Wild like a River

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HAVEN

Ich glaube, er hat keine Ahnung mehr, dass er Snoops heißt, wenn er es überhaupt jemals wusste. Lautlos setzen seine Pfoten auf dem harten Waldboden auf, der hier bei den Klippen des Horseshoe Lake trocken und staubig ist, weil es schon seit einer ganzen Weile nicht mehr geregnet hat. Der Name Snoops ist für einen ausgewachsenen Puma wohl ohnehin nicht mehr sehr passend.

Als ich ihn zum ersten Mal sah, war sein sandfarbenes Fell noch gefleckt. Dad schätzte sein Alter auf etwa zehn bis zwölf Wochen. Eine ganze Weile war mein Vater schweigsam und mürrisch gewesen, weil er Snoops’ Schwester nicht rechtzeitig gefunden hatte und sie das Opfer von Kojoten geworden war. Was mit Snoops’ Mutter geschah, beschäftigte ihn, Nate und die anderen Ranger des Jasper National Park noch um einiges länger, doch letztlich kamen sie zu dem Schluss, dass sie höchstwahrscheinlich von Hobbyjägern abgeknallt und als Trophäe mitgenommen wurde – sie war und blieb wie vom Erdboden verschluckt.

Snoops macht noch ein paar Schritte in meine Richtung, dann sieht er auf, und ich bilde mir ein, dass er mich aus der Entfernung mustert. Die tiefstehende Abendsonne lässt sein Fell golden leuchten.

Enttäuscht seufze ich auf.

Ich weiß noch, wie er in meinen Armen lag, wie fasziniert ich von dem hellen, fedrigen Haar an seinen spitzen Ohren war und wie weich das weiße Fell um seine Schnauze herum. Damals war ich fünfzehn, und eine Weile hoffte ich, Dad würde mir erlauben, Snoops zu behalten. Doch natürlich tat er das nicht. «Ein Puma ist keine Hauskatze, Haven», erklärte er mir in diesem geduldigen Ton, den ich noch nie besonders gut ertragen konnte.

In den ersten Wochen, nachdem Dad ihn behutsam ausgewildert hatte, kam Snoops Abend für Abend wieder. Von der Veranda aus konnte ich ihn sehen, wie er unentschlossen zwischen den Baumstämmen stand und zu dem Blockhaus hinüberblickte, in dem er die ersten Wochen seines Lebens verbracht hatte. Dad verjagte ihn zuverlässig, sobald er Anstalten unternahm, sich dem Haus über die Lichtung hinweg zu nähern, und wir haben uns jedes Mal deshalb gestritten. Irgendwann kam Snoops nicht mehr, dafür begann ich umgekehrt, mich auf die Suche nach ihm zu machen. Einige Male noch tapste er tatsächlich in meine weit geöffneten Arme und rieb seinen Kopf an meiner Schulter, doch irgendwann beschloss er wohl, dass er nun zu erwachsen dafür sei. Beinahe vier Jahre

Ich bin froh, dass er zumindest nicht das Revier gewechselt hat, sondern dort blieb, wo auch schon seine Mutter lebte. Er hat es nur ein wenig erweitert. Das weiß ich, weil ich Snoops’ Markierungen und Kratzspuren an den Bäumen in der Nähe des Maligne Lake entdeckt habe.

Seufzend bücke ich mich nach dem Rucksack, den ich beim Anblick des Pumas vom Rücken habe gleiten lassen. Es wird noch etwas dauern, bis die Sonne verschwunden ist, aber ich habe einen fast vier Meilen weiten Rückweg vor mir.

Als plötzlich Stimmen zu hören sind, ziehe ich unwillkürlich den Kopf ein und fühle mich sofort albern deswegen. Ich hasse es, wenn ich mich verhalte wie Mowgli, das Dschungelkind.

Okay, von meinem Vater und ein paar Leuten aus Jasper abgesehen, komme ich selten mit Menschen in Kontakt, aber ich spreche deshalb ja nicht nur wölfisch oder so. In einer Trotzreaktion mir selbst gegenüber bleibe ich im Schatten der Bäume stehen. Snoops hat die Leute, die sich gerade nähern, offensichtlich sehr viel früher wahrgenommen.

Auf den Klippen unterhalb von mir tauchen zwei Typen auf. Sie tragen T-Shirts, Jeans und Wanderschuhe, und trotz – oder gerade wegen – ihrer riesigen Rucksäcke ist ihnen sofort anzusehen, dass sie keine Ahnung haben, wie man sich hier im Jasper National Park bewegt, ohne zum herumpolternden Störfaktor zu mutieren. Lachend stolpern sie über die dicken Wurzeln, die den Boden durchziehen, hängen ihre Rucksäcke an viel zu dünne Äste, die sich bedenklich unter der Last biegen, und beginnen, sich auszuziehen.

Moment.

Ähm.

Immerhin sein Freund trägt inzwischen Badeshorts. Vornübergebeugt steht er am Rand der Felsen, wohl um die Entfernung zur Wasseroberfläche abzuschätzen, und seine glatten, fast weißblonden Haare fallen ihm dabei in die Stirn. Der Horseshoe Lake schimmert unter ihm in einem tiefen Türkis, doch die Schönheit des Sees scheint ihn nicht zu beeindrucken.

«Na, Badehose vergessen, Jax?», wendet er sich an seinen Freund.

«Nope.» Der Typ namens Jax dreht sich um, während er in die Badehose steigt, die er gerade aus seiner Tasche gezogen hat. Verlegen trete ich einige Schritte hinter einen Baum zurück. Es wäre doch ziemlich peinlich, ausgerechnet jetzt entdeckt zu werden.

«Okay, nach dir.» Der blonde Typ wedelt auffordernd mit der Hand in Richtung See.

