Dieses Buch ist für meine Kinder.
Möge die Welt zu einem Ort werden, der eurer würdig ist.
Denn was weißt du, Frau, ob du den Mann retten kannst? Oder was weißt du, Mann, ob du die Frau retten kannst?
1. Korinther 7:16
Er ringt nach Luft. Blut rinnt in sein Auge. Seine Brille ist fort. Er hört, dass das Meer kommt, um ihn zu holen. So hat es nicht sein sollen.
«Jezebel», sagt er durch seine zerschmetterten Zähne, zwischen zwei pfeifenden Atemzügen, über die Wut hinweg, die ihn erfüllt. Er kriecht über den Felsen, kämpft mit seinen schmerzenden Händen, um Halt zu finden. «Komm her, du Jezebel.» Eine Welle klatscht ihm ins Gesicht, das Wasser dringt in seinen Mund. Aber er erreicht die steinerne Treppe, endlich, und schleppt sich nach oben. Er wird sie finden. Und dann wird es ihr leidtun.
Orkan Christine traf zur Überraschung der Küstengemeinden am späten Sonntagabend direkt auf die Küste der Riviera Maya in Mexiko. Die größten Schäden entstanden um Zihua herum. Während der Aufräumarbeiten konzentrieren sich die lokalen Behörden gleichzeitig darauf, Hinweise auf den Verbleib von Dr. Miles Markell zu finden, der bereits in eine Kontroverse verwickelt ist (klicken Sie hier, um die Einzelheiten über die aktuellen Vorwürfe gegen Markell nachzulesen; zwei weitere sind heute hinzugekommen).
Miles (52) und seine Frau Grace (35) leiteten eines ihrer berühmten therapeutischen Paarseminare im luxuriösen Harmony-Resort, La Hacienda, nahe Zihua – ein Sommercamp für reiche, unglückliche Menschen –, als der Orkan eintraf. Bisher gibt es nur wenige Informationen über die Lage, aber es heißt, dass Miles der einzige Vermisste sei, obwohl die Schäden an der Anlage beträchtlich seien. Offenbar gab es ansonsten keinerlei Verletzte – vermutlich deshalb, weil sich die Gäste in der riesigen Hauptvilla des Resorts verbarrikadierten, die bereits seit Jahrzehnten den in der Region regelmäßig auftretenden Wirbelstürmen und tropischen Unwettern standhalten konnte. Hunderte Einwohner der Gegend, die nicht evakuiert werden konnten, hätten darin Platz und Schutz finden können.
Heute Morgen wurde darüber hinaus bekannt, dass eine anonyme Gruppe mit Sitz in Texas, die über sich nur verlautbaren lässt, dass sie «Freunde» des Promi-Therapeuten seien, demjenigen eine Belohnung in Höhe von 500000 US-Dollar in Aussicht stellt, der Miles Markell findet. Diese Gruppe soll einer lokalen Sekte angehören. Es wird befürchtet, dass diese Summe Taucher aus der Gegend dazu verleiten könnte, im nach dem Unwetter weiterhin aufgewühlten Meer gefährliche Tauchgänge durchzuführen.
In den sozialen Medien entstand deswegen Empörung. Viele fragen sich, warum das Geld nicht zur Rettung der Existenz betroffener Einwohner von Zihua verwendet wird (denen die Markells nicht helfen wollten), deren Häuser vom Sturm zerstört wurden und die immer noch nach vermissten Familienmitgliedern suchen.
Eines wissen wir jedoch mit Sicherheit: Hinter dem Hashtag #MilesMarkell verbergen sich zurzeit merkwürdige Einträge. Bleiben Sie dran.
Sie: Haben Sie schon einmal von dieser klinischen Studie über Geheimnisse gehört?
Er: Kommt mir bekannt vor.
Sie: Ich habe in einer psychologischen Fachzeitschrift darüber gelesen. Wir haben darüber einmal bei einem Strategie-Meeting im Resort gesprochen. Weil es nämlich nicht immer so war – so, wie es heute alle behaupten. Es gab auch gute, ruhige Zeiten. Es gab Momente, in denen ich dachte, wir könnten etwas verändern. Momente, in denen ich glaubte, mein Leben sei vollkommen. (Pause.)
