Luisa Binder
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Roman
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Luisa Binder hat allerlei geisteswissenschaftliche Dinge studiert, die ihr im Leben bislang noch nicht wirklich weitergeholfen haben. Immerhin hat sie einen Job in einer Werbeagentur ergattert. Sie lebt zusammen mit ihrem Mann in einer beschaulichen Kleinstadt in der Metropolregion Rhein-Neckar, mag alles, was Punkte hat, und lernt in ihrer Freizeit Schwedisch. Deswegen mag sie Zimtschnecken auch lieber als Lebkuchen.
Von Luisa Binder ist bereits folgender Titel erschienen:
Eigentlich sind wir nicht so
© 2017 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2017 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Dieses Werk wurde vermittelt durch Agentur Brauer.
Redaktion: Leena Flegler
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: FinePic®, München / shutterstock
ISBN 978-3-426-44192-3
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Für Gudrun
Borta bra men hemma bäst.
Das Schönste am Verreisen ist das Nachhausekommen.
Schwedisches Sprichwort
Guten Appetit.«
Ellen rückte den kleinen Teller, auf dem sich geviertelte Tomaten, Gurkenscheiben und zwei, drei Salatblätter stapelten, ein Stück näher an Odysseus heran. Der Schildkröterich hob langsam den Kopf, schob den Hals ein Stück aus dem Panzer und schnupperte am Gemüse. Dann wandte er sich ab – angeekelt, wie Ellen fand.
»Hallo? Hier spielt die Musik!«
Sie griff nach einer Gurkenscheibe, eigentlich Odysseus’ Leib- und Magenspeise, und hielt sie dem Tier vor die Nase. Wieder drehte es den Kopf weg. Ellen hob die Gurkenscheibe hoch und betrachtete sie von allen Seiten. Was gab es daran auszusetzen?
»So, Monsieur. Jetzt keine Mätzchen mehr«, schimpfte sie, griff sich die Schildkröte, die gerade dabei war, langsam vom Teller weg über den Resopaltisch zu kriechen, hob sie hoch und drehte sie um einhundertachtzig Grad herum, so dass Odysseus wieder direkt vor seinem Abendessen saß. »Friss!«
Doch da hatte Ellen die Rechnung ohne die Schildkröte gemacht. Denn anstatt endlich in das angebotene Gurkenscheibchen zu beißen, zog sie mit enervierender Langsamkeit Arme, Beine und schließlich auch den irrsinnig langen Hals mitsamt Kopf ein und verkroch sich im Panzer.
»Dann eben nicht. Undankbares Vieh.« Ellen schob sich die Gurkenscheibe selbst in den Mund. Während sie krachend das Gemüse zerkaute, stieg Enttäuschung in ihr auf. Das Gefühl kam ihr bekannt vor. Die Schildkröte fraß Hans aus der Hand. Obwohl er sein bescheuertes Haustier so gut wie nie selbst fütterte, sondern diese ehrenvolle Aufgabe wie so vieles andere, was seine Frau »einfach besser konnte«, gern ihr überließ.
Von wegen! Ellen mochte das blöde Vieh nicht mal besonders. Sie hatte einen Hund haben wollen, vor Jahren, als Marion ausgezogen war, Hans ein Aquarium. Die Schildkröte war der sprichwörtliche Kompromiss gewesen, den Ellen hatte eingehen müssen, und jetzt hatte sie den Salat. Tiere spürten so was ja. Wenn man sie nicht mochte. Vermutlich war das der Grund, warum Odysseus ihr bei jeder sich bietenden Gelegenheit in den Finger zwickte. Dabei hieß es doch, man solle die Hand nicht beißen, die einen füttere.
Dasselbe hätte man Hans allerdings auch vorwerfen können. Denn anstatt eine Frau wie Ellen, die ihm ein Leben lang den Rücken freigehalten hatte, auf Händen zu tragen, ihr jeden Wunsch von den Lippen abzulesen und sie wie eine orientalische Prinzessin zu behandeln, hatte er ihr – im übertragenen Sinne natürlich – ununterbrochen in den Finger gezwickt. Auch momentan führte er sich auf, als wäre er der Einzige auf der ganzen Welt. Und dabei war es Ellen, die allein hier oben rumhockte. Woran natürlich Hans schuld war. Wie an so vielem.
Zugegeben, das Nordkap war Ellens Vorschlag gewesen. Und sie hatte es sich irgendwie auch anders vorgestellt. Ein Sehnsuchtsort war es gewesen, am Anfang, ja, und dann eine fixe Idee. Der nördlichste Punkt des europäischen Festlands, Skandinavien, Freiheit, bis zum Horizont und weiter. Irgendwann war es dann nur noch ums Prinzip gegangen. Darum, dass Hans, der nämlich immer nur nach Italien hatte fahren wollen, sich auch mal für die Wünsche seiner Frau interessierte – oder sich zumindest von ihr überreden ließ (von »überzeugen« hatte Ellen nie zu träumen gewagt). Und dieses Jahr – o Wunder! – war es tatsächlich so weit gewesen. Und jetzt das.
Was hatte sie am Nordkap eigentlich erwartet? So richtig wusste sie es selbst nicht mehr. Steine, Hügel, viel Himmel und darunter das Meer, dazu eine ordentliche Portion Weichzeichner – das in etwa war die Fototapete gewesen, die sich jedes Mal vor ihrem inneren Auge entrollt hatte, wenn das gedankliche Stichwort gefallen war.
Doch in ihren Tagträumen, die sie jahrelang gehegt und gepflegt hatte wie die Stiefmütterchen auf dem Grab ihrer Schwiegermutter, war die Landschaft nicht annähernd so gelbgrünbraun gewesen. Das Nordkap war in Wahrheit deutlich weniger adrett und erst recht nicht von so opulenter Schönheit, wie Ellen all die Jahre angenommen hatte. Auch der Bildband, den Hans’ und Ellens einzige Tochter Marion ihr mal zu Weihnachten geschenkt hatte, musste – wie jegliches Bildmaterial, das über das Nordkap existierte – nachkoloriert worden sein. Ansonsten wäre Ellen doch niemals auf die Idee gekommen, ausgerechnet dieses monochromatische Fleckchen Erde zu ihrem Sehnsuchtsort zu machen. Sie war ja nicht bescheuert und erst recht nicht farbenblind.
Es war ihr fast ein wenig peinlich gewesen, als sie tags zuvor nach einer irre langen Fahrt hier oben angekommen waren. Aus Hans’ Blick hatte eine Mischung aus »Und wegen so was hast du mich jahrelang genervt?« und »Aha« gesprochen.
Sie selbst hatte versucht, sich die Enttäuschung nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Ohnehin hatten sie ganz andere düstere Gedanken umgetrieben: Gedanken an mehr als drei Jahrzehnte Beziehung mit Hans und sehr, sehr viele Sommerurlaube auf ein und demselben furchtbaren italienischen Campingplatz. Gedanken an den Übertragungsbus des niedersächsischen Lokalfernsehens, der ihnen seit Dänemark hinterhergefahren war. Und Gedanken an das Eingeständnis ihres Göttergatten. Der eine Reinfall mehr oder weniger hatte den Kohl da auch schon nicht mehr fett gemacht.
