«Das ist ein tolles Angebot», sagte Sophie, die nur ganz leicht bedauerte, dass sie es ablehnen musste. Eines Tages würde sie bestimmt dazu kommen, New York zu besuchen. «Aber ich kann es derzeit unmöglich einrichten.»
Angela verzog das Gesicht. «Ja, klar, es kommt auch wirklich sehr kurzfristig. Ich könnte Mel den Hals dafür umdrehen, dass sie sich das Bein gebrochen hat.»
«Das hat sie wohl kaum absichtlich gemacht», warf Sophie sanft ein.
«Na ja, es kommt gerade einfach furchtbar ungelegen. Ich habe zwar eine Menge Leute an der Hand, die sich darum reißen würden, für ein halbes Jahr Mels Stelle in New York zu übernehmen, aber du bist meine beste Food-Journalistin. Du würdest es hervorragend machen.»
«Das ist nett von dir, Angela …»
«Nett?» Angela zog eine ihrer rasiermesserscharf gezupften Augenbrauen hoch. «Nett kenne ich nicht. Das ist einfach ehrlich. Du bist eine großartige Redakteurin, und ich wünschte …» Sie schüttelte den Kopf. «Sag das ja nicht weiter, aber ich wünschte, du würdest einmal deine Flügel spreizen.»
«Und du bist ein kleines bisschen verzweifelt», neckte Sophie sie.
«Tja, das stimmt natürlich.» Angela legte ihren Kuli mit einem selbstironischen Lachen aus der Hand. «Aber denk wenigstens einmal darüber nach. Es ist eine phantastische Chance. Angebote, den Job zu tauschen, gibt es nicht so oft, und wenn ich die Zwillinge nicht hätte, wäre ich selber schon drü ben.»
«Was ist denn mit Ella? Sie würde das doch liebend gern machen», schlug Sophie vor.
Angela legte den Kopf schief. «Ella ist neunundzwanzig, aber jede Zwölfjährige könnte sie in die Tasche stecken. Sie wäre eine Katastrophe.»
«Vielleicht würde sie sich gar nicht so schlecht schlagen.»
Angela zog jetzt die andere Augenbraue hoch. «Ich weiß genau, wie viel du ihr hilfst. Ich glaube nicht, dass sie ohne dich klarkäme.»
Sophie lächelte sie spöttisch an. «Dann kannst du mich ja unmöglich nach New York schicken.»
Lachend klappte Angela ihr Notizbuch zu. «Wir würden es schon ohne dich schaffen.» Als Sophie aufstand, um zu gehen, wurde Angelas Gesicht wieder ernst. «Ehrlich, Sophie, versprich mir, dass du darüber nachdenkst.»
Sophie kehrte in das Großraumbüro zurück, wo alle noch immer von dem grauenhaften, knirschenden Geräusch redeten, mit dem Mels Schenkelknochen gebrochen war. Am Ende ihrer Abschiedsfete – Juhu, ein halbes Jahr Highlife in New York – war sie vom Tisch gesprungen, wobei sie sich unschön verletzt hatte. Auf der anderen Seite des Raums tänzelte der erschlaffte Heliumballon, auf dem die Worte Du wirst uns fehlen! prangten, noch immer über einem Stuhl in der Luft herum. Jemand sollte ihn dort wegnehmen, bevor die frisch eingetroffene Brandi Baumgarten mit ihrem unverkennbaren amerikanischen Akzent auf der Bühne erschien und Mels Schreibtisch in Besitz nahm.
Die Ärmste hatte etwas Besseres verdient als die Sauerei aus klebrigen Prosecco-Ringen und Monster-Munch-Krümeln (Mels Lieblings-Chips), die die Schreibtischplatte bedeckten. Sophie schnappte sich eine Schere, rückte gegen den Ballon vor und schnitt ihn mit einem befriedigenden Schnipp ab. Es war genau richtig gewesen, Angelas Vorschlag abzulehnen. Der Gedanke, Brandis Schreibtisch auf der anderen Seite des Atlantiks zu übernehmen, war viel zu erschreckend. Auch Brandi, die hier in dieser ihr fremden Stadt ganz allein auf sich gestellt sein würde, tat ihr leid. Sophie unterdrückte ein Schaudern. Vielleicht könnte sie ihr ja Kekse backen, dicke, weiche Cookies mit fetten Schokoladenstücken darin, als ein kleines Willkommensgeschenk, damit sie sich ein bisschen zu Hause fühlte. Und dazu Kaffee. Amerikaner legten Wert aufs Kaffeetrinken. Vielleicht sollte sie ja ein kleines Willkommenspaket packen: Willkommen in England. Ein kleiner Londonführer. Ein Regenschirm. Ein …
«Erde an Soph. Wie buchstabiert man Clafoutis?», unterbrach Ella, die andere Food-Journalistin bei CityZen, ihre Gedanken.
«Sorry. Was hast du gesagt?» Sophie nahm den Ballon in die Hand und stach mit der Schere ein Loch hinein.
«Oh, das hatte ich auch schon vor. Na ja, ich habe zumindest darüber nachgedacht. Also, wie buchstabiert man jetzt Clafoutis? Ich kann es mir nie merken.»
