Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2010
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ISBN 978-3-644-00771-0
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-00771-0
für D.
«Wir müssten gleich da sein», hörte sie Jon sagen, der seit Stunden nicht gesprochen, sich nur blutverschmiert auf der Rückbank gewunden hatte. Der Wagen fuhr die Landstraßen entlang, die geradesten Straßen, die Martha je gesehen hatte, flach und endlos. Nachdem das Land aufgehört hatte, schien es immer noch weiterzugehen. Es war der letzte Zipfel der Nation, ein schmaler Streifen, bestehend aus Wiesen und Dünen und dazwischen eine Straße, Reetdachdörfer, Fischland-Darß. Fischland, dachte Martha, nicht Fisch, nicht Land und auch keine Insel mehr.
Neben Jon saß Henning, beide angeblich schwer verwundet, Betty schlafend auf dem Beifahrersitz. Es war, als schlafe Betty seit Wochen, als habe sie sich für den Schlaf als beste Option entschieden. Am Telefon hatte sie nur geflüstert. Alles, was sie sagte, hatte einen Klang von Trägheit und Vorsicht gehabt, als wolle sie sich selbst nicht wecken. Wie immer war es von besonderer Schwere, einen Menschen zu vermissen, der direkt neben einem saß.
Martha konzentrierte sich auf die Fahrbahn, drückte die Arme durch und kniff die Augen zusammen. Es war nicht mehr weit.
Essen hätte sie sollen, das wäre eine kluge Entscheidung gewesen, doch Betty füllte nur den Becher voll und ließ den Rum die Kehle runterrauschen. Sie trank eigentlich nie Rum, wusste nicht, wie diese Flasche in ihre Küche gelangt war, machte sich darüber nicht allzu viele Gedanken. Noch einen Schluck. Die Musik lauter drehen. Machen Sie sich eine Markierung bei der 8, hatte ihr Nachbar gesagt, als er sich das letzte Mal beschwerte, dann wissen Sie auch in besoffenem Zustand, wie laut Ihre Musik ist. Eine halbe Stunde war er damals zwischen seiner und ihrer Wohnung hin- und hergelaufen, hatte schließlich die 8 als seine Toleranzgrenze festgelegt, bei stark basslastiger Musik auf 7 runterkorrigiert. Widerlicher, kleiner Drecksack, dachte sie, wie er mit seinem fleischigen Buckel die Treppen hochhüpft, immer scheißfröhlich, pfeift sogar beim Brötchenholen, fährt Fahrrad mit Sportlenker und Helm, keine 25 und hängt schon am Leben, und diesen Buckel, den gönnte sie ihm so richtig. Die langbeinige 19-Jährige, die er sich hielt, war dumm wie Stroh und extrem laut, die solle sich mal eine Markierung einbauen, hatte sie ihm damals noch hinterhergebrüllt.
Betty zog einen dicken Pullover über, kochte Kakao, gab einen Schuss Rum in den Becher, einen ordentlichen Schuss, fegte die Splitter von der Fensterbank, bevor sie sich setzte und auf den Platz hinausblickte. Ein Taxi ohne Licht rollte vorbei, Schrittgeschwindigkeit, der Spielplatz war nass und dunkel, die Markise der Eisdiele seit Monaten eingerollt, vor der Pizzeria verrottende Plastiktische, hinter dreckigen Scheiben die Hoffnung auf Frühling und Umsatz, nur der Spätkauf florierte und die Videothek nebenan. Die Kirche lud zum Orgelkonzert, doch außer den Freunden des Organisten schien niemand zu kommen, und Freunde hatte ein Organist hier nur wenige.
Er hatte gekocht, Henning hatte genau genommen fünf Gänge vorbereitet, man hätte sagen können, die Pflaumen in Speck zählten nicht als Gang, allenfalls ein Gruß aus der Küche, aber der Steinbutt, das Rinderfilet, das Walnussparfait, die Käseauswahl, das waren Gänge, auf jeden Fall. Er hatte alles vorbereitet, Champagner mit den Pflaumen, einen Grauburgunder zum Fisch, einen Bordeaux zum Fleisch, der Dessertwein, alles war da, nur die Frau kam nicht, sie rief nicht einmal an. Er hatte alles überprüft, ihr Zug war um 18:45 angekommen, Ostbahnhof, das waren fünf Minuten mit dem Taxi, zehn mit dem Bus, fünfundzwanzig zu Fuß, aber jetzt war es fast 20Uhr und der Fisch ausgetrocknet.
