Silke Schütze
Rosmarintage
Roman
Knaur e-books
Silke Schütze, Jahrgang 1961, lebt in Hamburg. Nach ihrem Studium der Philologie war sie Pressechefin bei einem Filmverleih und Chefredakteurin der Zeitschrift CINEMA. Sie hat bereits zahlreiche Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht und hält Schreiben für die zweitschönste Sache der Welt. 2008 wurde Silke Schütze vom RBB und dem Literaturhaus Berlin mit dem renommierten Walter-Serner-Preis ausgezeichnet.
»Que nadie sepa mi sufrir« (La Foule)
Musik & Text: Dizeo, Enrique / Cabral, Angel
(c) by Warner Chappell Music Argentina mit freundlicher Genehmigung von Neue Welt Musikverlag GmbH & Co. KG - a Warner/Chappell Music Company
© 2016 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2016 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: lüra – Klemt & Mues GbR
Covergestaltung: Sabine Kwauka
Coverabbildung: mauritius images / Orédia; Shutterstock
ISBN 978-3-426-42553-4
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Für die Geräusche des Sommers, für die Hoffnung und die Freude, für das Lachen und die Umarmungen, für Dich.
Silke Schütze, 2016
Man wird nicht alt, weil man eine gewisse Anzahl Jahre gelebt hat. Man wird alt, wenn man seine Ideale aufgibt. Die Jahre zeichnen zwar die Haut, Ideale aufgeben aber zeichnet die Seele.
(Marcus Aurelius)
Sie gingen den kleinen Pfad hinauf zum Friedhof und erreichten die alte Mauer. Das Tal lag in der Abenddämmerung vor ihnen. Weit hinten verschwamm der Horizont, im Schein des Sonnenuntergangs zitternd, mit dem Blau des Meers. Die Autobahn schlängelte sich durch das Gebirge, die Lichterkette der Autoscheinwerfer zeichnete ihre Wendungen nach. Vereinzelt konnte Tamara helle Fenster in den Häusern der Dörfer erkennen, ein kleines Château, eine alte Kaserne, die Leuchtreklame eines Supermarktes. Hier oben auf dem Berg war es schon beinahe dunkel, aber die Zikaden waren noch zu hören. Die Wärme des Tages verlor sich nur langsam, die Luft war erfüllt von der würzigen Süße jener Sträucher, Büsche und Kräuter, die sich trotzig und siegreich in den steinigen Boden krallten. Stille umgab sie mit tröstender Nähe.
»Immer, wenn man glaubt, etwas verstanden zu haben, und sich einigermaßen sicher fühlt, steht wieder etwas Unbekanntes vor einem«, sagte Tamara. »Wie soll da das Leben gelingen?«
Max lächelte. »Ich weiß immer noch nicht, wie einem das Leben gelingt. Auch mit über siebzig Jahren nicht.« Er dachte nach. »Ich denke, dass das Leben eine Reihe von guten und schlechten Tagen ist.« Er beugte sich zum Boden und pflückte einen kleinen Zweig von einem Busch, drehte ihn in der Hand und verrieb einige Nadeln zwischen den Fingern. »Weißt du, Tamara, wenn du am Ende mehr gute als schlechte Tage hinter dir hast, dann war’s wohl ein gutes Leben.« Er roch an seinen Fingern und atmete tief ein. »Und manchmal, sehr selten, hast du das große Glück, dass einige Tage nach Rosmarin duften.«
Max Engel wusste, dass die Zeit gekommen war. Jetzt musste es schnell gehen. Er war seit Wochen auf diesen Tag vorbereitet. Bereits am Ostersonntag war ihm klargeworden, dass er fliehen musste. Er hatte im großen Speisesaal gesessen und erkannt, dass kein einziger Mensch in diesem Raum in dieser Minute dort sein wollte. Die Alten saßen erschrocken auf ihren Stühlen und konnten den vielen durcheinandersprechenden Stimmen nicht folgen. Ihre Besucher versuchten, durch lautes Gelächter, viele Worte und ausladende Gesten die lähmende Atmosphäre des Seniorenheims zu bekämpfen. Sie waren so wichtig! Und, so hatte Max Engel damals gedacht, sie waren voller Angst, auch einmal so alt, so schwach, so uninteressant zu werden. Sie wollten den Pflichtbesuch hinter sich bringen und in ihre schnelle, bunte, lebendige Welt zurückkehren und den Nachmittag rasch vergessen.
Innenarchitekten hatten versucht, dem Speisesaal des Seniorenheims die Anmutung eines Hotelrestaurants zu verleihen. Aber Max ließ sich keinen Sand in die Augen streuen: die Rollatoren und Krücken, die Handläufe an den Wänden, der belehrende Tonfall der Pfleger und Pflegerinnen, die nicht mehr merkten, dass sie mit den alten Menschen sprachen wie mit kleinen Kindern …
»JVA Abendsonne« nannte Max das Heim bei sich, das unter »Seniorenresidenz am Park« firmierte und dessen Leitung das Personal anhielt, von den Bewohnern als »Gästen« zu sprechen. Schon wieder eine Lüge, dachte Max Engel an diesem hellen Junimorgen, während er sich für das wahrscheinlich letzte Abenteuer seines Lebens bereitmachte. Gäste waren nicht, wie er und seine bedauernswerten Schicksalsgenossen, gezwungen zu bleiben. Bis zur Verlegung auf die Pflegestation, bis zum letzten Atemzug. Gäste durften gehen. Und genau das tue ich jetzt, dachte Max Engel und merkte, wie sein Herz schneller schlug. Er hörte die aufgeregten Frauenstimmen im Büro von Dr. Maier-Schmidt und ging, so schnell es ihm mit seinem lästigen Stock möglich war, zum hinteren Aufzug. Im Erdgeschoss stieg er aus und sah zufrieden, dass die Rezeption belagert war, wie immer nach dem Frühstück, weil die Heimbewohner Briefmarken kaufen, Tickets für die Veranstaltungen der Residenz bestellen, Fragen loswerden wollten oder einfach nicht wussten, was sie mit dem Vormittag anfangen sollten. Er drückte sich mit einem freundlichen Lächeln an ihnen vorbei und ließ unauffällig seinen Umschlag in das Postfach »Allgemeine Anfragen« gleiten. Er wusste, dass dieses Fach erst am Abend geleert wurde. So hatte er fast einen Tag Vorsprung.
Jovial nickend erwiderte er den Gruß eines Pflegers und bestieg den Aufzug, der ihn in die Tiefgarage bringen würde. Dort hatte er schon vor Wochen einen kleinen Koffer in der Abseite zum Heizungskeller versteckt.
Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und die Stimme im Lautsprecher tönte unangenehm laut: »Untergeschoss!«
Max sah sich um, er war allein. Er holte seinen Koffer und zog ihn hinüber zu dem verdreckten Fiat Punto in der hintersten Ecke der Parkfläche. Der Kofferraum war erwartungsgemäß nicht abgeschlossen, und Max wusste auch, dass das Schloss der Beifahrertür defekt war. Er öffnete den Kofferraum und stellte fest, dass er vollgestopft war mit irgendwelchen Säcken, einer Reisetasche und zwei Paar Stiefeln.
»Was will sie nur mit all dem Kram?«, murmelte er halblaut und taxierte seinen Koffer. So, wie es aussah, musste er ihn auf der Rückbank verstauen. Er spähte ins Wageninnere. Ja, das würde passen. Auf den Sitzen lagen eine Wolljacke, eine Packung Tempotücher und ein Netz mit Äpfeln. Noch Platz genug für sein Gepäck. Er musste ja auch den Stock unterbringen. Seine Reiseunterlagen befanden sich in seiner alten Lufthansa-Umhängetasche. In den späten siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatte sie als todschick gegolten und ihm seitdem auf den meisten seiner Reisen gute Dienste geleistet. Die Tasche würde er mit nach vorn nehmen.
Entschlossen zog er die Beifahrertür auf und kippte den Sitz vor. Er schob den Koffer mit Mühe hinter die Lehne, legte den Stock in den Fußraum und klappte den Sitz wieder zurück. Obwohl er das starke Bedürfnis verspürte, für einen Moment zu verschnaufen und Atmung und Herz zu beruhigen, wusste er, dass er erst einmal einsteigen musste, was nicht einfach war. Er setzte sich langsam auf den Beifahrersitz – schnell hätte er es sowieso nicht tun können – und hob zunächst das linke und dann das rechte Bein in den Wagen. Dann nahm er sich die Zeit, auszuatmen. Er kontrollierte noch einmal alles. Der Koffer hinten, der Stock auf dem Boden, er selbst auf dem Beifahrersitz, seine Lufthansa-Tasche auf dem Schoß. Ächzend suchte er nach dem Verschluss des Gurtes. Wo war das dumme Ding nur? Er fingerte rechts oberhalb des Sitzes, bekam irgendetwas Hartes zu fassen und zog vorsichtig daran. Es war tatsächlich der Verschluss, und er wollte den Gurt gerade mit einem leichten Ruck über sich ziehen, als die Fahrertür aufgerissen wurde. Max Engel schrie überrascht auf und ließ den Gurt los.
Tamara Finke, die Besitzerin des Autos und Pflegekraft in der Seniorenresidenz am Park, schrie ebenfalls auf. Die hagere, sommersprossige Mitvierzigerin mit der feuerroten Kurzhaarfrisur fand als Erste ihre Stimme wieder.
»Herr Engel! Was machen Sie denn hier?« Denn natürlich kannten sie einander.
»Sie sind einfach wie immer zu schnell, Frau Finke«, knurrte Max Engel verärgert. Sie schüttelte offensichtlich ebenso verärgert den Kopf und blickte sich gehetzt auf der Parketage um. Engel fiel auf, dass sie eine elegante, schmale Unterarmtasche in der Hand hielt, die nicht zu ihrem burschikosen Outfit aus Jeans und Karohemd passte. Sie ließ sich auf den Fahrersitz fallen, stopfte nach einem Seitenblick auf Max Engel die Tasche in das Handschuhfach, klappte es mit einem lauten Knall zu, drehte den Autoschlüssel im Schloss und fuhr los, als hätte sie einen Startschuss gehört. Max Engel stieß einen erstaunten Seufzer aus.
»Herr Engel, ich habe jetzt für gar nichts Zeit! Ich kann Sie nicht wieder ausladen und in Ihr Zimmer bringen. Wir sprechen, wenn wir draußen sind«, beschied Tamara Finke ihrem Beifahrer und lenkte das Auto Richtung Ausgang. »Und schnallen Sie sich gefälligst an!« Sie beugte sich über ihn, während sie den Wagen die Schräge hoch zur elektronischen Schranke lenkte, und zerrte mit beiläufiger Routine an dem Gurt. »Hier!« Max Engel schloss mit zitternden Fingern das Schloss und verschränkte seine Hände auf der Lufthansa-Tasche.
Tamara Finke fixierte die elektronische Schranke und murmelte: »Jetzt kommt der Moment, wo der Elefant das Wasser lässt.« Sie drückte auf den Knopf an der Gegensprechanlage und wartete, bis sich der Empfang der Residenz meldete. Sie rief »Finke!« und knabberte dabei nervös an ihrer Unterlippe.
Max Engel beobachtete sie. Er wusste, dass sich die Finke mit der Heimleiterin Frau Dr. Maier-Schmidt gestritten hatte. Aber vor allem wusste er, dass das hier seine einzige Chance war. Er hielt den Atem an.
Aus dem Lautsprecher quäkte es: »Alles klar. Schönen Feierabend!«
»Darauf kannst du wetten«, knurrte Tamara Finke mit dem für sie typischen Berliner Akzent. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie zu, wie sich die Schranke hob. Sie fuhr an, legte den zweiten Gang ein und lenkte den Wagen aus der Einfahrt auf die Straße. Max Engel atmete aus, hob die geballten Fäuste und flüsterte: »Halleluja!« In dieser Sekunde hörte er Tamara Finke neben ihm ebenfalls »Halleluja!« flüstern. Sie wechselten erneut einen verwirrten Blick, dann konzentrierte sich Tamara auf den Straßenverkehr und Max betrachtete eingehend den Reißverschluss seiner Tasche.
Eine Weile fuhren sie schweigend, aber als die Seniorenresidenz schon lange hinter ihnen verschwunden war, steuerte Tamara Finke den Parkplatz eines Supermarktes an. Dort hielt sie in einer Parkbucht an und drehte sich zu ihm um. »Jetzt mal raus mit der Sprache, Herr Engel, was zur Hölle machen Sie in meinem Wagen?«
Max Engel nickte. Es war nur verständlich, dass die Finke Aufklärung verlangte. Er besann sich für einen Moment, da ihm klar war, dass er jetzt überzeugend sein musste. Er durfte das hier nicht versauen.
Er holte Luft und sah Tamara Finke direkt in die Augen. »Frau Finke, ich will nicht lange herumreden. Ich weiß, dass Sie sich mit Frau Dr. Maier-Schmidt gestritten haben, weil sie wollte, dass Sie Ihren Urlaub verschieben.«
Mit dieser Antwort hatte Tamara Finke nicht gerechnet, aber das erlittene Unrecht brodelte noch in ihr, und obwohl sie sich fragte, was dieser Engel mit ihrem Ärger und vor allem in ihrem Auto zu tun hatte, platzte sie heraus: »Das stimmt allerdings. Und zwar zum dritten Mal! Diesmal übrigens, weil sich die olle Matuschke gestern beim Frauenfußball das Wadenbein gebrochen hat. Ich soll für sie einspringen! Mann, mit über sechzig noch aufm Bolzplatz, die hat doch ’nen Knall!«
Dass die Chefin ihr zusätzlich klargemacht hatte, dass sie gern kündigen könne, wenn sie wolle, behielt Tamara Finke für sich. Es wäre zu demütigend gewesen, die Aussagen der Maier-Schmidt zu wiederholen.
