Ursula Isbel
Die Nacht der Feen
Jugendroman
FISCHER E-Books
Ursula Isbel, in München geboren, war nach einem Modegrafik-Studium und dem Besuch einer Sprachenschule zunächst als Lektorin tätig. Heute lebt sie als freie Autorin und Übersetzerin in Staufen bei Freiburg. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen sowie Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht und gilt seit vielen Jahren als Meisterin des romantischen Mystery-Thrillers.
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Covergestaltung: buxdesign, München
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei Fischer Digital
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2016
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-560670-4
Widersacher sollen nicht lauern.
Falsche Freunde sollen nicht lauern.
Feen sollen nicht lauern.
Die Welt soll nicht lauern
mit Schlinge oder Schleuder,
mit Speer oder Schaft,
mit Axt oder Spieß,
Beil oder Schwert,
die dich berühren,
die dich heimsuchen,
die dich verwunden,
die dich überwältigen.
Keltische Zauberformel
Nach diesem Sommer glaubte ich mehr zu wissen. Ich achtete auf Zeichen; es gab viele. Ich hörte und sah Dinge, für die ich früher nie Augen und Ohren gehabt hätte. Und ich begriff, dass die Welt voller Zauber und Geheimnisse ist.
Die Zeit beim Professor im Haus auf dem Hügel änderte mein Leben. Und doch, wenn mir vorher jemand gesagt hätte, was mich erwartete, ich wäre Nonnas Vorschlag wohl nicht gefolgt, wäre nie in den Zug gestiegen, der mich quer durch Deutschland brachte.
So aber saß ich an einem Sonntag Anfang Juli ahnungslos in einem verräucherten Abteil der zweiten Klasse, zusammen mit einem dicken, rotgesichtigen Mann, der schmatzend Wurstbrote mampfte, und einem Yuppie im geschniegelten Outfit. Er trug eine gepunktete Krawatte und trompetete wichtigtuerisch in sein Handy, wenn er nicht gerade mit seinem Laptop spielte.
Die Landschaft hinter den Zugfenstern war überraschend schön: Seen, über denen die Luft im Mittagsglanz flimmerte, sanft geschwungene Hügel und dunkle Waldstücke. Heu lag auf den Wiesen; ich glaubte seinen Duft zu riechen, obwohl sich die Fenster nicht öffnen ließen.
Nonna hatte mir allerhand eingeschärft, was ich im Umgang mit dem Professor, ihrem ehemaligen Verehrer, beachten sollte.
»Samuel ist ein bisschen schwierig«, hatte sie gesagt. »Leicht gaga, aber das sind wahrscheinlich alle genialen Menschen. In Fachkreisen ist er anerkannt, sogar berühmt, auch wenn manche Kollegen seine Ansichten für hirnrissig halten. Er lebt nur für seine Arbeit. Ein Glück, dass ich ihn damals nicht geheiratet habe.«
»Hätte es dir nicht Spaß gemacht, die Frau eines erfolgreichen Forschers zu sein?«
»Spaß!« Nonna sah wie ein Kobold aus, wenn sie Grimassen schnitt. »Wart ab, bis du ihn kennst, Sylvie. Ich glaube kaum, dass er im Alter viel anziehender und umgänglicher geworden ist. Wenn ich mit ihm telefoniere, kommt es mir jedenfalls vor, als würde er immer verschrobener, der alte Querkopf.«
»Und ausgerechnet bei ihm soll ich den Sommer verbringen?!«
»Vielleicht findest du ja Zugang zu seinem verknöcherten Herzen.« Nonna küsste mich zärtlich auf die Nasenspitze. »Außerdem ist er ein interessanter Typ. Einem wie ihm begegnet man nicht alle Tage. Und er braucht dringend Hilfe im Haushalt.«
»Warum nimmt er sich dann keine Haushälterin?«
»Er hat ja eine. Und er glaubt, dass sie zurückkommt, wenn sie wieder gesund ist. Sie hat sich die Schulter oder den Arm gebrochen oder sowas Ähnliches. Es gibt auch eine Putzfrau. Du musst also keine Böden schrubben. Fremde Gesichter will er nicht um sich haben.«
»Ich bin doch auch ein fremdes Gesicht. Und ich kann nicht kochen, wie du weißt.«
»Du bist meine Enkelin. Vergiss nicht, er hat mich einmal geliebt. Zumindest hat er sich das eingebildet. Vermutlich war ich die einzige Frau in seinem Leben, für die er so etwas wie Liebe empfand. Und was das Kochen betrifft, ich hab dir doch gesagt, dass er hauptsächlich Grünzeug isst. Er findet, dass Fleisch und Gebratenes dem Geist schaden und ihn in niedere Sphären herabziehen. Karotten raspeln und Sellerie und Gurken schneiden, das kannst du doch, und Kräutertees kochen oder ab und zu eine Gemüsesuppe.«
Während ich aus dem Abteilfenster sah, fragte ich mich, was ich selbst in den kommenden Wochen essen sollte. Rohkost war nicht so mein Fall.