Sophie rasselte die Buchstabenfolge herunter und setzte sich Ella gegenüber auf ihren Platz am Schreibtisch.
«Was wollte Angela von dir? Hast du Ärger?»
Sophie schüttelte den Kopf, noch immer ein wenig verwirrt von dem Vorschlag, eine Zeitlang bei der amerikanischen CityZen, dem Schwesterblatt ihrer Zeitschrift in Manhattan, einzuspringen. Falls sie Ella davon erzählte, würde die sich überhaupt nicht mehr einkriegen.
«Hattest du ein schönes Wochenende?» Ella schnitt plötzlich eine Grimasse. «Ach, Kacke noch mal, die Rechtschreibkorrektur hat Klaviatur daraus gemacht. Buchstabierst du es bitte noch einmal für mich? Ich war in dieser neuen Location in Stoke Newington. Ziemlich lange Anfahrt, aber … ach ja, wie war Le Gavroche am Samstag?» Sie warf einen prüfenden Blick über den Schreibtisch. «Oh … nein, er hat doch nicht …?»
Sophie zuckte zusammen und brachte dann ein munteres Lächeln zustande. «Leider konnten wir nicht hingehen. Seine Mum war krank.»
«Ach, Herrgott noch mal, die Frau ist doch ständig krank.»
«Sie kann ja nichts dafür», widersprach Sophie und überging die Zicke in ihrem Inneren, die Ella aus vollem Herzen recht gab. War es unfair, sich zu wünschen, Mrs. Soames könnte ihre Unpässlichkeiten auf etwas günstigere Zeiten legen? «Diesmal war es ein echter Notfall. Mit Blaulicht ins Krankenhaus. Der arme James hat die ganze Nacht in der Notaufnahme auf Entwarnung gewartet.»
Ella verzog finster das Gesicht. «Du bist viel zu nett. Und du solltest ihm nicht ständig verzeihen, verdammt noch mal. Er hat dich gar nicht verdient.»
«Ich würde ihn nicht lieben, wenn er nicht selbst so nett wäre. Wie viele Männer kennst du denn, die ihre Familie allem anderen voranstellen?»
Ella spitzte ihren mit blassrosa Glitzer-Lippenstift bemalten Mund. Anscheinend hatte sie schon wieder den Schrank der Beauty-Redakteurin geplündert. «Stimmt, Greg hat Muttertag vergessen, meinen Geburtstag und unseren Hochzeitstag.»
Sophie hätte am liebsten die Augen verdreht, hielt sich aber zurück. Einen Wettkampftermin seines 5er-Football-Teams vergaß Greg nie, aber mehr hatte in seinem Kopf offenbar nicht Platz.
«Du bist eine phantastische Köchin», sagte James, als er Messer und Gabel aus der Hand legte. Sophie nickte, denn sie war ebenfalls zufrieden mit ihrem Massaman-Curry – es war würzig-süß mit genau der richtigen Schärfe, und die Kartoffeln waren weder weichgekocht noch zu fest.
Sie saßen in ihrer geräumigen Küche, zwischen ihnen eine brennende Kerze. Die Montagabende waren Sophie die liebsten in der Woche: Sie kochte dann besonders lecker, weil sie wusste, dass James das ganze Wochenende alle Hände voll mit seiner Mutter zu tun gehabt hatte. Er lebte an drei Tagen der Woche bei seiner Mutter und war während der restlichen vier mit Sophie in ihrer Wohnung. Sophie hegte den Verdacht, dass es Mrs. Soames nicht wirklich dermaßen schlecht ging, sondern sie ihren Sohn einfach gern bei sich zu Hause hatte. Und wer könnte ihr das verdenken?
«Ich sollte dich irgendwann heiraten.» Er zwinkerte ihr zu, griff nach seinem Rotweinglas, ließ den Inhalt kreisen und schnüffelte anerkennend daran. Völlig zu Recht, denn es war ein ausgezeichneter australischer Merlot, den sie auf Empfehlung der Weinredakteurin ihrer Zeitschrift aufgestöbert hatte, und er hatte sie ein kleines Vermögen gekostet.
«Das solltest du in der Tat», antwortete sie mit unangenehm heftig pochendem Herzen. Es war nicht das erste Mal, dass er etwas in dieser Art sagte. Und sie hatte gedacht, am Samstag würde er im Le Gavroche … Na ja, es war der zweite Jahrestag ihres Kennenlernens gewesen … und sie hatte gehofft …
«Wie war es heute bei der Arbeit?» Das war das Schöne an James. Er war immer interessiert.
«Weißt du noch, dass ich dir erzählt habe, Mel würde am Freitag aufbrechen? Tja, stattdessen hat sie sich das Bein gebrochen. Jetzt klappt das mit New York doch nicht.» Sophie zögerte und sagte dann mit einem Lachen: «Angela hat mir angeboten, ich sollte als Ersatz für sie einspringen.»
«Was … nach New York gehen?» James schaute beunruhigt.
«Keine Sorge. Ich habe direkt abgelehnt. Ich möchte nicht von dir weg.»
