Apeirogon

Cover

Mit der politischen Situation in Israel und den palästinensischen Gebieten vertraute Leser werden feststellen, dass die beiden treibenden Kräfte in diesem Roman, Bassam Aramin und Rami Elhanan, reale Personen sind. Mit «real» meine ich, dass ihre Geschichten – und die Geschichten ihrer Töchter Abir Aramin und Smadar Elhanan – ausführlich in Film und Presse dokumentiert sind.

Die Erzählungen der beiden Männer im Mittelteil des Romans sind Zusammenschnitte aus mehreren Gesprächen, die wir in Jerusalem, New York, Jericho und Bait Dschala geführt haben. Bei den anderen Teilen haben Bassam und Rami mir erlaubt, frei mit ihren Worten und Lebensgeschichten umzugehen oder sie zu verändern.

Trotz dieser Freiheiten hoffe ich, ihre gemeinsamen Erfahrungen wahrheitsgetreu wiederzugeben. Wir leben unser Leben, schrieb Rilke, in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn.

Die Hügel von Jerusalem schwimmen in Nebel. Rami braust einen geraden Streckenabschnitt hinunter und bereitet sich auf die Einfahrt in die nächste Kurve vor.

Er sitzt tief gebeugt auf dem Motorrad, mit wattierter Jacke und festgezurrtem Helm. Es ist eine japanische Maschine, siebenhundertfünfzig Kubik, spritzig für einen Mann von siebenundsechzig.

Rami holt alles aus der Maschine raus, auch bei schlechtem Wetter.

Bei den Gärten, wo der Nebel sich hebt, biegt er scharf nach rechts. Corpus separatum. Er drosselt das Tempo und fährt an einem Wachturm vorbei. Die Straßenbeleuchtung wirkt diffus im Morgendunkel. Für einen kurzen Augenblick schwärzt ein kleiner Vogelschwarm das orange Licht.

Am Fuß des Hügels führt die Straße in die nächste in Nebel gehüllte Biegung. Er schaltet runter in den Zweiten, lässt sanft die Kupplung los, gleitet durch die Kurve und schaltet wieder in den Dritten. Landstraße 1 verläuft über den Ruinen von Qalunya: Alle Geschichte türmt sich hier.

Am Ende der Auffahrt gibt er Gas, nimmt die innere Spur, vorbei an Wegweisern zur Altstadt, nach Givat Ram. Auf der Gegenseite vereinzelt Scheinwerfer.

Er wechselt auf die Schnellspur zum Tunnel, zur Sperrmauer, zur Stadt Bait Dschala. Eine Route, zwei

Geographie ist hier alles.

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THIS ROAD LEADS TO AREA «A»

UNDER THE PALESTINIAN AUTHORITY

THE ENTRANCE FOR ISRAELI

CITIZENS IS FORBIDDEN

DANGEROUS TO YOUR LIVES

AND IS AGAINST THE ISRAELI LAW

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Fünfhundert Millionen Vögel ziehen jedes Jahr über den Hügeln von Bait Dschala durch die Lüfte. Sie folgen den Wegen ihrer Vorfahren: Wiedehopfe, Drosseln, Fliegenschnäpper, Grasmücken, Kuckucke, Stare, Würger, Kampfläufer, Steinschmätzer, Regenpfeifer, Nektarvögel, Segler, Sperlinge, Nachtschwalben, Eulen, Möwen, Habichte, Sperber, Adler, Milane, Kraniche, Bussarde, Strandläufer, Pelikane, Flamingos, Störche, Gänsegeier, Mohrenschwarzkehlchen, Blauracken, Graudrosslinge, Bienenfresser, Turteltauben, Schafstelzen, Sumpfrohrsänger, Rotkehlpieper, Zwergdommeln.

Es ist die zweitgrößte Flugroute der Welt: Mindestens vierhundert Vogelarten ziehen in unterschiedlichen Höhen vorbei. Große Vs in geräuschvoller Entschlossenheit. Einzelreisende gleiten dicht über dem Gras.

Jedes Jahr sieht die Landschaft unten anders aus: israelische Siedlungen, palästinensische Wohnblocks,

Manche Vögel ziehen nachts, um Fressfeinden auszuweichen. Sie orientieren sich an den Sternen, verbrennen auf dem langen Flug ihre Muskeln und Eingeweide. Andere fliegen bei Tag, um die Thermik zu nutzen, die warme aufsteigende Luft, die ihre Flügel hebt, sodass sie segeln können.