»Frau Finke, so jemanden wie Sie kriege ich an jeder Straßenecke. Das Arbeitsamt hat mir heute wieder drei Alternativen angeboten. Wenn Sie den Halbtagsjob nicht brauchen, meinetwegen!«
In Tamaras Kopf hatten sich die Gedanken überschlagen. Wie sollte sie ohne die Arbeit in der Residenz die Miete zahlen und Finn Geld schicken? Er war ein begabter Footballspieler und brauchte alle naselang Zuschüsse für Klamotten oder Schuhe. Natürlich würde sie irgendeine andere Arbeit finden, aber wenn sie auch noch den Job im Tierheim machten wollte, würde das sehr kompliziert werden.
Max Engel sah, dass es in Tamara arbeitete. Er bohrte nach: »Und jetzt sind Sie geflohen?«
Die Finke sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Was, deswegen? Wie meinen Sie das?«
»Na, Sie hatten es sehr eilig. Ich dachte schon, Sie hätten den Safe im Büro der Maier-Schmidt geknackt.«
Tamara Finke zuckte zusammen. »Nein, ich war einfach nur sauer. Und da wollte ich schnell weg.«
»Aber Sie machen keinen Urlaub?«
Tamara Finke kurbelte das Fenster herunter. »Was geht Sie das an, Herr Engel? Ich hatte Sie gefragt, was Sie in meinem Auto suchen! Wie sind Sie überhaupt hier reingekommen?«
»Das Türschloss ist defekt.«
»Und?«
Max öffnete seine Lufthansa-Tasche, nahm einen Stapel Postkarten heraus und legte sie Tamara Finke in die Hände. Sie sah ihn fragend an und ging die Postkarten durch. »Mimosen, Strand, Oliven, Rosmarin …« Ihr Blick war ratlos. »Ist das ein Spiel? Mensch, machen Sie es nicht so spannend, Herr Engel!«
Max Engel nickte wieder. »Frau Finke, ich habe ein interessantes Angebot für Sie.« Er erwiderte fest ihren Blick. »Was halten Sie von einer Woche Südfrankreich? Kostenfrei?« Er klopfte auf seine Lufthansa-Tasche. »Sie müssen sich um gar nichts kümmern. Sie müssen nur fahren. Die Route habe ich zusammengestellt, die Hotels sind gebucht, und natürlich lade ich Sie auch zum Essen ein.«
Tamara Finke gab sich keine Mühe, ihre Verblüffung zu verbergen. »Wat? Südfrankreich?« Sie sah wieder auf die farbenfrohen Postkarten. Ihr Blick zuckte zum Handschuhfach und kehrte dann erneut zu den Karten zurück. Das Kobaltblau des Meeres nahm sie gefangen. Darüber strahlte ein wolkenloser Himmel in beinahe derselben Farbe. Sie sah genauer hin. Nein, die Farbe des Meeres spielte mehr in ein Türkis, das sofort das Gefühl von kühlem Wasser auf sonnengetränkter, heißer Haut und den Wunsch hervorrief, sich in die Fluten zu werfen. Tamara war bisher nur einmal am Meer gewesen. Ihre erste Reise mit Pit war nach Mallorca gegangen. Tamara erinnerte sich an die Wärme des Windes, an das weiße Glitzern der Sonne auf den Wellen. Das Hotel war zwar eine anonyme Bettenburg gewesen, aber das Licht, die Hitze, die Luft hatten sie beide für zwei Wochen in lebensfrohere, weichere und freundlichere Menschen verwandelt. Ob Südfrankreich so ähnlich war? Stundenlang hatten sie damals abends am Strand gesessen und dem Rauschen des Meeres gelauscht. Pit hatte seine Arme eng um sie geschlungen, und sie hatte seinen Mund an ihrem Ohr gespürt. Für einige Sekunden tauchte Tamara Finke durch die Einladung von Max Engel in ihre glücklichsten Erinnerungen ab, und als sie wieder an die Oberfläche kam, lag der Zauber jener Zeit in ihrem Lächeln.
Ihr Blick traf abermals den von Max Engel. Beide wussten, dass es für ein entschiedenes »Nein« zu spät war.
Max Engel wertete ihr Schweigen als positives Zeichen und beschloss, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war. Er lehnte sich gutgelaunt zurück, und auch über sein runzeliges Gesicht ging ein Lächeln. »Dass ich in meinem Alter noch einmal eine Frau sprachlos mache! Also? Sind Sie dabei?«
»Wie meinen Sie das – dabei?« Tamara Finke räusperte sich. Sie rechnete grundsätzlich immer mit allem – aber so etwas war ihr noch nie geschehen.
»Nun, ich bin natürlich mit von der Partie. Sozusagen als Wehrmutstropfen – denn schließlich ist das der Sinn der Sache.«
Langsam dämmerte Tamara Finke, was Max Engel vorhatte. Er wollte abhauen! Seniorenresidenz adieu! Und sie sollte seine Fluchthelferin sein.
Sie schüttelte energisch den Kopf. »Herr Engel, Sie können doch jederzeit in Urlaub fahren. Mit Freunden oder mit Ihrer Familie. Dafür brauchen Sie mich doch nicht.«
»Keiner von denen kann sich freinehmen oder hat Lust. Und ich muss jetzt fahren. Ich habe keine Zeit, zu warten.«
Tamara lachte. »Mensch, Herr Engel! Zeit haben wir in der Residenz doch im Überfluss.« Sie sah wieder auf die Postkarten, und ihre Stimme klang versöhnlich, als sie fortfuhr: »Wenn die Leute darüber klagen, dass sie keine Zeit mehr für irgendwas haben, sag ich immer: einfach mal einen Tag im Altenheim verbringen. Da weißt du, wie lang die Zeit sein kann.«
»Und am schnellsten verfliegt sie beim Reisen.«
»Sie sind ja besonders pfiffig, Herr Engel, was? Warum haben Sie es denn so eilig?«
Max Engel verzog abweisend das Gesicht. Aber er sagte: »Um mich geht es nicht. Es geht um meinen Freund in Südfrankreich. Der hat wohl nicht mehr so viel Zeit.«
Tamara Finke schüttelte den Kopf. »Nee, nee, Herr Engel, ich hab meine eigenen Sorgen. Sie können doch nicht einfach aus der Residenz abhauen, ohne irgendjemandem was zu sagen. Sie wissen doch, wie die schon durchdrehen, wenn irgendjemand ohne Abmeldung mal einen Kaffee in der Stadt trinken geht.«
Max nickte abschätzig. »Wie im Kindergarten.«
»Ist doch nur zu Ihrem Schutz.«
»Quatsch, das ist wegen der Versicherung. Wir sind alle alt genug – und wenn wir in unserer Wohnung geblieben wären, würde sich doch auch keiner drum kümmern, was wir machen.«
»In einer Wohnung liegen sie aber womöglich auch wochenlang unentdeckt rum. Oder sogar tot.« Sie sah ihn nachdenklich an. »Herr Engel, auch ich will ehrlich sein. Sie und ich, gemeinsam nach Südfrankreich. Das geht nicht. Nicht nur wegen der Vorschriften.«
»Sondern?«
»Erstens, weil es nicht geht. Und zweitens fahr ich schon gar nicht mit Ihnen, wenn Sie einfach in fremde Autos einbrechen.«
»Ihr Schloss ist schrottreif. Da musste ich nicht einbrechen, sondern nur die Tür öffnen.«
»Unser Gespräch ist hiermit beendet. Da hinten fährt ein Bus ab. Zurück.«
Tamara Finke beugte sich wieder über ihn, öffnete die Beifahrertür und wollte den Gurt lösen. Doch Max Engel hielt ihre Hand fest.