James tätschelte lächelnd ihre Hand. «Wenn du wirklich hättest fliegen wollen, hätte ich nichts dagegen gehabt.» Er hielt inne und zog dann ihre Hand an seine Lippen. «Aber du hättest mir furchtbar gefehlt, Darling. Ich fände es schrecklich, wenn du weggehen würdest.»
Sophie stand auf, trat hinter ihn und schlang ihm die Arme um die Brust, froh, dass sie Angelas Schmeichelei nicht allzu ernst genommen hatte. Natürlich würde sie eines Tages gern nach New York fliegen. Vielleicht könnten James und sie das ja einmal gemeinsam machen. Zum Beispiel in ihren Flitterwochen.
James erhob sich ebenfalls, wandte sich ihr zu und liebkoste mit den Lippen ihren Hals. «Gehen wir früh ins Bett? Ich bin todmüde. Die Rückfahrt von Cornwall ist wirklich mörderisch.»
«Ich muss erst noch aufräumen.» Sophie warf einen kurzen Blick auf ihre Küche und wünschte, sie hätte kein solches Chaos angerichtet und James wäre nicht immer so müde. Aber sie konnte ihn wohl kaum darum bitten, ihr zu helfen – nicht nachdem er über zweihundert Meilen gefahren war.
Und sie konnte sich ja auch wirklich nicht beklagen. Wie viele Frauen ihres Alters besaßen wohl so eine Küche? Oder lebten in einer fürstlichen Wohnung in Kensington? Dad hatte darauf bestanden. Es wäre gemein von ihr gewesen, seine Großzügigkeit abzulehnen. Sie liebte ihn innig, aber das bedeutete nicht, dass sie seine Hilfe bei der Stellensuche zugelassen hätte (er hatte Beziehungen zu allen möglichen Firmenvorständen) oder dass sie sich an eine teure Privatschule hätte schicken lassen (sie hatte sich schon in der Gesamtschule vor Ort eingelebt), und es kam ihr auch nicht richtig vor, den Titel zu benutzen.
Als sie mit dem Aufräumen fertig war und ins Schlafzimmer ging, schlief James bereits tief und fest. Im Zimmer war es stockdunkel. Er dachte nie daran, die Nachttischlampe für sie brennen zu lassen. Sie zog sich geräuschlos aus, schlüpfte neben ihm ins Bett und kuschelte sich an ihn, doch er reagierte nicht. Der arme Mann war vollkommen erschöpft. Lächelnd strich sie ihm ein paar verirrte Strähnen aus der Stirn. Er war ein guter Mann. Klaglos kümmerte er sich um seine Mutter. Sophie schloss die Augen. Was für ein Glück sie hatte. Wer brauchte da New York?
Bin zu spät, wir sehen uns dort. Und heute habe ich frei, aber danke, dass du dem Café so treu bist. xx Kate
Sophie betrachtete lächelnd die Nachricht auf ihrem Handy. Kate war sogar noch schlimmer als sie selbst und versuchte immer, möglichst viel in ihren Tag hineinzustopfen. Sophie würde ihr letztes Pfund darauf verwetten, dass Kate gestern bei ihrem Freund Ben übernachtet hatte und dass das der wahre Grund für ihre Verspätung war. Sie waren immer noch in der total verliebten Phase, in der man partout nicht die Hände von einander lassen kann. Nicht, dass Sophie sich bei ihr selbst und James an so etwas hätte erinnern können. Bei ihnen war es eher eine weiche und sanfte Landung in der Liebe gewesen als ein Sprung vom Klippenrand. Sophie wusste auch gar nicht, ob sie mit einer derart brennenden sexuellen Leidenschaft hätte umgehen können. So etwas war überhaupt nicht ihr Stil, und ein wenig fragte sie sich auch, ob es nicht ein kleines bisschen selbstsüchtig war. Sollte Liebe nicht zartfühlend, voller Wärme und gegenseitiger Akzeptanz sein? Etwas, das allmählich heranwuchs, wenn es genährt und umhegt wurde. Allerdings konnte sie nicht abstreiten, dass Kates Glück und joie de vivre einem das Herz erwärmten. Und wenn sie die Blicke sah, die Ben Kate immer wieder zuwarf, bekam Sophie von der Intensität eine Gänsehaut.
Während sie auf ihren Cappuccino wartete und dem Zischen der Espressomaschine lauschte, die von einer Samstagsaushilfe bedient wurde, schaute sie sich die Plunderteilchen doch noch einmal genauer an. Das war ein Fehler, aber sie sahen einfach so köstlich aus. Nein, es half nichts, sie konnte den Zimtschnecken nicht widerstehen.
Mit ihrem Teller in der einen Hand und ihrer Tasse in der anderen schlängelte sie sich zwischen leeren Stühlen zu ihrem Lieblingsplätzchen in der Ecke hindurch, von dem aus man eine gute Aussicht auf die belebte Straße hatte. Die größte Herausforderung dabei war, ihre Schultern so gerade zu halten, dass die Handtasche nicht herunterrutschte und einen der Tische abräumte.