Mit einem Seufzen setzte Ellen Schildkröte und Gemüseteller zurück in die Bananenkiste. Wenn Odysseus sich wieder abgeregt hätte, würde er ja vielleicht fressen. Und wenn nicht … dann wäre ihr das auch herzlich egal. Denn von nun an würde sie die Hauptrolle spielen in ihrem eigenen Film – und niemand sonst. Vor allem keine beknackte Schildkröte.
Ellen stand auf, trug die Bananenkiste in die Nasszelle des Wohnwagens, die so klein war, dass man sich jedes Mal die Knie anschlug, wenn man auf Toilette ging, und stellte die Kiste inklusive Schildkröte auf der knapp bemessenen freien Fläche neben dem Chemieklo ab. Dann streckte sie dem immer noch in seinen Panzer verkrochenen Odysseus in einem Anflug von Albernheit die Zunge raus, schloss die Tür zum Badezimmer und wandte sich wieder der Sitzecke zu, in der diesmal kein Hans saß und sie mit erwartungsvollem Gesichtsausdruck ansah, weil er hoffte, dass sie ihm etwas zu essen machte.
Augenblicklich stieg ihr inneres Stimmungsbarometer um ein paar Grad, und der kleine Anflug guter Laune hielt sogar an, während sie den Blick wieder durch das Fenster auf die dröge Umgebung ringsum lenkte. Ausgebranntes, vergilbtes Gras, das den Rand einer riesigen geteerten Fläche säumte. Sicher drei Fußballfelder groß. Drum herum ein paar nichtssagende Erhebungen und am Ende (immerhin das stimmte mit dem Bild überein, das Ellen sich jahrelang gemacht hatte) das Meer. Allerdings konnte man das Meer auch nur als dünne hellblaue Linie am Horizont ausmachen wie ein mit Wasserfarbe hingekleckster Strich auf einem bereits welligen Blatt Papier.
Wie in aller Welt war sie auf die Idee gekommen, dass es hier oben, wo neun Monate lang Schnee lag und es die meiste Zeit des Jahres dunkel war, im Sommer anders aussehen könnte? Grüner, lebendiger, nicht so … tot? Ellen musste an eine ganz ähnlich böse Überraschung denken, die Venedig ihr bei ihrem ersten Besuch vor Jahrzehnten beschert hatte. Damals, bevor sie Hans kennengelernt hatte. Es war im Hochsommer gewesen. Die Müllabfuhr hatte gestreikt, und die Lagunenstadt war einem buchstäblich zu Kopf gestiegen mit ihrem infernalischen Gestank. Das hatte nicht in den zahlreichen Fremdenführern gestanden, die Ellen auswendig gelernt hatte, um sich auf ihren ersten Einsatz als Reiseleiterin vorzubereiten.
Immerhin hatte es am Vortag, als sie angekommen waren, wesentlich angenehmer gerochen als in Venedig. Genau genommen war das Nordkap sogar relativ geruchsneutral. Einer der Vorteile Skandinaviens im Vergleich zu Südeuropa, fand Ellen, trotz aller Enttäuschung angesichts des drögen Drumherums.
Vor dem Fenster machte sie eine Bewegung aus. Ah, der Dicke aus dem Eriba Puck. Ellen hatte keine Ahnung, wie ein Mann mit solchen Ausmaßen in einen derart winzigen Wohnwagen passte. Vielleicht musste er deshalb so viel draußen herumlaufen. Weil ihm der Wohnwagen zu klein war wie eine Hose, die nicht mehr passte und am Bauch anfing zu kneifen. Ellen hatte den Dicken vorhin schon mal dabei beobachtet, wie er um ihren Wohnwagen geschlichen war. Das war sie inzwischen gewohnt. Genau das war ja Hans’ Absicht gewesen: möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen. Damit standen seine Absichten umgekehrt proportional zu denen von Ellen, die es in der Regel vorzog, nicht aufzufallen, weder besonders positiv noch negativ. In Schweden nannte man so etwas lagom, hatte sie gelesen, als sie sich auf die Tour ans Nordkap vorbereitet hatte. Lagom, das war das gesunde Mittelmaß, eben nicht zu viel, nicht zu wenig, sondern genau richtig.
Aber von genau richtig hatte ihr werter Herr Gemahl selbstverständlich keine Ahnung. Bei Hans gab es nur viel und laut und auffällig. Irgendwie logisch, dass sein Abgang auch nicht heimlich, still und leise, sondern mit allem Tamtam vonstattengegangen war. Blaulicht. Helikopter. Gaffer. Und das Fernsehteam war ohnehin schon da gewesen. Nur Hans und seinem Affentheater hatte sie es zu verdanken, dass sie jetzt hier am Nordkap festsaß. Allein. Und wartete, während irgendwas in ihrem Inneren angefangen hatte, ungeduldig mit den Fingern zu trommeln.
Wenn sie doch nur selbst fahren könnte! Dann würde sie keine Minute länger hier ausharren. Aber es gab nun einmal Dinge, die änderten sich nicht so schnell. Ellens Angst vorm Autofahren war eines dieser Dinge. Und so war sie darauf angewiesen, auf ihre Tochter zu warten, die den Volvo mitsamt Wohnwagen an der Anhängerkupplung den langen Weg zurück nach Hause ins niedersächsische Ostereistedt fahren würde.
Als der Dicke aus dem Eriba Puck, der trotz der frostigen Temperaturen vor der Tür nicht mehr als eine schlabbrige Jeans und ein im Verhältnis dazu ziemlich stramm sitzendes T-Shirt trug, an ihrem großen Panoramafenster vorbeilief, sah er in ihre Richtung. Unwillkürlich hob Ellen die Hand und winkte ihm zu. Sofort drehte der Mann ab und lief zu seinem Eriba zurück, in dem er nur Sekunden später bis auf weiteres verschwand.
Blöder Typ. Hätte wenigstens mal guten Tag wünschen können. Oder zurückwinken. Immerhin waren sie so was wie Nachbarn.
Im selben Moment kam Ellen Erna in den Sinn, ihre Freundin, die in Ostereistedt im Haus neben ihnen wohnte. Wie die wohl reagieren würde, wenn Ellen ihr von diesen wahnwitzigen Neuigkeiten berichtete? Sie spürte Nervosität in sich aufsteigen – diese kribbelnde Gewissheit, dass sich ihr Leben bald ganz massiv ändern würde. Wenn es nur nicht so furchtbar lange dauern würde, bis sie es Erna endlich erzählen könnte …
Aber warum eigentlich warten? Ihr Blick wanderte zu dem Mobiltelefon, das auf dem Tischchen lag. Dann erinnerte sie sich wieder an Hans’ Warnungen, das Handy bloß niemals im Ausland zu benutzen. »Mit dem Roaming ziehen die dich total über den Tisch! Da kostet eine Minute telefonieren dann plötzlich drei Euro, das waren früher mal sechs Mark. Überleg dir das mal – sechs Mark!«
Ellen konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sie das Telefon zur Hand nahm, die Tastatur entsperrte und Ernas Nummer wählte.
