«Der Untere?»

Der erfolglose Blitzableiter nickte.

«Wollen Sie, dass Ihr Sohn erschlagen wird?», fragte Josephs Vater aufgebracht.

«Ich habe keinen Sohn gezeugt, der mit Fausthieben umgebracht werden kann», sagte der alte Kärntner ruhig.

In der Früh regnete es nur noch leicht. Sie gingen durch dichten Wald. Kein Licht weit und breit. Tot ruhte die Gegend. Als hätte die Pest sie verzehrt.

Im ehemaligen Jesuitengut, dem Ziel ihrer Reise, herrschte große Aufregung. Ein über hundert Jahre alter Wels hatte einen Holzknecht gefressen. Wie viele Kärntner hatte der Verstorbene mehrere uneheliche Kinder. Josephs Vater entschied, dass ihnen eine kleine Leibrente auf Kosten des Guts zugesprochen werden solle.

Joseph sah in den trüben Teich. Und meinte, den Wels noch schlucken zu hören.

 

86 Gütern hatte sein Vater tadellos als Hofkommissär und Administrator vorgestanden, bis die schreiende Ungerechtigkeit, die ihm durch Freiherr von Schwitzen und Hofrat von Dornfeld einige Jahre davor angetan worden war, ihn von seiner Tätigkeit entbunden hatte. Nur weil er kein Mitglied der Freimaurer war, des so mächtigen Bundes, der alle seine Brüder begünstigte und seine Gegner klein hielt, war er auf die kränkendste und ungerechteste Weise in einem bösen Ränkespiel in den Vorruhestand geschickt worden. Mit einem Drittel seiner Bezüge und dem empfindlichsten Schaden an Ehre und Gut. Der aus dem Maul nach Stumpfsinn riechende Gundaker

Josephs Vater kümmerte sich nun als Verwalter um das dahingeschmolzene Vermögen des noch unmündigen Grafen Zeno von Saurau, des letzten Sprosses dieses alten steiermärkischen Geschlechts. Es war die einzige Anstellung, die er hatte finden können. Verwalter eines verarmten Kleinkindes, dessen Name größer war als sein Wert.

Joseph hatte das Gefühl, sein Vater gehe gebeugter als zuvor und auf der Straße werde er seltener gegrüßt. Manchmal begleitete er ihn zum Palais Saurau in der Grazer Sporgasse. Es war entwürdigend, wie servil sich sein Vater dem verzogenen Kleinkinde gegenüber verhielt. Joseph war Zeuge, wie der johlende Zeno von einem zerschlissenen, goldverzierten Sessel aus eine Flasche Kernöl über dem Vater ausleerte. Der hatte es wortlos erduldet. Seit diesem Erlebnis wartete Joseph lieber auf der Gasse vor dem Palais auf seinen Vater. Von unten betrachtete er den bunten Fenster-Türken, der die Grazer an die Ereignisse von 1532 erinnern sollte. Damals hatten die tapferen Bewohner der Stadt den osmanischen Besatzer Ibrahim Bassa zum Abzug gezwungen, indem sie vom Schlossberg aus eine Kanonenkugel abfeuerten, die ausgerechnet dessen Braten traf. Entnervt ließ der Osmane von Graz ab. Jemandem in die Suppe spucken, dachte Joseph. Oder jemandem in den Braten schießen.

 

«Die Männer hier sind bei all ihrer Knochenstärke artig im Benehmen», sagte der fremde, junge Herr. Er war sehr elegant gekleidet und wirkte im weihnachtlich geschmückten Grazer Dom wie zusätzlicher Schmuck. «Anders als die Salzburger, diese gewöhnlichen, ausdruckslosen Physiognomien. Die Salzburger, und es schmerzt mich das zu sagen, sind kein veredelter Menschenschlag. Aber hier? Chapeau!»

Wann immer Joseph mit dem Vater und den Geschwistern den Dom besuchte, standen die Kinder lange Zeit vor dem Bild und schauderten. Was war schlimmer? Pest, Türken oder Heuschrecken?

«Die Pest, weil sie dich ins Grab bringt», sagte Johann.

«Ach, und der Türke nicht? Sieh dir das Bild an. Der krumme Dolch zerteilt dir die Eingeweide schlimmer als das gerade Christenschwert», entgegnete Alois, und Cajetan nickte.