Er: Brauchen Sie ein Taschentuch?
Sie: Ich weine nicht. Ich brauche nur einen Augenblick. Ich vermisse es sehr, wissen Sie. Ich habe es geliebt, was ich getan habe. Und ich habe diesen Ort geliebt. Und dann kamen sie. Diese Frauen und ihre Ehemänner – ich brauche nur einen Augenblick.
Er: Nehmen Sie sich alle Zeit der Welt.
Sie: Sie klingen ungeduldig.
Er: Ich habe gerade gesagt: «Nehmen Sie sich alle Zeit der Welt.»
Sie: Ja, aber das geht schon eine Weile so. Wie lange treffen wir uns schon in diesem Zimmer?
Er: Ungefähr ein Jahr.
Sie: Sie langweilen sich bestimmt schon.
Er: Überhaupt nicht. Im Gegenteil. Sie waren Psychologin, das haben wir gemeinsam. Es verleiht unseren Gesprächen Tiefe. Und Sie sind meine Patientin. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, nicht …
Sie: Nicht, um mir meine Geheimnisse zu entlocken, nicht wahr? Aber wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Wir wissen beide, dass es nur um die Geheimnisse geht. Nur, dass ich Ihnen nicht alles erzählt habe. Ich habe Ihnen nicht erzählt, was wirklich passiert ist.
Er: (Ein scharrendes Geräusch.) Sie meinen, was mit Miles passiert ist? Wer ihn umgebracht hat? Wollen Sie heute darüber sprechen?
Sie: (Lange Pause.) In dieser Studie, die ich gerade erwähnt habe, heißt es, dass der durchschnittliche Mensch dreizehn Geheimnisse hat, mit denen er lebt. Von fünf davon hat er bisher keiner Menschenseele erzählt. Darum ging es damals im Resort: um Geheimnisse. Darum, Geheimnisse ans Licht zu bringen. Den Leuten dabei zu helfen, sie auszugraben. Aber dreizehn? Darüber denke ich immer noch nach.
Er: Ja, darum geht es in einer Therapie. Wir haben darüber ja schon gesprochen, über das Konzept, tief ins Unterbewusstsein des Patienten vorzudringen und das Thema zu finden, das er vermeidet, von dem er hofft, dass es unbemerkt bleibt. Oft liegt es eigentlich auf der Hand. Und doch …
Sie: Dreizehn Geheimnisse. Und fünf davon, die wir niemals jemand anderem anvertraut haben. Kommt Ihnen das viel vor?
Er: Die dreizehn Geheimnisse, oder die Tatsache, dass fünf für immer geheim bleiben?
Sie: Beides.
Er: Darüber müsste ich nachdenken.
Sie: Ich habe darüber viel nachgedacht. Ich hatte ja die Zeit dafür. Und ich finde das viel. Ich denke an die Leute im Resort in jenen letzten Wochen. Sie waren meine Testobjekte – und ja, Herr Doktor, ich gebe zu, dass es ein informelles und unzuverlässiges Testverfahren war, aber ich glaube dennoch, dass die Studie zu falschen Ergebnissen gekommen ist. All die Leute im Resort hatten nur ein Geheimnis. Jeder eins. Ich auch. Ich hatte auch nur eins. Aber es war ein großes Geheimnis. Und ich muss es lüften. Es ist Zeit. Ich kann nicht mehr damit leben. Miles Markell war nicht der, der er zu sein schien. Aber ich auch nicht.
Von: Miles und Grace Markell
An: Unsichtbare Verteilerliste
Betr.: Willkommen!