»Frau Finke – Tamara, ich darf doch Tamara sagen? Sie machen einen riesigen Fehler! Was ist nur mit Ihnen los?« In seiner Stimme lag etwas Drängendes, das Tamara Finke ans Herz ging. Es klang wie die Stimme eines Ertrinkenden. So ein Unsinn, dachte sie, man ertrinkt nicht in einem Fiat Punto. Sie schüttelte seine Hand ab und öffnete den Gurt. Max Engel rührte sich nicht.
Er wiederholte: »Was ist nur mit Ihnen los?«
»Was soll mit mir los sein?«
»Ja, sind Sie denn gar nicht neugierig? Wer von uns ist denn alt? Klingt Südfrankreich in Ihren Ohren nicht vielversprechend? Wie eine Einladung ins Paradies?«
»Paradies?« Tamara Finke drängte die unvermittelt wieder aufflammende Erinnerung an Pit am Strand zurück und zeigte Max Engel einen Vogel. »Ein Anfall von Spontandemenz? Sind Sie verrückt?«
»Ich? Das müsste ich Sie fragen!«
Tamara Finke war sprachlos.
Max Engel wurde laut. »Na, gerade hat Ihnen die … Königskobra den Urlaub gestrichen, und statt Ferien dürfen Sie sich auf zwei Wochen Arbeit in der JVA freuen! Warum fallen Sie mir also nicht einfach um den Hals?«
Tamara Finke musste unwillkürlich grinsen. Der Mann hatte Humor. Die Heimleiterin Frau Dr. Maier-Schmidt hatte tatsächlich etwas von einer Königskobra. Und wie nannte er die Seniorenresidenz am Park?
»JVA?«
»Ja, ja, ich weiß, dass Sie angehalten sind, uns ›Gäste‹ zu nennen. Ich nenne uns lieber ›Insassen‹. Diese Schönfärberei in der ›Seniorenresidenz‹ mache ich nicht mit. Ich nenn das Haus JVA Abendsonne. Denn das ist es doch. Ein Knast für Alte.«
»Ziemlich teurer Knast. Sie haben Altenknast deluxe gebucht. Was erwarten Sie denn überhaupt?«
»Offensichtlich zu viel. Respekt, Menschlichkeit …«
Tamara verdrehte die Augen. »Sie sind unser lieber Gast, Herr Engel. Vergessen Sie das nicht. Außerdem … was hat das mit mir zu tun? Sie haben mich doch wohl nicht gekidnappt, um mit mir über Altenpflege im Wandel der Zeit zu diskutieren. Woher wissen Sie eigenlich von meinem Urlaub? Und wieso glauben Sie, dass ich meine freie Zeit mit Ihnen verbringen würde? Ich hab eigene Pläne.« Tamara stutzte. »Apropos …« Sie blickte auf ihre Armbanduhr. »Och, nee. Manno, ich muss los.«
Im nächsten Moment startete sie den Motor.
»Also gut, Herr Engel …«
»Nennen Sie mich Max, Tamara, bitte nennen Sie mich Max.«
»Aber nur, wenn wir uns duzen. Ich bin schließlich noch nicht achtzig. Sondern zweiundvierzig.«
»In Ordnung, Tamara. Ich bin Max.«
Tamara kurbelte ihr Fenster hoch.
»Das hast du schon gesagt. Und schnall dich gefälligst wieder an!«
Sie fuhr vom Parkplatz.
»Ich muss jetzt schnell noch zum Tierheim, Futter abgeben, danach bringe ich dich wieder zurück.«
Max Engel ließ die Schultern sinken. Er sah aus dem Fenster und ballte die Fäuste. Niedergeschlagen sagte er: »Und was machst du dann, Tamara Finke? Morgen wieder in die JVA gehen und darauf warten, dass die Maier-Schmidt irgendwann deinem Urlaub gnädig zustimmt? Du hast vorhin nicht ausgesehen, als ob du wild darauf seist, wieder zurückzugehen. Im Gegenteil, du hattest es sehr eilig.«
»Und wenn?« Tamaras Stimme klang scharf.
Max Engel betrachtete sie sinnend. Ihm kam eine Idee. »Könnte es sein, dass du überhaupt nicht vorhast, zurückzugehen? Obwohl die Maier-Schmidt deinen Urlaub nicht genehmigt hat?«
Tamara maß ihn mit einem anerkennenden Blick.
»Blitzmerker, was?«
Sie zögerte kurz. Nach einer Weile erwiderte sie achselzuckend: »Treffer versenkt. Ich dachte, ich komm einfach die nächsten zwei Tage nicht. Ich brauche ja erst ab dem dritten Tag eine Krankschreibung. Und so kriege ich morgen einfach mal eine Sommergrippe. Dann kann ich in zwei Tagen trotzdem immer noch wieder antanzen.«
Max sah sie listig an. »Oder vielleicht auch nicht. Wir könnten in den zwei Tagen an die Côte d’Azur fahren. Was meinst du, wie anders alles hier aussieht, wenn du es von dort betrachtest.«
Tamara lächelte skeptisch. »Nun mal langsam mit den jungen Pferden, wie meine Oma immer sagte. Jetzt fahren wir erst mal zum Tierheim. Ich arbeite da als freie Mitarbeiterin. Bringt ein bisschen Kohle extra und macht mehr Spaß als mit euch.«
Max japste ärgerlich. »Ist das der sprichwörtliche Berliner Charme? Wir Oldies sind doch bestimmt netter als solche zotteligen Tölen.«
»Zottelige Tölen? Du hast ja keine Ahnung! Und mir ist jeder stinkende Cockerspaniel lieber als die Grambeck-Ürdinger.«
Die Grambeck-Ürdinger war eine Industriellen-Witwe, die im Heimjargon nur »Königinmutter« genannt wurde, weil sie sich so sehr für etwas Besseres hielt, dass sie immer mit »gnädige Frau« angesprochen werden wollte. Außerdem war sie dement und versuchte täglich mehrfach, das Haus zu verlassen, weil sie sich auf einer Europareise wähnte und in Paris aussteigen wollte.