Die Schwestern Anna und Fanny hatten vor den Heuschrecken mehr Angst als vor Pest und Türken. Vor allem, was flatterte und klein war, grauste ihnen.

«Am schlimmsten ist ein pestkranker Türke», sagte Wilhelm.

«Genau, ein pestkranker Türke, der Heuschrecken in Säcken dabeihat», sagte Franz.

Joseph war der Älteste der acht Geschwister. Er hatte keine Angst. Nicht vor der Pest, nicht vor den Türken und schon gar nicht vor Heuschrecken. Er hatte Angst davor, so klein zu werden, wie sein Vater es jetzt war. Angst, nicht der Joseph Hammer zu werden, der in ihm schlummerte. Dass ihn niemand erwecken, nicht das Feuer in ihm entfacht würde.

Der Gottesdienst begann. Die Lichter, das Gold, die Glocken. Wie groß und prachtvoll der Raum, die acht mächtigen Pfeiler, die den Dom in drei Schiffe unterteilte, der langgestreckte Chor hinter dem Triumphbogen, die farbigen Fresken aus dem Mittelalter, die Christophorusdarstellungen über den Seitengängen, die wunderschönen Blütendekorationen in den Seitenschiffgewölben. Jesus sah ihn an, ihm direkt in die

«Die Tür des Stalls in Bethlehem war klein, aber groß genug, um die Ewigkeit hineinzulassen», predigte der Jesuit, und Joseph sah sich selbst vor einer kleinen Tür stehen. Er wusste noch nicht, wo diese Tür stand, aber würde er hindurchgehen, da war er sich sicher, würde ein Hauch dieser Ewigkeit auf ihn fallen.

Man erhob sich, sang, betete, fiel auf die Knie, stand auf, und Jesus sah vom Kreuze zu.

Es war wie jedes Jahr zu Weihnachten, bis der alte Jesuit das Wort an den jungen Herren richtete. «Herr Jakob von Wallenburg ist heute unser Gast in Grätz, um die heilige Christmesse mit uns zu feiern. Einer seiner Ahnen war Veit von Wallenburg, der in Wien während der ersten Türkenbelagerung vor 250 Jahren oberster Kriegszahlmeister seiner Majestät war. Jakob von Wallenburg ist ein studierter Mann, ein Orientalist, und auf dem Weg nach Konstantinopel. Er ist außerdem ein gottbegnadeter Organist und hat sich von mir überreden lassen, für uns alle in dieser besonderen Nacht zu spielen.»

«Orientale? Ist der Mann ein Türke», fragte Fanny ängstlich.

«Nein, mein Kind, der Mann ist Orientalist. Einer von uns», beruhigte sie ihr Vater.

«Schau, Fanny, in seinem feinen Rock hat er Heuschrecken versteckt», flüsterte Alois und kicherte.

Der junge Herr von Wallenburg saß in der ersten Reihe und erhob sich. Er verbeugte sich leicht vor dem Jesuiten und ging stolz durch die versammelte Gemeinde zur Orgelempore.

Es war totenstill in der Kirche. Man hörte nur die Schritte des feinen Herrn.

Die Kerzen leuchteten fast noch heller als zuvor, als er zu spielen begann. Die Pastorella von Gottlieb Muffat, dem kaiserlichen Hof-Kammerorganisten und Musiklehrer von Maria Theresia. Die Töne erfüllten den riesigen Raum und jedes noch so kleine Herz. Joseph schloss die Augen. Niemals hatte er so etwas gehört. Niemals gewusst, dass es solche Klänge gibt. Als türmten sich die Töne in immer neuen Höhen aufeinander und hallten von sich selbst zurück. Jeder Stein im Dom war Musik, jedes Beinkleid, jeder Schuh, jedes Kreuz. Die Märtyrer an den Wänden wussten endlich, wozu sie gestorben waren. Und den Menschen ein Wohlgefallen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit auf Ewigkeit, Amen, dachte Joseph, und plötzlich war es klar. Dieses Orgelspiel machte alles deutlich. Er wusste, was er werden wollte. Durch welche Tür er gehen würde. Er öffnete die Augen und sagte zu seinem Vater:

«Ich möchte Orientalist werden!»

 

Sein Vater hatte noch alte Gönner, wie den Grafen Bethgen. Der hatte ihn ermuntert, beim Vizekanzler Philipp Graf Cobenzl eine Bittschrift einzureichen um Josephs Aufnahme als Zögling der orientalischen Akademie. Und tatsächlich war Antwort gekommen.