Willkommen, Freunde! Wenn keine unvorhergesehenen Ereignisse eintreten, solltet ihr alle gegen 16.00 Uhr ankommen, und wir treffen uns kurz danach auf der Terrasse zum Eröffnungsabend. Wir verstehen, dass ihr nach der Reise vielleicht ein wenig müde seid, aber die erste Übung ist nicht freiwillig (alle geplanten Aktivitäten sind Pflicht). Macht euch keine Sorgen, ihr werdet morgen noch viel Zeit haben, euch zu entspannen und richtig anzukommen. Aber bitte nutzt die Zeit auch, um die vorgeschlagene Lektüre zu lesen. Die Bücher, die ihr dazu braucht, liegen auf euren Nachttischen.
Nach dem Eröffnungsabend seid ihr herzlich eingeladen, euch in euren Luxusbungalow zurückzuziehen, wo euch euer persönliches Mehrgängemenü serviert wird. Unsere Belegschaft ist euch jederzeit per Knopfdruck zu Diensten; macht davon Gebrauch, wann immer es nötig ist. Ihr braucht keine Einführung. Alles bei Harmony in La Hacienda ist intuitiv. Versprochen.
Wir können es kaum erwarten, euch kennenzulernen!
In Solidarität
Dres. Miles und Grace Markell
PS: Keine Handys/Laptops/elektronischen Geräte! Die Schließfächer befinden sich in der Lobby. Ruth Abraham, unsere Ärztin, hilft euch, den zulässigen Kontakt zu euren Familien aufzunehmen. Von jetzt an wird jedwede Kommunikation ausschließlich im Resort stattfinden. Es herrscht außerdem ein striktes Alkohol-Verbot, ihr könnt eure Duty-free-Einkäufe also gleich wegwerfen. Bis bald!
Das Flugzeug kreiste über dem Meer, das die Farbe von Blaubeeren oder eines Türkis hatte, je nachdem, über welcher Stelle man sich gerade befand. Einen Moment lang wirkten die schaumigen Wellen beinahe wie nicht von dieser Welt, und alles, was sie sah, schien ihr entgegenzustreben. Sie dachte schon, das Flugzeug stürze ab. Aber das tat es nicht. Es lag an ihr.
Nach der Landung wurden die Passagiere in einen Kleinbus geleitet. Alle vermieden es, einander anzusehen. Johannas Kopf lehnte schwer an der Kopfstütze. Das Fahrzeug glitt sanft vom Flughafenparkplatz, aber als es auf eine Schnellstraße voller Schlaglöcher kam, legte sie die Hand an ihre Schläfe. Sie versuchte, sich auf einen Schwarm Vögel zu konzentrieren, der vollkommen synchron über den Himmel flog, und sich ihren Finger nicht als Bohrer vorzustellen, der den Druck mildern konnte.
«Wie machen sie das, was meinst du?», fragte sie.
«Wie macht wer was?»
«Die Vögel. Wie machen sie das, dass sie so harmonisch zusammen fliegen? Woher wissen sie, wie das geht?»
Das Handy ihres Mannes machte Ping. Er griff in seine Tasche und warf einen Blick auf das Display. Dann kicherte er und hielt es ihr hin. «Sieh dir das an», sagte er, aber sie wollte es sich nicht ansehen. Sie wollte mit jemandem darüber sprechen, wie Vögel auf eine Weise miteinander kommunizierten, die weit älter war als Radiowellen. Sie blinzelte und sah die Worte in Solidarität auf dem Display, fett. Sie wandte den Blick vom grellen Bildschirm.
Der Kleinbus wurde jetzt langsamer und fuhr durch ein Städtchen, dessen Gebäude sich am Straßenrand drängten. Geschäftsfassaden in Petrol, Gelb, Pink und Blau; Taco-Imbisse; strohgedeckte Lädchen; bunte Kleider und Hüte, die auf Stangen hingen; Hunde und Ziegen und Menschen. Johanna fing den Blick eines Mädchens in einem magentafarbenen Top auf, das an einer Bushaltestelle wartete, und fragte sich, wer das Mädchen wohl war, wo es wohnte und ob es glücklich oder traurig war. Sie würde es nie erfahren.