Doch an ihrem Stammplatz saß leider bereits eine erschöpft wirkende Frau mit einem vor Empörung kreischenden Baby. Wütend patschte das kleine Mädchen mit einem Löffel in der Hand nach einem Schälchen Joghurt, das die Mutter gerade außerhalb seiner Reichweite von ihm weghielt. Sophie verstand genau, warum: Das kleine Mädchen hatte es bereits geschafft, sich mit dem Zeug die Haare vollzuschmieren, und die Mutter versuchte gerade, es sauber zu machen. Aus Sophies Blickwinkel sahen die beiden ein wenig aus wie zwei kämpfende Tintenfische.
Sie setzte sich an den Nachbartisch, beobachtete die Kapriolen der beiden mit einem sanftmütigen Lächeln und wollte sich gerade abwenden, als die junge Frau aufblickte und ihr mit vor Abscheu zusammengekniffenen Lippen einen bitterbösen Blick zuwarf.
Sophie trank viel zu hastig einen Schluck Kaffee, der ihr auf dem Weg zum Magen im Schlund brannte, und schaute weg, erschreckt von dem heftigen Hass, der sie unmittelbar traf und ihr fast das Gefühl eines körperlichen Angriffs vermittelte. Sie atmete ein paarmal tief durch, um sich zu beruhigen. Wahrscheinlich war die arme Frau total gestresst, und das Ganze hatte nichts mit Sophie selbst zu tun. Also setzte sie ein Lächeln auf, trank einen weiteren Schluck Kaffee, diesmal vorsichtiger, und schaute in der Hoffnung zu der Frau hinüber, dass der Anblick einer freundlichen, beruhigenden Miene sie ein wenig aufmuntern würde.
Da lag sie aber mal total daneben! Falls überhaupt, wurde die Abneigung in den Augen der Frau noch entschiedener, während sie mit hektischen Bewegungen das Gesicht ihres Kindes abwischte.
Es war unmöglich, die Nöte der Frau nicht mitzufühlen. Sophie zögerte nur eine Sekunde. Sie konnte nicht so tun, als hätte sie nicht gesehen, wie unglücklich die Ärmste war.
«Alles in Ordnung mit Ihnen?», fragte Sophie mit einem vorsichtigen Lächeln und dem Gefühl, eine vernünftige Diskussion mit einer Löwin führen zu wollen.
«Ob mit mir alles in Ordnung ist?», zischte die Frau, worauf prompt das kleine Mädchen zu weinen begann. Da fiel das Gesicht der Mutter in sich zusammen, und Wut und Boshaftigkeit wichen purem Unglück. «Ach Emma, mein Schatz.» Sie schloss das kleine Mädchen mit seinen klebrigen Fingern und allem Drum und Dran in die Arme, drückte es an sich und rieb ihm den Rücken. «Ist ja gut. Tut Mummy leid.»
Sophie empfand einen Anflug von Neid und ein winziges Ziehen im Unterleib. Eines Tages …
Das kleine Mädchen umklammerte seine Mutter und hörte auf zu weinen. Nun sah die Frau Sophie etwas ruhiger an, doch in ihren Augen stand noch immer Zorn. «Sie haben mich gefragt, ob mit mir alles in Ordnung ist?» Ihre Augen funkelten von nicht geweinten Tränen, und sie legte herausfordernd den Kopf schief.
«Ja. Kann ich Ihnen vielleicht mit irgendetwas helfen? Sie haben wirklich alle Hände voll zu tun.» Sophie lächelte das kleine Mädchen an, das inzwischen wesentlich zufriedener wirkte. «Wie niedlich sie ist. Aber um die Sauerei beneide ich Sie nicht. Soll ich Ihnen noch ein paar Papierservietten holen oder so?»
«Sie ist niedlich, und sie ist mein Kind», erklärte die Frau mit einem alarmierten Blick und legte dem kleinen Mädchen schützend den Arm vor die Brust.
«Ja», antwortete Sophie, die jetzt auf der Hut war. Die Frau hielt sie doch nicht etwa für eine Kindesentführerin?
«Aber Sie haben damit ja kein Problem, oder, Sophie? Damit, das eine oder andere zu teilen?» Die Stimme der Frau klang nun erschöpft, ihre Schultern sackten zusammen und ein schmerzvoller Ausdruck glitt über ihr Gesicht.
Sophies Lächeln gefror. Was meinte die Frau? Und woher kannte sie ihren Namen?
«Ich …» Ratlos unterbrach sie sich. «Ich wollte Ihnen doch nur helfen.» Jetzt bereute sie es, dass sie die Frau auch nur angeschaut hatte.
«Sie? Mir helfen?» Die Frau stieß ein bitteres Lachen aus. «Ich denke, Sie haben schon genug geholfen. Nämlich sich selbst. Sie haben sich zu meinem Mann verholfen.»
«Wie bitte?» Sophie erstarrte mitten in der Bewegung.
«Sind Sie stolz auf sich? Miss Reiche Schlampe mit ihrer Wohnung in Kensington und Daddys Landgut in Sussex. Ich habe recherchiert. Lady Sophie Bennings-Beauchamp.»