Die wollen von hier oben aber nicht einfach springen, oder?

«Sag doch einfach, dass es dir zu hoch ist, Cay.» Mit einem Lachen beugt sich der dunkelhaarige Kerl ebenfalls über den Rand der Klippe, dann verschränkt er die Hände im Nacken.

«Lenk nicht ab. Du traust dich doch nur selbst nicht», spöttelt Cay.

Auf diesen Satz hin lässt sein Freund die Arme sinken und stößt sich im nächsten Moment vom Felsen ab. Eine Sekunde lang scheint sich sein Körper der Schwerkraft zu widersetzen, dann stürzt er hinunter, durchschneidet die Wasseroberfläche und taucht Augenblicke später wieder auf. «Fuck, ist das kalt!»

Was für ein leichtsinniger Irrer. Der Horseshoe Lake gehört zu den tiefsten Seen in Jasper, doch es kommt immer wieder zu Unfällen, weil er an einigen Stellen trotzdem seine Untiefen hat oder die steilen Felsabhänge unter der Wasseroberfläche flacher werden. Ich weiß, dass es hier ungefährlich ist, doch ich bezweifle, dass dieser Jax das überprüft hat. Außerdem haben sie sich zwar nicht die höchsten Klippen ausgesucht, doch wenn man wie hier aus etwa acht Meter ungünstig auf die Wasseroberfläche prallt, kann man sich die Rippen oder mitunter auch gleich die Wirbelsäule brechen. Die riesigen Verbotsschilder, die überall stehen, sind zwar weitestgehend wirkungslos, aber definitiv nicht sinnlos.

Jax versucht zumindest nicht, seinen Freund zum Springen zu überreden. Er krault zu einer Stelle, an der er den See verlassen kann, und Sekunden später verschwindet er zwischen den Felsen. Keine Ahnung, wo er wieder rauskommen wird – mit Sicherheit weiß er das auch nicht –, aber ich trete jetzt endgültig in den Schutz der Kiefern zurück, um nicht entdeckt zu werden.

Der Kerl namens Cay wühlt in einem Rucksack herum, zieht eine Flasche Wasser heraus und entrollt dann eine Isomatte. Diese weißblonden Haare … er sieht aus, wie ich mir immer die

«Was hast du denn erwartet? Dass für die ganzen Elch-Influencer Sendemasten aufgestellt wurden?»

«Sehr witzig, Jackson.»

Cay steht auf und beginnt herumzulaufen, das Smartphone wie einen Kompass vor sich. Jackson wirft ihm einen kurzen Blick zu, bevor er wieder an die Felskante tritt. «Was hast du überhaupt vor? Willst du Pizza bestellen?»

«Nein, ich wollte nur ein paar Bilder hochladen.»

Ohne darauf etwas zu erwidern, springt Jackson erneut, kopfüber dieses Mal. Elegant taucht er ein und kommt erst nach langen Sekunden ein gutes Stück entfernt wieder zum Vorschein. Als er ein zweites Mal tropfnass auf dem Klippenvorsprung ankommt, müht Cay sich gerade mit einem Dosenöffner ab. «Was ist das für eine beschissene Dose? Ist die aus Titan oder was?»

«Gib mal her.» Jackson streicht sich die nassen Haare aus der Stirn. «Das nächste Mal packen wir nur Dosen ein, die man ohne Öffner aufkriegt. Oder am besten gleich einen Koch. Am besten einen, der dich auch noch tragen kann.»

Jackson grinst und reicht seinem Freund die geöffnete Dose. Dann streift er sich die Badehose von den Hüften, und ich wende mich endgültig ab. Mittlerweile habe ich ohnehin schon ein schlechtes Gewissen, sie so lang beobachtet zu haben.

Wie zuvor Snoops ziehe ich mich geräuschlos ins Unterholz zurück. Vielleicht frage ich Dad später, ob er etwas über die beiden weiß. Bei ihm oder bei Nate haben sie ihre Tour sicher angemeldet.

Während ihre Stimmen hinter mir verklingen, sagt mir mein

JACKSON

Es ist still und doch nicht still.

Der Mond strahlt so hell, dass es selbst im Zelt nicht völlig dunkel ist. Schwach kann ich Caydens Umrisse erkennen, der eingerollt in seinem Schlafsack nur etwa einen Meter von mir entfernt liegt. Vorhin ist er innerhalb von Sekunden eingeschlafen. Dass ich das Feuer gelöscht und die schmutzigen Teller notdürftig mit Taschentüchern gereinigt habe, hat er nicht mal mehr mitgekriegt.

Insektengeräusche. Ab und an ein Knistern oder Rascheln von Tieren, die sich unsichtbar im Wald bewegen. Den ganzen Tag über ist mir nicht einmal ein Kaninchen über den Weg gelaufen. Cayden, der meist ein gutes Stück hinter mir hergetrödelt ist, behauptet, er habe einmal ein Elchgeweih zwischen den Bäumen gesehen, aber wahrscheinlich waren es nur ein paar Äste. Ein Bild von dem Tier hat er jedenfalls nicht zustande gebracht.

Wir haben uns keine besondere Mühe gegeben, leise zu sein, weil wir gelesen haben, dass größere Tiere nicht darauf stehen, in ihren Revieren überrascht zu werden. Ich wiederum stehe nicht darauf, plötzlich über einen Grizzly zu stolpern. Also nehme ich in Kauf, bisher nur von nervigen Mücken begleitet zu werden. Und natürlich von Cayden, der phasenweise fast genauso nervig war. Als wir den Trip geplant haben, war er noch Feuer und Flamme, doch irgendwann im Laufe des Tages ist sein ursprünglicher Enthusiasmus verpufft, und ihm war

Die Luft im Zelt ist schwül und stickig. Am liebsten würde ich meinen Schlafsack nehmen und mich nach draußen legen. Eigentlich soll man abseits der Campingplätze nicht zelten, der Ranger sagte, sie sähen das nicht gern. Cayden und ich leiteten kein striktes Verbot daraus ab, auch wenn der Ranger noch hinzufügte, es sei zu unserer eigenen Sicherheit. Was soll schon groß passieren? Soweit ich das beurteilen kann, besteht das größte Risiko darin, von den Scheißmücken gefressen zu werden.