Früher waren sich Ben und sie einig gewesen, dass es falsch war, sich in einem Resort zu verkriechen, das dem Land, auf dem es stand, jegliche Wahrheit wegpoliert hatte, aber genau das würden sie in den nächsten beiden Wochen tun. Die Dinge, über die sie sich früher einig gewesen waren, waren jetzt so fremd, wie Johannas Gesicht dem Mädchen gewesen sein musste, als sie im Vorbeifahren stumm aus dem Busfenster geschaut hatte, in einem Dorf, das sie nie kennenlernen würde.
Sie spürte den Druck in den Ohren, als der Van eine steile Straße an den Klippen hinauffuhr. Die Räder sackten in ein Schlagloch. Der Bus befreite sich knatternd, und Ben nahm ihre Hand und drückte sie, als wären sie gerade knapp einer Gefahr entronnen – und vielleicht stimmte das auch. Der Abhang war schwindelerregend steil. Seine Hand war kühl und trocken, aber unter seiner Haut sah sie seinen nervösen Puls, bemerkte seinen ungleichmäßigen Atem, als wäre ein Orchester aus dem Takt geraten. Ihre eigene Hand war schweißnass. «Die fetten Buchstaben sind ein bisschen viel», bemerkte sie. Er lachte.
«Es wird bestimmt ziemlich intensiv.» Er drückte erneut ihre Hand, weil sie sich gegen eine Welle der Übelkeit krümmte. «Aber wir schaffen das.» Sie schaute nach links, wobei sie offenbar den unausgesprochenen Verhaltenskodex im Fahrzeug brach, denn die Frau auf der anderen Seite des Ganges schaute hastig weg. Ihr Haar war ein graubrauner Vorhang, der glänzte wie Glas. Wie bekam man so glänzendes Haar? Wurde einem das in die Wiege gelegt, oder musste man dafür bezahlen? Der Mann hatte silbernes Haar, das ebenfalls glänzte. Er tippte auf dem Display eines Smartphones herum.
«Nächstes Mal», sagte Ben, «machen wir etwas, was du möchtest. Vielleicht die Fahrradtour in Vietnam? Etwas ganz anderes. Versprochen. Nicht so etwas wie das hier.»
Es dauerte nicht lange, da kam ein Bauwerk in Sicht: eine Villa auf einem Hügel, von der Sonne beschienen, die ohne Vorwarnung begonnen hatte unterzugehen. Sie wirkte wie ein Stück orangefarbenes Papier, das in den Ozean glitt.
«Da ist sie», sagte Ben, und einen kurzen Augenblick lang dachte sie, er meine die Sonne.
Johanna sah, wie die hohen Fenster der Villa aufleuchteten. Es war, als wäre das Gebäude, das am Hang stand und in der Mitte von dampfenden Quellen umgeben war, eine riesige Sonnenuhr, die jetzt das Ende des Tages oder auch die wenige Zeit anzeigte, die ihnen noch blieb, um sie selbst und unbeobachtet zu sein. Die Auffahrt wand sich zwischen Bäumen hindurch, sodass die Villa, die Klippen und der Strand immer wieder auftauchten und wieder verschwanden, sie reizten, verschwanden, neckten, fort waren. In einem Moment konnte Johanna alles gleichzeitig sehen: die weiß getünchten Mauern, die Wellen, die gegen die Felsen schlugen, den weißen Sand, der zwischen den schwarzen Steinbrocken lag, zerklüftetes Mineral, das ins Meer ragte; im nächsten sah sie nichts außer Bäumen und Ranken und verspielten Vögeln.
«Wow», machte Ben.
«Ja, wirklich. Wunderschön.»
Aber er schaute nicht aus dem Fenster. Er nickte zur Seite, in Richtung der Frau mit dem polierten Haar und ihrem Mann mit dem silbernen Schopf. «Die gesamte Fahrt über.»
Johanna drückte sich die Fingerspitzen auf die Lider. «Wovon sprichst du?»
«Er ist am Handy. Wir sollten unsere Handys doch wegstecken.»