Sophie blieb der Mund offen stehen. Diese Frau hatte ihre Hausaufgaben gemacht. Keine ihrer Kolleginnen bei der Arbeit kannte ihren vollen Namen. Sie hielt ihren Ausweis vor neugierigen Blicken verborgen. Kate war tatsächlich die Einzige, die ihn gesehen hatte, und selbst damals, als die beiden Frauen noch nicht befreundet waren, war sie Profi genug gewesen, um darüber zu schweigen.
«Ich verwende den Titel nicht …», protestierte sie automatisch, wie sie es immer tat, aber die Frau unterbrach sie.
«Was für ein kuscheliges Leben. Kein Wunder, dass James die Hälfte seiner Zeit lieber bei Ihnen verbracht hat. Nirgendwo hängt Wäsche herum. Und nachts weint kein kleines Kind.»
«James?» Sophie erstarrte. Noch während sie den Mund öffnete, begriff sie, dass ihre Worte wie ein absolutes Klischee klangen. «Was hat er damit zu tun?»
«James Soames. Mein Ehemann. Vier Nächte in der Woche lebt er in London – Frau und Tochter besucht er von Freitag bis Montag in Newbury.»
«Aber … er fährt doch immer nach Cornwall.» Sophies Beine fühlten sich auf einmal unfassbar schwer an. «Da ist er auch im Moment.»
«Nein, ist er nicht, Sie dumme Kuh. Er mäht gerade in der Fantail Lane Nr. 47 in Newbury den Rasen, und anschließend baut er eine Schaukel für Emma.»
Ihr Herz begann, unruhig zu klopfen, als das Zeichen zum Anschnallen aufleuchtete. Jetzt war es zu spät, noch einmal ihre Meinung zu ändern und sich zu fragen, ob ihr spontaner Entschluss nicht doch ein wenig übereilt gefallen war.
Um sie herum sammelten die Passagiere ihre Sachen zusammen, packten Laptops und iPads ein, machten Eselsohren in Bücher oder legten ihre Decken zusammen. Durch die Fensterreihe gegenüber sah Sophie funkelnde Lichter, die immer deutlicher hervortraten, als das Flugzeug in den Sinkflug ging. Ihre Ohren fielen zu und fühlten sich verstopft an.
Mit einem dumpfen Rums und einem Ruck setzten die Räder auf dem Boden auf, und die Schubumkehr, mit der das Flugzeug bremste, ließ die Triebwerke dröhnen. Sie war also tatsächlich hier, mit einem Portemonnaie voller Dollar, einer Adresse in Brooklyn und einem Koffer, aus dessen kärglichem Inhalt sie im nächsten halben Jahr ihre Garderobe würde bestreiten müssen. Hatte sie eigentlich einen warmen Pullover eingepackt? Und Handschuhe? Wurde es im Winter in New York nicht eisig kalt?
Noch immer in Gedanken bei ihrem Gepäck, rang sie sich beim Aussteigen dem Flugpersonal gegenüber ein Lächeln ab. Dabei kämpfte sie gegen die überwältigende Versuchung an, eine der Flugbegleiterinnen am Arm zu packen und sie anzuflehen, sie auf dem Rückflug wieder mit nach London zu nehmen.
Das war einfach nur die Müdigkeit, sagte sie sich auf dem Weg durch die hallende Gangway, deren Boden leicht unter ihren Schritten erbebte, während die Metallwände von den rumpelnden Rädern des Handgepäcks widerhallten. Vor ihr lag so vieles, womit sie fertigwerden musste: die Einreisekontrolle, die Suche nach einem Taxi, die Begegnung mit Fremden und ein neues Zuhause. In den letzten paar Stunden hatte sie sich in einem harmlosen Zwischenreich befunden und sich keine anderen Fragen stellen müssen als die, welchen Film sie schauen sollte, ob sie lieber Rindfleisch oder Hähnchen essen wollte und wie sie die Folienverpackung ihres Brötchens aufbekam.
Sie hielt den Griff ihres Trolleys fest gepackt, als könnte er ihr auf magische Weise Mut einflößen, und folgte den Leuten vor ihr, die überwiegend weder nach links noch nach rechts schauten und offensichtlich wussten, wo sie hinwollten. Als sie um eine Ecke bog, gelangte sie in den riesigen Passkontrollbereich und blickte sofort zur amerikanischen Fahne auf, die an der Decke hing. Ihr war mulmig zumute. Ihre Papiere waren natürlich in Ordnung, aber sie hatte schon wahre Horrorgeschichten über die nordamerikanischen Einreisekontrollen gehört. Die Lage in der riesigen Halle sah nicht gut aus: Nur einige Schalter waren besetzt, und die Schlange wirkte endlos. Während sie sich langsam vorwärtsschob, hielt sie ihren Reisepass immer fester umklammert und versuchte, unschuldig auszusehen, eine spontane Reaktion auf die bewaffneten Beamten, die so streng dreinschauten, als könnten sie einen jederzeit, ohne mit der Wimper zu zucken, erschießen.