Nicht zum ersten Mal überfielen mich heftige Zweifel, was diesen Sommer betraf. Doch ich konnte das Geld dringend brauchen, das ich bei Nonnas altem Freund verdienen würde. Vielleicht hielt ich es aber auch keine zwei Monate bei ihm aus. Vielleicht saß ich schon in einer Woche wieder in der Bahn und fuhr in die entgegengesetzte Richtung. Auch damit rechnete ich.
Hinter der Scheibe glaubte ich flüchtig Nonnas lächelndes Gesicht wie ein Suchbild zwischen Hecken und Baumwipfeln zu sehen. »Samuel Hrdliczka ist ein verrückter alter Knabe«, flüsterte sie mir zu. »Aber auch spannend. Langweilen wirst du dich bei ihm nicht einen Tag.«
Ich hätte manchen passenden Begriff für meine Zeit im Haus auf dem Hügel finden können. Das Wort Langeweile gehörte nicht dazu.
Ich wartete fast zwei Stunden auf den Bus, in einem öden, verlassenen kleinen Bahnhof am Ende der Welt. Der Schalter war geschlossen. Weit und breit gab es keine menschliche Behausung. Während ich auf der Treppe zum Schalterraum saß, fragte ich mich, was ich machen sollte, wenn der Bus nicht kam.
Endlich tauchte er in der Ferne auf wie ein einsamer Reiter in der Prärie. Glücklich und erleichtert stieg ich ein. Der Fahrer versprach, mich an der Kreuzung zwischen der Straße zum Grendelsee und der Abfahrt nach Agathenried abzusetzen.
»Zu Fuß mit dem schweren Rucksack, das wäre zu weit, junge Frau«, sagte er und lächelte gutmütig.
Professor Hrdliczka hatte Nonna eine Wegbeschreibung mit einer Skizze geschickt. Darauf waren die Himmelsrichtungen angegeben, dazu ein paar Hieroglyphen, die ich nicht deuten konnte. Immerhin glaubte ich die Wegkreuzung zu erkennen, an der ich stand. Nachdem ich das Blatt mehrmals hin und her gedreht hatte, machte ich mich tapfer auf den Weg.
Das Haus stand auf einem Hügel. Ich sah sein graues Dach zwischen den Baumwipfeln; drei Kamine ragten wie die Maste eines Schiffes in den Himmel. Das ganze Grundstück, das von Hecken umgeben war und sehr groß zu sein schien, zog sich über eine Anhöhe hin. Schon jenseits der Gartenpforte begann der Weg anzusteigen. Es gab eine Zufahrt, die von Gras überwuchert war.
An der Pforte hing ein Namensschild aus Messing, auf dem »Prof. S. Hrdliczka« stand. Eine Klingel fand ich nicht.
Ich stieg den Hangweg hinauf. Ab und zu war eine Stufe aus Holzbohlen in die Erde eingelassen. Schnecken krochen darauf herum. Plötzlich spürte ich, wie ein kleines, hartes Teil gegen meinen Hinterkopf prallte.
Ich blieb stehen und sah mich um. War da ein verstohlenes Kichern oder bildete ich es mir nur ein? Ich ließ meinen Blick über den Boden schweifen. Was hatte mich getroffen? Eine Nuss? Ein Stein?
»Versuch’s nicht nochmal!«, sagte ich laut. »Sonst komme ich und pack dich am Kragen …«
Die Drohung kam mir selbst albern vor. Um jemanden packen zu können, musste man ihn erst einmal finden und erwischen. Rasch ging ich weiter. Das Haus war näher, als ich geglaubt hatte, ein hohes Gebäude aus grauem Naturstein mit Sprossenfenstern und braunen Klappläden.
Alles war still. Nur die Blätter um mich her raschelten im Wind, und von irgendwoher kam ein dünnes, klimperndes Geräusch, das ich nicht einordnen konnte.
Ein Glasdach war über der Eingangstür. Fünf Stufen führten hinauf. Sie waren mit trockenem Laub bedeckt, als wäre hier seit langem keiner mehr gegangen.
Jemand hatte die gekreuzten Zweige einer Eibe an die Tür genagelt. Noch seltsamer fand ich den Schädel eines gehörnten Tieres, der unter dem Vordach hing, genau über der Mitte des Türrahmens. Rote Zeichen waren auf die ausgebleichten Knochen gemalt.
Ich klingelte. Nichts rührte sich. Ich klingelte wieder. Dann hämmerte ich mit der Faust gegen das Holz. Nichts. So hatte ich mir meinen Empfang nicht vorgestellt.
Ich ließ meinen Rucksack auf dem Vorplatz zurück und ging ums Haus herum. Überall lagen große Steine, einige flach oder mit Mulden, in denen sich Regenwasser gesammelt hatte, andere abgerundet oder spitz zulaufend wie verzauberte Zwerge mit ihren Mützen.