Johanna hörte, dass der Mann etwas von einer Sicherheitskontrolle sagte. «Wir sind für diese Leute verantwortlich», sagte er in drängendem Tonfall. «Abkürzungen können wir uns nicht leisten. Macht es noch einmal. Ja, die ganze Sache. Ich warte.»
«Na ja, wir sind ja noch nicht im Resort», gab Johanna zu bedenken. «Du hattest deins ja auch in der Hand.»
«Workaholic», flüsterte Ben. Sie verstand. Er brauchte das Gefühl, irgendwie weiter zu sein als die anderen. Zu glauben, dass ihre Eheprobleme im Vergleich zu denen der anderen geringfügig waren. Wir wussten immer, dass er einmal Jura studieren würde, sagte seine Mutter gern. Er kennt die Regeln für alles. Er stritt außerdem gern – aber das war eine andere Sache.
Der Kleinbus war jetzt an einem Kreisel vor der weißen Villa angekommen. Der Motor wurde ausgeschaltet. Türmchen, Kuppeln, Balkone, weiße Geländer, ein steiles Terrakotta-Dach und die einzelnen kleinen Bungalows, die darum herum wie Diamanten bis hinunter zum Strand verteilt waren. So viele Häuser. Mehr als nötig, so schien es, für nur zwölf Paare.
«Laden Sie die Energien Ihrer Ehe in einer überwältigenden und intimen Märchenumgebung wieder auf», hieß es in den Broschüren, die Ben an dem Morgen mitgebracht hatte, als er mit seinen Eltern zur Kirche gegangen und mit einem verzweifelten Flehen im Blick wiedergekommen war. Bitte, lass uns das hier versuchen. Verlass mich nicht. Lass uns daran arbeiten.
Dieser Ort hier war wirklich wie im Märchen. Johanna erinnerte sich an die eingestaubten Märchenbücher, die sie als Kind im Regal ihrer Großmutter gefunden hatte, Geschichten, die sie voll kindlichem Schrecken gelesen hatte – einem Schrecken voller Entzücken über Dinge, die nicht für leicht zu beeindruckende Geister gedacht waren – und in denen es um herausgepickte Augen und eine tote Bestie oder um eine verliebte Meerjungfrau ging, die sich in Meerschaum verwandelte, um ihrem Geliebten nicht im Wege zu stehen. Wahre Liebe, hatte Johanna schon sehr früh gelernt, hatte Konsequenzen. Ein Happy End hatte seinen Preis.
«Lass uns aussteigen», sagte Ben.
Vor dem Kleinbus standen in weißes Leinen gekleidete Resortmitarbeiter, die das Gepäck ausluden. Johanna roch das Salz in der Luft, den in der Sonne erwärmten Seetang, gebratenen Knoblauch und Chili aus einer weit entfernten Küche. Jemand drückte ihr eine Champagnerflöte mit Mangosaft in die Hand. Sie hielt das kalte Glas an ihre Stirn und dachte an ihren Hochzeitsempfang im MacArthur vor nur zwei Jahren. Die Bläschen im Champagner waren ihr an jenem Tag sofort zu Kopf gestiegen. Johanna hatte ihre Schwiegermutter dabei erwischt, wie sie sich auf der Toilette an der Schulter einer Freundin ausheulte. «Ich bin nur so glücklich», hatte sie gelogen, als sie Johanna gesehen hatte.
«Sie hätte auch ein Kleid wählen können, bei dem man diese Tattoos nicht so sieht», flüsterte die Freundin, als Johanna wieder ging. An diesem Abend hatte Johanna ihren ersten Migräneanfall gehabt. Kein besonders guter Start für ihre Flitterwochen.