Von Anfang an hatte er nicht verstanden, was das sollte. Warschau, hatte Martha letzte Woche plötzlich gesagt, ich fahre nach Warschau, wieso, hatte er gefragt, was zum Teufel, und mal raus, hatte sie geantwortet, und Polen, noch nie war ich in Polen, da muss man doch mal hin, Polen fängt ja gleich hinter der Grenze an, und: viel schöner als sein Ruf, und überhaupt, ich muss einfach mal raus, du weißt schon.
Ja, er wusste schon, seit Jahren wusste er schon, Martha musste raus, und an diesem Satz blieb er hängen, jetzt, da sie offensichtlich den Zug zurück nicht genommen hatte, verpasst war ausgeschlossen, sie verpasste nie irgendetwas, erreichte alles immer in letzter Sekunde. Das führte dazu, dass sie ständig am Herumrennen war, selbst wenn sie saß. Martha kam nirgends an, auf jeden Fall nicht bei ihm, er war allenfalls die Station, an der sie sich ausruhte.
«Du bist die beste Ehefrau der Welt», hatte sie neulich zu ihm gesagt und dabei gelächelt, als habe sie ihm gerade einen Antrag gemacht. Hatte sie nur leider nicht, und die Zeit der Fehlinterpretationen und Missverständnisse lag hinter ihnen, die hatten sie alle überstanden. Fast zehn Jahre jetzt, das machte neun missglückte Versuche, ihn zu verlassen, jedes Jahr im Sommer, Frühsommer genauer gesagt, um exakt zu sein: in der zweiten Juniwoche, meistens an einem Freitag. Das war bequem, da konnten sie beide zu Freunden aufs Land fahren, zu verschiedenen, versteht sich. Es gab nur noch wenige Freundschaften, die sie nicht gemeinsam pflegten, doch besonders an diesen hielten sie fest. Ein wenig hatte das mit der Gegend zu tun, mehr noch aber lag es daran, dass diese Landfreundschaften in äußerst garstigen Beziehungen lebten, da draußen in der Provinz, mit zwei ebenso garstigen Kindern unter den Apfelbäumen im Garten. Es gab in einer Krise absolut nichts Besseres, als Freunde zu besuchen, denen es richtig mies ging.
Schon jetzt stellte sich bei Henning eine Vorfreude auf das zweite Juniwochenende ein. Dann sah er wieder auf den Fisch, das Filet, das Parfait, öffnete den Champagner, schenkte sich ein, trank das Glas leer und sagte leise: «Verdammt, Martha. Es ist März.»
Es war bereits dunkel, als sie in Krakau aus dem Zug stieg. Sie war über Warschau gekommen, war dort geblieben eine Nacht, Zimmer mit Häkeldecke und harten Frotteetüchern, in einer Pension auf der falschen Seite des Bahnhofs, hatte sich in den Straßen herumgetrieben, in jeder vierten Bar ein Glas Wasser getrunken, in den anderen Wodka auf Eis. Der folgende Schlaf war der beste seit Monaten, Einzelbett und Wolldecke, das Kissen steif wie der Nacken am Morgen. Kaffee schwarz, Brot trocken, für die Fahrt einen Apfelkuchen, den berühmten, und das Rauschen der Landschaft, langsam, ganz langsam. Sie konnte die sauber aufgehängten Unterhosen in den anliegenden Gärten zählen, saß allein in einem Abteil, alle anderen leer, dieser Zug fuhr nur für sie. Vor dem Fenster Felder, verfallene Höfe, Frauen in Kitteln, Bahnhöfe in Grau, Tauben, Taubendreck, Tauben tot, Zigarettenstummel halb geraucht auf Bahnsteigen liegend, jeder Kiosk geschlossen, jedes Licht gebrochen, Glasdächer gelb bis braun, von irgendwoher Romantik, vielleicht aus Richtung der Erwartungen. Tak, tak, tak hieß Ja und klopfte durch alle Orte hier, nur die Türen gingen nicht auf. Die Sprache ein zischender Teppich, rau, mit ungekämmten Fransen an den Enden. Martha schüttelte ihren Kopf und hörte nichts, da bewegte sich nichts, leer gefegt und aussortiert. Nur dafür reiste sie, an Orte, die ihr zunehmend gleichgültig wurden und sie sich gleich mit. Yoga wäre billiger, hatte Henning einmal zu ihr gesagt, der von ihren Reisen wenig verstand und von dieser rein gar nichts.