Dämmerlicht herrschte hinter dem Haus. Die Bäume standen sehr dicht. Ihre Wipfel bildeten ein natürliches Dach, sodass man den blauen Himmel nur ahnen konnte.
Unter den Bäumen war ein steinerner Tisch, auf dem ein Vogel saß. Zwischen den Baumstämmen stand eine Vogelscheuche mit schwarzem Schlapphut.
Ich blieb stehen. Der Vogel hatte mich bemerkt; er stieß einen kehligen Laut aus, der wie »Quork« klang, lüftete die Flügel und vollführte eine Art Verbeugung.
Dann bewegte sich die Vogelscheuche. Ich bekam fast die Krise, bis ich begriff, dass es der Professor selbst sein musste, Nonnas alter Freund, der da auf mich zukam. Er trug eine speckige Hirschlederweste und Kniebundhosen. Der schwarze Vogel flatterte ihm nach, landete im Gras und trippelte neben ihm her.
Der Professor zog seinen Hut. Zum Vorschein kamen ein zerdrücktes Knäuel flachsfarbener Haare, lang und im Nacken zusammengebunden, dunkle Augen unter buschigen Brauen, eine Habichtsnase und ein hageres Gesicht mit tiefen Furchen von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln.
»Hallo«, sagte ich. »Ich bin Sylvie Lindberg.«
»Das dachte ich mir.« Er machte keinen Versuch, mir die Hand zu geben. »Ich hatte dich früher erwartet.«
Seine Stimme war überraschend angenehm und volltönend. Die durchdringenden Augen musterten mich, als wäre ich ein seltener Käfer.
Ich verteidigte mich. »Ich musste zwei Stunden auf diesen Bus warten und bin fast sieben Stunden mit der Bahn gefahren. Früher ging es echt nicht.«
Der Vogel öffnete seinen großen schwarzen Schnabel und sagte etwas in Rabenkrähensprache. Er gefiel mir besser als der Professor, der mich noch immer musterte und nicht besonders freundlich bemerkte: »Deine Großmutter hat mir eingeschärft, nicht stinkstiefelig zu dir zu sein.»
Er verzog das Gesicht; seine buschigen Augenbrauen stießen zusammen. »Was sind das für Ausdrücke für eine alte Frau?«
»Nonna ist keine alte Frau«, sagte ich.
»Sie ist fünfundsechzig, das weiß ich zufällig genau. Oder gehört sie zu denen, die nie aus dem Teenageralter herauskommen wollen?«
»Nonna hat keinen Jugendwahn. Sie ist innerlich jung geblieben, was man wirklich nicht von jedem behaupten kann.«
Der Professor überhörte die Spitze. »Du scheinst sie gern zu haben«, sagte er nur. »Ich habe sie auch einmal sehr gemocht, das wird sie dir wohl erzählt haben. Aber sie wollte mich nicht. Vielleicht sollte ich ihr dankbar dafür sein. Stattdessen hat sie diese Krämerseele geheiratet.«
Mein Großvater hatte eine Weinhandlung gehabt. Das Gespräch begann mir auf die Nerven zu gehen. Ich war hungrig, durstig und müde und meine Blase drückte, doch er machte keine Anstalten, mich ins Haus zu führen.
»Kann ich mal auf die Toilette?«, fragte ich.
Etwas wie ein Lächeln verwandelte sein Gesicht; vielleicht war es aber auch eine spöttische Grimasse. »Ach ja«, murmelte er. »Die Jugend von heute ist sehr unverkrampft. Gehen wir also ins Haus, ehe ein Unglück geschieht.«
Er hüpfte voraus. Ja, sein Gang hatte wirklich etwas Hüpfendes. Ich gab mir Mühe, nicht über seine altmodischen Schnürstiefel zu lachen, die seine dünnen Beine bis zu den Waden bedeckten und unterhalb der Kniebundhose ein Stück der nackten, bleichen Beine freiließen.
Er sagte über die Schulter, ich sollte ihn der Einfachheit halber nur »Professor« nennen, da sein Nachname eine Zumutung für westeuropäische Zungen sei.
Das Haus war voll mit mächtigen dunklen Möbeln, alten Teppichen und Ölbildern in schweren Rahmen. Überall hingen wunderliche Gegenstände herum – Steine mit Löchern darin, Federn und Knöchelchen an Schnüren, sogar getrocknete Vogelköpfe und allerhand große Zähne und Hörner, die mir nicht besonders gefielen. Es roch nach Staub und Moder, nach ungelüfteten Räumen und alten Kleidern und sonst noch so allerhand, was der Nase nicht gerade schmeichelte.