»Warum immer Paris?«, fragte Tamara und bog in die Einfahrt des Tierheims ein.
»Ein Sehnsuchtsort?«, mutmaßte Max. »›Ganz Paris träumt von der Liebe‹, das war ein Schlager in den Fünfzigern oder Sechzigern. Gesungen von Caterina Valente. Da wollten wir doch alle hin. Da dachte noch niemand an Angst vor Terror.«
»Was ist denn eigentlich mit deinem französischen Freund?«
Max winkte ab. »Das erzähl ich dir auf der Fahrt.«
»Wenn wir fahren würden.«
»Wir fahren.«
Am Tierheim wuchtete Tamara mehrere Säcke Trockenfutter aus dem Kofferraum, und Max beobachtete, wie sie ihr von einem jungen Mann im blauen Overall abgenommen wurden. Tamara winkte Max zu. »Komm mal, ich will dir was zeigen.«
Sie half ihm beim Aussteigen und bot ihm den Arm an, so dass er nicht nach seinem Stock fragen musste. »Schon ein Vorteil, mit einer ausgebildeten Altenpflegerin unterwegs zu sein«, scherzte er, als sie ins Haus gingen.
»Willste deswegen, dass ich mitfahre?«
Max sah sie mit seinen wasserblauen Augen freundlich an. »Nein, Tamara, ich kenne einfach niemand anderen, den ich fragen könnte.«
Tamara Finke erwiderte sein Lächeln, sagte aber nichts. Im Haus wurden sie mit lautem Bellen aus den verschiedenen Verschlägen und Käfigen begrüßt.
»Guck mal.« Tamara zog Max zu einem Käfig, in dem eine Hündin mit vier Welpen lag. »Astreine Promenadenmischungen!«
Die Hundebabys hatten die Augen schon geöffnet und kuschelten sich an ihre Mutter, die sie aufmerksam beobachtete.
»Der da hinten, der Kleine«, flüsterte Tamara, »wenn ich Glück habe, gehört er in ein paar Wochen mir.«
»Wovon hängt das ab?« Max sah gerührt auf das Hundegewusel hinunter und hielt seine Hand einem der kleinen Hunde hin. Doch die Hundemutter drängte ihre Schnauze dazwischen und beschnupperte ihn. Offenbar bestand Max den Schnüffeltest, denn sie legte ihre Schnauze zurück auf die Streu und ließ es zu, dass die Jungen Max’ Hand entgegenkrabbelten. Er versuchte sich zu erinnern, wann er zum letzten Mal ein Tier berührt hatte. Auch das war in der JVA natürlich nicht möglich. Max hätte ein Buch über all die Haustiere schreiben können, die seine Mitbewohner und Mitbewohnerinnen hatten zurücklassen müssen. Seine Frau Inge war immer gegen Tiere gewesen, doch eines Tages war ihnen der Kater Fritz zugelaufen und hatte fast zwanzig Jahre bei ihnen gelebt. Er war kurz vor Inge gestorben. Warum hatte er, Max, danach eigentlich nicht mehr daran gedacht, sich ein Tier anzuschaffen?
Es war schön, das glatte, sanfte Fell unter seinen Fingern zu fühlen und den Herzschlag der kleinen Körper zu spüren. Einer der Welpen knabberte an seinem Zeigefinger, was Max ein Kichern entlockte, das ihn selbst überraschte. Es klang so … glücklich. Tamara stimmte ein. »Süß, oder?«
»Sehr, aber wovon hängt es denn nun ab, ob du bald Hundehalterin bist?«
Tamara zuckte mit den Schultern. »Nur von mir, aber ich kann mich einfach nicht entscheiden. Ist eine große Verantwortung, so ein Hund.«
Max Engel hätte gern weiter über das Thema gesprochen, aber er wusste, dass die Zeit drängte. Verstohlen blickte er auf seine Uhr. »Tamara, lass uns noch einmal reden. Über … Südfrankreich.«
Tamara löste widerstrebend den Blick von den jungen Hunden. Sie machte dem jungen Pfleger ein Zeichen. »Ich melde mich wieder, Fadi.« Dann bot sie Max wieder ihren Arm, und schweigend gingen sie zurück zum Auto.
Tamara half Max beim Einsteigen. »Wissen die in der … JVA, was du vorhast?«, fragte sie. Er schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nicht. Die denken, dass ich heute Morgen von meinem Anwalt abgeholt worden bin, für ein verlängertes Wochenende. So steht es jedenfalls in dem Brief, den sie irgendwann wahrscheinlich finden werden. Ich hab ihn ins Fach für ›Allgemeine Anfragen‹ geworfen.«
»Aber das wird doch immer erst abends geleert.« Im nächsten Moment riss sie die Augen auf und schien seinen Plan zu begreifen. »Zwei zu null. Mensch, Max, du meinst das ernst und willst wirklich los. Also, egal, wie’s läuft – das finde ich toll.« Sie lächelten einander zu, und Tamara fühlte einen warmen Strom Sympathie für Max durch ihren Körper laufen. Als Dr. Maier-Schmidt ihr eröffnet hatte, sie müsse ihren Urlaub noch einmal verschieben, hatte sich ihre Enttäuschung zu einem Eisklumpen in ihrem Bauch zusammengeknäuelt. Nun musste Tamara zugeben, dass von dem Eis nicht mehr viel mehr übrig war – dank Max. Weit hinten in ihrem Kopf verfing sich das Wort »Südfrankreich« wie ein Angelhaken. Südfrankreich. Wie hatte Max es genannt? Paradies? Er könnte recht haben, dachte Tamara Finke, während sie um den Wagen herum zur Fahrerseite ging. Südfrankreich, besonders nach diesem schrecklichen Morgen in der JVA Abendsonne, hörte sich nach Durchatmen, nach Meer, Sonne und Wind an. Nachdenklich ließ sie den Gurt einrasten. »Ich müsste das natürlich vorher mit meiner Familie besprechen.«
Max Engel lachte leise auf. »Tamara, du bist alleinstehend. Und dein Sohn macht ein Auslandsjahr.«
»Bist du von der NSA?«, zischte Tamara.