Am frühen Abend hatte er angerufen und Betty es nicht mehr hören können: Wenn die Kinder nicht wären, die Eigentumswohnung nicht gerade erst angezahlt, die Schwiegermutter nicht im Sterben liege, der Urlaub nicht längst gebucht und nächste Woche auch noch der Vierzigste seiner Frau, wenn sie nicht gerade den Kuchen gebacken hätten, den Fischfond angesetzt, den Braten eingelegt, wenn das Zeit-Abo nicht verlängert worden wäre und die Flatrate gebucht, dann könnte alles ganz anders und auch so richtig schön, dann könnten sie die ganze Welt, könnten so richtig glücklich sein, mit allem Drum und Dran, könnten es krachen lassen, da bliebe kein Auge trocken, ganz sicher nicht. Herr M. hatte geredet und geredet und Betty das Telefon durch das Fenster geworfen, hauchdünnes Glas, im Winter fuhr der Wind durch die Rahmen, alles porös, alles defekt, Altbau mit Charme hatte damals in der Anzeige gestanden.
Sie würde einen Glaser anrufen müssen, gleich morgen früh, diese ganze Affäre kam sie teuer zu stehen. Vor zwei Wochen erst hatte sie nach einem Telefonat mit ihm, in einem ungekannten Wutrausch, ihre Matratze zerschnitten, seitdem schlief sie auf der alten Isomatte, was in ihrem Alter sofort die Bandscheibe aufmerken ließ. Er hatte ihr nichts versprochen, da musste sie sich verhört haben, sie hörte ständig Sätze, die niemand sagte, von denen sie nur wollte, dass sie endlich einmal jemand meinte, und wäre es nach ihr gegangen, hätte das jetzt ruhig Herr M. sein können.
Tut alles gar nicht weh, dachte sie, ist den ganzen Kummer nicht wert, jenseits der dreißig hat es sich dann auch mal, hab eh nicht dran geglaubt, Projektion alles, alles nur in meinem Kopf, der einzig reale Schmerz saß in den Knien, mit vierzig gehen Sie am Stock, hatte der Ergotherapeut gesagt, und: Mir doch egal, hatte sie geantwortet, mit vierzig will ich sowieso nur noch sitzen. Gibt ja auch schicke Gehwagen heutzutage, kann man die Alditüten so hübsch dran baumeln lassen.
Es begann sie anzuöden, diese ewige Wiederholung, selbst die Namen wiederholten sich schon, Thomas, Christoph, Stefan, Tom, Christian, Thomas. Sie könnte den Kulturkreis wechseln, mal woanders scheitern, wäre vielleicht hübscher dort. Trotzdem wünschte sie sich nur selten, es wäre alles anders gekommen, quasi erste Liebe geheiratet, Kinder, Haus, Garten, Vollprofi in Sachen Schokoladenkuchen, Pflanzenzucht, Grillpartys, perfekt kontrolliertes Glück. Sie hatte sich nie festlegen wollen, hatte immer gedacht, alles würde besser, immer nur noch besser, höher, schneller, weiter eben, hatte ja auch alles gut angefangen, steile Karriere, wenn man so sagen will, die Jobs konnte sie sich aussuchen, die Gagen stiegen. Sie hatte nicht wissen können, dass der vielbeschworene Zenit erreicht war, dass es von nun an bergab gehen würde, das hatte keiner geglaubt. Und was sollte sie schon machen, außer immer weiter.