Bisweilen verdunkeln ganze Schwärme die Sonne und überziehen Bait Dschala mit Schatten: die Felder, die steilen Terrassen, die Olivenhaine am Rande der Stadt.

Man kann sich zu jeder Tageszeit in den Weinberg des Klosters Cremisan legen und die Vögel auf ihrer gesprächigen Reise beobachten.

Sie landen auf Bäumen, Telegraphenmasten, Stromleitungen, Wassertürmen, sogar auf der Mauer, wo sie gelegentlich zu Zielscheiben junger Steineschleuderer werden.

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Die altertümliche Steinschleuder bestand aus einer etwa augenklappengroßen, mit kleinen Löchern versehenen Tasche aus Rindsleder und einer Lederschnur. Sie wurde von Schäfern erfunden, um ihre Herden vor Raubtieren zu schützen.

In der linken Hand hielt der Schäfer die Tasche, in der rechten die Schnur. Es erforderte ein enormes Maß an Übung, die Waffe zielsicher einzusetzen. Nachdem er einen Stein in die Tasche gelegt hatte, zog der Schütze die Schnur stramm. Er schwang die Schleuder mehrmals hoch über dem Kopf, bis sie genug Geschwindigkeit

Schnell hielt die Schleuder Einzug in die Kriegskunst: Da man mit ihr Steilhänge hinauf und über Wehrmauern schießen konnte, war sie eine unentbehrliche Waffe beim Angriff auf befestigte Städte. Ganze Legionen von Distanzschützen wurden beschäftigt. Sie fuhren in voller Körperrüstung auf mit Steinen beladenen Streitwagen. Wenn das Gelände zu unwegsam wurde – Wälle, Festungsgräben, Trockentäler, steile Böschungen, Felsbrocken auf dem Weg –, schulterten sie ihre reich verzierten Taschen und gingen zu Fuß weiter. Die tiefsten Taschen fassten bis zu zweihundert Steine.

Während der Kampfvorbereitungen war es üblich, mindestens einen Stein zu bemalen. Der Glücksbringer wurde, wenn der Schleuderer in den Krieg zog, ganz unten in die Tasche gelegt, in der Hoffnung, er werde nicht gebraucht.

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Am Rande des Kampfgeschehens beauftragte man acht-, neun-, zehnjährige Kinder, Vögel vom Himmel zu schießen. Sie lauerten an Wadis, versteckten sich im Gebüsch, schleuderten Steine von Festungsmauern. Sie erlegten Turteltauben, Wachteln, Singvögel.

Manche Vögel überlebten. Sie wurden aufgesammelt, und bevor man sie in Käfige sperrte, stach man ihnen die Augen aus, damit sie sich in ewiger Nacht wähnten: So stopften sie sich pausenlos mit Körnern voll.

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Acht Tage vor seinem Tod ließ sich der ehemalige französische Staatspräsident François Mitterrand zum Abschluss eines opulenten Schlemmermahls Ortolane servieren, winzige Singvögel mit gelber Kehle, nicht größer als sein Daumen. Die Delikatesse verkörperte für ihn die Seele Frankreichs.

Seine Mitarbeiter hatten die Wildvögel in einem Dorf in Südfrankreich besorgt. Die Polizei wurde bestochen, die Jagd vorbereitet, und bei Sonnenaufgang wurden die Ortolane in besonders feinmaschigen, am Waldrand aufgespannten Netzen gefangen. Dann wurden sie in einem Lieferwagen mit abgedunkelten Scheiben zu Mitterrands Landsitz in Latche gebracht. Der Souschef kam und trug die Käfige ins Haus. Die Vögel wurden zwei Wochen gemästet, bis sie zu platzen drohten, dann wurden sie kopfüber in einen mit Armagnac gefüllten Krug getaucht und bei lebendigem Leibe ertränkt.

Der Küchenchef rupfte sie, salzte und pfefferte sie, garte sie sieben Minuten in ihrem eigenen Fett und legte sie in eine vorgewärmte weiße Keramikform.

Als der Gang in den holzgetäfelten Saal getragen wurde, verfielen die Gäste – Mitterrands Frau, seine Kinder, seine Geliebte, Freunde – in Schweigen. Mitterrand richtete sich auf, schob die Decken von den Knien, trank von einem alten Château Haut-Marbuzet.