Der Professor führte mich durch einen Gang zu einer Tür, an die zu meinem Schrecken die getrocknete Pfote eines Tieres genagelt war, und sagte: »Die Küche findest du dort links, am Ende des Flurs. Nimm dir, was du brauchst. Dein Zimmer ist in der oberen Etage. Es ist die Tür mit dem Drudenfuß. Ich muss wieder an die Arbeit.«
Damit verschwand er, ehe ich fragen konnte, was ein Drudenfuß ist und wie er aussieht. Während ich auf der Toilette saß, starrte mich eine fratzenhafte Maske von der Innenseite der Tür an, mit schielenden Augen und einem einzigen Riesenzahn zwischen den schiefen, wulstigen Lippen. Ich dachte: Was ist das hier, eine Geisterbahn oder ein Gruselkabinett?
Die Rabenkrähe kauerte auf dem Treppengeländer und schien auf mich zu warten. Vielleicht hatte sie der Professor zurückgelassen, um mich zu beaufsichtigen; vielleicht war sie auch einfach nur neugierig.
Sie hüpfte hinter mir her, als ich hinausging, um meinen Rucksack zu holen. Dann zeigte sie mir den Weg zur Küche, flatterte voraus und folgte mir sichtlich erfreut in den ungemütlichen Raum, in dem es nur einen Tisch, drei Stühle und eine Sitzbank, einen Küchenschrank, zwei Regale, einen Herd und einen Spültisch gab, aber weder Kühlschrank noch Spülmaschine. Dafür hingen massenhaft Kräuterbüschel und zu Zöpfen geflochtene Knoblauchknollen von der Decke. Auf einem der beiden Regale stand ein kleines Radio; neben dem Telefon die einzige Verbindung zur Welt, wie ich bald feststellen sollte, denn im ganzen Haus gab es keinen Fernseher.
Es roch nach Kohl und faulendem Gemüse. Ich setzte Wasser auf. Kräutertees gab es ausreichend, sonst aber fand ich außer Karotten und Kohlrabi, einer Sellerieknolle und einem halben Brotlaib nichts Essbares – weder Butter noch Käse. Erst nach längerem Suchen stieß ich auf ein Glas Honig.
Während ich auf einem Stück Honigbrot herumkaute, flog der schwarze Vogel auf das oberste Regalbrett und fing an, mit dem Schnabel gegen eine Blechdose zu klopfen. Das machte er so lange, bis ich die Dose herunterholte und den Deckel öffnete. Sie war mit Haselnüssen gefüllt.
»Quork« wurde so aufgeregt, dass er alle Zurückhaltung vergaß und auf meine Schulter flog. Er krallte sich an meinem T-Shirt fest und versuchte den Schnabel in die Dose zu stecken.
Um ihn loszuwerden, legte ich drei Nüsse aufs Fensterbrett, genehmigte mir selbst ein paar davon und trank Melissentee, der ekelhaft gesund schmeckte.
Draußen senkte sich die Dämmerung über den Garten und verwandelte ihn in einen höhlenähnlichen Ort. Die Amseln und Drosseln begannen zu singen, und in das Flüstern des Windes mischte sich wieder jenes gläserne Klingeln und Klimpern, das ich schon bei meiner Ankunft gehört hatte.
Im Haus war es vollkommen still. Mit meinem Rucksack, den ich auf dem Treppenabsatz abgestellt hatte, ging ich ins obere Stockwerk. Diesmal folgte mir der schwarze Vogel nicht.
Später fragte ich mich, wieso ich den Drudenfuß erkannt hatte. Denn jede der vielen Türen war mit irgendeinem geheimnisvollen Zeichen bemalt – mit Kreuzen und Quadraten und Blattornamenten, die wie Räder geformt waren.
Ich ging von Tür zu Tür; am Ende des Flurs sah ich die Zeichnung eines fünfzackigen Sterns und dachte: Das ist es.
Ich drückte die Klinke nieder und kam in einen unerwartet heimeligen Raum mit Flickenteppichen, einem Bett mit vier Pfosten, einem Polstersessel und einem Schreibtisch mit zahlreichen Schubladen.
Ich öffnete das Fenster und legte mich aufs Bett. Doch obwohl ich so müde war, konnte ich nicht schlafen. Es gelang mir, Nonna übers Handy anzurufen. Sie hatte offenbar schon darauf gewartet, dass ich mich meldete, denn sie nahm sofort ab.
»Ich glaube nicht, dass ich’s hier lange aushalte«, sagte ich. »Es gibt praktisch nichts zu essen. Und das Haus ist voller abartiger Teile. Stell dir vor, alles ist mit komischen Zeichen bemalt und an allen Ecken und Enden hängen mumifizierte Vogelköpfe, getrocknete Tierpfoten und scheußliche Masken herum.«
»Das sind sicher Abwehrzauber gegen böse Geister.« Ich hörte meine Großmutter kichern. »Typisch Samuel! Bin ich froh, dass ich ihn nicht geheiratet habe …«
»Schön für dich. Und wieso hast du mich überredet, hierher zu fahren? Wir kommen bestimmt nicht miteinander klar. Er ist … er ist der schrägste Typ, den ich je getroffen habe!«
Sie hörte nicht auf zu kichern. »Wie sieht er aus?«, fragte sie.