Nach zehnmal Tuten nahm Erna den Anruf entgegen. »Ja, hallo?«
Ellen warf einen Blick auf die Armbanduhr. Ach ja. Dienstagabend um halb sechs. Erna sah sich gerade eine ihrer Kitschserien an.
»Hallo, Erna! Ich bin’s, Ellen.«
»Ellen?!« Sofort klang ihre Nachbarin alarmiert. »Was ist los? Ist etwas passiert? Warum rufst du an?«
»Ach, einfach nur so«, erwiderte Ellen, lehnte sich entspannt in die Kissen zurück und dachte an die sechs Mark, die ihr Anruf kosten würde. Mindestens. »Ich wollt eigentlich nur fragen, wie es dir so geht.«
»Aber du bist doch im Urlaub? Da kannst du doch nicht einfach anrufen? Das ist doch viel zu teuer – wegen dem Rohming!«
»I wo!« Ellen winkte ab, auch wenn die Freundin ihre Geste natürlich nicht sehen konnte.
»Ellen … Bist du dir sicher, dass alles in Ordnung ist?«, hakte Erna nach. »Wo bist du denn gerade?«
»Am Nordkap. Ganz weit oben.«
»Und, ist es schön?«
»Och, joah. Nicht so schön, wie ich gedacht hab.«
»Wie schade!« Ernas Stimme war voller Bedauern. »Da wolltest du doch immer hin. Das war doch dein großer Traum.«
»Tja. Das war es wohl. Aber Träume sind Schäume, sagt man doch so.«
»Hm. Und wie gefällt es Hans?«
Ellen seufzte. »Also, Hans … Na gut. Es gibt da etwas, was ich dir erzählen muss.«
»O Gott!« Erna schlug sich hörbar die Hand vor den Mund. »Wusst ich’s doch …«
»Beruhige dich«, fiel Ellen ihr ins Wort. »Es ist nichts Schlimmes. Ganz im Gegenteil, es ist sogar sehr erfreulich.«
»Jetzt sag endlich!«
»Hans ist weg«, verkündete Ellen stolz.
Ein paar Sekunden lang hörte sie nur das Knistern in der Leitung, das mehr Bände sprach als alles, was Erna hätte entgegnen können. Dann stammelte sie: »Wie? Wo ist er denn?«
»Auf dem Weg nach Deutschland.«
»Und du bleibst ganz allein am Nordkap?«
»Vorläufig.«
Für einen Moment herrschte Schweigen. Dann: »Das ist nicht witzig.«
»Finde ich auch nicht.«
Wieder wurde es still. Dann fing Erna an zu kichern. »Ach, Ellen! Du und dein Humor! Hör mal, war nett, mit dir zu plaudern, aber grad ruft Jürgen, die Werbung ist zu Ende.« Wieder lachte sie. Sie klang belustigt, aber irgendwie auch verunsichert. »Du verrücktes Huhn! Und richte Hans liebe Grüße aus, ja?« Dann legte sie auf.
Konsterniert nahm Ellen das Mobiltelefon vom Ohr und starrte eine Weile darauf hinab. Das war ja prima gelaufen! Offenbar traute ihr nicht einmal ihre beste Freundin zu, dass sie endlich Nägel mit Köpfen machte. Außerdem ärgerte sie sich ein bisschen, weil ein derart kurzer Anruf sicher nicht mehr als zwei Euro gekostet hatte. Das waren zwar umgerechnet immer noch vier Mark, aber wie das Abschneiden von alten Zöpfen fühlte es sich trotzdem nicht an.
Ach, egal. Sollte Erna doch denken, was sie wollte. In ein paar Tagen würde Ellen wieder daheim in Ostereistedt sein und der Freundin noch einmal in aller Eindeutigkeit verklickern, dass Hans Geschichte war. Und dann würde Erna nicht mehr lachen, da war Ellen sich sicher.
Ab jetzt würde alles anders werden, alles. Vorbei waren die Zeiten, in denen sie von ihrem Mann auf irgendwelche Veranstaltungen geschleppt wurde, die sie nicht die Bohne interessierten. Ab jetzt würde sie nur noch auf Feiern gehen, die sie sich selbst aussuchte, und es würde jede Menge Konfetti in ihrem Leben regnen.
Bald wäre Marion da, dann würden sie sich sofort auf den Weg machen, direkt hinein in diesen neuen Lebensabschnitt, in ein neues Kapitel. Wenn eine verstand, dass einem manchmal nichts anderes übrigblieb, als alles hinter sich zu lassen und die Seite umzublättern, dann war es doch wohl ihre Tochter. Außerdem würde sie Ellen bestimmt bei ein paar ungeklärten Fragen helfen, auf denen sie immer noch herumkaute: Wie löst man nach fünfunddreißig Jahren einen Haushalt auf? Wer kümmert sich in Zukunft um Hans? (Ganz klar: Nicht Ellen!) An wen würde Odysseus gehen? Die Verantwortung für ein anderes Lebewesen konnte man ja unmöglich an Hans übertragen, der kam ja schon allein nicht klar. Aber Odysseus mitnehmen? Der ihr ständig in den Finger kniff? Das wäre ein ganz falsches Signal an die Welt und an sie selbst.
Nein. Ab jetzt würde sie nur noch an sich denken. Und die Schildkröte konnte gucken, wo sie blieb.
Ellen ließ sich tiefer in die Kissen sinken und strich sich durch die kurzen blonden Haare, die inzwischen von silbrigen Strähnen durchzogen waren. Diese Reise war bislang wirklich vollkommen anders verlaufen, als sie es sich vorgestellt hatte – was sie grundsätzlich freute, denn das ewige Einerlei und Jeden-Tag-Dasselbe war ihr in den vergangenen Jahrzehnten doch gehörig auf den Keks gegangen. Dass sich nun alles so ganz anders entwickelt hatte …
Egal. Es kam nur auf das Ergebnis an. Und Ellen war bereit, den nächsten, ja, wichtigsten, vermutlich sogar allergrößten Schritt in ihrem Leben zu tun. Deswegen waren mittlerweile auch die Dachluken des Wohnwagens geschlossen und die Oberschränke verriegelt. Wenn ihre Tochter endlich hier ankäme, würden sie nicht lange fackeln, sondern gleich den Wohnwagen ans Auto hängen, und dann ab durch die Mitte. Zu nachtschlafender Zeit, wenn es sein müsste. Es galt, keinen Blick zurückzuwerfen, sondern Land zu gewinnen. Weg vom Nordkap und mit Karacho rein ins Ungewisse.
Bereits vor zwanzig Jahren hatte das Elend seinen Lauf genommen. Mitte der Neunziger waren Ellen, Hans und Marion am Bodensee gewesen, wo sie einen sterbenslangweiligen Urlaub in einem winzigen Kaff auf der deutschen Seite des Gewässers verbracht hatten, und auf dem Rückweg hatte Hans den Vorschlag gemacht, in einem Campingmuseum vorbeizufahren.