Martha knöpfte ihren Mantel zu, zog die Strümpfe hoch und ging los, über den Ring, durch das Stadttor hindurch, direkt auf den Marktplatz. Es gab nur wenige Rituale in ihrem Leben, aber dieses war eins davon: das erste Getränk immer am Markt. Ein Grund, warum es sie ausschließlich in alteuropäische Städte zog. Hufgeklapper, digitale Kameras, Straßenbahn funkenschlagend zum Bahnhof, das Bier sechs Zloty, Kurs 1:3,85 – machte 1 Euro 56. Der Rausch in Krakau gehörte zu den billigsten in Europa, der Marktplatz zu den schönsten. Nach dem Bierglas gegriffen, fahler Geschmack im Mund, eine Packung Zigaretten fünf Zloty, die trockneten den Gaumen aus, schmeckten nach Sozialismus und Niedergang. Aber die Kirchen, hieß es, schau dir die Kirchen an. Schlangen vor den Beichtstühlen, wie zu Hause am Ersten vor den Geldautomaten. Diskretionsabstand.
Was hätte sie zu flüstern, Woche für Woche. Sie dachte nach und fand nicht viel. Mal mit Wetter und Verkehr geknutscht, vielleicht auch zweimal, die Flasche Wein im Feinkostladen mitgehen lassen, weil auch der teuerste Wein sein Geld nie wert war, die albernen Tempolimits, die roten Ampeln, die für sie nicht mehr waren als ein Vorschlag, Bettys Nachbarn den Kasten Bier vor der Tür weggeklaut, im Urlaub eine Katze überfahren, vielleicht auch mal gelogen, sicher gelogen, und noch viel mehr verschwiegen. Die Sünden, die immergleichen, seit Jahren schon, abgenutzt, verjährt, nicht länger schuldig. Sie sollte etwas ändern, eine Zeit für neue Sünden ausrufen, für ausufernde, mutige, schamlose. Ob sie hier auf Deutsch beichten dürfte, war die Frage. Was fängt einer an mit einer Beichte, die er nicht versteht.
Auf Empfehlung der Bedienung bestellte Martha einen frischen Apfelkuchen mit warmer Himbeersauce, den sie nach anfänglicher Skepsis zum Inbegriff von Glück erklärte. Zumindest in glücklichen Nächten müsste Apfelkuchen mit Himbeersauce das Absolute sein, das nicht zu Übertreffende, der Gipfel einer glücklichen Nacht gewissermaßen. In unglücklichen Nächten hingegen konnte so ein Kuchen die Distanz zum möglichen, aber dennoch nicht empfindbaren Glück dramatisch vergrößern.
So kam es, dass winzige Salzmengen auf ihren Kuchen tropften und sie ein zweites Stück bestellte. Alle paar Minuten kroch eine Träne über ihre Wange, stets nur über die linke, sie konnte nur mit einem Auge weinen, das hatte mit dem ersten Liebeskummer begonnen, seitdem war sie eine Linksheulerin. Ihr rechtes hingegen war ein trockenes Auge, wie Martha sagte: ein ausgetrocknetes, in das sie mehrmals täglich tropfen musste, um halbwegs klar zu sehen. Jetzt allerdings sah sie gar nichts klar, sie wusste kaum, wo sie war, und noch weniger, was sie hier wollte. Es war nicht mehr als eine Ahnung, ein fremdes Gefühl in ihr, als wäre da etwas, was sich nicht abschütteln ließ, das den ganzen Weg hierher mitgekommen war und über das sie weder reden wollte noch konnte. Der Mensch braucht Geheimnisse und Frauen erst recht.
Ihr Körper wurde schwer von Stille. Eine ausgeprägte, tiefe Stille konnte ein ziemliches Gewicht haben, wobei auch das, wie so vieles, vom Wetter abhing: Eine winterliche Stille hatte das Gewicht von zirka drei Fässern Bordeaux, eine sommerliche Stille hingegen wog in etwa so viel wie ein Gin Fizz in einem Plastikbecher.