Als sie endlich an der Reihe war, war sie erschöpft, aber auch genervt. Das Flugzeug war schon vor beinahe anderthalb Stunden gelandet, ihr Körper hatte die Zeitverschiebung noch nicht bewältigt, und sie war an die routinierte Gleichgültigkeit der europäischen Grenzbeamten gewöhnt. Der langwierige Prozess mit Irisscans und Fingerabdruckprüfung zu nachtschlafender Zeit, während ihr die Beine weh taten und sie schwindlig vor Müdigkeit war, stellte selbst Sophies Geduld auf die Probe – obwohl sie normalerweise die Langmut von Mutter Teresa hatte. Quälende Minuten vergingen, in denen ein Grenzbeamter mittleren Alters mit versteinerter Miene ihren Reisepass studierte, die ergrauten Augenbrauen zusammengezogen.
Er musterte sie, dann wieder ihren Reisepass und schließlich erneut sie. Sophies Magen zog sich zusammen. Vor Erschöpfung und Benommenheit schwankte sie leicht. Ein weiteres Mal blickte er in ihren Reisepass.
«Ist das echt?», fragte er mit erstaunt geweiteten Augen, während er den Pass erneut prüfte und sie anschließend noch einmal musterte. «Lady Sophie Amelia Bennings-Beauchamp.» Sie brauchte einen Moment, um sich in den breiten amerikanischen Akzent einzuhören. Dann nickte sie mit einem resignierten Lächeln und einem leichten Schulterzucken.
«Ha’m Sie ’n Diadem im Gepäck?» In dieser direkten Frage schwang eine verwirrende Mischung aus Aufdringlichkeit und Neugierde mit.
Irgendein frecher Kobold in ihrem Kopf ließ sie voller Ernst versichern: «Dieses Mal nicht. Ich reise am liebsten ohne den Familienschmuck.»
«Ja, wenn das so ist, Ma’am. Oder ziehen Sie die Anrede Euer Ladyship vor?»
«Sophie ist okay.»
Er sah sie entgeistert an.
«Oder Miss Bennings», fügte sie mit einem Lächeln hinzu, erfreut, dass sie seine einschüchternde Beamtenstrenge aufgebrochen hatte.
«Nicht Miss Bennings-Beauchamp?» Er sprach es Bautschämp aus, sodass sie mit dem Gedanken spielte, ihm zu erklären, dass es eigentlich Bo-Schoh ausgesprochen wurde. Sie beschloss aber, darauf zu verzichten. Nicht zu dieser nächtlichen Stunde.
Sie beugte sich zu ihm vor und flüsterte: «Ich bemühe mich, inkognito zu reisen. Daher belasse ich es bei Miss Bennings. So ist es einfacher.»
Er nickte, legte den Finger an die Lippen und sah sich verschwörerisch in der Halle um. «Meine Lippen sind versiegelt.»
«Danke.»
«Gern geschehen, Lady Bennings-Bauschamp.» Er zwinkerte ihr zu und runzelte dann die Stirn. «Sie arbeiten hier?» Seine Brauen verdüsterten seine Augen. «L1 Visum.»
«Daddy hat mein Erbe verspielt», flüsterte Sophie ihm aus dem Mundwinkel zu. Allmählich genoss sie ihre Rolle.
«Ach herrje.» Er schüttelte bedauernd den Kopf. «Wie schrecklich, Mylady.»
«Und ich konnte schließlich nicht die Familienerbstücke verkaufen. Daher musste ich mir einen Job besorgen.»
«Also, das finde ich nicht richtig.» Er hielt inne, das Gesicht in einer Mischung aus Widerwillen und Mitgefühl verzogen, fügte dann aber mit einem respektvollen Nicken hinzu: «Aber gut für Sie, Euer Ladyship.» Es folgte eine kurze Pause, und dann war es, als träte er ins Glied zurück und riefe sich in Erinnerung, dass er einen Fragenkatalog abzuarbeiten hatte. «Wo halten Sie sich für die Dauer Ihrer Reise auf?»
Sie spulte die Adresse herunter, die sie sich eingeprägt hatte.
«Brooklyn?»
«Ja», antwortete Sophie und lächelte über seine spürbare Enttäuschung. «Es ist doch nett da, oder?»
Er richtete sich auf und reckte das Kinn. «Na, Sie sprechen gerade mit einem waschechten Brooklyner, Ma’am, ich meine, Euer Ladyship. Brooklyn …» Er verzog das Gesicht. «Na ja, Brooklyn hat sich im Laufe der Jahre sehr verändert. Jetzt ist es da sehr hip. Nicht wie zu meiner Zeit. Hoffentlich gefällt es Ihnen dort.»
«Bestimmt.»
«Darf ich Ihnen noch eine … persönliche Frage stellen?»
«Natürlich.»
«Kennen Sie die Queen?» Erwartungsvolle Hoffnung funkelte in seinen Augen.
Sophie richtete sich auf und schaute sich sorgfältig um, bevor sie sich ihm verschwörerisch zuwandte, als würde sie ihm jetzt etwas streng Geheimes anvertrauen. Sie senkte die Stimme. «Ja, meine Familie wird Ostern immer in den Buckingham Palace eingeladen. Prinz Philip ist ein Schatz – und Williams und Kates Kinder sind unfassbar süß. Aber verraten Sie niemandem, dass ich Ihnen das erzählt habe. Wir sollen nicht darüber reden.»