Cayden beginnt zu schnarchen, und ich richte mich auf.

Ein paar Minuten später liege ich mit gebührendem Abstand zur Steilkante auf dem harten Stein, über mir schwarze Baumwipfel, die sich gegen den nachtgrauen Himmel abheben. Wenn man lange genug zu den wenigen Sternen hinaufstarrt, die dem Mondlicht trotzen, scheint es einen förmlich ins All zu saugen. Moskitos gibt es keine mehr, vielleicht ist es ihnen zu kalt geworden. Der Gedanke, vor einigen Stunden noch von den Klippen gesprungen zu sein, kommt mir unwirklich vor. Wie es wohl wäre, jetzt in den See zu tauchen? Ins schwarze, silbrig glitzernde Wasser, das über meinem Kopf zusammenschlagen würde, kälter noch als die Nachtluft?

Einen Moment lang bin ich ernsthaft in Versuchung, bis mir einfällt, dass ich über die Felsen wieder hinaufsteigen müsste. Auch wenn der Mond alles mit einem hellen Schimmer überzieht, ist es für eine Kletterpartie eindeutig zu dunkel.

Ich stütze den Kopf in die Hand, um über den See blicken zu können, auf die hohen Felsen auf der gegenüberliegenden Seite und die riesigen Bäume, die sich fast bis zur Steilkante hindrängen. Ein Gemälde in Silber- und Grautönen.

Unwirklich. Unwirklich schön. Am liebsten möchte ich diesen Augenblick festhalten, mich darin auflösen und eins werden mit der Nacht …

Ich werde wach, weil ich friere, weil sich die Feuchtigkeit des Morgengrauens auf mein Gesicht gelegt hat und weil ein verfickter Bär nur ein paar Meter von mir entfernt mit der Schnauze die Plastikteller zum Klappern bringt, die ich letzte Nacht stehengelassen habe.

Mein erster Impuls, ausgelöst durch einen fast schon schmerzhaften Adrenalinstoß, ist, mich aus dem Schlafsack zu winden und über die Klippen zu springen, aber Cayden … Cay liegt noch in dem Zelt, dessen Eingang von diesem riesigen Vieh jetzt beschnüffelt wird.

Heilige Scheiße.

HAVEN

In meinem Bücherregal gibt es eine ziemlich abgeliebte Ausgabe von Little House in the Big Woods. Als Kind habe ich mir eingebildet, ich sei wie Laura, nur eben ohne Schwestern. Und ohne Mutter. Aber mein Dad war wie Lauras Vater: furchtlos, pragmatisch und eigenbrötlerisch. Mit seinem dichten, dunklen Haar und dem Vollbart sieht er sogar so aus, wie Lauras Vater im Buch beschrieben wird, und ich glaube, hätte mein Vater die Gelegenheit gehabt, unsere Sachen auf einen Planwagen zu packen und ein unbesiedeltes Land zu erforschen, er hätte keine Sekunde gezögert. Und ich hätte ihn begleitet, so wie ich ihn auch oft auf seinen Rundgängen durch den Jasper National Park begleitet habe.

Irgendwann einmal hat es eine Schule gegeben, doch meine Erinnerungen werden beherrscht von Wasserfällen, Seen, bunten Bergwiesen und endlosen Tannenwäldern.

Und natürlich von Tieren. Träge Wapitis vor der Veranda, die ich beobachtete, während ich meine Englisch- oder Mathelektionen durchging. Streifenhörnchen auf sonnenüberfluteten Felsen, Pikas, Dickhornschafe und weiße Schneeziegen, die noch den kleinsten Vorsprung in den Steinwänden finden, um sich fast senkrechte Berghänge hinaufzukämpfen. Kein einziges Mal habe ich eines der Tiere stürzen sehen, und selbst

Gedankenverloren stecke ich zwei Scheiben Weißbrot in den Toaster am Tischende. Der dunkle Holztisch hat eine massive Platte, er steht direkt vor dem Fenster, von dem aus man über die Veranda hinweg die derzeit sonnenbeschienene Lichtung vor unserem Haus überblicken kann. Mein Vater hat ihn selbst zusammengezimmert. Für zwei ist er perfekt, für drei etwas zu klein, so wie das ganze Haus. Es ist für zwei Leute gedacht, und seit Dad und ich hier wohnen, hat es auch nie eine dritte Person gegeben.

Die beiden Schlafkammern im ersten Stock haben niedrige Decken, darüber befindet sich ein Dachboden, den ich nur betrete, wenn ich die Kiste mit der Weihnachtsdekoration brauche. Früher habe ich dort oft mit den Kleidern gespielt, die sich in einer Truhe mit schwerem Deckel befanden, Schuhe, Hüte, jedes einzelne Stück viel zu groß für ein kleines Mädchen. Ich hatte das Gefühl, dass es mich meiner Mutter irgendwie näherbrachte, ihre Kleider zu tragen, obwohl sie nur noch nach dem Holz der Kiste rochen. Als würden mich die weichen Ärmel ihrer Pullover und Jacken umarmen, wenn sie es schon nicht mehr konnte. Irgendwann jedoch fand ich in einer Blusentasche einen silbernen Ring, und in der Sekunde, in der ich ihn mir über den Finger schob, blitzte eine Erinnerung in mir auf, kaum deutlich genug, um das Gedankenbruchstück zu erfassen. Ich habe Dad danach gefragt, und danach habe ich nie wieder Mums Sachen angezogen, weil er …

Der Toast schießt nach oben und unterbricht meine

Dad war schon fort, als ich vorhin aufgestanden bin. Er dreht am frühen Morgen seine erste Runde, und nicht immer wache ich rechtzeitig auf, um noch mit ihm zusammen in der Küche einen Kaffee zu trinken. Offiziell verschwindet er so zeitig, weil das zu seinem Job gehört, tatsächlich liegt es eher daran, dass er nach einer langen Nacht im Haus das dringende Bedürfnis hat, wieder rauszukommen. Vermutlich fühlt sich niemand innerhalb von vier Wänden so schnell eingeengt wie mein Vater.

