Silke Schütze

Kleine Schiffe

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Silke Schütze

Silke Schütze, Jahrgang 1961, lebt in Hamburg. Nach ihrem Studium der Philologie war sie Pressechefin bei einem Filmverleih und Chefredakteurin der Zeitschrift CINEMA. Silke Schütze, die zahlreiche Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht hat, hält Schreiben für die zweitschönste Sache der Welt. Sie versucht seit Jahren, einen Kräutergarten anzulegen, der den Winter überlebt, und träumt mit ihrer Familie von einem Haus in Südfrankreich. 2008 wurde Silke Schütze vom RBB und dem Literaturhaus Berlin mit dem renommierten Walter-Serner-Preis ausgezeichnet.

Über dieses Buch

Wer hat behauptet, dass Liebe einfach ist? All das Herzklopfen und Himmelhochjauchzen, all die Ängste, Versuche und Bauchlandungen. Aber jeder muss da durch. Denn ohne Liebe tut das Leben weh.

 

Erst wird Franziska vierundvierzig. Dann von ihrem Mann verlassen. Und als sie kurz darauf merkt, dass sie zum ersten Mal schwanger ist, weiß sie, dass sie noch einmal ganz von vorne anfangen muss. Aber wie soll das gehen? Zufällig trifft Franziska die ebenfalls schwangere, flippige neunzehnjährige Lilly – und lernt von ihr, dass das Leben ein wunderbares Abenteuer wird, wenn man sich nicht immer an die bekannten Spielregeln hält …

 

Ein Roman wie das Leben selbst: Ein bisschen verrückt, immer wieder chaotisch, zum Weinen schön und voller Überraschungen.

Impressum

Originalausgabe April 2010

Copyright © der eBook Ausgabe by Knaur eBook.

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: lüra – Klemt & Mues GbR, Wuppertal

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: Gettyimages/Red Cover/Jean Maurice

ISBN 978-3-426-40049-4

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Für die, mit denen ich auf kleinen und großen Schiffen reise …

1. Kapitel

Was ich sagen kann:
es gab da jemanden
und ich nehme es zu schwer.

Bernd Begemann: »Ich nehme es zu schwer«

Willst du das wirklich?«

Ich kann ihn kaum verstehen, denn er sagt diese Worte leise und atemlos, während er meinen Bauch küsst. Seine Hände streichen über meine Hüften, er schmiegt seinen großen Körper an meinen. Ich schließe die Augen, lasse mich fallen, verdränge Kummer und Melancholie und konzentriere mich nur auf seine Berührungen.

Wieder sagt er etwas. Ich möchte jetzt nicht sprechen, ich möchte nur fühlen. Doch er stützt sich auf die Ellbogen, und dort, wo er meine Haut geküsst hat, wird es kalt. So fühlt sich Enttäuschung an.

Ich öffne die Augen. Ohne Brille sieht er verwundbarer aus, jünger, weicher.

»Willst du das wirklich?«, wiederholt er seine Frage und betrachtet meinen nackten Körper mit dieser Mischung aus Stolz, Begehren und Bewunderung, die ich so lange nicht in seinem Gesicht gesehen habe. So hat er mich angesehen, als wir einander noch nicht lange kannten, beim ersten Mal und den vielen, vielen Malen danach. Irgendwann aber, als unsere Zärtlichkeiten immer verzweifelter und vergeblicher dem einzigen Zweck dienten, endlich ein Kind zu bekommen, erlosch dieser Blick. Jetzt haben wir uns fast zwei Jahre lang kaum gesehen, und auch vor dieser Trennung hatten wir schon lange nicht mehr miteinander geschlafen.

Ein Gedanke durchzuckt mich: Vielleicht hätten wir doch nur eine Trennung auf Zeit ausprobieren müssen, und alles wäre wieder gut geworden?