»Das ist doch eine tolle Gelegenheit, die so schnell nicht wiederkommt«, hatte er gesagt, um seinen beiden Damen den kleinen Umweg schmackhaft zu machen. Doch die hatten bloß genervt die Augen verdreht. Marion war gerade fünfzehn geworden und zutiefst beleidigt, weil sie ihre kostbaren Sommerferien mit ihren unfassbar uncoolen Eltern am Bodensee und nicht auf einer Jugendfreizeit in Bornholm verbringen durfte. Und selbst Ellen waren nach zwei Wochen Spätzle und Spaziergängen ein Zeltlager in Dänemark mit lauter Pubertierenden wie ein Abenteuerurlaub vorgekommen.
Sie legten Widerspruch ein, doch der wurde zur Kenntnis genommen und dann sofort zu den Akten gelegt. Dann trat das Oberhaupt der Familie Bornemann aufs Gaspedal und steuerte zielstrebig den kleinen Ort Bad Waldsee an. Obwohl Ellen mit Camping nicht viel anzufangen wusste, war die Ausstellung nicht einmal halb so langweilig, wie sie befürchtet hatte – im Gegenteil. Mit wachsender Begeisterung liefen sie und Hans zwischen all den alten Eribas, Tabberts und Hymers hin und her, vorbei an quietschgrünen Citroën-Coupés aus den Siebzigern, orangefarbenen Mercedes-Kombis im Stil der sechziger Jahre und schwarzen VW Käfern aus der Nachkriegszeit, und Ellen malte sich aus, wie verrückt und wagemutig ein solcher Urlaub wohl sein mochte. Ein Leben im Camper, jeden Tag woanders, immer unterwegs. Anhalten, wo immer man mochte. Leben im Einklang mit der Natur.
Während Marion miesepetrig drohte, sie würde ihre eigene Fremdadoption beantragen, wenn ihre Eltern sie zwängen, gemeinsam in einem Gefährt von gerade einmal vier Quadratmetern Grundfläche zu urlauben, gefiel Ellen die Vorstellung immer besser, einmal eine solche Reise zu unternehmen. Sie nahm das Geschimpfe ihrer Tochter gar nicht weiter ernst; sie war nämlich – im Gegensatz zu Hans, der »sein Mädchen« so gern um sich hatte – durchaus der Meinung, dass Marion mit fünfzehn alt genug war, um von nun an andere mit ihrer schlechten Laune zu verwöhnen.
Vielleicht war Ellen der hübsche mintfarbene Bulli-Bus aus dem Jahr 1961 – ihrem Geburtsjahr, war das etwa kein Zeichen? – auch deshalb so positiv aufgefallen. In dem konnten nämlich beim besten Willen nur zwei Personen schlafen. Hätte man vor, die quengelnde Tochter ebenfalls mit in den Urlaub zu nehmen (und wer würde das wollen, Gott bewahre!), dürfte die sich eben mit ihrem Weltschmerz und ihrer schlechten Laune ein Zelt teilen, und Ellen und ihr Mann wären endlich mal wieder für sich.
»Den find ich ja schön«, hauchte Ellen, als sie mit klopfendem Herzen vor dem T1 stand, der sie aus kugelrunden Scheinwerferaugen treudoof anblickte.
»Ach«, seufzte Hans nur, warf einen flüchtigen Blick auf die grauen Sitze und das fest installierte Bett im Fond und schlenderte dann weiter. Ellen blieb noch für einen Moment mit sehnsüchtigem Gesichtsausdruck stehen und schickte drei Stoßgebete zum Himmel, dass in diesem »Ach« der Abwechslung halber etwas ganz anderes gesteckt haben möge, als von Hans für gewöhnlich zu erwarten war. Vielleicht hatte ihr Mann ja ausnahmsweise einmal zugehört?
Doch einen Monat später, an ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag, bekam sie keinen hübschen mintfarbenen Bulli-Bus geschenkt. Stattdessen bog Hans mit einem wahren Ungetüm an der Anhängerkupplung ums Eck. Der Anblick verschlug Ellen für einen kurzen Moment den Atem.
»Was ist das?«, fragte sie fassungslos, als ihr Mann stolz wie der Kapitän der Queen Mary aus dem VW Passat stieg.
»Das, mein Schatz, ist unser neues Ferienhaus auf Rädern«, rief er und klatschte sogar in die Hände. »Alles Gute zum Geburtstag, mein Liebling!«
Mit diesen Worten kam er auf sie zu und schloss sie in die Arme, und Ellen war sich mit einem Mal sehr sicher, dass er zwar die besten Absichten gehabt, aber wie so häufig den Empfänger auf die falsche Frequenz eingestellt hatte. Es war offensichtlich, dass er ihre gar nicht mal so dezenten Hinweise, wie gern sie einmal campen gehen würde – vielleicht sogar mit einem so hübschen mintfarbenen Bulli-Bus –, dermaßen bruchstückhaft vernommen hatte, dass nur jener Teil in seiner Wahrnehmung hängengeblieben war, der zu seinen eigenen Vorstellungen gepasst hatte. Obwohl Ellen wochenlang von den sechziger Jahren, dem Wirtschaftswunder, der grundsoliden Marke Volkswagen und einem Oldtimer als Wertanlage gesprochen hatte, war bei ihrem Ehemann nur »campen« und »alt« angekommen. Am Ende hatte er bei »Oldtimer« auch noch eher an Ellen als an einen Bulli-Bus gedacht. Aber das Allerschlimmste war: Sie konnte ihm nicht einmal einen Vorwurf machen. Immerhin hatte er ein bisschen zugehört. Und das war doch besser als gar nichts. Das hatte zumindest Erna im Anschluss gesagt, als Ellen der Nachbarin ihr Leid geklagt hatte.
Dennoch: Der Tabbert-Wohnwagen mit zwei Sitzgelegenheiten vorn und hinten sowie einem Chemieklo in einer kleinen abgetrennten Nasszelle war nicht gerade das, was Ellen sich gewünscht hatte. Dass ihr Ehemann den Wohnwagen auch nicht neu gekauft, sondern gebraucht vom Stühmeier-Willi übernommen hatte, war ebenfalls ein Kratzer im Lack des ach so perfekten Geburtstagsgeschenks.
»Der Tabbert wurde 1968 gebaut und ist damit seit drei Jahren ein Oldtimer. Da ist doch die Versicherung so billig«, erklärte Hans, dem die ein wenig gedämpft ausfallende Begeisterung seiner Gattin zu ihrer großen Überraschung nicht entgangen war. »Und bevor das Schätzchen beim Willi in der Scheune steht und vergammelt …«
»Aber … Aber …« Ellen wusste gar nicht, was sie sagen sollte. »Und was ist aus dem hübschen Bulli-Bus geworden?«
Hans lachte nur laut. »Schatz, weißt du überhaupt, was so ein T1 kostet? Nein, lieber bescheiden bleiben. Das ist doch unser Motto.«
Zum Glück war Ellen eine Frau, die nicht lang fackelte. Sie schluckte ihre Enttäuschung herunter und stürzte sich auf »Lottchen«, wie Hans den Wohnwagen später taufen sollte, weil er eben »lief wie’n Lottchen«.