– Das einzig Interessante ist, zu leben, sagte er.

Mitterrand kaute mehrere Minuten, ohne sein Gesicht zu zeigen. Seine Familie hörte die Knochen knacken.

Schließlich lüftete er die Serviette, tupfte sich den Mund ab, stellte lächelnd die Keramikform beiseite, wünschte allen eine gute Nacht und erhob sich, um zu Bett zu gehen.

Danach fastete er achteinhalb Tage und starb.

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In Israel werden die Vögel mit modernen Radaranlagen überwacht, die überall im Land – Eilat, Jerusalem, Latrun – entlang der Zugrouten stehen und mit Militäreinrichtungen sowie der Flugverkehrskontrolle am Flughafen Ben Gurion vernetzt sind.

Die Flugverkehrskontrolle sitzt hinter abgedunkelten Scheiben in Hightechbüros. Reihen von Computern, Funkanlagen, Telefone. Ein Team aus Luftfahrtexperten und Mathematikern beobachtet die Größe der Schwärme, ihre Flugbahnen und Formationen, ihre Geschwindigkeit und Höhe, ihr Verhalten bei verschiedenen Wetterlagen, ihre Reaktion auf Seitenwinde, Schirokko, Gewitter. Sie erstellen Algorithmen und geben

Eine weiterer heißer Draht besteht zur Luftwaffe. Stare in 1000 Fuß Höhe nördlich vom Hafen von Gaza, 31.52583° N, 34.43056° O. Zweiundvierzigtausend Kraniche in etwa 750 Fuß Höhe über dem Südufer des Roten Meeres, 20.2802° N, 38.5126° O. Ungewöhnliche Schwarmbewegung östlich von Akko, Achtung Küstenwache, Unwetterwarnung. Ein Schwarm Kanadagänse, voraussichtlich um 0200 Stunden östlich von Ben Gurion, genaue Koordinaten folgen. Zwei Wüstenuhus in Bäumen gesichtet, in der Nähe von Helipad B, Südhebron, 31.3200° N, 35.0542° O.

Am meisten haben die Mitarbeiter im Herbst und im Frühjahr zu tun, wenn ganze Vogelpopulationen auf die Reise gehen: Manchmal sehen ihre Radarschirme aus wie Rorschachtests. Sie arbeiten mit Vogelkundlern am Boden zusammen, obwohl ein guter Tracker an der Formation des Schwarms und an der Flughöhe intuitiv erkennt, welche Art er auf dem Schirm hat.

Auf der Militärakademie werden Kampfpiloten mit dem komplexen Zugverhalten der Vögel vertraut gemacht, damit sie in besonders vogelreichen Gebieten nicht ins Trudeln geraten. Alles ist von Bedeutung: Eine große Pfütze auf dem Rollfeld kann einen Schwarm Stare anlocken; ein Ölfleck kann die Flügel eines Raubvogels schlüpfrig machen und ihm die Orientierung nehmen; ein Waldbrand kann eine Gänseschar vom Kurs abbringen.

In der Vogelzugsaison bemühen sich die Piloten, möglichst selten unterhalb von dreitausend Fuß zu fliegen.

Ein Schwan kann für einen Piloten so tödlich sein wie eine Panzerfaust.

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Im Herbst der Ersten Intifada verfing sich ein Vogelpaar auf dem Weg von Europa nach Nordafrika in den Japannetzen an den Westhängen von Bait Dschala. Ihre Füße hingen am selben Faden fest, sodass es auf den ersten Blick aussah, als handle es sich um einen einzelnen unförmigen Vogel, der panisch mit den Flügeln schlug.

Entdeckt wurden sie von dem vierzehnjährigen Tarek Khalil, der zunächst Zweifel hatte, ob es sich bei den winzigen Vögeln wirklich um Zugvögel handelte: Vielleicht waren es Mönchsgrasmücken. Er ging näher heran. Ihr qualvolles Piepen verblüffte ihn. Er befreite sie, setzte jeden in einen Stoffbeutel und trug sie zur Beringungsstation auf dem Berg, um sie bestimmen und vermessen zu lassen: die Länge der Flügel und Schwanzfedern, Gewicht, Geschlecht, Körperfettanteil.