Sie nahm einen Schluck Saft. Weit entfernt hörte sie das Meer, in der Nähe plätscherte Lounge-Musik aus Lautsprechern, die in den Felsen eingelassen waren. Ben ging voran, sein Glas in der Hand, und Johanna musste sich beeilen, um ihn einzuholen. Eine Frau trat vor, um ihn zu begrüßen, eine Frau, die Johanna kannte – wobei es ein wenig befremdlich war, jemanden zu kennen, den man noch nie zuvor gesehen hatte. Das hier war die Frau, die auf den Büchern abgebildet war, die Ben mit nach Hause gebracht hatte, die Frau aus den TED-Talks, die er für sie auf seinem Laptop abgespielt hatte, die Stimme aus den Podcasts, die sie sich beim Kochen angehört hatten. Dies war das strahlende Lächeln, das sie in den Ausschnitten der Sendungen Dr. Oz und The View gesehen hatte.
«Du musst Johanna sein», sagte Grace Markell.
Grace nahm ihre Hand, und Johanna vergaß ihre Kopfschmerzen. Aber Grace schüttelte ihre Hand nicht. Sie hielt sie einfach nur fest, lange genug, um ihrer Geste Bedeutung zu verleihen, aber nicht so lang, dass es unangenehm gewesen wäre. Sie sah Johanna dabei direkt in die Augen. Ihre Augen waren grau, wie Gewitterwolken. «Willkommen im Harmony», sagte sie. «Danke, dass du gekommen bist.»
«Danke, dass wir kommen durften», murmelte Johanna, und Grace ließ ihre Hand los. Eine jüngere, kleinere und stark geschminkte Frau mit aschblondem Haar, das sie zu einem straffen Dutt hochgesteckt hatte, stellte sich neben Grace. Sie sah aus, als wollte sie im Fernsehen auftreten.
«Ich heiße Ruth», sagte sie und schüttelte Johannas Hand auf und ab, ohne zu einem Ende zu kommen.
«Schön, Sie kennenzulernen», sagte Johanna und ließ ihre eigene Hand ganz schlaff werden.
«Ruth ist unsere Assistentin.» Grace warf einen Blick auf ihr Klemmbrett. «Ich glaube nicht, dass du auf ihrer Liste stehst …» Sie schüttelte den Kopf. «Nein, du stehst auf meiner und Ben auf Miles’ Liste. Aber ihr werdet Ruth trotzdem kennenlernen. Sie leitet einige der Gruppensitzungen.»
Ruth lächelte strahlend. Ein wenig fuchsiafarbener Lippenstift klebte auf ihrem Zahn. Dann hob sie ein Klemmbrett mit einem Blatt Papier hoch, das eng beschrieben war. «Sie müssen das hier bitte beide unterschreiben», sagte sie. «Das ist der Paarvertrag.» Johanna unterschrieb, ohne sich den Text anzusehen; Ben überflog ihn kurz und kritzelte dann seinen Namen darunter.
«Die Gepäckträger kümmern sich um eure Koffer», sagte Grace. «Ihr findet oben auf der Terrasse einen Tisch mit eurem Namen darauf, euer Check-in-Paket und alles andere, was ihr braucht. Wir versammeln uns dort.»
«Unsere Koffer … sind wo?» Johannas nervöse Euphorie verwandelte sich in plötzliche Panik. Sie hatte ihre Reisetasche auf ihre Koffer gestellt, und jetzt war sie verschwunden. Sie brauchte die Tasche: Ihre Tabletten befanden sich darin.
«Sie sind schon in eurem Bungalow», sagte Grace mit einem letzten Lächeln, das vermutlich beruhigend wirken sollte.
«Ich muss nur schnell in unser Haus gehen und …», fing Johanna an.
Aber Grace war schon weitergegangen und begrüßte das nächste Paar. Ruth folgte ihr wie ein Gänseküken seiner Mutter. Johanna fühlte sich irgendwie betrogen, als Grace die Hand der Neuankömmlinge nahm.
Ben zog sie hinter sich her. «Komm, wir gehen.»
Ruth hatte ihre Verträge in einen Umschlag gesteckt und schaute sich jetzt mit großen Augen nach Johanna um, viel zu interessiert.
Ich bin kein Versuchskaninchen, wollte Johanna schreien. Ich bin ein Mensch. Aber sie tat es nicht. Sie ließ ihren Mann vorangehen; sie überließ ihm die Führung.