So fuhren sie nach Wien. 1787 war das Jahr. Joseph dachte, er würde nur wenige Wochen in der Hauptstadt bleiben und dann nach Graz zurückkehren. Als sein Vater ihm aber auf der Höhe des Semmerings eröffnete, er wolle ihn ganz in Wien lassen, ergriff tiefster Schmerz den Buben.

«Weine nicht», sagte sein Vater. «Ergreif die Möglichkeit. Lerne, bevor die Sonne aufgeht, und lerne, bis der Mond sich im Tag verliert. Lerne beim Gehen, lerne im Sitzen. Gib die

Der Vater sah alt aus und müde, seine Perücke war schlecht gearbeitet und aus der Form geraten. An der Seite, über dem rechten Ohr, hatte sie ein Loch. Es sah aus, als hätte ihn ein Vogel attackiert.

«Es war ein Raubvogel mit seinem Schnabel», sagte sein Vater. «Ein Falke im Stift Admont. Der Falkner war unvorsichtig. Ich war im Gespräch mit Columban von Wieland, dem Abt, und hab den Falken zu spät bemerkt. Wahrscheinlich hielt er die Perücke für ein Schneehuhn.»

«Jetzt siehst du aus, als hättest du ein gerupftes Schneehuhn auf dem Kopf», sagte Joseph.

Sein Vater lächelte traurig.

«Es sind Benediktinermönche in Admont. Ein herrliches Stift. Und die neue Bibliothek ist unglaublich, Joseph. Riesig. Und hell. Als würdest du im Himmel lesen. Licht durchströmt die hohe Halle von überall. Licht ist Erkenntnis. Man nennt die Bibliothek schon jetzt das achte Weltwunder. Ich hab die anderen sieben noch nicht gesehen, aber prachtvoller können sie nicht sein.»

«Ut in omnibus glorificetur Deus», sagte Joseph.

«Wie meinst du?»

«Damit in allem Gott verherrlicht werde.»

Sein Vater nickte und streichelte ihm den Kopf.

 

Die staubige Kutsche rollte an der Spinnerin am Kreuz vorbei. Joseph kannte die Sage von der Frau, die hier Wolle spinnend saß und jahrelang auf ihren Mann wartete, der sich dem Kreuzzug angeschlossen hatte, um Jerusalem aus der Hand der Türken zu befreien. Der Mann kam wieder und brachte die erste Safranpflanze nach Wien. Alle standen damals im Herbst staunend vor der violetten Blüte.

Es war eng und stickig in der vollbesetzten Kutsche. Neben ihnen saßen ein Grazer Chymist, ein Hendlkramer aus der Südsteiermark, der seine krähende Last auf das Dach des Wagens geschnallt hatte, ein Laibacher Zahnbrecher und ein pockennarbiger Tintenmann in einem kobaltblauen Justaucorps, der seine Tinte von minderer Qualität am Hof anbieten wollte.

«Waschblau und Tinte», sagte er. «Ich sehe, Sie sind gebildete Herren. Wie wär’s mit ein paar Fässern? Sechs Kreuzer das Fass? Wenn der Kaiser meine Tinte nimmt, können Sie sagen, Sie schreiben wie Franz II

«Der Kaiser wird Ihre dünne Suppe nicht kaufen», antwortete der Chymist. «Wussten Sie nicht, dass er seine Tinte selber macht? Weil er weiß, welcher Dreck sich Tinte nennt? Überm Herdfeuer macht er’s, aus Ligusterbeeren mit einer Beimischung von Bleizucker, Weinessig und etwas Pflanzenzucker. Er beliefert auch seine Kabinettskanzlei und die Hofwirtschaftsämter mit seiner Tinte.»

Der Tintenmann rieb sich seine Pocken und starrte wortlos aus dem Fenster. Es regnete. Die Räder des Wagens spritzten den Kot massenweise auf, die Schaufenster der Gewölbe waren braun bespritzt. Fußgänger, die den Fuhrwerken noch näher waren, bekamen eine regelrechte Kotverkleidung.

«Wenn es regnet», sagte sein Vater, «wird Wien für den Fußgänger eine wahre Sündenflut, wie du siehst. Die Straßen sind mit Unrat bedeckt, und die schmutzigen Rinnen überschwemmen das Trottoir.»