Noch nie hatte Tarek solche Geschöpfe gesehen: grüne Köpfe, geheimnisvoll, wunderschön. Er blätterte in Vogelbüchern, ging das Archiv durch: Singvögel, wahrscheinlich aus Osteuropa oder dem Kaukasus. Er war sich nicht sicher, was er mit ihnen anstellen sollte. Es war seine Aufgabe, winzige nummerierte Aluminiumringe an ihren Beinen zu befestigen, damit man später ihre Zugbewegungen dokumentieren konnte.

Tarek griff zur Zange und bereitete die Ringe vor. Die mageren Vögel wogen nicht mehr als ein Teelöffel voll

Nach kurzem Zögern steckte er die Vögel wieder in die Beutel und nahm sie mit nach Hause. Vorsichtig stieg er die steilen, kopfsteingepflasterten Gassen von Bait Sahur hinauf. Käfige wurden in der Küche aufgehängt. Zwei Tage lang wurden die Ortolane von seinen beiden Schwestern gefüttert und mit Wasser versorgt. Am dritten Tag trug Tarek die Vögel unberingt zurück zum Berghang, um sie zwischen den Aprikosenbäumen freizulassen.

Einer verweilte einen Augenblick auf seiner Handfläche. Die Krallen zwickten an einer Schwiele. Tarek ließ ihn von Finger zu Finger wandern, bis der Vogel ihm dem Rücken zukehrte. Der Ortolan schwang sich unsicher auf, dann flatterte er davon.

Zum Andenken zog der Junge die beiden Aluminiumringe mit den fortlaufenden Nummern auf eine dünne Silberkette.

Die Ringe hüpften an seinem Hals, als er zwei Monate später mit seinen großen Brüdern hinunter zur Straße der Maria ging, um Steine zu schleudern.

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Die Beringungsstation auf dem Campus der Talitha-Kumi-Schule ist eine von zweien ihrer Art im Westjordanland: Sie gehört zu einem Umweltbildungszentrum, zusammen mit einem Museum für Naturgeschichte, einem Wasseraufbereitungsprojekt und einem botanischen Garten, in dem Jasmine, Stockrosen, Disteln, Pillen-Brennnesseln und üppige Steppenrauten blühen.

Im Tal gibt es so viele neue Straßen und Brücken, Tunnel und Wohnhäuser, dass es die Vögel zu dem schmalen Hangstück zieht, wo sie zwischen Obstbäumen und hohen Gräsern rasten und fressen können.

Zwischen den Tamarisken, Olivenbäumen, Opuntien und Blütensträuchern über das vier Hektar große Zentrumsgelände zu schlendern ist wie ein Spaziergang auf dem Rand einer kollabierenden Lunge.

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Oft erscheint ein Luftschiff am Himmel über Jerusalem. Es schwebt über der Stadt, taucht kurzzeitig ab, steigt wieder auf und verschwindet. Von den Hügeln um Bait Dschala – ein paar Kilometer weit entfernt – ähnelt das komplett weiße Luftschiff einer kleinen Wolke, einer weichen Beule, einem riesigen Insekt.

Ab und zu nutzen Vögel es als Mitfahrgelegenheit, lassen sich träge drei, vier Kilometer durch die Lüfte kutschieren, bevor sie wieder herabstoßen: eine Nachtigall auf dem Rücken eines Adlers.

Meistens schwebt das Luftschiff, von der israelischen Besatzung und den Radartechnikern Fat Boy Two getauft, in einer Höhe von etwa tausend Fuß. Es ist aus Kevlar und Aluminium. Die gläserne Gondel an seinem Bauch bietet Raum für dreizehn Menschen. Sie ist ausgestattet mit Computern und leistungsstarken

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Ramis Kennzeichen ist gelb.

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Er blickt auf die Uhr im Cockpit, dann auf die Armbanduhr. Kurze Verwirrung. Eine Stunde Unterschied. Das Ende der Sommerzeit. Sicher, die Armbanduhr lässt sich problemlos zurückstellen, aber der Tag ist durcheinander. Jedes Jahr ist es dasselbe: Mindestens ein paar Tage lang ist es im Westjordanland eine Stunde früher.

Er kann es nicht ändern. Es lohnt sich nicht, wieder nach Hause zu fahren. Er könnte die Zeit auf der Landstraße totschlagen. Oder über die Nebenstraßen, durch die Täler kurven. Sich eine Strecke suchen, wo er die Maschine herausfordern, dem Tag ein bisschen einheizen kann.