Zwölf, dreizehn, vierzehn, die Lautstärke gegen den ganzen Zirkus im Kopf, sie wollte sich selbst nicht mehr hören, das ewige Hätte-würde-könnte, öffnete das zerbrochene Fenster, sah zur Pizzeria hinüber, wo Heinz in seinen Laden lief und die Soulmusik lauter drehte. Betty an ihrer Anlage, fünfzehn, sechzehn, siebzehn, er an seiner, und sie wusste, dass sie dieses Spiel verlieren würde, spielte trotzdem mit, bis er schließlich unter ihrem Balkon stand und eine Flasche Whiskey hochhielt.
«Komm endlich runter!», brüllte er. «Ich bin blau wie ’n Ochse, und du hast nicht die geringste Chance!»
Heinz war in keiner guten Phase, seitdem sein Bäcker, der ohne jeden Zweifel den besten Pizzateig der Stadt gebacken hatte, das Handtuch geworfen, das Messer gezückt und mitsamt dem Rezept und Heinz’ Frau die Autobahn zurück in die Drecksstadt Neapel genommen hatte.
Betty tauschte den Pullover von Herrn M. gegen ein Thomas-Stefan-Tom-Hemd aus, businessblau und weiße Knöpfe, frei von jeder Erinnerung, und zog sich ihre Thermojacke über.
Heinz stellte ihr einen Tisch raus, ohne Decke, dafür mit Kerze, und das Glas war bis an den Rand gefüllt. «So», sagte er und weiter nichts. Sie waren beide keine großen Redner und schätzten das. Er setzte sich zu ihr, das Anstoßen der Gläser, Anbieten der Zigaretten, und: «Echte Scheißmusik, die du hörst», sagte Heinz, und beide nickten. Sie meinte: «Nur an schlechten Tagen.» Und er: «Ach du Scheiße.»
Heinz war nicht klug, Heinz war Wirt. Einer der besten. In dieser fast gänzlich wortlosen Nacht, in der nicht eine einzige von seinen Soulscheiben ungehört blieb, berechnete er jedes Glas. «Ist alles EK», sagte er noch, «alles EK, nur für dich. Kunden wie du», sie nickte nur und half ihm die Rollläden runterzulassen.
Müde steckte sich Jon die Pfeife an, trank ein Glas Tee und sah hinaus auf den Platz. Stille, Himmel schwarz, weder Autos noch Menschen, nur auf der anderen Seite, aus Richtung der Pizzeria, ein kleines torkelndes oder humpelndes Etwas, so genau konnte er das ohne seine Linsen nicht erkennen. Er rieb sich die Augen, hatte den gesamten gestrigen Tag geübt, war am Kanal entlanggejoggt, hatte sich eingeredet, dass er das wirklich öfter tun sollte, sich auf die Schulter geklopft, irgendjemand musste das schließlich tun, und laut zu sich gesagt: «Das wird schon, Jon, das wird groß. Das wird ganz groß.» Er hatte das Vorsprechen vorgesprochen, hatte begutachtende Körper aus Decken und Kissen geformt und sie auf sein Sofa gesetzt.
Jon war nicht nervös, Jon war professionell. Er war so professionell, dass er am Abend bereits um elf Uhr ins Bett gegangen war, wo er schließlich die Stunden im Halbschlaf verbrachte, von Albträumen geplagt und ständig auf der Flucht. Ihm blieben nur noch zwei Tage, und sein letztes Casting war Monate, wenn nicht Jahre her. Er war eindeutig ein Schauspieler der Kategorie C, das hieß 300 bis 500 Euro am Tag, hieß auch: selten mehr als zwei bis drei Drehtage im Monat, und das auch nur im Sommer. Meist spielte er die Leiche und vermied es, sich darüber Gedanken zu machen. Außerdem war die Leiche keine einfache Rolle, keine einzige Bewegung, kein Zucken in den Augenlidern, kein Atmen, nichts. Auch die Regieanweisung: Bitte sterben Sie jetzt! war nicht zu unterschätzen. Dennoch: Jon kannte keinen einzigen Schauspieler, der es als Leiche geschafft hätte, keinen einzigen. Manche haben es als Geist geschafft, als Untote, aber als Leiche niemand.