Aber das wollte Andreas nicht. »Ich brauche Klarheit. Ich muss raus. Ich muss mein Leben noch einmal neu in den Griff bekommen. Allein.«

Er ging nach Dänemark, an eine Klinik in Aabenraa. Unsere Wohnung in Winterhude haben wir verkauft – und die Scheidung eingeleitet. Ich habe alles mitgemacht, so wie ich immer alles mitgemacht habe, was Andreas anfing. Nach dem Schreien, dem Heulen, den Vorwürfen und meinen verzweifelten Fragen.

»Warum? Sag mir doch wenigstens, warum! Es war doch nicht alles schlecht.«

Andreas verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber es war schon lange nicht mehr gut.«

Er ist erst aus unserem Schlafzimmer ausgezogen, dann aus der Wohnung und schließlich aus unserem Leben.

Bittere Ironie: Vor sieben Stunden waren wir beim Scheidungsrichter – jetzt liegen wir nackt miteinander im Bett. Diesmal bin aber ich verantwortlich für den Gang der Dinge. Oder vielmehr Tina, meine beste Freundin. Die hat mich nämlich vor zwei Tagen gefragt, ob ich noch weiß, wann ich das letzte Mal mit Andreas geschlafen habe. Und als ich etwas verwirrt verneinte, hat sie den Kopf geschüttelt und gesagt: »Ist doch verrückt, oder? Das erste Mal erinnern wir immer in allen Einzelheiten – aber das letzte Mal? Dabei ist das doch viel wichtiger für eine Beziehung.«

Sie muss es wissen: Sie hat diverse letzte Male hinter sich, davon zwei mit Ex-Männern. Obwohl ich nicht sicher bin, ob das letzte Mal wirklich wichtiger ist als das erste Mal, kam ich ins Grübeln. Wann ist Sex mit Andreas so nebensächlich geworden, dass ich mich nicht einmal mehr an das letzte Mal erinnern kann? Dabei war Sex mit Andreas immer gut. Er ist ein liebevoller, ein zärtlicher Mann, einer, der dabei reden und sogar lachen kann.

Wir waren fast fünfzehn Jahre verheiratet, und ich hatte mich in seiner – unserer – Liebe eingerichtet. Sie war wie ein Hausschuh, der schon bessere Zeiten gesehen hat, aber unübertroffen bequem ist. Seit dem Gespräch mit Tina schien es mir auf einmal sehr wichtig, ein allerletztes Mal mit Andreas zu schlafen – und diese letzte Erinnerung wie ein besonders schönes Foto in das Album unserer gemeinsamen Geschichte zu kleben. Vielleicht aus dem Aberglauben heraus, die Beziehung damit auch für mich endlich zu lösen? Oder um mir zu beweisen, dass ich ihn immer noch verführen kann? Ich hatte weder die Trennung noch die Scheidung gewollt. Ich wollte Andreas.

Aber ich habe auch verstanden, dass er unsere Ehe als eingefahren empfand. Ich habe immer alles verstanden, was Andreas tat oder ließ. Ich habe mich zwar nie gelangweilt, doch so absurd es klingen mag: Der heutige Tag, der Tag meiner Scheidung, war mit Abstand der aufregendste Tag seit Jahren. Zum ersten Mal fühle ich wieder etwas. Fühle mich. Das tut gut, auch wenn es Schmerz ist, den ich empfinde. Verzweiflung. Oder vielleicht eine absurde, hilflose Lust. Ich hatte mir vorgenommen, mit Andreas zu schlafen. Also bereitete ich mich mit Hilfe einer sorgfältigen Beinrasur und unter großzügiger Verwendung meines Lieblingsparfüms am Morgen auf diesen Tag vor. Und dann stand ich heulend vor meinem Kleiderschrank. Denn was bitte trägt man zu einer Scheidung?