Als mein Smartphone in meiner Jackentasche klingelt, bin ich gerade in den Garten gegangen, der neben unserem Haus liegt, um mir zum Frühstück noch ein paar Radieschen zu holen. Dad hat ihn eingezäunt, wegen der neugierigen – und gefräßigen – Wapitis, aber ich habe ihn selbst angelegt und nach ersten Misserfolgen mit der Zeit herausgefunden, was ich hier trotz der Schatten der hohen Fichten und Tannen zum Gedeihen bringen kann. Erbsen, Brokkoli und sogar Blumenkohl wachsen gemächlich vor sich hin. Meine Versuche, Apfel- und Kirschbäume zu züchten, habe ich allerdings aufgegeben. Einzig ein kümmerliches Walnussbaumpflänzchen trotzt allen Widrigkeiten – es heißt Mr. Strong.

«Hi, Dad.» Ich zupfe ein Radieschen aus der Erde und wische es an meiner Jeans sauber. «Alles okay?»

«Haven, setz dich in meinen Wagen und komm zum Horseshoe Lake. Es gibt da Probleme mit ein paar Wildcampern.»

Die beiden Typen von gestern. Hab ich’s doch geahnt.

«Brauchst du irgendetwas?»

Zwecklos, Dad zu fragen, was passiert ist. Er ist ohnehin kein sehr redseliger Mensch, und am Telefon sagt er nie mehr,

«Erste-Hilfe-Rucksack. Und Kühlpacks. Ich warte beim Parkplatz auf dich.»

«Bin gleich da», erwidere ich mit vollem Mund.

Kurz darauf lenke ich Dads Pick-up vorsichtig über schmale Waldwege. Sicherheitshalber habe ich sein Auto genommen, falls er damit nach Jasper muss, doch allzu große Sorgen mache ich mir nicht. Würde es sich um einen Notfall handeln, hätte Dad nicht mich angerufen, sondern direkt ein Rettungsteam angefordert. Mit ein paar Maßregelungen scheint es aber auch nicht erledigt zu sein. Das letzte Mal, als Dad mich zu sich gerufen hat, hatte sich eine Frau mit heißem Wasser verbrüht. Dad hat sie zusammen mit ihrem Freund ins Healthcare Centre nach Jasper gebracht. Wer von den beiden Typen wohl heute dort aufschlagen wird?

Diese Frage klärt sich, als ich den Parkplatz in der Nähe des Horseshoe Lake erreiche. Der blonde Typ – Cay, wenn ich mich richtig erinnere – ist noch um einiges blasser als gestern. Er und sein Freund sitzen im Gras, dort, wo ein schmaler, sandiger Weg zwischen den Bäumen hindurch zum See führt. Dad ist nirgends zu sehen.

Nur einer der beiden – Jackson, er hieß Jackson – erhebt sich, als ich aus dem Auto steige.

«Hi.» Ich werfe die Wagentür zu und blicke mich nach Dad um. Wo steckt er? «Ich bin Haven. Mein Vater hat mich angerufen. Ihr braucht Hilfe?»

«Sieht so aus. Hi.» Der Typ streckt mir die Hand entgegen und sieht mich neugierig an. «Ich bin Jackson. Und das hier ist Cayden.»

Ich nicke nur, während ich kurz die dargebotene Hand

«Wir hatten einen Unfall. Ich schätze, wir müssen in die Klinik», erklärt Jackson in das sich auftuende Schweigen hinein.

«Du kannst unser Zeug nicht einfach hierlassen», meldet sich Cay erstmalig zu Wort. «Du musst zurück und alles abbauen.»

Jackson sieht sich flüchtig nach ihm um, bevor sein Blick zu mir zurückkehrt. «Es war ein Bär», sagt er.

«Bitte?»

«Ein Bär. Da war ein Bär. Stand da einfach so rum und hat unsere Teller abgeleckt.»

Das erklärt, warum Dad nicht bei uns ist. Garantiert überprüft er gerade die nähere Umgebung. «Ihr seht nicht so aus, als hättet ihr mit einem Bären gekämpft», erwidere ich vorsichtig. Es liegt vermutlich nur an der mangelnden Routine, aber Gespräche mit Leuten in meinem Alter fallen mir nicht leicht.

«Cay hat sich wohl den Knöchel verstaucht.»

«Und wie ist das passiert?»

Ein abfälliges Schnauben aus Cays Richtung ist zu hören. «Ich wollte mit dem verdammten Bären Salsa tanzen. Wie soll es wohl passiert sein? Ich bin gestolpert.»

Auf Jacksons Gesicht erscheint ein Grinsen. «Er hat sich in einer Zeltschnur verheddert.»

«Worauf warten wir denn noch? Können wir nicht einfach fahren?»

Cays genervte Stimme verunsichert mich. «Wir warten auf meinen Vater.» Demonstrativ lehne ich mich gegen den Wagen und verschränke die Arme, um meine Nervosität zu überspielen.