Er schaltet in den Vierten, beobachtet die rote Nadel auf dem Tourenzähler, schießt an einem Sattelzug vorbei und schaltet in den Fünften.

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Ein Gummigeschoss, das aus einer M16 mit aufgesetztem Metallrohr abgefeuert wird, verlässt den Lauf mit einer Geschwindigkeit von über hundertsechzig Stundenkilometern.

Sie wurden erstmals in Nordirland eingesetzt, wo die Briten sie Knieschläger nannten: Die Kugeln sollten vom Boden abprallen und die Beine der Demonstranten treffen.

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Das Gummigeschoss, das Abir tötete, flog fünfzehn Meter durch die Luft, bevor es sie am Hinterkopf traf und ihre Schädelknochen zertrümmerte wie die eines winzigen Ortolans.

Sie hatte sich gerade etwas Süßes gekauft.

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Für zwei Schekel hätte Abir ein Armband mit der Aufschrift Er liebt mich, er liebt mich nicht haben können. Stattdessen kaufte sie zwei iswarit mlabase: rosa, orange, gelbe und hellblaue Zuckerperlen, aufgefädelt auf einem Gummiband, das man sich übers Handgelenk streifen konnte.

Sie schob das Geld über den Tresen, und die Ladenbesitzerin angelte zwei Armbänder aus dem hohen Glas.

Auf dem Rückweg zur Schule schenkte Abir das zweite Armband ihrer Schwester Areen.

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Seit Abirs Tod geht Bassam fast jeden Tag eine Stunde vor Sonnenaufgang in die Moschee, zum freiwilligen Gebet vor dem Morgengrauen.

Er wirft die Kippe auf den Gehweg, tritt sie mit dem Turnschuh aus, streicht das weiße Hemd glatt, geht einsam die Stufen hinauf. Vor dem Eingang zieht er die Schuhe aus, betritt mit dem rechten Fuß die Moschee, kniet am Ende der Halle nieder und verneigt sich vor seinem grenzenlosen Gott.

Er betet für seine Frau, seine fünf Kinder, für die verstorbene Abir. Allah, schütze uns vor offenen und verborgenen Abscheulichkeiten. Gebetsperle für Gebetsperle gleitet durch seine Finger.

Wenn das Morgenrot durch die Fenster dringt, säumt ein schmaler Schattenstreifen die steinernen Stufen. Bassam fegt den Boden mit einem Reisigbesen und rollt die Gebetsteppiche aus, die entlang der Ostwand stehen.

Von draußen der Geruch nach Holzkohle und Hanf. Das Brummen des erwachenden Verkehrs, der Trost des Muezzins, das Gebell streunender Hunde.

Bassam schreitet gewissenhaft die Wand ab, legt den gesamten Fußboden mit Teppichen aus. Dann folgen die Takken und Gebetsketten für das erste Gebet des Tages.

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Als Ort im Nirgendwo wirkt Anata wie ein sonderbarer urbaner Archipel – eine palästinensische Stadt im

In den oberen Hanglagen finden sich ein paar schöne Häuser – weißer Stein, Marmorsäulen, hohe Bögen, große Fenster –, doch darunter macht sich schnell Chaos breit.

Der Hang ist steil und unwegsam. Satellitenschüsseln sprießen aus den Dächern. Tauben kreischen in Käfigen. Wäsche flattert auf von Haus zu Haus gespannten Leinen. Jungen mit nacktem Oberkörper weichen mit ihren Fahrrädern Schlaglöchern aus. Sie fahren bergab, vorbei an Müllbergen und überquellenden Containern.

Auf den ampellosen Straßen herrscht dichter Verkehr. Überall Leuchtreklame. Reifendienste, Bäckereien, Handyreparaturbuden. Männer täuschen im Schatten Lässigkeit vor. Über ihnen Wolken aus Zigarettenrauch. Frauen eilen in Hidschabs vorbei. Vor den Fleischereien hängen Lammkadaver trostlos an Haken. Popmusik plärrt aus den Lautsprechern. Überall liegt Schutt.

Die Stadt stößt an das Flüchtlingslager Shuafat. Shuafat wächst in die Höhe, Wohnhaus für Wohnhaus wird aufgestockt. Es bleibt nur der Weg in den Himmel.