Ja, das Lottchen war kein Bulli-Bus. Aber dieses Manko war durchaus zu verkraften, wenn man mit ein bisschen Enthusiasmus nachwürzte. Ellen freute sich auf Nächte unter Sternenhimmeln, Nacktbaden im Meer, Wildcampen an allen Orten, an denen es ihnen gefiel. Keine Regeln, keine Grenzen, kein Bodensee!
Sie schmiss die müffelnden Sitzpolster raus und besorgte neue, nähte Gardinen und schrubbte die hölzernen Innen- und Oberschränke so lange mit Essigreiniger und Holzschutzmittel, bis sie fast wie neu aussahen und auch nicht mehr rochen, als hätte der Stühmeier-Willi tote Ratten darin transportiert.
Ein Dreivierteljahr, nachdem Hans das Lottchen als viertes Familienmitglied zu den Bornemanns geholt hatte, brachen er und Ellen zu ihrer Jungfernfahrt auf. Ohne Marion. Zumindest dem weiblichen Elternteil kam es nicht ungelegen, dass Tochter Bornemann mit Freundinnen in Richtung Bordeaux an die Atlantikküste fahren wollte, um dort drei Wochen lang faul in der Sonne zu liegen und ihre Urlaubsbräune zu kultivieren. In stillschweigendem Einvernehmen hatten Ellen wie auch Marion beschlossen, dass es endlich an der Zeit war, dass die Tochter ihre Badematte an einer anderen Stelle ausrollte als die werten Eltern.
Hans hatte das wie erwartet nicht einsehen wollen. »Aber ich hab doch extra einen größeren Wohnwagen gekauft, in dem wir auch zu dritt unterkommen«, hatte er gejammert, als sein geliebtes Einzelkind ein paar Wochen zuvor am Abendbrottisch verkündet hatte, dass es nicht beabsichtige, erneut mit in den Urlaub zu fahren. Weder Marion noch Ellen hatten auch nur ein weiteres Wort dazu gesagt. In seltener Eintracht hatten sie geschwiegen.
Hans’ und Ellens erstes Ziel war Italien, obwohl Ellen damals schon gern in den Norden gefahren wäre, den sie bis dato noch nie gesehen hatte. Aber Hans hatte in den Süden gewollt und auf einen Kompromiss gepocht: Immerhin habe er sich nur ihr zuliebe überhaupt aufs Campen eingelassen – er sei ja an sich eher ein Pensionsurlauber. Ellen hatte einmal kurz mit den Zähnen geknirscht und zur Sicherheit noch ein paar Sekunden lang die Luft angehalten. Manchmal musste sie das tun, wenn sie nicht vor aller Augen explodieren wollte. Mittlerweile kam sie fast volle sechzig Sekunden ohne Sauerstoff aus, so weit hatte sie ihr unfreiwilliges Deeskalationstraining schon gebracht. Sie ahnte allerdings, dass ihr das eines Tages böse Spätfolgen einhandeln würde.
Dann hatte sie Italien abgenickt.
Sie fuhren an die nördliche Adriaküste, in die Nähe von Porto Santa Margherita im Osten Venedigs – jener Stadt, von der Ellen immer noch die Nase voll hatte. Der Campingplatz, den Hans ausgesucht hatte, hieß »Felicitano« und entsprach exakt dem, was Ellen sich unter einem solchen Ort vorgestellt hatte. Ein Pinienwäldchen an der Küste, ein heruntergekommener Kiosk, in dem man trockenes Weißbrot und viel zu süße Marmelade kaufen konnte, saubere, wenn auch etwas lieblos gestaltete Gruppenwaschräume, die man morgens wie abends mit dem Kulturbeutel unter dem Arm aufsuchte. Also genau das Gegenteil von Wildcamping unterm Sternenhimmel und Nacktbaden in einsamen Buchten. Wenn Ellen gewusst hätte, wie oft sie noch ihre Kosmetika durch Felicitano tragen würde, hätte sie die Auswahl des Campingplatzes sicher nicht Hans überlassen.
Denn aus einem Sommer in Porto Santa Margherita wurden achtzehn, auch wenn Ellen bis heute keine Ahnung hatte, wie das hatte passieren können. Mit der Zeit hatte sich Felicitano zu einem Camper-Alptraum entwickelt. Die Sandstrände waren zu voll, der Rotwein war zu trocken und das Eis immer ein bisschen zu flüssig. Sogar die Nachbarn auf dem Campingplatz waren Jahr für Jahr dieselben, die kleinen malerischen Städtchen nichts weiter als eine Ansammlung von Betonbunkern entlang der Mittelmeerküste, und die Hitze wurde auch jedes Jahr unerträglicher.
Wann immer sie das ansprach oder gar versuchte, zur Abwechslung doch mal einen Hotelurlaub oder eine Rundreise anzuregen, entgegnete Hans: »Du wolltest doch unbedingt campen gehen! Das Lottchen hab ich nur für dich gekauft. Jetzt machen wir Campingurlaub, und es ist wieder nicht recht.« Und Ellen schwieg – denn sie brachte es nicht übers Herz, ihrem Mann, der ihr zumindest einmal halbwegs zugehört hatte, zu beichten, dass ein Bulli-Bus und Meeresrauschen was anderes war als das Schnarchen ihrer Stellplatznachbarn durch schlecht isolierte Tabbert-Plastikfenster.
Stattdessen wünschte sie sich ans Nordkap. Doch ihr Nordkap wanderte, während ihre subtilen Andeutungen von Hans weiterhin überhört wurden, Jahr für Jahr ein Stückchen weiter gen Süden. Aus ihrem Nordkap wurde erst Mittelschweden, dann Schonen, dann Dänemark … Immer weiter rückte Ellen von ihrem ursprünglichen Traum ab.
»Wir fahren jetzt schon seit mehr als zehn Jahren nach Felicitano«, setzte sie eines Tages wieder einmal an, nur um sofort von Hans unterbrochen zu werden.
»Und immer war es schön.«
Wenn es eines gab, was Ellen und Hans wirklich unterschied, dann war es der Wunsch nach Abwechslung. Ellens Ehemann verspürte nicht den geringsten Drang, auch nur irgendetwas in seinem Leben anders zu machen als in den vergangenen neunundfünfzig Jahren. Sie war sich sicher: Wenn es ihm möglich wäre, würde er noch heute immer sonntags zu seiner Mutter fahren und dort Grünkohl und Pinkel essen. Es scheiterte inzwischen nicht mehr nur daran, dass es Grünkohl nur noch ein paar Monate im Jahr gab. Sondern auch daran, dass Heidemarie Bornemann selbigem Grünkohl mittlerweile von unten beim Wachsen zusah.
»Ja, das war es«, nahm Ellen den Faden wieder auf, »aber ich glaube, dass es woanders auch mal schön sein kann. Wie wär es denn mit der Ostsee?«
Ostsee. So tief war sie also schon gesunken.