Ich beschrieb ihn. »Aha«, sagte sie. »Diese Schnürstiefel hatte er damals schon. Und die langen Haare … Er hält sich wohl für eine Art Druiden. Ich dachte mir immer, dass er eines Tages durchdrehen würde.«
»Danke, sehr nett! Du hast mich also zu einem Verrückten ins Haus geschickt?«
»So schlimm ist es auch wieder nicht. Ihr jungen Leute mögt doch schräge Vögel, je schriller, desto besser. Gefährlich ist er jedenfalls nicht. Ich müsste mich sehr täuschen, wenn du nicht mit ihm zurechtkommen könntest. Und was das Essen betrifft, ich überweise etwas Geld auf dein Konto, dann kaufst du dir ein paar Vorräte im nächsten Supermarkt.«
»Ich weiß nicht, ob es sowas in dieser Pampa überhaupt gibt.«
»Supermärkte gibt es überall«, sagte Nonna. »Du bist schließlich nicht in der Wüste Gobi. Wie sieht es mit der Busverbindung aus?«
»Die nächste Haltestelle ist meilenweit entfernt.«
»Samuel hat doch einen alten Mercedes. Lass dich von ihm fahren.«
»Der und mich durch die Gegend kutschieren? Das macht er nie!«
»Okay, vielleicht gibt es ein Fahrrad. Sei nicht so umständlich. Samuels Haushälterin musste doch auch irgendwie zum Einkaufen kommen. Er hat mal erwähnt, dass sie keinen Führerschein hätte, also ist sie wohl mit dem Rad gefahren.«
Das Gespräch baute mich nicht gerade auf. Vielleicht hatte ich erwartet, dass Nonna mir riet, gleich morgen in den ersten Zug zu steigen und nach Hause zurückzukommen. Doch sie war der Meinung, dass man nicht bei jeder Schwierigkeit sofort die Flinte ins Korn werfen sollte.
»Versuch’s«, hatte sie zum Abschluss des Gesprächs noch gesagt. »Beiß dich erst mal eine Woche lang durch, ehe du dich entscheidest.«
Der Professor schien mich zu belauschen. Vielleicht hatte er ein Abhörgerät in meinem Zimmer angebracht. Denn als ich später auf der Suche nach dem Bad durch den Flur irrte, tauchte er hinter einer dunklen Ecke auf und sagte: »Ich dulde nicht, dass in meinem Haus eines dieser absurden Geräte benutzt wird. Du stellst es sofort ab und wirst es nie wieder innerhalb dieser Mauern benutzen, und ebenso nicht auf meinem Grundstück. Darauf bestehe ich!«
Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass er das Handy meinte. »Aber ich muss gelegentlich zu Hause anrufen«, wandte ich ein.
»Du kannst mein Telefon benutzen. Es steht im Arbeitszimmer. Lass dich zurückrufen, dann wird es nicht so teuer. Es gibt auch noch die Post. Man kann Briefe schreiben, falls man des Schreibens mächtig ist. Früher hat man auch ohne dieses Teufelswerk gelebt.«
Ich merkte, dass ihm wirklich ernst damit war. Er regte sich richtig auf. Seine Augen funkelten, seine Oberlippe zitterte.
»Es gibt nicht einmal eine wirklich wirksame Abwehr gegen diese unheilvollen Strahlen; da hilft kein noch so starker Mistelzauber, nicht einmal der stärkste Runenspruch. All die feinen Netze, die unsere Erde durchkreuzen, die Verbindungen zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Welt, das alles ist schwer gestört und aus dem natürlichen Gleichgewicht gebracht.«
Er atmete kurz und stoßweise und durchbohrte mich förmlich mit den Blicken, so, als wäre ich für das alles verantwortlich. »Ich versuche seit Jahren etwas zu finden, womit man das Unheil verhindern kann, das mit Gewalt auf uns zukommt!«
Atemlos verstummte er. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ihm war verzweifelt ernst damit, das merkte ich. Minutenlang standen wir schweigend auf dem Flur und sahen uns an. Dann verlöschte das feindselige Leuchten in seinen Augen und er brummelte:
»Ich wollte dich nicht erschrecken. Unser Respekt vor den Elementen kann nicht groß genug sein. Ihr jungen Menschen seid so ahnungslos. Um eure gefühlsmäßige und spirituelle Entwicklung ist es erschreckend schlecht bestellt. Fun-Gesellschaft! Wenn ich das schon höre … Ihr könnt nicht weiter so in den Tag hinein leben. Keine Generation hat so zerstörerisch gewirkt wie diese. Der Klimawandel wird uns immer mehr Überschwemmungen und Dürren bringen. Es wird mehr Wirbelstürme geben, die Pole werden schmelzen. Wenn der Golfstrom versiegt, wird eine neue Eiszeit über Europa hereinbrechen …«
Ich hatte das Gefühl, unter einer eiskalten Dusche zu stehen. »Aber die Generation, die für all das verantwortlich ist, ist nicht unsere, sondern die unserer Eltern und Großeltern«, wandte ich ein.