«Ich bin vorhin aufgewacht, und dieses Riesenvieh stand da einfach direkt vorm Zelt.» Seine erste Begegnung mit einem Bären hat Jackson offensichtlich nachhaltig beeindruckt.

«Wie seid ihr rausgekommen?»

«Was?»

«Aus dem Zelt. Wie habt ihr es geschafft, den Bären zu verjagen?»

«Ich war nicht im Zelt. Ich hab draußen geschlafen, und als ich aufgewacht bin, war er einfach da.»

«Du hast direkt neben einem Bären im Schlafsack gelegen?»

Jackson zuckt mit den Schultern und reibt sich mit einer Hand den Nacken. Ob er in dieser Sekunde auch darüber nachdenkt, was alles hätte passieren können? Und warum genau ist eigentlich nichts passiert? Der Bär wird doch kaum einfach davongetrottet sein. Wenn er die Teller näher untersucht hat, hatte er garantiert vor, das Terrain noch etwas genauer auf Essbares hin zu sondieren.

«Ich lag in der Nähe der Klippen, direkt über dem Wasser. Zuerst dachte ich, ich spring einfach rein, aber Cay war ja noch im Zelt.»

Ein Hauch Anerkennung steigt in mir auf. Die beiden haben zwar abseits der Campingplätze ihr Zelt aufgeschlagen, sich offenbar etwas zu essen gemacht und die schmutzigen Teller leichtsinnigerweise neben dem Zelt liegenlassen – aber nachdem der Bär aufgetaucht ist, hat dieser Jackson an seinen schlafenden Freund gedacht, statt sich panisch in den See zu stürzen.

«Und was hast du dann gemacht?»

«Rumgebrüllt. Nach Cay gerufen. Dass ein fucking Bär vorm

«Aber der Bär ist verschwunden?» Keiner der beiden sieht aus, als habe er gerade ein Bad hinter sich.

«Ja, genau, er ist einfach in den Wald getrottet. Und Cay ist aus dem Zelt gerannt und hat sich sofort langgelegt, weil er eine der Zeltschnüre übersehen hat und – das war’s.»

«Das war’s?»

«Tja.» Jackson hebt die Schultern an. Einen Moment lang wirkt er so, als wolle er sich für das unspektakuläre Ende seiner Geschichte entschuldigen. «Direkt danach ist der Ranger aufgetaucht – dein Vater, nehme ich an. Hat mich wohl rumschreien hören.»

«Absolut jeder bis Edmonton hat dich rumschreien hören, Jax. Die Schallwellen haben den Bären weggepustet! Ich wusste gar nicht, was los ist – ich dachte, ich muss dich retten.»

Jackson lacht, obwohl sein Freund ziemlich sauer klingt. «Du bist in Unterhosen aus dem Zelt geschossen und hast dabei: ‹Ein Bär? Ein Bär? Wo ist ein Bär?›, geheult», erwidert er grinsend. «Was hattest du eigentlich vor? Dich ihm als Snack anbieten, damit ich verschwinden kann?»

«Ich wollte ihn erwürgen.» Cay krümmt die Finger, und ich überlege kurz, ob ich ihn darauf aufmerksam machen soll, dass er den Hals eines Bären nicht mal zur Hälfte mit den Händen umfassen könnte. «Und zwar völlig lautlos – hättest du noch im Zelt gelegen, wärest du nicht mal aufgewacht.»

«Und zum Frühstück hätte es Bärenschnitzel gegeben.»

«So ist es.»

«Von dir höchstpersönlich zubereitet.»

«Mit nichts als einem Dosenöffner.»

Cay lacht auf und zuckt im nächsten Moment zusammen, weil er offenbar vergessen hat, dass er den verstauchten Knöchel besser nicht bewegt.

Die Diskussion zwischen den beiden scheint nicht ernst gemeint zu sein, aber ich könnte nicht mit Sicherheit sagen, ob das von Anfang an der Fall war oder ob fast ein Streit ausgebrochen wäre. Als Jackson sich wieder mir zuwendet, lasse ich die Arme sinken und strecke den Rücken durch.

«Sollen wir Cay schon mal ins Auto verfrachten?», schlägt er vor.

«Wir sollten erst einmal den Knöchel fixieren. Es tut ihm sonst weh, wenn er sich bewegt.»

Genau genommen wäre das Dads Aufgabe. Wo bleibt er?

«Er könnte hüpfen. Wir haben ihn ja so auch bis hierher gekriegt.»

«Ja, und es hat scheißweh getan!», ruft Cay dazwischen.

«Es sind nur zwei Meter bis zum Wagen. Das wirst du wohl überleben.»

«Ist der Fuß wirklich nur verstaucht?», frage ich.

«Woher soll ich das wissen?», fragt Cay gereizt zurück. «Dein Vater meinte, das Außenband könnte auch gerissen sein, aber ich denke, da sollte besser mal jemand draufschauen, der was davon versteht.»

«Darf ich mal sehen?» Ich trete vor und beuge mich über sein Bein. Nach kurzem Zögern schiebt Cay die Jogginghose hinauf, die er trägt. Der Knöchel ist geschwollen und beginnt bereits, sich bläulich zu verfärben.

«Du solltest das kühlen», sage ich. «Und ein Verband, der alles stabilisiert, kann auch nicht schaden.»

«Nein, bin ich nicht.» Ich habe mich bereits aufgerichtet, um zur Beifahrertür des Pick-ups zu gehen und den Erste-Hilfe-Rucksack zu holen. Als ich mich umdrehe, hat Cay das Hosenbein wieder heruntergestreift.

«Ich glaube, ich lass da lieber einen Arzt ran.»

«So ein Verband ist keine große Sache», erkläre ich, doch Cay starrt mich nur ablehnend an. Keine Ahnung, warum er sich so anstellt, aber ich kann ihm den Verband ja schlecht mit Gewalt anlegen.