Während wir im Amtsgericht darauf warteten, aufgerufen zu werden, hatte ich das seltsame Gefühl, mir selbst zuzuschauen. Das war doch nicht ich, die da mit blassem Gesicht und in dem ungewohnten dunklen Kostüm im Wartezimmer saß! Das alles hatte nichts mit mir zu tun. Nichts, gar nichts. Es fing schon beim Datum an: An einem 14. April tut kein Mensch so etwas freiwillig. An einem 14. April starrt man morgens aus dem Fenster und fragt sich, ob der Frühling jemals kommen wird. Man schlägt den Kragen hoch, sieht die Wurfsendungen durch und ärgert sich, weil man eine Laufmasche hat. Eine Scheidung passt sowieso viel besser in den November, dachte ich und sah mir weiter beim Schlechtfühlen zu.

Andreas empfand wahrscheinlich ähnlich, obwohl er es doch gewesen war, der sich nicht mit einer Trennung zufriedengeben konnte. Mit ernster Miene saß er neben mir. Über einem Anzug, den ich nicht kannte, trug er seinen Trenchcoat und einen schwarzen Schal, der mir ebenfalls neu war.

Die Scheidung war keineswegs so dramatisch, wie man das aus amerikanischen Fernsehserien kennt. Wir saßen mit »unserer Anwältin« und dem Richter in einem öden Gerichtszimmer. »Unsere Anwältin« – auch das klingt hochdramatisch, so als gehörte sie uns und würde ständig von uns konsultiert, wenn es zum Beispiel um unsere (nicht vorhandenen) Immobilien oder (ebenfalls nicht vorhandenen) Aktienpakete oder (schon gar nicht vorhandenen) Drogenvorräte und (niemals benötigten) Alibis ging. Wir hatten unsere Anwältin vorher insgesamt dreimal getroffen. Sie ist eine Bekannte meines Chefs, eine kluge, nette Frau in meinem Alter, die immer in Eile ist. »Alleinerziehend mit fünfjährigen Zwillingen!«, hatte sie bei unserem ersten Termin entschuldigend vorgebracht, weil sie mit einer zwanzigminütigen Verspätung erschien.

Der Richter war ein bedrohlich großer Mann mit einem zerzausten Haarkranz um eine runde Glatze und mit einem Gipsfuß (Sportunfall!). Irgendetwas an uns schien ihn zu verblüffen, denn er blickte zweimal misstrauisch zu uns herüber, bevor er zu seinem Platz humpelte. Er sah aus wie die Idealbesetzung des Unholds im Märchenland. Er lehnte zwei quietschrote Krücken gegen den Tisch, blätterte in unserer Akte, blätterte weiter, fragte uns mit einer sanften Stimme, die so gar nicht zu seiner riesigen Statur passte, nach dem absolvierten Trennungsjahr und ob wir unsere Ehe als »endgültig gescheitert« betrachteten. Bei diesen Worten fiel zunächst die eine, dann die andere Krücke mit lautem Knall zu Boden.

Erst in diesem Moment ließ Andreas meine Hand los. Auch das mag befremdlich erscheinen: Wir haben uns monatelang nicht gesehen, treffen uns auf den Stufen zum Amtsgericht Hamburg-Mitte am Sievekingplatz und marschieren dann Hand in Hand zur Verhandlung. Andreas hat mich immer an die Hand genommen, von unserem ersten Treffen damals auf Juist an, als er mir auf sein Segelboot half. So kam es uns gar nicht merkwürdig vor, Händchen haltend zu unserem Scheidungstermin zu gehen, sondern richtig und gut. Vielleicht schaute deshalb dieser Richter-Riese am Anfang so irritiert.

Nach dem Termin schüttelten wir dem Richter und der Anwältin die Hand. Und dann standen wir auf der Straße her-um – nun doch ein wenig verlegen.

»Wollen wir noch etwas zusammen essen?«, fragte ich schließlich.

Andreas sah auf seine Uhr. Er war unschlüssig.