»Wir sollen bei den Ossis Urlaub machen?« Hans schüttelte den Kopf. »Kommt gar nicht in Frage.«
»Dann an der Nordsee. Langeoog soll ganz bezaubernd sein, und …«
Doch weiter kam sie nicht. Genau genommen war sie nicht mal weiter als bis zur Landesgrenze Schleswig-Holsteins gekommen – und das auch nur in Gedanken.
»Was willst du denn an der Nordsee, Schatz? Wattwanderungen und Fischbrötchen?« Er lachte. »Ach was. Da könnten wir doch gleich zu Hause bleiben.«
Stimmt, dachte Ellen. Aber viel anders als zu Hause war es mit dem Lottchen in Felicitano auch nicht. Jedes Jahr dieselben Leute rechts und links, dieselben schmierigen Schlager im Radio und Pizza in der immer selben Trattoria um die Ecke.
»In Italien wissen wir doch, was wir haben«, legte Hans nach. »Zuverlässig, jedes Jahr. Typisch Bornemann.«
Typisch Bornemann. Das war Hans’ Wahlslogan im Jahr 2001 gewesen, als er zum ersten Mal fürs Bürgermeisteramt von Ostereistedt kandidiert und auch gewonnen hatte. Der Slogan war ihm selbst auf dem Klo eingefallen, und Hans war volksnah genug, um diese Anekdote bei nahezu jedem Treffen mit potenziellen oder tatsächlichen Wählern zu erwähnen.
Das Geräusch einer zuschlagenden Autotür riss Ellen aus den Gedanken. Sie stand auf und drehte sich zum Schrank um – dem einzigen neben den schmalen Oberfächern, den das Lottchen zu bieten hatte. Dort kramte Ellen ihre dicke Strickjacke heraus, die sie in weiser Voraussicht eingepackt hatte, und schlüpfte hinein. Dann trat sie an die Tür, zog ihre Schlappen an, die wie immer auf der obersten Treppenstufe standen, und schob die Tür auf.
Eine kühle Böe schlug ihr ins Gesicht und zerzauste ihr die Haare. Für einen Moment genoss Ellen den unbändigen, ungezähmten Wind. Dann ließ sie den Blick suchend über den riesigen Parkplatz schweifen.
Wann war Marion denn endlich da? Den ganzen Tag hatte Ellen schon im Lottchen rumgeräumt und Hans’ und ihre Sachen auseinandergedröselt. Inzwischen waren ihre Habseligkeiten von denen ihres Mannes geschieden. Und das war erst der Anfang. Ab jetzt würde sie fahren, wohin sie wollte. Und sie würde die Frisur tragen, die ihr passte – selbst wenn sie wie ein explodierter Wischmopp aussehen würde. Natürlich würde sie sich erst an die neue Situation gewöhnen müssen. Sie war jetzt alleinstehend – genau wie Irene Müller, die sämtlichen Männern in Ostereistedt nachstieg (den unverheirateten wie den verheirateten), als wäre es eine olympische Disziplin. Ellen würde sich niemals auf dieses Niveau hinablassen. Sie würde eine reife, alleinstehende Frau sein, kein verzweifelter Single, wie ihre Tochter sagen würde.
Sie kaute eine Weile auf dem Gedanken herum, während sie einmal um den Wohnwagen herumging – und zusammenzuckte, als ihr Blick auf die linke Seite des Anhängers fiel. Von dort lächelte Hans auf sie herab. Doch statt zurückzulächeln, stiefelte Ellen wütend an ihm vorbei. Sollte Hans Bornemann doch hingehen, wo der Pfeffer wuchs.
Am Vorabend, nachdem der Krankenwagen ihren Mann eingepackt hatte und wieder weggefahren war, hatte Ellen in Hamburg angerufen.
»Marion, mein Schatz, du musst mich abholen.«
Erst hatte ihre Tochter geschwiegen. Dann hatte sie sich geräuspert und gefragt: »Abholen? Wo bist du, in Hamburg am Bahnhof? Sag bitte nicht, dass wir verabredet waren. Das hätte ich dann nämlich komplett vergessen. Und eigentlich würde es mir auch gerade gar nicht passen.«
»Nein, nein. Ich bin am Nordkap.«
Stille.
»Oh«, sagte Marion dann nach einer geraumen Weile in ihrer gewohnt unaufgeregten Art. »Was ist denn passiert?«
Ellen erzählte ihrer Tochter, was Hans widerfahren war.
»Ich kümmere mich darum«, meinte Marion schließlich, nachdem sie einige sehr kluge und praktische Fragen gestellt und dann einmal tief geseufzt hatte.
Wenn Ellen richtiglag, würde ihre Tochter jeden Moment hier eintreffen. Und dann würde ihr neues Leben endlich, endlich beginnen – und sie würde den ganzen alten Kram, vor allem aber den alten Hans, endlich, endlich hinter sich lassen können. Sogar das Lottchen würde sie ein für alle Mal loswerden, auch wenn sie bei diesem Gedanken einen kleinen sentimentalen Stich in der Brust verspürte – all den eintönigen Jahren in Felicitano zum Trotz.
Sie wandte sich vom Wohnwagen ab, hielt das Gesicht in den Wind und atmete einmal tief ein. Ihre Lunge dehnte sich aus, als sie den Sauerstoff bis in die kleinsten Kapillaren entsandte, und mit einem Mal fühlte Ellen sich so frei wie noch niemals zuvor in ihrem Leben.
Eine stürmische Böe schlug ihm ins Gesicht. Er zog den Kopf ein und hob die Schultern bis hoch zu den Ohren. Der Wind rüttelte an der geöffneten Autotür, die Ronny nur mit Mühe festhalten konnte. Alter Schwede, war das kalt! Seine Finger waren beinahe sofort taub geworden, kaum dass er in Honningsvåg aus der Propellermaschine gestiegen war. Zwölf Grad Außentemperatur, orkanartiger Wind. Die Frisur war schon seit Hamburg im Eimer. Hier oben war es so verflucht kalt, dass Ronny sich fragte, ob die »Hauptreisezeit« rund um das Mittsommerfest Ende Juni nicht eher ein Treppenwitz der skandinavischen Tourismusbranche war.
Der Taxifahrer, der, ohne mit der Wimper zu zucken, hinter dem Lenkrad sitzen geblieben war, drehte jetzt das Gesicht in Ronnys Richtung und bewegte die Lippen, aber über den lauten Wind hinweg, der ihm um die Ohren pfiff, war der alte Mann nicht zu verstehen. Ronny beugte sich an das heruntergekurbelte Fahrerfenster. Die Wärme dahinter kam ihm vor wie der blanke Hohn.
»Excuse me«, wandte er sich an den Taxifahrer, obwohl Ronny sich durchaus bewusst war, dass der Norweger kein Englisch sprach – zumindest keines, das er verstanden hätte.