«Dann kühle die Schwellung wenigstens.» Fast bin ich mir sicher, dass er das eisgekühlte Gelpack, das ich vorhin extra noch in den Rucksack geworfen habe, ignorieren wird, doch er nimmt es mir wortlos aus der Hand und legt es über seinen Knöchel. Seine behutsamen Bewegungen machen deutlich, dass es wirklich ziemlich weh tun muss.

«Willst du dich lieber ins Auto setzen?», fragt Jackson.

«Wir sollten auf meinen Vater warten», werfe ich ein. Garantiert wird Dad auf einen Verband bestehen, und hier draußen lässt sich das leichter erledigen. Cayden öffnet den Mund, und ich mache mich auf erneuten Widersprich gefasst, doch bevor es dazu kommen kann, ist endlich Dads Stimme zu hören. «Vom Bären ist nichts zu sehen.» Mit weit ausholenden Schritten kommt er über den Waldweg auf uns zu. «Die Spuren führen zurück in sein Revier. Ich fahr dich jetzt nach Jasper», erklärt er in Richtung Cay und wendet sich dann an Jackson. «Was ist mit dir? Willst du mit?»

«Pack lieber unser Zeug zusammen», wirft Cay ein. «Ist ja kein Notfall hier.»

«Bist du sicher, dass ich dich nicht begleiten soll?», erwidert Jackson zögernd.

«Nein, aber …»

«Haven, warum hast du ihm denn keinen Verband angelegt?» Ohne eine Antwort abzuwarten, nimmt mein Vater mir den Rucksack aus der Hand und holt eine der Pappschachteln mit den elastischen Verbänden heraus. Diesmal widerspricht Cay nicht, als Dad ihm das Hosenbein bis zum Knie hinaufschiebt und die kalte Kompresse schnell und sicher mit einer der selbsthaftenden Bandagen umwickelt. Keine Minute später ist er damit fertig und richtet sich auf. Er nickt Jackson zu, der neben Cay tritt und ihn gemeinsam mit meinem Vater vorsichtig in eine stehende Position bringt, um ihn anschließend ins Auto zu verfrachten. Die Tür schließt sich vor Cays Gesicht, ohne dass er mir auch nur noch einen Blick gegönnt hätte. Absurderweise fühle ich mich einen Moment lang so, als sei ich schuld an seiner Verletzung.

Im Vorübergehen legt mein Vater mir die Hand auf die Schulter. «Danke für deine Hilfe.»

«Kein Problem.»

«Bis nachher», brummt er noch, dann wirft er die Fahrertür zu und setzt den Wagen zurück.

Jackson und ich stehen schweigend nebeneinander und sehen zu, wie er wendet und langsam vom Parkplatz rollt.

Dann ist er weg. Und ich stehe hier und weiß nicht, ob es sehr unhöflich wäre, mich jetzt zu verabschieden, um nach Hause zu gehen.

Wieso treffe ich eine solche Frau ausgerechnet hier? Lebt sie in dieser Gegend? Vielleicht in Jasper? Aber warum ist sie dann nicht mit ihrem Vater zurückgefahren? Soll sie so lange in meiner Nähe bleiben, bis sicher ist, dass ich alles abgebaut habe und verschwunden bin? Erwartet man von mir jetzt eigentlich, dass ich den Park verlasse? Werden dämliche, wildcampende Touristen, die obendrein auch noch Bären anlocken, verscheucht?

Und – um darauf zurückzukommen: Wieso treffe ich eine solche Frau ausgerechnet hier? Ich meine – bisher war es meine größte Hoffnung, zwischen den Bäumen vielleicht mal einen Hirsch herumlaufen zu sehen oder so. Und dann läuft mir eine Frau über den Weg, die aussieht wie eine Waldamazone.

«Okay, also ich …», beginnt sie.

«Unser Zeltplatz liegt nicht weit von hier entfernt», sage ich im gleichen Moment.

Unschlüssig schaut sie mich an. Sie wirkt nicht so, als habe sie geplant, mich zu begleiten, um mich zu überwachen.

«Ich meine … ich bau alles ab und bin dann weg», füge ich hinzu.

«Okay.»

Irgendwie unbeholfen schiebt sie beide Hände in die Taschen ihrer Jeans. Keine knallengen Jeans, so wie jede Frau sie trägt, die ich kenne. Eher so was wie ein etwas zerschlissenes Männermodell, mit ausgefransten Hosenbeinen, die bis über ihre Stiefel reichen. Sie trägt dazu ein helles T-Shirt und ihre Haare – wie kann man solche Haare haben? Sie sehen zerzaust aus, wild und irgendwie so, als würden sie in der nächsten Sekunde in Flammen aufgehen. Diese Farbe. In einem tiefen,

Habe ich gerade wirklich ‹Windzerzaustheit› gedacht?

Sie tritt einen Schritt zurück. «Gut, dann … also ich schätze, du kommst jetzt allein zurecht.»

Sie hat eine sehr helle Haut und keine Sommersprossen. Ich dachte immer, jeder rothaarige Mensch habe auch Sommersprossen, aber nachdem sie in diesem Fall eindeutig nicht unter einer Schicht Make-up liegen …

«Viel Spaß noch. Am besten, ihr campt das nächste Mal nicht abseits der dafür gekennzeichneten Plätze.»

Ich erwache aus der Versunkenheit, mit der ich sie wohl die letzten Sekunden angestarrt haben muss. «Danke. Ich meine … werden wir nicht. So wie’s aussieht, ist es für Cay ohnehin vorbei.»

«Ja, glaube ich auch.»

«Was ist mit mir? Muss ich eine Strafe zahlen oder so?»