Max reagierte gelassen. »Nein. Aber ich helfe manchmal im Büro aus. Du weißt ja vielleicht, dass ich Finanzbuchhalter war. Also mache ich da manchmal ein bisschen Buchführung, sortiere Belege, kontrolliere Rechnungen – und hab Zugang zu euren Daten.« Er lachte wieder gutmütig. »Du brauchst mir also nichts vorzumachen. Es gibt keine Familie, mit der du irgendetwas besprechen müsstest. Du müsstest nur endlich ja sagen … oder machst du dir Sorgen um deine Garderobe? Ich könnte verstehen, wenn du zu Hause ein paar Sachen packen wolltest.«
Tamara winkte ab. »Ich wollte doch sowieso weg, war ja schon geplant, dass ich im Wendland ein paar Tage bei einer Hundeschule reinschnuppere. Meine Tasche liegt gepackt im Kofferraum.«
Max nickte. »Stimmt.«
Tamara lachte ironisch. »Warum sage ich das überhaupt? Du hast doch bestimmt alles genau untersucht, bevor du dich ins Auto gesetzt hast.« Max versuchte zerknirscht auszusehen, was Tamara mit einer wegwerfenden Handbewegung kommentierte. »Mensch, Max, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, aber mir fällt gerade keine bessere ein …«
Max unterbracht sie. »Warum willst du denn bei einer Hundeschule reinschnuppern?«
Tamaras Gesicht überzog sich mit Röte. »Ach, weiß du …« Sie lachte ihn schelmisch an. »Wir haben doch bald viel Zeit, über alles zu reden.«
Max grinste. »Touché. Wenn wir gut durchkommen, können wir in einer Viertelstunde auf dem Heiligengeistfeld sein.«
»Was sollen wir denn da?«
»Autotausch! Mit dieser Rostlaube kommen wir höchstens bis zum Freihafen. Und wir wollen heute doch noch bis Süddeutschland.«
Später konnte Tamara nie genau erklären, warum sie sich darauf eingelassen hatte. Aber sie folgte seiner Anweisung und fuhr Richtung St. Pauli.
»Da vorn ist das Heiligengeistfeld. Aber da gibt es doch keine Autovermietung.«
Max Engel richtete sich kerzengerade auf.
»Ich hab’s dir doch gesagt: Wir tauschen – wir mieten kein Auto.« Er deutete nach vorn. »Du fährst am besten hier auf den Platz und folgst dem Schild Parkplatz. Und dann …«
Tamara Finke fragte drängend: »Und dann?«
»Dann wirst du die Göttin kennenlernen.«
»Eine Göttin?«
»Die Göttin!«
Max klatschte in die Hände. »Anschnallen, Tamara. Das Abenteuer ruft!«
Tamara Finke spürte in ihrem Magen ein Prickeln, das sie schon lange nicht mehr empfunden hatte. Wie das Gefühl vor einer Verabredung mit einem Menschen, den man seit ewiger Zeit persönlich kennenlernen wollte, oder vor einem großen Fest mit alten Freunden, die man jahrelang nicht gesehen hat. Mit Pit hatte sie einmal über dieses Gefühl gestritten. »Das ist so was wie Vorfreude oder wie Fernweh«, hatte Pit behauptet. Aber Tamara hatte den Kopf geschüttelt. »Vorfreude … ja und nein. Denn ich weiß noch gar nicht, ob ich mich freuen werde. Und Fernweh? Das ist kein Fernweh. Fernweh ist viel zu allgemein. Fernweh ist irgendwohin … Aber das, was ich fühle, ist die Sehnsucht nach etwas, was ich noch nicht kenne, von dem ich mir aber vorstellen kann, dass es mir gefällt. Es ist … es ist …« Damals hatte sie keine Worte gefunden. Aber heute an diesem merkwürdigen Tag im Juni wusste sie auf einmal, wie sie es hätte beschreiben sollen. Dieses kribbelige, glückliche Gefühl war für den Moment reserviert, in dem man nach langer Zeit wieder einmal ins Unbekannte aufbrach.
Tamara lenkte den Fiat auf den großen, leeren Parkplatz neben der Festwiese Heiligengeistfeld. Hier fand das Public Viewing bei fußballerischen Großereignissen statt, und viermal im Jahr stellten Schausteller aus ganz Deutschland auf diesem Platz ihre Fahrgeschäfte auf, um die Hamburger Kirmes, den Dom, zu feiern. Heute aber lag das Feld öde im Mittagslicht da.
Tamara hielt an. »Wo ist denn nun dein Auto?«
Max sah wieder auf seine alte Armbanduhr. »Keine Sorge, müsste gleich hier sein.« Er entnahm seiner Tasche ein kleines Notizheft. »Also, wenn wir jetzt losfahren, schaffen wir es heute problemlos bis Freiburg. Und morgen … autoroute du soleil.« Es klang wie ein Zauberspruch, fand Tamara. »Die Autobahn der Sonne«, schob er nach.
»Du sprichst Französisch.«
»Nur genug, um mich zu verständigen.«
Sie schob die Unterlippe bewundernd vor. »Toll. Ich kein Wort. Dabei hatte ich das zwei Jahre in der Schule. Hängengeblieben ist leider nichts. Außer Croissant!« Sie grinste.
Max grinste ebenfalls. »Mit dem Wort kommst du weit, keine Sorge!«
Aber Tamara beschäftigten mittlerweile andere Dinge. Sie tätschelte das Lenkrad. »Was meinst du, kann ich mein Auto denn hier stehenlassen?« Sie machte eine Kopfbewegung nach links. »Schließlich fängt da hinten die Reeperbahn an. Da ist vielleicht mancher an einem Auto interessiert, das hier scheinbar herrenlos ein paar Tage herumsteht.«
Max schüttelte leicht den Kopf. »Dass du das überhaupt noch als Auto bezeichnest! So eine Rostbeule! Aber keine Sorge, es wird hier nicht stehen. Jemand kümmert sich darum.«
»Wie bitte? Wer kümmert sich denn?«
»Wenn wir zusammen unterwegs sein wollen, musst du dich daran gewöhnen, mir zu vertrauen. Stell mir nicht immer so viele Fragen.«
Tamara verzog den Mund. »Wir wollen ja gar nicht zusammen unterwegs sein. Du willst zusammen unterwegs sein. Und Vertrauen? Max, das muss sich doch aufbauen.«
»Dafür haben wir keine Zeit. Du musst mir sofort vertrauen, Tamara.«
Tamara Finke legte den Kopf schief. Ein großes Wort, das der alte Herr da benutzte. Vertrauen! Menschen, so hatte Tamara schon häufig erlebt, konnte man nicht einfach vertrauen. Pit, natürlich, dem hatte sie vertraut. Und sie wünschte sich, sie könnte Finn, ihrem fünfzehnjährigen Sohn, vertrauen. Aber wer wusste schon, ob das freundliche Kind, das Finn einmal gewesen war, noch in dem oft missgelaunten Teenager steckte, den sie Anfang des Jahres am Flughafen zu seinem Highschool-Jahr in Texas verabschiedet hatte? Ausgerechnet Texas?, hatte Tamara damals bei der Organisation nachgefragt, die den Schüleraustausch organisierte. Bei Texas dachte sie an Western, an »Spiel mir das Lied vom Tod«, an Clint Eastwood, an jugendliche Amokläufer, Kirchen und Schützenvereine –»Rifle Clubs«. Aber man hatte ihr erklärt, dass man sich den Zielort nicht aussuchen könne. Schließlich ging es ja nicht um einen Urlaub, sondern darum, grenzüberschreitend Kontakte zu knüpfen, es ging um den Abbau von Vorurteilen, um Völkerverständigung, all dieser Kram. Tamara hatte das verstanden. Teuer genug war es, obwohl sie selbst den geringsten Anteil gezahlt hatte. Der Hamburger Senat meinte es gut mit alleinerziehenden Müttern, und an Finns Schule unterstützte auch der Elternverein Jugendliche, deren Eltern das Geld für das Auslandsjahr nicht aufbringen konnten. Vertraute sie den Gasteltern von Finn? Der Austauschorganisation? Nun, sie hatte keine andere Wahl. Aber Max? Nachdenklich musterte sie ihr Gegenüber.