Auch warum der blöde Kerl, der ihn breit und mit respektablen Lücken in der oberen Zahnreihe angrinste, eine so unerträglich gute Laune hatte, war ihm ein Rätsel. Schon seitdem Ronny sich am winzigen Flugplatz von Honningsvåg todmüde in den altersschwachen Saab-Kombi hatte fallen lassen, kam es ihm so vor, als würde sich der Alte über ihn lustig machen. Möglicherweise lag er aber auch vollkommen daneben, und die Norweger waren alle einfach nur gut drauf. Galten sie nicht als das zufriedenste Volk der Welt? Allerdings war Ronny sich sicher, das Gleiche auch schon über die Dänen, Kanadier und Birmanen gelesen zu haben – vermutlich war es in ihrem Fall ebenfalls Teil einer überaus raffinierten Imagestrategie des jeweiligen Heimatlands. Wahrscheinlich steckte auch da wieder der Tourismusverband dahinter. Natürlich war es nicht ausgeschlossen, dass sich der Fahrer tatsächlich königlich über diesen doofen Deutschen amüsierte, der sich mit dem Taxi zum nördlichsten Zipfel Europas kutschieren ließ. Zumindest aber würde er heute Abend eine gute Geschichte zu erzählen haben, dessen war sich Ronny sicher.
»Velkommen til verdens ende«, griente der Alte und hob anerkennend den Daumen.
Ronny seufzte. Ihm war klar, wie merkwürdig er auf den Alten wirken musste. Und irgendwie konnte er es ja verstehen. Kaum ein Reisender buchte ein One-Way-Ticket zum Nordkap. Und schon gar nicht fuhr er den Rest der Strecke mit dem Taxi.
Er warf einen Blick auf die Uhr. Gestern Abend war er in Hamburg in den Flieger nach Oslo gestiegen, hatte eine äußerst unbequeme Nacht auf Plastikstühlen in einer Transithalle verbracht und für ein latschiges Sandwich stolze elf Euro berappt. Kein Wunder, dass Oslo zumindest europaweit als teuerste Stadt galt – sogar noch vor Kopenhagen und London. Aber da wollte er sowieso nicht hin.
Am Morgen dann hatte Ronny (mit knurrendem Magen, denn sein Reisebudget war mit dem Sandwichkauf mehr oder weniger aufgebraucht) den ersten Flug nach Tromsø genommen. Von dort war es kurz darauf in einer nicht sonderlich vertrauenerweckenden Propellermaschine mit zwölf Sitzen weitergegangen, erst nach Hammerfest und schließlich nach Honningsvåg, und nicht nur einmal hatte Ronny dabei innerlich mit seinem Leben abgeschlossen.
Dabei hatte der ADAC-Job wirklich verlockend geklungen. Ronny fuhr gern Auto, auch lange Strecken, kein Problem, und dafür bezahlt zu werden? Umso besser! Nur war ihm unter anderem erzählt worden, dass er nur in Deutschland unterwegs sein würde. Im Ausland arbeite der Automobil-Club mit Partnern vor Ort.
»Sie werden das Land allerhöchstens verlassen, wenn eines unserer Mitglieder im Grenzgebiet liegen bleibt«, hatte ihm Frau Schmieder, seine Chefin, erläutert. »Ansonsten werden wir Ihnen keinen Kurztrip sponsern, Herr Lembke. Das ist eine eiserne Regel des Clubs.«
Aber wie alle Regeln wurde auch diese durch Ausnahmen bestätigt. Es war Mittsommer, und weder in Norwegen noch Dänemark noch Schweden hatte sich jemand gefunden, der bereit gewesen wäre, bis ans Nordkap hochzufahren, um einen Wohnwagen mitsamt Insassin einzusammeln und heimzugeleiten.
»Frühestens in zwei Tagen sind wieder Fahrer frei«, hatte Frau Schmieder gesagt, und dann hatte sie beschlossen: »Also ausnahmsweise, Herr Lembke, ausnahmsweise erlauben wir Ihnen, etwas weiter zu fahren als sonst.«
Er war sich vorgekommen wie damals bei seiner Oma, die ihm ein Zweimarkstück in die Hand gedrückt und ihn gleichzeitig ermahnt hatte, nicht alles auf einmal auszugeben. Als hätte Frau Schmieder ihm mit diesem Horrortrip ans Nordkap einen Gefallen getan.
Natürlich hatten die letzten Worte, die sie an ihn richtete, die Sache nicht unbedingt besser gemacht: »In einer Woche ist ja Ihre Probezeit vorbei, Herr Lembke. Wär schön, wenn Sie die mit einem kleinen Erfolg abschließen könnten, meinen Sie nicht auch?«
Obwohl Ronny nicht der Typ war, der besonders viel zwischen den Zeilen las, hatte er bei dieser Aussage nicht lange nachdenken müssen, was sie wohl damit hatte andeuten wollen.
In den vergangenen zehn Wochen war er mehrfach als Gelber Engel unterwegs gewesen. Er war von Hamburg aus nach Dinslaken, Duisburg und Deidesheim gegurkt, hatte Autos rückgeführt und Menschen in Züge gesetzt, die so was ohne seine Hilfe offenbar nicht geschafft hätten. Wie ein Gelber Engel war er sich dabei nicht vorgekommen, eher wie ein Kindergärtner mit Stützflügeln, und das, obwohl er Kinder nicht mal besonders gut leiden konnte. Was er spätestens seit dieser schrecklichen Fahrt von Passau nach Berlin wusste, als er eine sechsköpfige Familie heimgefahren hatte, die auf der Autobahn liegen geblieben war. Zu allem Überfluss hatte der Vater eine dermaßen schlimme Migräne gehabt, dass er die ganze Fahrt über jammernd auf dem Beifahrersitz gesessen und sich einen kalten Waschlappen auf die Augen gepresst hatte. Die Mutter hatte auf der Rückbank gehockt, umringt von vier kleinen Monstern, und hatte versucht, die Lautstärke auf ein verträgliches Maß runterzuregeln – was mit acht Stunden Daueranimation einhergegangen war.
»Sie sehen ja, ich könnte mich unmöglich hinters Steuer setzen«, hatte die Frau am Ende mit vor Erschöpfung ganz leiser Stimme gesagt. »Die würden mir das Auto auseinandernehmen.«
Als sie endlich in Berlin-Steglitz angekommen waren und der ADAC-Kleinbus die Großfamilie ausgespuckt hatte, hätte Ronny fast geweint vor Glück. Direkt im Anschluss hatte er dann auf einem Truckerparkplatz in Autobahnnähe sechs Stunden durchgeschlafen. Im Sitzen.
Immerhin war er von diesem Zustand noch ein bisschen entfernt, selbst wenn er so müde war, dass er die Augen kaum noch offen halten konnte und das dämliche Grinsen des Taxifahrers die gereizten Enden seiner Nerven irritierte.
»How much is it?«, fragte er wieder ins Wageninnere, und als der Alte nicht reagierte, setzte er die weltweit verständliche Geste für Bezahlen ein, indem er Daumen und Zeigefinger aneinanderrieb.
»Sju hundre og femti kroner«, antwortete der Taxifahrer, dessen Grinsen in diesem Augenblick noch breiter wurde.
»Wie bitte?«, hakte Ronny ungläubig nach.