Er nickte und deutete einen kurzen militärischen Gruß an, den Zeigefinger an die Augenbraue gelegt. «Kein Sterbenswörtchen. Aber grüßen Sie sie doch bitte von mir. Ich heiße Don. Don McCready.» Er strahlte. «Das muss ich meiner Frau Betty-Ann erzählen. Sie liebt die Royals. Sie wird ausflippen, wenn sie das hört.»
Das Taxi schlängelte sich eilig durch den selbst zu dieser späten Stunde noch lebhaften Verkehr, und das Licht der Neonschilder verschwamm vor Sophies Augen. Sie registrierte unangenehm berührt den abgestandenen Geruch von Pizza, der hinten in dem heruntergekommenen Taxi in der Luft hing, das hässliche Metallgitter, das die Passagiersitze vom Fahrer trennte, sowie dessen mürrische Gleichgültigkeit. Aus dem Handy, das am Armaturenbrett in einer Halterung steckte, drang ein Strom spanischer Sätze, der nur hin und wieder von den einsilbigen Antworten des Fahrers unterbrochen wurde.
Sophie ließ sich in den zerschlissenen Sitz zurücksinken und verfolgte durch die zerkratzte Scheibe, was sich draußen tat, während das Taxi pausenlos zwischen den Spuren wechselte. Das hier sah aus wie das Amerika, das sie als Kind in den alten Folgen von New York Cops – NYPD Blue gesehen hatte. Menschen aller Kulturen und Länder drängten sich auf den Bürgersteigen. Kosmetikstudios lagen unmittelbar neben Autowerkstätten, und bei den Werbeschildern sprang ihr die amerikanische Orthographie ins Auge. Die Fastfoodketten hießen Golden Krust, Wendy’s, Texas Chicken & Burger – oder aber sie trugen zwar die gewohnten Namen wie McDonald’s, Dunkin Donuts und Seven Eleven, sahen aber trotzdem irgendwie anders aus.
Eine Weile war sie in großer Versuchung, dem Taxifahrer einfach auf die Schulter zu klopfen und ihn zum Wenden aufzufordern. Sie atmete tief durch. Reiß dich zusammen, Sophie, du hast es selbst so gewollt. Es ist deine eigene Entscheidung.
Seufzend nahm sie ihr Handy aus der Handtasche und las die E-Mail über die getroffenen Vorbereitungen noch einmal durch. Die Personalabteilung der Zeitschrift hatte ihr ein Apartment in Brooklyn besorgt, eine kleine Zweizimmerwohnung in Fußnähe der Subway und in angenehmer Pendeldistanz zu ihrem Arbeitsplatz. Ganz kurz tauchte das Bild von Mels schlaffem Luftballon in ihrem Kopf auf. Brandi Baumgartens Schreibtisch stand für Sophie bereit, und Montagmorgen, gerade einmal in einunddreißig Stunden, würde sie dort ihren Dienst antreten. Sie scrollte nach unten, bis sie den Subway-Plan fand, den sie heruntergeladen hatte. Im Vergleich zur Karte der Londoner U-Bahn, an die sie gewöhnt war, sah er furchtbar kompliziert aus. Sie holte tief Luft und schloss die App. Morgen würde sie mehr als genug Zeit haben, sich zu orientieren und den Weg zu ihrem Arbeitsplatz auszutüfteln.
Das Taxi fuhr jetzt langsamer, da sie den Highway verlassen hatten, und hier wirkten die Straßen plötzlich interessant. Massenhaft Lokale mit Tischen auf den Bürgersteigen, an denen es von Gästen wimmelte, die aus aller Herren Länder stammten. Mit einem plötzlichen Bremsenquietschen hielt das Taxi an, und sofort drehte sich der Fahrer zu Sophie um.
«Vierzig Dollar», sagte er barsch.
«Sind wir da?», fragte sie und spähte aus dem Fenster auf eine Ladenzeile.
«Nummer 425 – gleich dort drüben, Lady.» Er deutete herablassend mit dem Daumen auf die Fassade. «Genau da, wo Sie hinwollten.»
«Ach ja», sagte Sophie, die nicht begriff, wo er irgendeine Hausnummer entdeckt haben wollte.
Aber der Taxifahrer war bereits ausgestiegen und hievte ihren Koffer auf den Bürgersteig.
Sophie bedankte sich höflich, kramte in ihrem Portemonnaie durch die unvertraute Währung und spürte einen Fünfzig-Dollar-Schein auf. Sie wusste, dass in Amerika ein hohes Trinkgeld üblich war, und hatte einen leichten Anflug von Panik. «Das stimmt dann so», sagte sie. Sie hatte keine Ahnung, ob es zu viel oder zu wenig war, aber nach der langen Reise wollte sie jetzt einfach nur noch den versprochenen Schlüsseltresor finden, in ihr Apartment verschwinden und sich ins Bett plumpsen lassen.