Ich hängte mich an seinen Arm. »Komm schon. Das sind wir uns doch wohl schuldig, oder?«

Andreas seufzte. »Hunger habe ich allerdings. Wo möchtest du denn essen? Ich habe nicht so wahnsinnig viel Zeit.«

Wie auf Verabredung vermieden wir beide die Erinnerung an unser altes Stammlokal in Winterhude, das »3 Tageszeiten«, und die leckere Wildkräutersuppe auf der Speisekarte.

Andreas sagte: »Warum zeigst du mir nicht einfach ein Lokal, das in der Nähe deiner neuen Wohnung ist?«

Ich bin vor kurzem nach Eimsbüttel gezogen, in ein altes Häuschen in der Wiesenstraße. Eigentlich wünschte ich mir eine kleine Wohnung in der Nähe der Praxis am Rothenbaum, in der ich als Arzthelferin arbeite. Aber dann hat mich Tina in eine Kneipe in Eimsbüttel geschleppt, einem Bezirk, der meistens mit dem Adjektiv »lebendig« beschrieben wird – was die bunte Mischung aus jungen Familien, Senioren, Studenten, Ausländern und Künstlern zusammenfassen soll. Andreas’ bester Freund Johannes hat in Eimsbüttel gelebt, wo er eine Praxis für Naturheilkunde betrieb, und eigentlich fand Andreas Eimsbüttel immer ein bisschen zu »studentisch« und »chaotisch«. Aber Johannes’ große Loftwohnung, die er nach etlichen Beziehungen allein bewohnt hatte, mochte Andreas.

Die beiden kannten sich seit dem Studium und verbrachten ihr halbes Leben in enger Freundschaft – bis Johannes überraschend vor knapp drei Jahren starb. Einfach so. Gehirnschlag. Er fiel vom Fahrrad und war tot.

In guten Momenten bezeichnet Andreas Johannes’ Tod als Glücksfall. »So möchte ich auch mal sterben«, sagt er dann. »Ohne Krankheit, ohne Verfall, ohne vom Ende zu wissen.«

Wenn ich die Beziehung von Andreas und Johannes mit der von Tina und mir vergleiche und mir vorstelle, Tina wäre von einem Tag auf den anderen tot, dann bleibt mir fast die Luft weg. Andreas muss sich ohne seinen besten Freund sehr allein fühlen. Aber er spricht nicht darüber. Jedenfalls nicht mit mir. Vielleicht auch mit niemand anderem, denn außer Johannes hatte Andreas nicht viele Freunde. Wir sind beide keine Menschen mit großen Freundeskreisen. Andreas redet nicht über Johannes. Aber er fährt seitdem sein Rennrad, und als er einmal einen jungen Mann dabei erwischte, wie dieser versuchte, das Rad vom Ständer im Hof zu klauen, hat ausgerechnet mein sanfter, ruhiger Andreas den Dieb fast bewusstlos geschlagen.

Ich habe nur einmal versucht, mit Andreas über Johannes zu sprechen. Er ist zusammengezuckt, als hätte ich ihm eine brennende Zigarette auf die Haut gedrückt. Er ist aus dem Bett aufgesprungen und hat sehr leise und mit viel Nachdruck gesagt: »Nein, Franziska, erspar mir das. Es gibt nichts, was in diesem Fall trösten könnte.« Und dann hat er sich auf den Balkon gesetzt und drei Flaschen Bier hintereinander getrunken.

Dass ich nach Eimsbüttel gezogen bin, hat Andreas nicht kommentiert. Dabei lag Johannes’ Wohnung nur zwei Ecken von meinem neuen Zuhause entfernt.

Auch bei der Kneipentour mit Tina dachte ich natürlich an Johannes. Aber dann forderte eine Entdeckung meine ungeteilte Aufmerksamkeit, und Johannes und sogar Andreas rückten in den Hintergrund. Auf meinem Rückweg zur U-Bahn – Tina hatte einen alten Bekannten getroffen und wollte die Bekanntschaft unbedingt noch in jener Nacht auffrischen – stolperte ich zufällig in einen großen Hinterhof in der Wiesenstraße. Kopfsteinpflaster, Mülltonnen – und dann: ein Holzzaun, dahinter ein kleiner, verwilderter Garten mit einem alten Baum, ein weißes Häuschen. Zweistöckig und mit einem Zettel in einem der dunklen Fenster: »Zu vermieten«. Die Telefonnummer schrieb ich mir sofort auf, und wenig später setzte ich meinen Namen unter den Mietvertrag.