»Du verlangst eine Menge, Max Engel.«
Er stimmte ihr zu. »Das weiß ich, Tamara.« Dann kniff er die Augen zusammen. »Ab wann werden sie dich vermissen? Wann musst du dich krankmelden?«
»Ich hab morgen Spätschicht. Da reicht es, wenn ich um elf Uhr anrufe und sage, dass ich mich nicht gut fühle.«
Sie schnallte sich ab, stieg aus dem Wagen und half Max, sich aus dem durchgesessenen Beifahrersitz zu schälen. Sie lehnten sich gegen den Wagen und sahen über das leere Feld, das am oberen Ende von einer befahrenen, vierspurigen Straße begrenzt wurde, die hinunter zum Hafen führte. Tamara blickte auf den Verkehr, ohne etwas zu sehen. Gleichzeitig war sie sich der Wärme des Tages, des hellen Mittagslichts und dem aufgeregten Summen in ihrem Magen fast schmerzhaft bewusst. Was tat sie hier? Wie würde es weitergehen?
Sie schwiegen, beide tief in ihre Gedanken verloren. Schließlich wandte sich Tamara an Max. Ihre Stimme klang ungläubig. »Sag mal, wir machen das, oder? Wir hauen ab.«
Max grinste sie schweigend an. Tamara gab sich einen Ruck. Ihr praktischer Sinn gewann schnell wieder die Überhand. »Wenn das so ist, sollten wir uns schnell ein bisschen Proviant besorgen. Und was zu trinken.«
»Gute Idee. Es kann aber sein, dass das nicht nötig ist.«
»Wieso?«
Max lächelte wieder rätselhaft. Tamara verdrehte die Augen. »Ob ich mich an disese Geheimniskrämerei gewöhnen werde?« Sie winkte ab. »Egal! Aber sag mal, was ist, wenn der Wagen Automatik hat? Daran müsste ich mich erst mal gewöhnen.«
»Mach dir keine Sorgen. Was die Automatik angeht …«
Tamara unterbracht ihn. »Ist ja auch schnurzegal, ich bin eine gute Fahrerin, ich gewöhn mich schon dran. Aber, wer ist diese Göttin? Mit Göttern hab ich’s nämlich nicht so.«
In diesem Moment wurde ein Wagen am Eingang des Parkplatzes sichtbar. Gemeinsam sahen sie zu, wie sich ihnen ein altes, elegantes Auto in einem ungewöhnlichen Blauton näherte. Tamara raunte: »Was ist das denn? Türkis?«
Max ignorierte ihre Frage und hustete nervös. »Von wegen Automatik, hier geht es um Lenkradschaltung! Ist das nicht ein wunderbarer Wagen?« Tamara war klar, dass der letzte Satz nicht als Frage gemeint war, und gab sich, um ihre Bewunderung für den Oldtimer zu verbergen, betont rupppig.
»Sieht ein bisschen aus, als ob ein Ufo was mit einer Auster gehabt hätte. Auf dem Boden einer Autowerkstatt. Hoffentlich habt ihr das Teil nicht aus einem Museum mitgehen lassen.« Max Engel breitete die Arme aus wie ein Zirkusdirektor, der eine Nummer präsentiert. »Darf ich vorstellen, Tamara: Das ist die Göttin. Baujahr 1970. Ein Citroën DS. Ein Auto, mit dem de Gaulle sogar seine Paraden abnahm.«
»Wer?«
»Charles de Gaulle, damals der französische Staatschef.« Tamara fragte unbeeindruckt: »Aber wieso Göttin?«
»Die Typenbezeichnung ist DS, was im Französischen wie Déesse, also ›die Göttin‹ klingt.« Max geriet ins Schwärmen. »Die DS ist ein Star. Wurde 1955 auf dem Pariser Salon, dieser weltberühmten Automesse, zum ersten Mal präsentiert. Grammatikalisch korrekt muss man der DS sagen, aber … das Auto bleibt eine Göttin. Sie fuhr in den Fünzigern sogar die Rallye Monte Carlo mit!«
Max winkte dem Fahrer, während Tamara beeindruckt, aber misstrauisch das grünbläulich strahlende Mutterschiff beäugte, das neben ihrer Rostbeule zum Stehen kam. Es senkte sich mit leisem Ächzen auf die Straße hinunter – wie eine Glucke, die über ihrem Gelege den perfekten Platz für ihr Hinterteil sucht. »Hydraulik?«
Max schüttelte den Kopf und betonte jede Silbe genau: »Hy-dro-pneu-matik!« Er riss begeistert die Beifahrertür auf. »Mein Platz ist im Cockpit!«
Aus dem Auto stieg nun ein Mann, den Tamara Finke in jeder anderen Situation als Schnösel bezeichnet hätte. Anfang fünfzig, eleganter heller Anzug, schmal geschnittene braune Lederschuhe, leicht gebräunt. Seine dichten dunklen Haare wiesen einen grauen Rand auf, und er trug eine angenehme Selbstsicherheit zur Schau, wie sie beruflicher Erfolg oder ein ausbalanciertes Seelenleben mit sich bringen können. Und wie ich sie wohl nie besitzen werde, dachte Tamara. Pit, ja, ihr Pit, der hatte ebenfalls so eine Ausstrahlung besessen. Allerdings ohne Anzug, natürlich. Pit hatte Anzüge verabscheut, aber auch in T-Shirts und Jeans hatte er immer souverän und unantastbar gewirkt. Tamara schluckte. Wieso fiel ihr schon wieder Pit ein? Sie dachte zwar täglich an ihn, aber meistens, wenn sie allein zu Hause war. Aber während sie beobachtete, wie der Fremde im Anzug Max Engel leicht umarmte und anschließend auf sie zutrat, verstand sie auf einmal, warum ihr gerade jetzt Pit einfiel. Weil Pit diese Situation genossen hätte. Nicht die Sache mit der Handtasche, die jetzt in ihrem Handschuhfach lag, obwohl er sie sicher verstanden hätte. Nein, er hätte dieses Abenteuer großartig gefunden, diese Geschichte mit Max Engel. Er hätte ihr zugeredet, alle Bedenken über Bord zu werfen und nach Südfrankreich zu fahren. »Tami«, hätte er gesagt, sie mit seinen warmen braunen Augen angestrahlt und eine seiner Lebensweisheiten zitiert, die er ständig auf den Lippen trug. Vielleicht: »Die höchste Form des Glücks ist ein Leben mit einem gewissen Grad an Verrücktheit.« Tamara dachte daran, wie lebendig sie sich mit Pit gefühlt hatte und wie unendlich schade es war, dass er selbst leider so verrückt gewesen war, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Aber die Besonderheit des Tages und Max Engels ungewöhnliches Angebot, das konspirative Treffen, das alte Auto und vor allem die Vorstellung, wie Pit mit beiden Händen zugegriffen hätte, sorgten dafür, dass sie dem eleganten Mann mit einem unerwartet breiten Lächeln entgegensah.