Für einen Moment dachte er daran, seine Mutter anzurufen, wie er verdammt oft daran dachte in den letzten Monaten und doch über die ersten drei Ziffern nie hinauskam. Schließlich entschied er sich, keinem Menschen, einschließlich seiner selbst, Hoffnungen zu machen.
Er ließ sich ein Bad ein und trank ein warmes Bier, Viertel vor fünf war keine Zeit, so viel Tag war eine Zumutung.
An Hennings Händen hing ein Rest von Eiern und Mehl, kleine, krustige Stücke fielen in sein Glas, als er so dastand, vor dem Ofen, und dem Kuchen beim Werden zusah. Er hatte ihn zur Beruhigung gebacken, an Schlaf war nicht zu denken gewesen diese Nacht, obwohl ihn das jetzt überraschte, dachte er doch täglich, in regelmäßigen Abständen an Schlaf, war er doch, wenn er ehrlich war, seit zwei Jahren müde.
Mit leicht schwankendem Schritt betrat er sein Arbeitszimmer, das er in den letzten Wochen kaum benutzt hatte und in dem sich das Chaos auf mittlerweile drei Schreibtische verteilte. Überall Bilder, Skizzen, Bücher, Sammelfiguren in ihren Originalverpackungen, die ihm im Kollegenkreis den Ruf einbrachten, ein verkappter Homo zu sein, denn es hieß, nur Schwule und Mädchen stünden auf diesen Quatsch.
Seine Hand zitterte, als er den elektrischen Radierer hochnahm, mehrmals auf den Knopf drückte und nicht wahrhaben wollte, dass die Batterie längst leer war. Er konnte sich nicht erinnern, wann er ihn das letzte Mal benutzt hatte. Seit er täglich ins Studio lief, um an seinem Board die Zwischenphasen im Minutentakt zu zeichnen, sah er nur noch Münder, die brüllten, Augen, die glotzten, und Beine, die liefen, Werners Beine, die auf das Motorrad aufstiegen, abstiegen, aufstiegen. In seinen Träumen hörte er die ganze Nacht den Motor röhren.
Er stützte sich auf den Schreibtisch, senkte seinen Kopf, bis er sich erkennen konnte in dem runden Vergrößerungsspiegel, der neben den letzten Bleistiftzeichnungen stand. Er versuchte zu lächeln, er wollte wissen, wie das aussah, wenn er lächelte, wo genau das Lächeln begann, was mit seinen Augen passierte, das hatte er lange nicht gesehen, es war keine Zeit zum Lächeln, es war die Zeit des großen, grölenden Gelächters, die Münder aufgerissen, und durch die Kehle rauschte das Bier. Wenn Henning lächelte, bekam er Falten auf der Stirn.
Er klappte den Spiegel um und sah in den Raum, das hatte alles kein System, das folgte alles keiner Ordnung. Schon oft hatte er mit dem Gedanken an ein Regal gespielt, hatte mehrere Zeichnungen angefertigt, ein Modell aus Pappe gebaut, den befreundeten Tischler eingeladen, doch seine Bedürfnisse änderten sich konträr zum Kontostand, und neuerdings stellte Martha sogar die Sache an sich in Frage, indem sie sein Arbeitszimmer als Wenn-dann-Kinderzimmer vorschlug, selbstverständlich, welches auch sonst. Dabei hatte sie von der tickenden Uhr gesprochen. Die Uhr tickte, überall hörte er das seitdem, die Welt war voller tickender Uhren. Warum auch nicht, hatte Henning gedacht, das ist eine Eigenart von Uhren. Er hatte nie verstanden, wie Leute das zur Darstellung einer besonderen Dramatik verwenden konnten.
Als er eine Woche später alle analogen Uhren in ihrem Haushalt, einschließlich Marthas Armbanduhr, gegen digitale ausgetauscht hatte, konnte Martha das ganz und gar nicht witzig finden. Das ist nicht witzig, hatte sie gesagt, und vielleicht hatte sie recht, vielleicht war er nicht einmal mehr komisch.