Der Fahrer schnappte sich das Geld und sprang in sein Taxi zurück, bevor sie noch ein weiteres Wort loswerden konnte. Und schon verschwanden die roten Rücklichter des Wagens in der Ferne, zwei Augen, die in der Dunkelheit glühten wie ein zurückweichender Dämon.
Mit ihrem Koffer und ihrem Handgepäck stand sie auf dem Bürgersteig, und beim Betrachten der Ladenzeile überkam sie ein Anflug von Angst. An keiner einzigen Tür stand eine Hausnummer. Sie spähte die Straße hinunter, die sich schnurgerade in die Ferne erstreckte. Es war eine sehr lange Straße. Ein paar Leute waren unterwegs, und hinter der nächsten Kreuzung ertönten laute Stimmen.
Sie drehte sich wieder um und fuhr zusammen, als wie aus dem Nichts ein Mann vor ihr auftauchte. Er war schwarz und sicherlich zwei Meter groß. Seine schlaksigen, leicht gebogenen Beine federten beim Gehen, als er auf sie zukam. Ihre kurz aufflackernde Angst, mitten in der Nacht und ganz allein in einer ihr unbekannten Gegend überrumpelt worden zu sein, legte sich, als ihr sein Lächeln entgegenblitzte.
«He, Lady, alles okay? Sie sehen fast so aus, als hätten Sie sich verirrt.»
«Ich … äh … ich suche die Nummer 425.»
Er beugte sich über sie, und sie stellte zu ihrer Verblüffung fest, dass er nach Rosmarin roch. Mit einem verstohlenen Schnüffeln erkannte sie außerdem noch Basilikum.
«Das ist gleich hier, über Bellas Laden.» Er deutete auf eine Bäckerei, und sie entdeckte einen schmalen Hauseingang, der zwischen zwei Geschäften eingeklemmt war. «Sie müssen die Engländerin sein.»
«Ja, die muss ich wohl sein.» Der Geruch nach Basilikum wurde noch stärker, und benommen vom Jetlag, platzte Sophie einfach mit ihrem Gedanken heraus. «Sie riechen nach Kräutern!»
«Und Gewürzen!» Er klang beinah stolz. Dann fügte er noch hinzu: «Haben wir alles bei Herbs and Spice.»
Sein Lächeln wurde breiter, und er deutete auf ein Geschäft ein paar Eingänge weiter. Sophie kam sich ein bisschen dumm vor, als sie merkte, dass Herbs and Spice der Name des Ladens war. Dann sah sie auch die zwei Kräutertöpfe, die er in einer Umhängetasche mit sich trug.
«Sie sind gerade erst angekommen?» Er lachte. «Ja klar, natürlich, sonst würden Sie ja nicht mitten in der Nacht mit Ihren Koffern auf der Straße stehen. Ich heiße Wes – ich trage Ihnen noch schnell die Sachen hoch, ja?»
Zu müde, um Einwände zu erheben, nickte sie und stellte gleich darauf erleichtert fest, dass der Schlüsseltresor auf den ersten Blick neben dem Eingang zu finden und leicht zu öffnen war.
Wes ging ihr über die schmale Treppe voran und trug den Koffer und ihr Handgepäck mühelos nach oben, während sie hinter ihm her taumelte.
Im ersten Stock blieb er vor einer leuchtend roten Tür stehen. «Hier wären wir – Nr. 425A – unmittelbar unter Bellas Wohnung. Bella hat das ganze Haus gemietet.» Er ließ sich von Sophie den Schlüssel geben, öffnete ihr die Tür, als wäre er der Gastgeber, stellte den Koffer in der winzigen Eingangsdiele ab und schaltete das Licht ein. «Willkommen in unserer Straße.» Er angelte eine Rosmarinpflanze aus seiner Umhängetasche und reichte sie ihr. Mit einem gutmütigen Lächeln verabschiedete er sich, zog den Kopf ein, um sich nicht am Türrahmen zu stoßen, und trabte mit seinen federnden Schritten pfeifend die Treppe hinunter.
Obwohl Sophie wahnsinnig müde war, vermittelte ihr die kurze Begegnung mit diesem netten Mann das Gefühl, dass das Leben in Brooklyn vielleicht doch erträglich werden könnte.
Die Diele führte in ein Wohnzimmer, von dem mehrere Türen abgingen. Im Vorbeigehen registrierte sie den glänzenden Holzboden, zwei hohe Fenster, durch die das Straßenlicht einfiel, und verschiedene im Dunkeln schattenhafte Möbelstücke. Sie stellte den Topf auf einen Tisch und öffnete die nächstgelegene Tür. Volltreffer, sie hatte das Schlafzimmer auf Anhieb gefunden. Ein Doppelbett, Bettdecke und Kopfkissen, aber nichts davon überzogen. Verdammt, ihr war gar nicht der Gedanke gekommen, Bettwäsche einzupacken. Egal. Ohne sich auch nur zu entkleiden, ließ sie sich aufs Bett plumpsen und kuschelte sich ein. Ihr letzter Gedanke war, dass sie die Zähne dann eben am Morgen eine Minute länger putzen würde.