«Hat mein Vater irgendetwas in dieser Richtung gesagt?»

«Nein.»

«Dann ist er wohl der Ansicht, ihr seid gestraft genug. Pack einfach euer Zeug und fertig.»

«Okay. Wollen wir zusammen frühstücken?»

«Was?»

Scheiße, das ist mir einfach rausgerutscht. Zusammen frühstücken. Ja, klar. Hier im Wald. Wir könnten Pilze essen oder Beeren, was ich beides noch nirgendwo gesehen habe, und ich mache uns eine Dose Erbsen dazu auf. Völlig absurd, und ihr

Trotzdem setze ich noch einen drauf. «Na ja, ich könnte uns Bohnen anbraten. Mit Bacon. Oder lockt das den Bären wieder an? Wir könnten sonst auf irgendeinen Campingplatz gehen.» Auch wenn ich keine Ahnung habe, ob es in erreichbarer Nähe überhaupt einen Campingplatz gibt. Bisher haben Cay und ich uns mit solchen Feinheiten nicht weiter aufgehalten.

«Ich esse so was nicht.»

«Was?»

«Bacon.»

«Oh, dann vielleicht … keine Ahnung – Tee? Ich hätte auch Tee da. Und dazu … Bananen?»

«Tee und Bananen?»

Großartig, Jax, in deinem ganzen Leben hast du noch nie so elegant eine Frau angegraben.

«Ja, warum nicht? Vielleicht, bevor ich alles zusammenpacke? Oder isst du auch keine Bananen?»

Sie guckt mich an, als überlege sie, ob ich zurechnungsfähig bin. Versuchsweise grinse ich ein wenig breiter. Frauen mögen mein Grinsen, zumindest habe ich das schon ein paar Male gehört.

«Also … ich glaube, ich gehe lieber nach Hause.»

«Klar.» Enttäuschung nicht anmerken lassen. War ohnehin alles viel zu unüberlegt und genau genommen eine eher dämliche Aktion. «Du hast vermutlich auch schon längst gefrühstückt.» Herrgott, hör endlich auf, Jax!

«Nein, das nicht, aber …»

Sie sucht so offensichtlich nach Worten, um sich aus dieser peinlichen Situation herauszumanövrieren, dass es mir endgültig leidtut, so hartnäckig gewesen zu sein.

«Okay», erwidert sie eindeutig erleichtert.

«Dann … also bis irgendwann mal vielleicht.»

«Ja. Bis irgendwann mal. Bleibst du denn noch, oder brichst du die Tour ab?»

«Ich weiß nicht. Wäre es in Ordnung, wenn ich noch bliebe?»

«Natürlich, warum nicht?» Jetzt sieht sie wieder verwirrt aus.

Ja, warum nicht? Es wäre schade, nach nicht einmal zwei Tagen wieder nach Hause zu fahren. Klar, Cayden wird erwarten, dass wir zusammen abreisen. Andererseits hat er selbst gesagt, er braucht mich nicht zum Händchenhalten.

«Kerkeslin ist übrigens ganz in der Nähe. Falls du nach einem Campingplatz suchst. Aber du musst erst nach Jasper, oder? Dann würde ich dir Wabasso oder auch den Wapiti Campground empfehlen. Auf beiden bekommst du mit großer Wahrscheinlichkeit einen Zeltplatz.» Sie hält inne, als sei ihr gerade aufgegangen, dass die Gefahr besteht, ich könne sie bitten, mir den Weg zu zeigen. «Also, dann hab noch ein paar schöne Tage.»

Jetzt geht sie endgültig. Keine Ahnung, wohin, doch plötzlich will ich es unbedingt wissen.

«Danke. Wohnst du hier in der Gegend?»

«Ja.»

«Okay, dann sehen wir uns ja vielleicht wirklich noch mal.»

«Vielleicht.»

Sie lächelt. Mir fällt auf, dass es das erste Lächeln ist, das ich auf ihrem Gesicht sehe. Bis zu dieser Sekunde hat sie durchgehend angespannt gewirkt. Ich verkneife mir jeden blöden Spruch in Richtung ‹Was muss ich tun, um mich noch einmal

«Wie heißt du noch mal?»

«Haven», sagt sie.

Haven. Mein neuer Lieblingsname.

HAVEN

Jackson.

Dieser Name schwirrt mir den gesamten Heimweg über im Kopf herum, und ich denke noch immer an ihn, während ich neben dem Kühlschrank stehe und Pickles direkt aus dem Glas esse.

Es ist Monate her, dass ich das letzte Mal länger mit jemandem gesprochen habe, der nicht über fünfzig ist. Das war im General Store in Jasper. Ein Mädchen wollte wissen, ob meine Haarfarbe echt sei. Ich fand die Frage absurd – wieso sollte ich mir die Mühe machen, die Farbe meiner Haare zu ändern? Sie dagegen fand es verrückt, dass ich wirklich hier lebe. Und nicht mal in Jasper mit seinen dreieinhalbtausend Einwohnern, sondern in einer kleinen Holzhütte mitten im Wald. Dann wollten ihre Eltern los, und das war’s.

Tee und Bananen. In Büchern lädt niemals ein Mann eine Frau zu Tee und Bananen ein. Aber was weiß ich schon vom Leben außerhalb von Büchern – eigentlich nicht mehr als das, was ich von meinen gelegentlichen Aufenthalten in Jasper mitbekomme. Und sehr viel ist das nicht, wenn man dort nur zum Einkaufen aufschlägt und um sich neuen Lesestoff aus Jaspers winziger Bibliothek zu besorgen. Seit Beginn meines Studiums besitze ich zu Hause zwar einen Rechner, doch die Verbindung

Vielleicht wollte dieser Jackson ja witzig sein. Bestimmt war seine Frühstückseinladung gar nicht ernst gemeint, und ich bin froh, dass ich dem aufflackernden Impuls, die Einladung anzunehmen, nicht nachgegeben habe.