Sein Vater sah hinaus. «Du hast recht. Wenn es eines gibt, meinte ich natürlich.»

Plötzlich hämmerte es bei voller Fahrt an die Kutsche. Am Fenster erschien ein dampfender, triefnasser Kopf mit einem sehr hohen Hut, an dem traurige Straußenfedern hingen. Noch einmal klopfte es von außen an die Tür. Joseph sah den langen, mit allerlei Firlefanz versehenen Stab, mit dem der Straußenmann an die Karosse schlug. Dann blickte der Mann, dessen Halsadern stark pochten, noch einmal ins Innere und lief an der schnell fahrenden Kutsche vorbei.

Der Kutscher lenkte das Fahrzeug an die Seite und machte Platz für eine sechsspännige Prachtkarosse, die an ihnen vorbeiflog. Joseph streckte den Kopf in den Regen und sah dem Wagen nach. Der Straußenmann lief vorneweg, schneller, als Joseph je einen Menschen hatte laufen sehen. Der Läufer hatte eine auffällige, farbenprächtige Uniform mit Goldtressen, Samtschnüren und Achselborten. Um den Bauch trug er einen bunten Leibgürtel.

«Das war der Johann Häusler, der berühmteste Läufer Wiens», sagte der Chymist. «Er ist beim Fürsten Colloredo-Mannsfeld bedienstet. Ein Teufelskerl. Er ist beim Läuferrennen im Prater die Strecke in 40 Minuten gelaufen, schneller noch als der Wandrasch vom Fürsten Schwarzenberg. Möchte nicht wissen, was der Schwarzenberg dem Wandrasch dann gesungen hat. Sicher kein Lied für Mädchenohren.» Der Chymist lachte, und Joseph schaute ihn verständnislos an.

«Alle feinen Herren haben Läufer. Das ist sogar ein Ausbildungsberuf. In Maria Brunn kann man das richtige Laufen lernen, im Anschluss an die Forstakademie. Es ist ein hübsches Bild, wenn sie nachts mit Windlichtern und Fackeln in den Händen vor den Kutschen herlaufen.»

«Gemeingefährlich sind sie», sagte der Hendlkramer. «Diese

«Ach, was. Das sind arme Burschen. Waren’s schon einmal bei so einem Läuferrennen? Es geschieht immer wieder, dass Läufer bei dem Rennen zusammenbrechen vor Erschöpfung. Da gab’s schon Tote. Wenn man Menschen wie Tiere wettrennen lässt, bis ihnen das Blut aus dem Mund und der Nase herausströmt, das hat niemand verdient. Und außerdem, wie viele brave Wiener schon an deinen verwurmten Hendln zugrunde gegangen sind», gab der Tintenmann zurück. «Wer schreibt da an der Liste mit?»

Langsam erreichten sie die Innere Stadt. Ungeachtet des schlechten Wetters wimmelte es vor Menschen und Tieren. Die Kutsche rumpelte durch das schmale Katzensteigtor ins Herz der Hauptstadt. Dann hielt sie. Endlich. Der Zahnbrecher, der neben Joseph saß, roch aus dem Mund wie faules Obst.

Unter einem morschen Holzdach luden sie ihr Gepäck ab. Viel hatte Joseph nicht dabei. Einen Regenmantel, einen breiten Hut, ein Paar Schuhe, eine Hose, Nachtgewand und Bettzeug. In einem ledernen Gurt trug er seine Dokumente und das Geld. Für die Reise hatte er abgetragene Kleidung angezogen. Das hatte sein Vater ihm geraten. Spätestens jetzt, im Regen auf dem Weg zur Taborstraße über die Brücke in den Unteren Werd, wurde ihm bewusst, wie gut der Ratschlag war. Er war völlig durchnässt, und sein Beinkleid sah aus, als hätte eine Armee von Dünnscheißern an ihm ihr schreckliches Geschäft verrichtet.

Leider hatte der Zahnbrecher den gleichen Weg wie sie.

Hier durchschlief Joseph die erste Nacht in seinem neuen Leben.