Der Alte zeichnete mit dem Zeigefinger der rechten Hand eine Sieben, eine Fünf und eine Null in die Handfläche der linken.
Ronny hatte keine Ahnung, ob das ein angemessener Preis oder die Abzocke des Jahrhunderts war. Siebenhundertfünfzig Kronen klang nach einer Menge Heu. Letztendlich war es aber fast egal, wie viel die Taxifahrt kostete. Er hatte sowieso nur Euro dabei und würde das Geld vom ADAC zurückbekommen. Es war natürlich unglücklich, dass er vor der Abreise keine Norwegischen Kronen mehr gewechselt hatte. Aber dafür war nach Frau Schmieders Anruf und dem Aufbruch nach Oslo am Vortag ganz einfach keine Zeit mehr gewesen.
Hauptsache, er bekam am Ende eine Quittung. Das war das Allerallerwichtigste, das hatte er gleich während des allerersten Bewerbungsgesprächs erfahren. »Wir sehen vielleicht nicht aus wie eine Behörde, Herr Lembke, aber glauben Sie mir, ohne Quittung können Sie bei uns nicht mal auf die Toilette gehen.« Genau das waren Frau Schmieders Worte gewesen, und ihr biederes hellgraues Businesskostüm hatte ihm verraten, dass in ihren Worten wesentlich mehr als bloß ein Körnchen Wahrheit steckte.
Er kramte in seinem Geldbeutel und zog einen Hunderteuroschein heraus, den er dem Alten hinhielt. Der Taxifahrer grinste noch breiter – obwohl Ronny sich sicher gewesen war, dass das anatomisch kaum mehr möglich war –, zuckte dann entschuldigend mit den Achseln, pflückte Ronny den Schein aus den Fingern und fing an, in seiner Hosentasche nach Wechselgeld zu fischen. Nur eine Sekunde später drückte er ihm ein paar zerknitterte Scheine und eine Reihe merkwürdiger Münzen mit Loch in der Mitte in die Hand, tippte sich an die blaue Schiebermütze und brauste davon.
»He«, konnte Ronny ihm nur noch hinterherrufen. »Was ist mit meiner Quittung?«
Frustriert starrte er dem Taxi hinterher. Na wunderbar! Die ersten sauer verdienten Euro waren schon mal flöten gegangen. Mit Ausreden brauchte er einer wie der Schmieder nämlich garantiert nicht kommen.
Resigniert stopfte er sich die verdammt wertlos aussehenden verkrumpelten Scheine und Münzen in die Hosentasche, schulterte den Rucksack und sah sich um.
Das hier war also der nördlichste Punkt Europas. Angeblich. Während seines nächtlichen Aufenthalts in Oslo hatte Ronny nämlich über das kostenlose Flughafen-WLAN herausgefunden, dass das Nordkap vollkommen zu Unrecht so berühmt war. Tatsächlich war nämlich der Kinnarodden auf der Halbinsel Nordkinn der nördlichste Punkt des europäischen Festlands – nur dass dieser Ort lediglich durch eine gut zwanzig Kilometer lange Wanderung zu erreichen war. Und wenn sich Ronny eines nicht vorstellen konnte, dann wie Busladungen voller schmerbäuchiger Touristen meilenweit durch die nordnorwegische Pampa stapften. Vermutlich war daher das Nordkap zu seiner unverdienten Ehre gekommen. Es war ganz einfach besser zu erreichen und einfacher auszusprechen.
Ronny drehte sich einmal um die eigene Achse und ließ den Blick schweifen. Er befand sich auf einem ins Meer ragenden Felsplateau, das in südlicher Richtung von sanft geschwungenen Hügeln umgeben war. In einiger Entfernung sah er die Kuppen weiterer Hügel, auf denen sogar noch Schnee lag – und das Ende Juni. Er fröstelte und zog den Reißverschluss seiner Jacke zu. Hinter ihm lag die Straße gen Süden, während direkt vor ihm ein Bungalow stand, auf dessen Dach eine weiße Kugel auf einem Metallgestell emporragte. Das war die Nordkaphalle, Zentrum des touristischen Lebens in diesem braungrauen Einerlei. Die Umgebung war karg und kahl, nirgends auch nur ein Baum oder Strauch. Das Gras war so gelbstichig, als wäre der Schnee nach einem jahrelangen Winter gerade erst geschmolzen, was so unwahrscheinlich gar nicht war. Das Meer konnte Ronny von hier aus kaum erkennen. Ohnehin würde er erst mal einem wichtigeren Bedürfnis nachkommen müssen.
Er schulterte den großen Rucksack mit all seinem Hab und Gut und stiefelte auf die Eingangstür der Nordkaphalle zu. Im Inneren folgte er den Wegweisern zu den Toiletten und marschierte am Restaurant, an der Kapelle und einem Postamt vorbei, in dem er, wäre er zu regulären Öffnungszeiten da gewesen, ein Nordkapdiplom hätte erwerben können. Keine Ahnung, wofür einen das qualifizierte.
Als er sich erleichtert und die Hände unter einem Heißluftgebläse so lange gewärmt hatte, bis er sie wieder spüren konnte, verließ er die Halle durch den meerseitigen Ausgang. Die Kälte und der Anblick verschlugen ihm den Atem. Direkt vor ihm sah er … nichts. Trat man durch die gläsernen Schwingtüren ins Freie, ging es noch gut dreißig Meter weiter, dann fiel das Plateau steil ab. Nachdem Ronny das Meer von hier aus immer noch nicht sehen konnte – immerhin befand er sich rund dreihundert Meter darüber –, beschlich ihn das beklemmende Gefühl, am sprichwörtlichen Ende angekommen zu sein, dem Ende, wie es sich die Menschen im Mittelalter vorgestellt hatten: an der Außenkante einer Scheibe, an deren Rändern die Wirklichkeit einfach in bodenlose Tiefe fiel.
Er trat ein Stück vor an die Felskante, vor der ein Gitter die Touristen davon abhielt, sich wie Lemminge über die Klippe zu stürzen. Das Meer war von einer weißen Schicht überzogen, die entfernt an Milchschaum auf einem Cappuccino erinnerte. Die Milchschicht lag komplett still und unbeweglich da – kein bisschen wie Wolken, eher wie eine flauschige Wolldecke, die man sich über die Beine zog, wenn es kälter wurde. Erneut musste Ronny ein Frösteln unterdrücken. Die Erinnerung an die sommerlichen Temperaturen daheim machten die Sache nicht unbedingt besser.
Was musst du dich auch fünfhundert Kilometer nördlich des verdammten Polarkreises herumtreiben?, fragte er sich in Gedanken, sah jedoch von einer Antwort ab, da er selbige schon kannte und auf vorwurfsvolle Selbstgespräche mit seinem Gewissen wahrlich keine Lust verspürte. Allerdings hatte es ihn selbst erstaunt, wie weit er von Hamburg aus gen Osten hatte reisen müssen – genau genommen befand sich das Nordkap nämlich beinahe auf demselben Längengrad wie Istanbul. Das klang fast genauso unglaublich wie die Tatsache, dass New York auf demselben Breitengrad wie Rom lag.