Es ist einfach, in das Lager zu gelangen – man muss nur das eiserne Drehkreuz am Checkpoint passieren und die Straße hinuntergehen –, doch herauszukommen ist schwieriger. Wer nach Jerusalem will, benötigt einen Ausweis oder einen Passierschein. Um in andere Teile des Westjordanlands zu fahren, bleibt einem – wenn man wie Bassam ein grünes Nummernschild hat – nur eine von Schlaglöchern übersäte Straße.

Der Rand einer kollabierenden Lunge.

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Stellen Sie es sich so vor: Sie sitzen in Anata auf der Rückbank eines Taxis, in den Armen ein kleines Mädchen. Das Mädchen wurde gerade von einem Gummigeschoss am Hinterkopf getroffen. Sie sind unterwegs ins Krankenhaus.

Das Taxi steht im Stau. Die Straße durch den Checkpoint nach Jerusalem ist gesperrt. Wenn Sie versuchen, die Grenze unerlaubt zu überqueren, werden Sie bestenfalls festgenommen. Schlimmstenfalls werden Sie und der Fahrer, trotz des schwerverletzten Kindes auf dem Rücksitz, erschossen.

Sie senken den Blick. Das Kind atmet noch. Der Taxifahrer hupt. Ebenso der Wagen hinter Ihnen. Das Fahrzeug vor Ihnen stimmt mit ein. Das Hupkonzert wird lauter und lauter. Sie sehen aus dem Fenster. Das Taxi schiebt sich an einem Müllhaufen vorbei. Plastiktüten flattern im Wind. Sie kommen nicht voran. Die Hitze ist unerträglich. Schweiß tropft von Ihrem Kinn auf den Kunstledersitz.

Der Fahrer hupt wieder. Wolkenfetzen ziehen über den blauen Himmel. Als das Taxi anfährt, versinkt ein Vorderrad in einem Schlagloch. Die Wolken, denken Sie, sind hier das Schnellste. Dann bewegt sich etwas: Zwei Hubschrauber schneiden sich durch das Blau.

Etwas in Ihnen will aussteigen, das angeschossene

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Der biblische Jeremia – auch bekannt als der klagende Prophet und von Gott dazu bestimmt, vor drohendem Unheil zu warnen – soll im alten Anata geboren worden sein. Sein Bildnis ist an der Decke der Sixtinischen Kapelle in Rom zu sehen, gemalt von Michelangelo im frühen 16. Jahrhundert.

Das Gemälde, das sich schräg über dem Altar im vorderen Teil der Kapelle befindet, zeigt den bärtigen Jeremia sitzend in lachsfarbenen Gewändern, die Hand vor dem Mund, den Blick nachdenklich zu Boden gerichtet.

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Bis heute geht Bassam das Zuckerarmband seiner Tochter nicht aus dem Sinn. Im Krankenhaus traf er auf den Taxifahrer und die Ladenbesitzerin, die mit Abir auf dem Rücksitz gesessen hatte. Man hatte Abir den verlorenen Schuh wieder angezogen, doch das Armband war verschwunden: Es war nicht in ihrer Hand, nicht an ihrem Handgelenk, nicht in den Jackentaschen.

Im Operationssaal küsste Bassam sie auf die Stirn. Abir atmete noch. Die Monitore piepten leise. Es war ein Krankenhaus, das selber ein Krankenhaus brauchte. Die Ärzte taten alles, was in ihrer Macht stand, aber es fehlte an den nötigen Geräten.

Zwei Stunden später – der Krankenwagen stand kurz vor dem Checkpoint immer noch im Stau – griff Bassam in Abirs Schultasche und fand unter ihrem Mathebuch die Süßigkeit.

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Der Schuss kam aus einem fahrenden Jeep. Aus der Metallklappe in der Hecktür, zehn mal zehn Zentimeter groß.

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Der Kommandant der Grenzpolizei schrieb in seinem Bericht, der Jeep sei von einem nahegelegenen Friedhof mit Steinen beworfen worden. Seine Leute, fuhr er fort, seien in Lebensgefahr gewesen.

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Abir war zehn Jahre alt.

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Sie kam mit Areen und zwei Freundinnen aus dem kleinen Lebensmittelladen. Es war kurz nach neun. Die Wintersonne schien. Die Mädchen mussten zurück zur Schule. Gleich würden sie einen Mathetest schreiben, das große Einmaleins.