Er schnaubte nur und drehte sich um. Im Weggehen sagte er über die Schulter: »Du brauchst heute nichts für mich zum Abendessen zu richten. Morgen früh um halb acht nehme ich ein Müsli zu mir, bestehend aus Haferflocken, einem geriebenen Apfel, einer geraspelten Karotte, ein paar Berberitzen und zerkleinerten Nüssen. Gute Nacht.«
Es wurde eine unruhige Nacht.
Zuerst wälzte ich mich mindestens eine Stunde lang im Bett herum, weil mein Rücken schmerzte. Mit der Zeit begriff ich, dass es nicht vom Rucksackschleppen kam. Etwas drückte mich zwischen den Schulterblättern. Irgendwann kam ich auf die Idee, das Bett zu untersuchen. Zwischen Laken und Matratze war ein dünnes Unterbett. Als ich es hochklappte, sah ich, dass etwas auf der Matratze lag.
Es war ein seltsames Teil. Im ersten Augenblick dachte ich, es wäre eine primitive Puppe, die ein Kind unbeholfen aus einem Stück Holz geschnitzt hatte. Doch es war keine Puppe, eher eine Art verhutzeltes Männchen. Es bestand auch nicht aus Holz, es war wohl eher eine vertrocknete Rübe. An den Enden, die wie winzige Arme und Beine aussahen, befanden sich haarige Wurzelfasern. Das ganze Wesen wirkte schrumpelig und vertrocknet, zugleich aber wunderlich lebendig.
Vielleicht hatte doch einmal ein Kind in diesem Zimmer geschlafen und das Wurzelmännchen zurückgelassen. Ich legte es aufs Fensterbrett, kroch ins Bett zurück, löschte das Licht und versuchte einzuschlafen.
Bis auf das gläserne Geklingel, das fast ständig in der Luft lag, und ein Knistern und Huschen irgendwo über mir war es sehr still. Plötzlich träumte ich von einer Gestalt im schwarzen Umhang. Sie trug eine Maske über dem Gesicht, die dunkle Augenhöhlen und einen langen, gebogenen Vogelschnabel hatte. Der Vogelmensch trug einen Sack auf dem Rücken, aus dem Unmengen von Erbsen und Bohnen rieselten. Er tanzte um mich herum wie Rumpelstilzchen und sang dabei einen alten Song der Beatles, den Nonna gern vor sich hinsummte: »When I’m sixty four«.
Dann befahl mir der Vogelmensch, die Erbsen und Bohnen zu zählen, die er verstreute. »Aber genau!«, schnarrte er. »Exakt! Hol einen Eimer und wirf sie hinein, jedoch nicht, ohne jede einzelne gezählt zu haben! Der große Meister wird es kontrollieren …«
Im Traum dachte ich, wie grottendumm das war und dass dieser Typ nicht richtig tickte. Trotzdem holte ich von irgendwoher einen Eimer und begann gehorsam die Erbsen und Bohnen aufzusammeln, wobei ich laut zählte: »Eins, zwei, … dreihundert, … dreihundertvierundsiebzig …«
Der Vogelmensch hüpfte jetzt auf einem Bein und schien das alles sehr lustig zu finden. Er schlug sich wie ein bayrischer Schuhplattler auf die Schenkel, dass es klatschte, und kicherte dabei wie ein Schlumpf.
Zornig dachte ich: Jetzt reicht es aber!, hob den Eimer und wollte ihm die abgezählten Hülsenfrüchte über den Kopf schütten, doch sie blieben irgendwie im Eimer kleben. Der Vogelmensch wurde ebenfalls wütend. Er begann zu zischen, zog einen Spazierstock aus seinem Umhang und schrie: »Ich verwandle dich in eine Kröte, du unbotmäßiges Geschöpf!«
Vor Schreck wachte ich auf. Um mich her war es stockdunkel. Ein Zischen erfüllte die Luft, so, als wäre der Vogelmensch aus meinem Traum noch im Zimmer. Ich wollte die Hand ausstrecken, aber aus irgendeinem Grund konnte ich mich nicht bewegen.
Das Zischen wurde leiser. Es verwandelte sich in ein Säuseln und Wispern und Raunen wie von heimlichen Stimmen. Sie flüsterten durcheinander, schienen Botschaften auszutauschen, von denen ich kein Wort verstand. Vielleicht waren es ja nur die Blätter im Garten, die Zweige und Grashalme, die sich im Wind bewegten und aneinander rieben, oder die Grillen, die im Laub und in der Erde zirpten. Doch ich hatte nie zuvor ähnliche Laute gehört. In die Stimmen mischte sich etwas wie ein Kichern; ein hoher, spitzer Ton, der mir in den Ohren schrillte.