Betty bog ihren steifen Oberkörper nach vorn, schloss noch einmal die Augen, bevor sie sich mit beiden Händen aufstützte, um von der Isomatte hochzukommen. Die Schritte zum Bad waren langsam, gleichmäßig, bloß nicht den Kopf bewegen, aufrecht gehen, den Schmerz ausbalancieren. In einer halben Stunde würde der Praktikant sie abholen, zumindest das hatte sie durchsetzen können, wenn schon Praktikant, dann einer, der fährt, der dabei am besten das Maul hält, der nicht alles schon weiß, und das besser, der sie nicht fragte, wie lange sie diesen Job eigentlich noch machen wolle. Er hieß Kirk, und schon bei dem Namen hatte sie letzte Woche am Telefon laut aufstöhnen müssen.
Betty wurde müde. Sie ließ nach. Diese Art von Müdigkeit, die damit begann, dass man nicht mehr alles so wichtig nahm, bis am Ende gar nichts mehr wichtig war. Es war eines von vielen deutlichen Zeichen dafür, dass jetzt die unangenehmen Seiten des Altwerdens hervorkamen. Hier ging es nicht um erste graue Haare oder kleine Dellen am Oberschenkel, hier wurde es ernst, löste die Erschöpfung die Wut ab, hier kam eine Müdigkeit, die sich mit ausreichend Schlaf nicht mehr vertreiben ließ.
Ihr Rücken schmerzte, sie musste sich setzen, um in ihrem Medikamentenkarton, zwischen Nasendusche und Migränezäpfchen, nach einem Wärmepflaster zu suchen. Als sie auf dem Badezimmerboden hockte, klingelte es Sturm an der Tür, ganze fünfzehn Minuten zu früh, und Betty dachte nicht daran zu öffnen, sie öffnete niemals vor der Zeit, zu früh zu klingeln war die größte aller denkbaren Unhöflichkeiten. Langsam zog sie sich an, Cargohose und Kapuzenjacke, ihre Arbeitsuniform seit Jahren, während sie privat immer häufiger Rock und Bluse trug; irgendwo musste man schließlich anfangen mit dem anderen Leben.
Als sie sich eine Viertelstunde später die Treppen hinunterschleppte, wartete dort der 20-jährige Kirk auf sie, mit Skaterschuhen und Coffee to go. Aus dem Wohnmobil, das schräg auf dem Bürgersteig parkte, tönte Hip-Hop, zu dem er den Kopf wippen ließ.
«Guten Morgen», rief Kirk und hielt ihr die Wagentür auf, so dass Betty für einen kurzen Moment dachte, er sei ihr neuer Zivi und sie auf dem Weg zur Dialyse. Unter Schmerzen kletterte sie auf den Beifahrersitz, holte eine Sonnenbrille aus ihrer Tasche und schaltete die Musik aus.
«Kennst du den Weg?», fragte sie, und selbstverständlich kannte er den. Er war ihn gestern Abend noch einmal abgefahren, hatte alles auf Baustellen und Blitzer überprüft, die schnellste Strecke herausgesucht und den Wagen vollgetankt. Seit der Oberstufe wollte Kirk Regisseur werden; er hatte Videos gedreht, Kurzfilme, einem Experimentalfilmer assistiert, dessen Name ihr nicht das Geringste sagte. Kirk war heiß, Kirk brannte, und darauf kam es an, das hatte Betty sich schon vor Jahren anhören müssen: Du musst brennen für den Job, hieß es, wer nicht brennt, braucht gar nicht erst aufstehen. Vielleicht hätte sie sich daran halten sollen, zumindest heute, da außer dem ABC-Pflaster auf ihrem Rücken rein gar nichts brannte, der Magen zuckte und auch sonst nichts rundlief.
Hinter der Sonnenbrille schloss sie die Augen, während ihr Praktikant sich in die Kurven legte und nach immer neuen Formulierungen suchte, um seiner Freude Ausdruck zu verleihen. Der Junge war nicht zu bändigen, und sie ahnte dunkel, dass er ihr persönlicher Untergang werden würde.