 

Gleich am nächsten Tag stellte sein Vater ihn dem Vizekanzler, Graf Cobenzl, vor. Sie waren in dessen Landhaus auf dem Reisenberg gefahren, das er durch Zusammenlegung mehrerer Jesuitenhäuser hatte errichten lassen. Das Landhaus war umgeben von einem Garten im neuen englischen Stil mit zahlreichen hölzernen Staffagebauten. Der Graf selbst wirkte auf Joseph wie eine zufriedene alte Frau. Sie gingen im Garten spazieren. Es hatte aufgehört zu regnen. Hier, am Reisenberg, roch es deutlich angenehmer als in der Stadt.

Josephs Vater hatte sich tief verbeugt vor dem dicklichen Cobenzl, der gerade im Gespräch war mit Gottfried van Swieten, dem Sohn von Kaiserin Maria Theresias Leibarzt. Van Swieten hatte ein zu kurzes Näschen und war steif wie die Symphonien, die er komponierte. Van Swieten hatte starkes Interesse an Musik, aber überhaupt kein Talent. Er förderte Musiker wie Mozart und Beethoven und war Präfekt der kaiserlichen Hofbibliothek. Außerdem lag in seinen Händen die oberste Leitung des Studienressorts für die Orientalische Akademie. Cobenzl und van Swieten hatten herausragend schön gearbeitete Zopfperücken, ordnungsmäßig gepudert, das war Joseph sofort aufgefallen. Sein Vater dagegen wirkte gegen die beiden hohen Herren so, wie umgekehrt die Kärntner Waldschrate auf ihn gewirkt hatten. Die Hierarchie war äußerlich

«Jeder Garten sollte errichtet werden als weite Wohnung unter freiem Himmel», erklärte Cobenzl. «Der Garten ist die Leinwand, die der Gartenkünstler bemalt.»

«Die Körper Ihrer Gartenkunst, Cobenzl, schlagen geradezu an die Organe unserer Empfindung. Ist das Wiesenknopf?» Van Swieten hielt sein stumpfes Näschen an einen dunkelrot leuchtenden Blütenkolben auf einem dünnen langen Stängel.

«Ja, Sanguisorba. Man sagt ihm nach, er bewirke eine Verhütung der Empfängnis.»

«Und? Tut er das?»

«Nein», sagte Cobenzl und trat auf wilden Thymian, der am Boden wuchs. «Riechen Sie das? Most delightful, isn’t it? Tritt man drauf, setzt er seine herrlichsten Gerüche frei. Und dort vorn hab ich Wasserminze pflanzen lassen. Die Nase soll hier Feste feiern.»

Schließlich kamen sie zu einem hölzernen Triumphbogen, der wohl an das antike Rom erinnern sollte. Davor war eine Steinbank, auf der ein älterer, schöner Mann saß und mit geschlossenen Augen betete.

«Das ist der Haydn», erklärte van Swieten. «Der betet wieder darum, dass seine Frau endlich stirbt. Jeden Tag fleht er Gott an, sie zu sich zu nehmen. Eine furchtbare Person, diese Maria Anna Aloysia Haydn. Kennen Sie die schlechtere Hälfte vom Haydn, Cobenzl?»

Cobenzl nickte. «Lieber van Swieten, sie ist die Tochter eines Hamburger Perückenmachers, was kann man da erwarten.»

«Und sie hat gar keinen Bezug zu Musik. Sie interessiert sich nicht für die Arbeit ihres Mannes, für sein Genie. Die Leute », äffte van Swieten die Frau des Komponisten nach.

«Hoffen wir für ihn, dass es einen Gott gibt, der seine Gebete erhört, und der arme Mann endlich mit seiner kleinen Sängerin Luigia Polzelli zusammenkommen kann», sagte Cobenzl.

«Es gibt keinen Gott», antwortete van Swieten laut, und Joseph sah, wie Haydn sich krümmte.

«Haydn ist Freimaurer. Er ist wie Mozart auch in der Wiener Loge ‹Zur wahren Eintracht›. Wie steht’s mit Ihnen, Hammer?»

Zum ersten Mal wurde seinem Vater eine Frage gestellt.

«Ich entschuldige mich vielmals, Herr Vizestaatskanzler, aber nein, ich gehöre keiner Loge an.»

«Ach», erwiderte Cobenzl.

Sie waren am Ausgang des Gartens angekommen. Wildrosen wuchsen hier, Geißblatt, Veilchen, Nelken und Maiglöckchen. Süß duftende Sträucher. Joseph spürte die angenehme Wirkung der verschiedenen Aromen.