Die Wiesenstraße liegt in unmittelbarer Nähe der belebten Osterstraße, und dort fielen mir auf Anhieb mehrere Restaurants ein, die ich Andreas nach dem Scheidungstermin vorschlug. Wir landeten in einem arabischen Imbiss, und beim anschließenden Bummel über die Osterstraße kaufte ich eine Flasche Rotwein – »zur Feier des Tages«. Meine dumme, leicht nervöse Bemerkung quittierte Andreas mit einem gequälten Lachen. An die Hand nahm er mich übrigens nicht mehr.

»Ich muss eigentlich los«, sagte er.

Aber mir fiel schnell etwas ein. »Könntest du mir nicht – sozusagen als letzten Liebesdienst – die Waschmaschine anschließen?«

Andreas verdrehte die Augen, aber er nickte schließlich.

Also schlenderten wir zu meinem Häuschen, das noch nach frischer Farbe und Tapezierkleister riecht. Während Andreas die Waschmaschine anschloss, öffnete ich die Weinflasche. Wir tranken aus den Gläsern, die wir uns für unseren ersten gemeinsamen Hausstand auf einem Flohmarkt in Frankreich ertrödelt hatten. Und weil das Bett die einzige Sitzmöglichkeit in meiner noch spärlich möblierten Behausung ist, mussten wir uns dort niederlassen.

Nach dem zweiten Glas habe ich mich zu ihm hinübergelehnt und die vertrauten, fremden Lippen geküsst. Und er hat erst vorsichtig, dann immer heftiger meine Küsse erwidert. Jetzt liegen wir nackt in meinem neuen Bett, und er fragt, ob ich wirklich mit ihm schlafen will.

Ich sehe in sein Gesicht, das in der Dämmerung kaum zu erkennen ist, und versuche mir jedes Härchen seiner dunklen Augenbrauen, jede in die Stirn fallende Strähne einzuprägen. Ich sehe seinen Mund mit den nach oben gezogenen Mundwinkeln, seine gerade Nase. Und ich sehe seine schön geformten Hände, die nun wieder meine Hüften umfassen, und sage laut: »Ja, ich will. Wirklich.«

Danach liegen wir erschöpft nebeneinander. Andreas vergräbt seinen Kopf an meiner Schulter und drückt mich so eng an sich, dass ich mich kaum bewegen kann. Trotz dieser großen, tröstlichen Nähe vermeiden wir, einander in die Augen zu sehen.

Ich denke an unser erstes Mal, damals, in dem kleinen Apartment auf Juist. Ich hatte bei einem Preisausschreiben einen Segelkurs gewonnen. Andreas jobbte dort in den Semesterferien als Segellehrer. In unserer ersten Nacht erzählte er mir eine asiatische Legende, die besagt, dass der Mond bei der Geburt eines Jungen dessen Fuß mit einem roten Band an den Fuß seiner zukünftigen Frau bindet. Das Band ist unsichtbar, doch die beiden Menschen suchen einander, und wenn sie sich finden, erreichen sie das größte Glück auf Erden.

»Was geschieht, wenn sie einander nicht finden?«, fragte ich damals in die Dunkelheit.