Noch eine Gurke.

Wo er jetzt wohl ist? Ob er gerade nach einem Campingplatz sucht? Hat er wirklich vor hierzubleiben, obwohl sein Freund die Tour abbrechen muss? Falls ja, muss er nur einen der zwei Rucksäcke nach Jasper bringen, den anderen wird er dann beim Wabasso- oder Wapiti-Campingplatz abstellen.

Nach einem letzten Maiskölbchen stelle ich das Glas wieder in den Kühlschrank und gehe zu einem der beiden Sessel vor dem Kamin, um mich dort hineinfallen zu lassen.

Ein Frühstück mit einem Typen namens Jackson.

Ich lasse mich tiefer in das abgewetzte Polster sinken und lege beide Beine über die Sessellehne.

Cay mochte mich nicht, glaube ich, ohne dass ich auch nur die Spur einer Ahnung hätte, warum. Wären die beiden nicht gemeinsam unterwegs, würde ich auch annehmen, dass er Jackson nicht besonders mag. Aber vielleicht ist es einfach seine Art, spöttisch und ein bisschen abweisend zu sein. Menschen, die Dad kennenlernen, werden auch nicht so schnell schlau aus ihm, viele würden ihn wohl als mürrisch bezeichnen, einfach, weil er nicht so viel redet. Vielleicht ist dieser Cay unter anderen Umständen ja nicht ganz so unfreundlich.

Jackson dagegen … Jackson war nett. Bis auf diese Frühstückseinladung. Die war seltsam. Und er hat mich die ganze Zeit angesehen, als warte er auf etwas. Ob er auch nicht so recht gewusst hat, wie er sich verabschieden soll?

Das ist einer dieser Augenblicke, in denen es mir nicht besonders gut gefällt, ich zu sein. Haven, das Mädchen aus dem Wald. Normalerweise schiebe ich derartige Gedanken rasch wieder zur Seite, doch in letzter Zeit häufen sie sich. Es hat mich eigentlich nie gestört, so isoliert zu leben. Ich wollte auch nie zur Schule. Wieso sollte ich jeden Tag nach Jasper fahren und dafür meine Freiheit aufgeben? Sicher, Dad bestand darauf, dass ich zu Hause lernte. Er hatte sich lange Listen ausgedruckt, in denen stand, was ich in welchem Alter zu wissen habe. Nur die Abschlussprüfungen habe ich mit siebzehn auf der Highschool in Jasper gemacht und war dankbar, dass die angespannte Prüfungssituation das Getuschel der anderen auf ein erträgliches Maß reduzierte. Zwischen meinem Zuhause und dem der Schülerinnen und Schüler, die mich heimlich oder auch ganz offen musterten, liegen räumlich keine zwanzig Meilen, trotzdem war es, als käme ich mindestens vom Mond. Ich hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, mich an einer Uni zu bewerben, habe dann aber doch lieber ein Fernstudium in Umweltwissenschaften begonnen – ich will als Rangerin arbeiten, so wie Dad, das war für mich immer klar, und wo könnte ich bessere Voraussetzungen für diesen Job vorfinden als hier, im Jasper National Park?

Wenn ich jetzt in meinem Sessel sitze und mich mal wieder seltsam fühle, liegt das nicht daran, dass ich mir wünschen würde, ein anderes Leben zu leben. Aber mehr Kontakt zu Gleichaltrigen … vielleicht tatsächlich eine Freundin, mit der ich über alles reden kann …

Natürlich habe ich mir immer wieder mal Freunde gewünscht. Andere Kinder, die mit mir über den Waldboden gekrochen wären, um so dicht wie möglich an einen Elch heranzukommen, oder mit denen ich zu Beginn des Winters das erste zarte Eis des Medicine Lake mit Steinen zum Zersplittern gebracht hätte. Selbst Laura aus «Little House in the Big Woods» war in ihrem großen Wald nicht völlig allein. Sie hatte Schwestern, und hin und wieder bekamen sie Besuch von irgendwelchen Cousinen.

Es ist nicht so, dass ich mein Leben nicht lieben würde. Aber ich hätte dieses Leben manchmal einfach gern mit jemandem geteilt, mit jemandem, der nicht mein Vater oder Nate ist. Nate ließe sich wohl als Freund bezeichnen, und ich habe viel von ihm gelernt. Das sagt dann wohl auch schon alles. Er ist ein wunderbarer Mensch, aber er ist sogar noch älter als Dad.

Während ich den unsichtbaren Pfaden zwischen Felsen und Bäumen folge, die nur ich kenne, frage ich mich, wie es sich wohl anfühlen würde, wäre dieses Mädchen im Lebensmittelladen nicht nur eine flüchtige Begegnung gewesen, sondern jemand, den ich schon ein halbes Leben lang kenne. Wenn sie und ich ganz selbstverständlich zu mir gefahren wären, und dort hätten wir … ich weiß nicht, was würden wir tun? Uns unterhalten, nehme ich an. Über das, was wir uns wünschen, und über das, was uns fehlt.

Unwillig schüttele ich den Kopf, ohne verhindern zu können, dass mein Hirn den Faden immer weiterspinnt.

Dieses Mädchen, dessen Namen ich nicht einmal kenne, oder Jackson – es sind einfach nur Leute. Doch durch sie spüre ich, dass ich vielleicht irgendwann unser Haus im Wald verlassen muss. Nur für eine Weile. Um auszuprobieren, wie es wäre, irgendwo zu leben, wo man hundertmal am Tag hallo sagt und dauernd redet und jederzeit seine Gedanken mit anderen Menschen teilen kann.