«Und der junge Hammer will also einer unserer Sprachknaben werden», richtete Cobenzl endlich das Wort an ihn. Die Sonne spiegelte sich in den blank polierten Schnallenschuhen des Grafen und blendete Joseph so sehr, dass er die Augen zusammenkneifen musste.

Joseph nickte. «Ja, das möchte ich, Euer Exzellenz», sagte er.

«Dann soll er fleißig lernen und dabei mithelfen, die Welt zu entbabeln. Virtute et exemplo. Lebe er nach dem Wahlspruch von Kaiser Joseph.»

«Mit Tugend und Beispiel», übersetzte Joseph, und Cobenzl nickte.

 

Es war ein langer Fußmarsch vom Reisenberg zurück zur Taborstraße. Über den Höhenweg kamen sie nach Nussdorf und gingen an der Donau entlang zur Stadt. Die Wohlgerüche des

«Ich werde dich noch heute Abend meinem alten Freund Abbé Bruck übergeben, Joseph. Ich vertraue ihm, er war mein Schulkamerad. Er wird sich um dich kümmern», sagte sein Vater und versuchte zu lächeln.

Zillen mit Waren aller Art zogen an ihnen flussabwärts vorbei. Nach Wien, Pressburg, Pest oder Buda.

«Wann darf ich nach Hause kommen?», fragte Joseph. «Erst in den Ferien?»

«Nein, du wirst auch die Ferien hierbleiben, Joseph. Alle Sprachknaben bleiben in der Akademie.»

«Wie lang wird meine Ausbildung dauern, Vater?»

Sein Vater blieb stehen. «Neun Jahre.»

Joseph sah ihn starr an. Er war dreizehn Jahre alt.

«Du wirst den Orient sehen, Joseph. Orte, die ich nur aus Büchern kenne. Und Orte, die ich nicht einmal aus Büchern kenne.»

Joseph begann zu weinen. Während die Adern den Schiffsziehern aus dem Schädel zu platzen schienen, rannen ihm die Tränen die Wangen hinunter. Sein Vater nahm ihn in den Arm.

«Bis hierher», sagte sein Vater, «reicht das Wachstum meiner glücklichen Tage. Aber du», und er zeigte mit der Hand nach Osten, «wirst dort an glücklichen Tagen reich sein. Das wünsche ich dir, mein Sohn.»

 

Einigen der Gefangenen fehlten Hände, Ohren und Zungen. Für sie war die Abschaffung der Verstümmelungsstrafen zu spät gekommen. Joseph hatte es noch gesehen, wie einem Wilderer auf offener Bühne die Augen ausgestochen worden waren, kurz nachdem er in der Präparandenschule begonnen hatte. Der Wilderer hatte in Lainz gejagt und war gefasst

Bei Hinrichtungen war das Hirn des Delinquenten begehrt, galt es doch als Medizin gegen Tollwut, die Haut des Verbrechers half gegen Gicht, die Schamhaare, in einem Tuch um den Unterleib getragen, erfüllten Kinderwünsche, das frische Blut von Geköpften half Epileptikern. Die Henker verdienten gut an ihren Opfern und waren nicht erfreut von der Abschaffung der Todesstrafe. Josef II. hatte in ihnen erbitterte Feinde gefunden, und auch das Verbot der Verstümmelungen machte die Teufelsmänner nicht glücklich. Nach der Vollstreckung solch einer Strafe war es ihre Aufgabe gewesen, die Wunden der Verstümmelten zu verbinden. Da konnte man gut Blut sammeln und Knochensplitter für den späteren Verkauf. Damit war es jetzt vorbei dank dem Kaiser, der Voltaire gelesen und sich an dem Preußenkönig ein Vorbild genommen hatte. Er war kein Hokuspokuskaiser.

Einmal nur hatte Joseph den Herrscher gesehen. Alleine in einer prachtvollen Kutsche, begleitet von Reitern und Läufern, melancholisch aus dem Fenster blickend. Vielleicht dachte er voller Abscheu an seine zweite Frau, Kaiserin Maria Josepha, die so legendär hässlich war. Mit fauligen Zähnen in einem aufgedunsenen Gesicht. Kein Wunder, dass der Kaiser auf getrennten Zimmern in Schönbrunn bestand und sogar den gemeinsamen Balkon im Schloss abteilen ließ, um nicht einmal dort seine Frau sehen zu müssen. Als sie vor zwanzig Jahren

Inzwischen wohnte Joseph II.