Andreas küsste mich und sagte: »Dann finden sie niemals ihr Glück. Jedenfalls nicht in dieser Welt. Erst im Himmel erkennen sie, wer für sie bestimmt war.«

Am nächsten Morgen kaufte er in einem Schreibwarengeschäft rotes Geschenkband aus Seide und band es mir um den Knöchel. »Ich muss nicht mehr auf den Himmel warten.«

Ich habe dieses Band immer gehütet wie einen Schatz, es war mir fast wichtiger als der Ehering. Trotzdem habe ich heute Morgen Tränen hinunterschlucken müssen, als ich den schmalen, goldenen Ring mit dem eingravierten »F & A« vom Finger zog und in meinem Schmuckkästchen verstaute. Mein Finger fühlt sich nackt an. Alle paar Minuten durchzuckt mich der Schreck. »Du hast deinen Ring verloren!« Dann versuche ich mich mit dem Satz zu beruhigen: »Ich habe ihn nicht verloren, ich bin bloß geschieden.« Und frage mich, was mich an diesem Satz beruhigen soll.

Andreas trägt seinen Ring schon länger nicht mehr, denn seine Finger sind gleichmäßig gebräunt. Er hat in Aabenraa gleich Anschluss an Segler gefunden und verbringt jede freie Minute auf See. Seit damals sind wir nie wieder gemeinsam gesegelt. Ich befürchtete schon als Kind immer, ins Wasser zu fallen und zu ertrinken. Was natürlich unrealistisch ist, weil ich schwimmen kann. Aber sind Ängste nicht sowieso meistens unrealistisch? Schiffe gefielen mir zwar aus der sicheren Entfernung an Land, und ich liebte Geschichten und Filme über Matrosen, Piraten und abenteuerlustige Kapitäne. Aber eben nur in der Theorie, praktisch habe ich auch heute noch Angst, ins Wasser zu fallen. Weswegen ich auch als Hamburgerin nie auf der Alster rudere oder Hafenrundfahrten mache. Ohne das Preisausschreiben wäre ich niemals auf die Idee gekommen, ein Segelboot zu betreten. Den Segelurlaub als Gewinn hatte ich völlig überlesen, mich hatte damals eine Reise nach Athen gereizt, die es ebenfalls zu gewinnen gab.

Andreas bleibt nicht über Nacht. Ich bin nur kurz eingeschlafen, als ich spüre, wie er aus dem Bett schlüpft.

Während er im Bad verschwindet, schleiche ich hastig zu meinen Schmuckkästchen, das auf der Fensterbank steht. Dort liegt neben dem ausrangierten Ehering sauber eingerollt das rote Seidenband. Das schiebe ich, als ich die Wasserspülung rauschen höre, schnell in die Innentasche von Andreas’ Lederjacke, gleich neben das Portemonnaie. Ein bisschen albern komme ich mir dabei vor, aber ich kann nicht anders – ich murmele wie eine Gebetsformel die Worte: »Damit gebe ich dich frei.« Und ich wundere mich, dass mir dabei nicht das Herz bricht.

Andreas kommt zurück. Er sammelt seine Kleidungsstücke ein, setzt die Brille auf und wirft mir einen überraschten Blick zu. Der Schein der Korridorlampe erhellt nur den Türrahmen. Ich blinzele in die Helligkeit. »Habe ich dich geweckt?«

Jetzt ist mir meine Nacktheit unangenehm. Ich schüttele den Kopf und schlüpfe wieder unter die Decke.

Andreas schaut sich um. »Gibt’s hier irgendwo Licht?«

Ich drücke schnell auf den Schalter der kleinen Tischlampe, die ich neben das Bett auf den Boden gestellt habe, da ich noch keinen Nachttisch besitze. Dabei wäre mir am liebsten, der Raum würde weiterhin im gnädigen Halbdunkel bleiben.

»Jetzt muss ich mich beeilen. Ich arbeite doch morgen früh«, murmelt Andreas mit gerunzelter Stirn. Die Zärtlichkeit, die Sanftheit, alles ist verschwunden. Er wirkt gereizt und hektisch. Sein Blick streift durch den Raum. »Na, da hast du ja noch eine Menge Arbeit vor dir«, sagt er und schnürt seine Schuhe zu. »Hast du dir das gut überlegt? Mit Makramee und Topflappenhäkeln kommst du hier nicht weit.« Er zeigt auf die offenen Kabel, die von der Decke hängen.