Ich versuchte mir die Ohren zuzuhalten, aber auch das gelang mir nicht. Warum konnte ich mich nicht bewegen? Träumte ich vielleicht noch, waren die raunenden Stimmen und das Kichern nur die Fortsetzung des Traums mit dem Vogelmenschen? Ich hätte schwören können, dass ich die Augen geöffnet hatte und in die Dunkelheit starrte, dass ich den fremden Geruch des Zimmers wahrnahm und einen schwachen Lichtschimmer vom Fensterbrett her.
Die Geräusche verebbten. Jetzt schien es nur noch eine einzige Stimme zu sein, die unverständliche Worte zischelte, und das Kichern verwandelte sich in einen Laut, der wie ein Schluckauf klang.
In meinem Kopf formte sich ein Befehl. Haut ab!, wollte ich rufen, aber auch meine Lippen und Stimmbänder gehorchten mir nicht. Alles, was ich hervorbrachte, war ein schwaches Krächzen. Trotzdem hallte es in meinem Kopf: Haut ab! Haut ab!, immer wieder, bis jäh alles aufhörte.
Stille senkte sich über den Raum, als hätte ich mit der Kraft meiner Gedanken ein Heer von Kobolden oder Geistern in die Flucht geschlagen. Plötzlich konnte ich mich auch wieder bewegen, konnte tief durchatmen, die Hand ausstrecken, die Lampe anknipsen und mich vergewissern, dass außer mir keiner im Zimmer war.
Wieder wälzte ich mich unruhig hin und her, sagte mir, dass ich alles nur geträumt haben musste – kein Wunder bei den vielen unheimlichen Teilen und rätselhaften Zeichen, die das Haus füllten.
Gegen drei Uhr morgens schlief ich noch einmal ein. Diesmal störte mich nichts. Ich schlief so fest, dass ich erst zwanzig Minuten nach sieben aufwachte. Mein erster Gedanke war das Müsli, das Punkt halb acht auf dem Tisch stehen sollte.
Erschrocken sprang ich aus dem Bett, zog hastig meine Jeans und ein Sweatshirt an, fuhr mir mit den gespreizten Fingern durchs Haar, band es zu einem Pferdeschwanz und rannte in die Küche hinunter.
Natürlich schaffte ich es nicht rechtzeitig. Es dauerte eine Weile, bis ich alles fand, bis ich den Hafer durch die Flockenquetsche gedreht, den Apfel gerieben und die Karotte geraspelt hatte.
Der Professor erschien pünktlich auf die Minute in der Küchentür. Als ich ihn auf der Schwelle stehen sah, die Rabenkrähe auf seiner Schulter, wurde mir klar, dass mein Traumbild eine Verschmelzung von Nonnas altem Verehrer und seinem Vogel gewesen war.
»Tut mir leid«, murmelte ich. »Ich hab’s nicht geschafft. Leider habe ich keinen Wecker mitgebracht, und ich hab so schlecht geschlafen. Es dauert auch, bis ich mich hier mit allem zurechtfinde …«
Er musterte mich mit strengem Blick. Seine Haare sahen aus, als hätte er sie seit Jahren nicht gekämmt. Sicher versteckte der Vogel seine Nüsse darin.
»Guten Morgen«, erwiderte er. »Ich werde dir einen Wecker geben. Du hattest also eine unruhige Nacht? Vermutlich hast du die Alraune aus deinem Bett entfernt.«
»Wen?«, fragte ich. »Was?«
Er seufzte. »Mandragora! Alraunwurzel! Lernt ihr denn überhaupt nichts in euren Schulen?«
Alraunwurzel … Das Bild des wunderlichen Püppchens tauchte vor meinen inneren Augen auf, das sich durch das Unterbett hindurch in meinen Rücken gebohrt hatte.
»Meinen Sie dieses komische Männchen?«
»Jawohl, das komische Männchen!« Ziemlich unsanft nahm er mir den Müsliteller aus der Hand. »Das komische Männchen ist eine Kostbarkeit und eines der wirksamsten Zaubermittel, die es gibt. Was hast du damit gemacht?«
»Ich hab’s auf das Fensterbrett gelegt«, sagte ich verdutzt.
»Behandle es mit Ehrfurcht und Respekt. Ich kann dir nur raten, es wieder in dein Bett zurückzulegen, wenn dir ein ungestörter Schlaf wichtig ist.«
Er begann sein Müsli zu löffeln. »Keine Berberitzen«, sagte er mit vollem Mund. »Sie sind in der kleinen Keramikschüssel im Küchenschrank. Und gib Hugin ein paar Nüsse.«
Hugin, so hieß die Rabenkrähe. Der Name erinnerte mich an etwas, was ich einmal im Unterricht gehört hatte, doch ich wusste nicht mehr, in welchem Zusammenhang.
Hugin begann aufgeregt mit den Flügeln zu schlagen, während ich die Haselnüsse in eine Emailschüssel legte. Sofort kam er angeflattert, krallte sich am Schüsselrand fest und hackte nach den Nüssen.
»Wo kann ich einkaufen?«, fragte ich nach einer Weile.