»Friedler«, stellte der sich mit einer schnellen Verbeugung vor. Sein Händedruck war fest und angenehm.
»Tamara«, sagte Tamara.
»Friedler ist der Sohn eines alten Freundes«, erklärte Max, hielt es jedoch nicht für nötig, auf Tamaras Rolle bei diesem Treffen einzugehen.
»Und Autohändler?«
Die Männer lachten. »Nein, nein«, sagte Friedler, dessen Vorname offenbar nicht wichtig war, der aber trotz seines Anzugs die beiden anderen wie selbstverständlich duzte. »Max meinte, dass ihr es mit dem Fiat nicht schaffen würdet.« Tamara duzte entschlossen zurück.
»Aber dafür mit diesem Oldtimer? Wo habt ihr den denn ausgegraben?«
Friedler lächelte noch breiter. »Das Auto gehörte meinem Onkel, er hat es seinerzeit einem Pariser Zahnarzt abgekauft. Nach seinem Tod ging es in den Familienbesitz über. Der Wagen ist top gepflegt und in bestem Zustand. Die Farbe heißt übrigens Bleu Platine, Platinblau.«
Max mischte sich wieder ein. »Die Karosseriefarben der DS klangen immer wie Gedichte.« Er zitierte: »Vert Printemps – Frühlingsgrün. Champagne – das muss ich wohl nicht übersetzen. Gris Rosé – Rosagrau. Bleu d’Orient – Orientblau.«
Friedler ergänzte: »Bleu de Provence, Jaune Panama – Panamagelb. Wie auch immer, die Göttin ist doch für eine Fahrt nach Frankreich viel stilvoller.«
»Na klar«, kommentierte Tamara trocken. Doch weder Max noch Friedler hatten ein Ohr für ihre Ironie und begannen, das Gepäck umzuladen. Tamara holte ihre Reisetasche aus dem Kofferraum des Fiats. Sie nahm einen Stiefel hoch und ließ ihn nach kurzem Nachdenken wieder in den Kofferraum fallen. »Die Stiefel brauche ich vielleicht gar nicht, oder? Ist da nicht schon Hochsommer? Und dürfen wir mit diesem Oldtimer einfach so herumfahren? Da fällt mir ein: Was kommt bei der Göttin in den Tank? Super? Na, Max, das wird dich aber eine Stange kosten.«
Max Engel maß sie mit einem konsternierten Blick und raunte ihr zu: »Seitdem du dich entschieden hast, mitzukommen, hast du wohl Quasselwasser getrunken?«
»So ist das, wenn du mit einer Berlinerin unterwegs bist. Sag mal, müssen wir auf das Auto besonders aufpassen? Ist der auch ordnungsgemäß angemeldet?«
»Ordnungsgemäß?« Max äffte sie nach. »So ist das also, wenn man mit einer Berlinerin unterwegs ist, die achtet preußisch genau auf jede Ordnungswidrigkeit, oder?« Er wurde wieder ernst. »Aber du kannst beruhigt sein, die Göttin darf auch im Sommer fahren, sie brauchte eine spezielle Anmeldung, und die hat sie.«
Friedler, der sich sich auf der Rückbank zu schaffen machte, rief aus dem Wagen: »Autos sind wie Turnierpferde, die müssen bewegt werden.« Dann nahm er eine Dokumentenmappe vom Beifahrersitz und überreichte sie Max. »Hier, das wolltest du doch haben. Am besten werft ihr das noch in Hamburg ein.«
Max warf einen Blick in die Mappe und nickte. Er fing den fragenden Blick von Tamara auf und hob abwehrend die Hand. »Das geht auch dich an – ich zeige es dir später.«
»Ja, ich weiß schon, auf der Fahrt«, erwiderte Tamara, die inzwischen verstanden hatte, dass es bei Max tatsächlich wenig Sinn hatte, Fragen zu stellen. Aber natürlich konnte sie das nicht durchhalten, deswegen zeigte sie jetzt auf einen Koffer aus geflochtenem Korb auf der Rückbank. »Was ist das?«
»Proviant für euch.« Friedler machte die Aktion augenscheinlich Spaß. »Der alte Picknick-Koffer passt doch hervorragend zur Göttin.«
Während Max mit zufriedenem Gesicht eine Straßenkarte auf der Kühlerhaube ausbreitete, holte Tamara die elegante Handtasche aus dem Handschuhfach ihres Autos und stopfte sie in ihre Umhängetasche. Mit einem raschen Blick überzeugte sie sich davon, dass ihre Aktion unbemerkt geblieben war. Aber die Männer beugten sich beide über die Karte und hatten nichts gesehen. Tamara trat zu ihnen und sah, wie Max mit dem Zeigefinger die Strecke verfolgte. »Wir fahren bis Riegel am Kaiserstuhl. Also über Hannover, Kassel, Frankfurt und Karlsruhe Richtung Freiburg. In sieben Stunden ist das zu schaffen.« Gleich darauf spürte er, wie sein Herz unregelmäßig schlug. Kein Grund, sich Sorgen zu machen, dachte er. Das ist die Aufregung, die Spannung, das Reisefieber. Er tastete in seiner Tasche unauffällig nach seinem Pillencontainer. Alles da. Dann schickte er ein Stoßgebet in den Himmel, dass er die Reise gut überstehen würde, und nach einem Blick auf Tamara, die mit Friedler in ein Gespräch verwickelt war, auch ein Dankgebet. Er hatte heute Morgen noch nicht gewusst, ob es ihm gelingen würde, Tamara Finke für die Unternehmung zu gewinnen. Aber er hatte Tamara in den letzten Wochen genau beobachtet, und in verschiedenen Situationen hatte sie sich als die Netteste und Patenteste im Pflegeteam erwiesen. Ihr lakonischer Humor, gepaart mit einem überraschenden Feingefühl, waren in der Residenz allgemein bekannt. Ohne viel Aufhebens und meist sehr erfolgreich regelte sie Unstimmigkeiten zwischen den »Gästen«, meisterte heikle Situationen jeglicher Art und hatte für jeden ein offenes Ohr. Bereits an seinem ersten Tag in der Residenz war sie ihm aufgefallen.