Das Sonnenlicht schnitt die Straße entzwei. Die Mädchen passierten die Bushaltestelle, wichen der Straßensperre aus. Ihre Schatten glitten über die Betonpoller.

Zwölf mal zwölf, einhundertvierundvierzig.

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Als der gepanzerte Jeep um die Ecke bog, rannten die Mädchen los.

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Die Kugel war mit einem Spezialgummi überzogen, doch der Kern war aus Metall. Als sie Abirs Kopf traf, verformte sich das Gummi, dann federte das Geschoss, ohne

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Die Soldaten nannten die Gummigeschosse Lazaruspillen: Wenn möglich, konnte man sie aufsammeln und wiederverwenden.

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Im Jahr nach der Jahrtausendwende baute ein Künstler aus Bait Dschala winzige Futterröhren aus ausgehöhlten Gummigeschossen: Er versah sie mit kleinen Löchern, füllte sie mit Vogelfutter und befestigte sie mit dünnem Draht in den Bäumen.

Die hängenden Geschosse lockten zahlreiche kleine Vögel an: Schafstelzen, Sperlinge, Rotkehlpieper.

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Der Grenzpolizist war achtzehn.

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Während der Militäroperationen im Libanon in den 1980ern mussten die israelischen Soldaten mit ihren Truppenkameraden für offizielle Fotos posieren, bevor sie zu ihren Einsätzen aufbrachen.

Als sie vor die Kamera traten, bat sie der Fotograf, sich so aufzustellen, dass zwischen ihnen und ihren Nachbarn eine Handbreit Platz blieb.

Manche Soldaten hielten es für ein Ritual, andere für eine Weisung von oben, wieder andere sahen darin ein Zeichen von Anstand und Demut.

Die Soldaten gruppierten sich neben Panzern, in Zelten, vor Etagenbetten, in Waffenkammern, Musikpavillons, Kantinen, vor Wellblechstapeln und den grünen Hügeln des Libanons. Mützen wurden zurechtgerückt: olivbraun, pechschwarz, taubengrau.

Die Fotos waren ein Schauspiel der Gesichtsausdrücke: Furcht, Wagemut, Anspannung, Unbehagen, Überheblichkeit. Auch Verwirrung, auf die Aufforderung hin, noch etwas weiter auseinanderzurücken. Nach dem Fototermin zogen die Soldaten in den Krieg.

Manchmal offenbarte sich der Grund nach ein paar Tagen, manchmal erst nach Wochen oder Monaten: Die Lücken zwischen den Soldaten waren nötig, um die Gesichter der Toten mit einem roten Kreis zu markieren, wenn das Foto in der Zeitung abgedruckt oder im Fernsehen gezeigt wurde.

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Um einen Vogel zu markieren, muss der Metallring mit einer Ringzange vorsichtig um das Bein geschlossen werden.

Zeitungsredakteure und Fernsehproduzenten legten der Optik halber Wert auf klar getrennte Linien. Oft wies ein einziges Foto fünf oder sechs Kreise auf.

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Um einen Vogel aus einem hängenden Japannetz zu befreien, muss der Ornithologe zuerst die Zehen von dem dünnen Nylonfaden lösen und dann – je nachdem, wie lange der Vogel schon festhängt und wie sehr er sich gewehrt hat – in aller Ruhe die Füße, die Knie, den Rumpf, die Achseln und zum Schluss den Kopf losbinden. Gleichzeitig muss er die Flügel gegen das pochende Herz drücken und aufpassen, dass ihm der Vogel mit dem Schnabel oder den Krallen nicht die Finger aufreißt.

Der Vorgang ähnelt dem Entwirren einer feingliedrigen Kette.

Oft schiebt der Ornithologe dem Vogel einen Kuli oder einen Bleistift zwischen die Krallen, damit er sich daran festhalten kann. Bei größeren Vögeln verwendet man Äste oder abgesägte Besenstiele.

Bisweilen fliegt ein Vogel nach der Beringung samt Besenstiel davon.

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Ein Vorläufer des Gummigeschosses wurde schon in den 1880ern in Singapur eingesetzt, als die Polizei mit Besenstielsplittern auf Aufständische schoss.

Viele der israelischen Soldaten im Libanon wurden durch französische Milane getötet, Panzerabwehrraketen, die von der Regierung Mitterrand zu Tausenden nach Syrien geliefert und dann auf dem Schwarzmarkt an die Hisbollah weiterverkauft wurden.