»In Agathenried gibt es einen Naturkostladen. Ich esse nur ungespritztes Obst und Gemüse.«
Was ich essen würde, war ihm offenbar egal. »Und wie komme ich ins Dorf?«
»Mit dem Fahrrad, nehme ich an. Frau Pichlers Rad steht hinter der Garage. Du kannst es benutzen. Geld ist in der Blechdose in der Tischschublade. Nimm dir, was du brauchst. Im Übrigen erwarte ich, dass du das Brot selbst bäckst. Das Rezept müsste irgendwo im Regal liegen.«
Ich hatte gerade in einen Apfel gebissen und verschluckte mich beinahe. Brot war etwas, was man beim Bäcker kaufte. Ich war noch nie auf die Idee gekommen, dass man es auch selbst backen konnte.
»Du kannst das einfachere Rezept mit der Hefe nehmen«, fügte er großzügig hinzu. »Das mit dem Sauerteig würde dich wohl etwas überfordern.«
Er hielt mich also für geistig unterbelichtet. Ich fragte nicht nach dem Weg zur Ortschaft; dabei hatte ich mir vorgenommen, vormittags zum Einkaufen zu fahren. Den Weg zur Kreuzung, wo mich der freundliche Busfahrer abgesetzt hatte, würde ich finden. Dort gab es einen Wegweiser.
Das Fahrrad stand unter dem Dachvorsprung der Garage. Es war altmodisch, fuhr jedoch einwandfrei. Als ich zur Kreuzung kam, stand auf dem Wegweiser, der nach links zeigte, »Grendelsee«, auf dem anderen »Agathenried«. Ich bog rechts ab und erreichte nach ungefähr drei Kilometern eine kleine, verschlafen wirkende Ortschaft.
Die Kirchturmuhr schlug gerade zehn. Der Bioladen war neben einem Zeitschriftenkiosk. Eine junge Frau wog Obst und Gemüse für mich ab. In der Kühltheke gab es Hefe; vorsichtshalber nahm ich vier Würfel. Dann ließ ich mir erklären, wie man einen Brotteig zubereitet.
»Du kannst einen Hefeteig auf zweierlei Art machen«, sagte die Verkäuferin. Sie bemühte sich, Hochdeutsch zu sprechen. »Entweder du bereitest den Teig abends vor und lässt ihn über Nacht stehen, damit er aufgehen kann. Oder du stellst ihn tagsüber an einen warmen Platz. Nach ein bis zwei Stunden müsste er dann den doppelten Umfang haben, wenn alles klappt.«
Ich ließ die Tüten im Laden zurück und setzte mich in das Café gegenüber der Kirche. Dort bestellte ich Apfelstrudel und dazu einen Espresso mit Schlagsahne.
Im Café war es gemütlich. Nirgends hingen schielende Monster oder getrocknete Pfoten herum. Zwei ältere Männer raschelten friedlich mit ihren Zeitungen. Es roch nach frischem Gebäck und Kaffee. Draußen begann es sacht zu regnen.
Aus dem Schnürlregen wurde bald ein ausgewachsener Landregen. Die Frau im Bioladen, die Bruni hieß, gab mir ein paar Plastiktüten für die Lebensmittel. Ich selbst war nass bis auf die Haut, als ich die Straßenkreuzung erreichte.
Da ich keinen Hausschlüssel hatte, musste ich den Professor herausklingeln. Er schien nicht zu merken, dass ich wie ein Grottenolm vor Nässe triefte. Er brummte nur, alle Welt würde ihn ständig bei der Arbeit stören, und verlangte, dass ich eine Kanne Salbeitee für ihn kochte, der genau zwölf Minuten ziehen musste.
In der Küche saß Hugin auf der Stuhllehne und schlief, den Kopf unter einen Flügel gesteckt. Als ich nach dem Tee suchte, wurde er munter, flog mir auf die Schulter und fing an, mit dem Schnabel an meinen Haarsträhnen zu zupfen.
»Lass das!«, sagte ich. »Wenn du Hunger hast, warum flatterst du nicht in den Garten und suchst dir ein paar Schnecken oder Würmer, kleines Faultier?«
Ich fütterte ihn mit Rosinen und Nüssen und gab ihm zwei von den Keksen, die ich mir im Bioladen gekauft hatte. Er nahm sie zwischen die Krallen und hackte begeistert darauf herum.
Die Tür des Arbeitszimmers stand einen Spalt offen. Ich hörte den Professor reden, als ich mit dem Teegeschirr die Treppe hinaufstieg. Doch als ich das Zimmer betrat, war er allein. Die Vorhänge waren zugezogen. Im Halbdunkel stand der Professor über etwas gebeugt, was auf dem Tisch lag.
Es war ein Büschel aus kleinen Zweigen mit vielen Blättchen und weißen Früchten, die wie Perlen im Zwielicht schimmerten. Aus einer Pfanne kräuselte sich Rauch und erfüllte den Raum mit würzigem, leicht süßlichem Duft.
»Stell es irgendwohin«, sagte er, ohne sich nach mir umzudrehen.