Andere starben durch sowjetische T-55-Panzer, die als schwerfällig und unbrauchbar galten, bis ein General auf die Idee kam, sie im Boden einzugraben und wie ein MG-Nest einzusetzen. Nur der Kanonenlauf schaute heraus: Die Guerillakämpfer nannten sie Sargpanzer. Aufgrund der Tarnung waren sie aus der Luft schwer aufzuspüren, doch einmal entdeckt, ließen sie sich problemlos sprengen.

Sechs Soldaten starben bei einer die «Nacht der Drachen» genannten Operation, als zwei Guerillas mit selbstgebauten, von Rasenmähermotoren angetriebenen Flugdrachen über die libanesische Grenze flogen und ein israelisches Heerlager angriffen. Sie waren mit russischen Kalaschnikows und Handgranaten aus tschechischer Herstellung bewaffnet, aus einer Fabrik unweit des ehemaligen deutschen Konzentrationslagers Theresienstadt.

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Bis heute, heißt es, machen Zugvögel um die Felder von Theresienstadt einen Bogen.

In der Nacht der Drachen bemerkte der israelische Wachposten Irina Cantor am dunklen Himmel ein schwaches Leuchten. Cantor, die zwei Jahre zuvor aus Australien eingewandert war, hatte gerade erst den Militärdienst angetreten.

Sie hielt es für eine ferne Lichterscheinung, eine optische Täuschung vor den ausgefransten Wolken.

Vor dem Militärgericht sagte Cantor später aus, sie sei, als die ersten Schüsse fielen, so durcheinander gewesen, dass sie beim Anblick des Flugdrachens geglaubt habe, ein riesiger prähistorischer Vogel stoße aus der Finsternis herab.

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Man stelle sich vor, ein Schwan wird in die Turbine eines Kampfflugzeugs gesogen. Mayday, Mayday, Mayday. Das harsche Knacken des langen Flügels. Die wirbelnden Rotoren. Mayday, Mayday, Mayday. Der Motor stottert, Federn stieben, Bänder reißen, Knochen werden zermalmt. Die Turbine spuckt Schnabelsplitter aus. Mayday, Mayday, Mayday.

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Man stelle sich weiter vor, dass der Pilot samt Sitz aus dem Flugzeug katapultiert wird, mit einer Kraft, die der eines Gummigeschosses ähnelt.

Der Ausdruck Mayday, abgeleitet vom französischen Venez m’aider – Kommt mir helfen –, wurde 1923 in England geprägt. Der Notruf erfolgt immer dreimal, Mayday, Mayday, Mayday. Die Wiederholung ist notwendig, damit es, zum Beispiel bei hohem Lärmpegel, nicht zu Missverständnissen kommt.

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Die M16, mit der auf Abir geschossen wurde, stammte aus einer Waffenfabrik bei Samaria in North Carolina. Es gibt eine Menge Samarias auf der Welt: acht in Kolumbien, zwei in Mexiko, je eines in Panama, Nicaragua, Griechenland, Papua-Neuguinea, auf den Salomonen, in Venezuela, Australien und Angola.

Auch die Hauptstadt des alten Königreichs Israel hieß Samaria.

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Um Gummigeschosse abzufeuern, wird ein Metallrohr auf die Mündungsbremse eines M16-Ordonnanzgewehrs gesetzt. Das Rohr fasst bis zu acht Geschosse. Als Treibladung werden Platzpatronen verwendet. Innen ist das Rohr mit Nuten versehen, die dazu dienen, die Flugbahn des Geschosses zu stabilisieren: Sie verlaufen helixförmig wie die Streifen einer Zuckerstange, sodass die Kugel in einer vollendeten Spirale aus dem Rohr schnellt.

Bei einem Fliegernotruf müssen alle Nichtbeteiligten Silence Mayday oder Funkstille wahren, bis die Situation geklärt ist. Um die Funkstille aufzuheben, gibt der Pilot die Meldung Silence fini aus.

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François Mitterrand wurde in seinem Geburtsort Jarnac beerdigt, am Ufer des Flusses, an dem er als Kind gespielt hatte.

Kurz bevor er starb, schlug er die Augen auf und sagte zu seinem Arzt: Ich bin innerlich zerfressen.