Es ist nicht nett von ihm, darauf herumzuhacken, dass ich gern bastele, aber er hat dieses Hobby schon immer belächelt. Ich habe allerdings den Eindruck, dass er auch gar nicht nett sein will. Er will nur noch weg.

Während er aus der Küche seine Tasche holt, stehe ich mit nackten, kalten Füßen im Türrahmen und denke unglücklich darüber nach, was man wohl in einer solchen Situation sagen kann. »Hab ein gutes Leben« etwa? Oder »Mach es gut«? »Melde dich mal«? Oder »Es war eine schöne Nacht. Ich werde dich nicht vergessen«? Vielleicht sogar: »Geh nicht. Unsere Scheidung war ein großer Fehler. Wir gehören doch zusammen«?

Andreas scheinen völlig andere Gefühle zu bewegen. Mein Ex-Mann bricht das Schweigen mit einer Bemerkung, nach der ich zum ersten Mal über unsere Scheidung froh bin. Er klopft noch einmal anerkennend auf die Waschmaschine, die er angeschlossen hat, bleibt nachdenklich einen Moment lang vor dem Gerät stehen, und sagt dann: »Weißt du, Franziska, es ist schon gut, dass wir keine Kinder haben. Du bist so …« – er sucht nach Worten – »du bist so unselbständig! Mit einem Kind wärst du doch dauernd überfordert gewesen.« Er macht eine bedauernde Kopfbewegung. »Du willst zu wenig.« Dann schüttelt er sich, als wolle er den gestrigen Tag, den jetzigen Moment, diesen Morgen mit mir abschütteln wie ein Hund die Regentropfen. Es sieht aus, als schüttele er gleich unser ganzes gemeinsames Leben, unsere Ehe und auch noch mich mit ab.

Er gibt sich einen Ruck, beugt sich kurz über mich, und wir verabschieden uns mit steifen Wangenküssen. Ich schaffe es nicht, ihm nachzusehen, wie er über den Hof geht, obwohl der erste Morgenschimmer den Himmel erhellt. Ich verkrieche mich wieder unter der Decke. Das Kopfkissen duftet nach seinem Rasierwasser. Aber meine Füße werden nicht mehr warm.

2. Kapitel

Wahrscheinlich wird es schlimmer als wir denken
weil es neu ist
und weil wir es nicht kennen
sie werden lügen
um uns zu trösten.

Bernd Begemann: »Wir sind fünfzehn«

Zwei Menschen haben sich über meine neue Lebenssituation gefreut: meine Freundin Tina und mein Vater Hermann. Das würden beide natürlich abstreiten, wenn ich sie direkt darauf anspräche. Aber ich weiß, dass es so ist.

Tina kenne ich seit der Schulzeit. Sie ist Physiotherapeutin mit eigener Praxis – und einem Flirt niemals abgeneigt. »Stell dir vor, was wir jetzt alles zusammen machen können!«, hatte sie geradezu gejubelt, als ich mit verheulten Augen von Andreas’ Trennungsplänen berichtete. »Tolle Wellness-Urlaube, Tanzkurse, Yoga, Feldenkrais, Kulturreisen!«

»Aber ich will mit Andreas zusammen sein«, schluchzte ich.

Tina winkte nur ab. »Mit dem machst du doch nix außer fernsehen und am Samstag den Wocheneinkauf.« Sie zeigte mir einen Vogel. »Und nach dem Krimi am Sonntag einmal in der Woche Sex?«

Ich wurde rot, denn tatsächlich hatte es sich eine Zeitlang so eingespielt, dass wir nach dem »Tatort« miteinander schliefen. Woher Tina das wohl wusste? Hatte Andreas ihr irgendwann davon erzählt? Ich spürte einen heißen Strahl Eifersucht in mir hochschießen und warf ihr einen scharfen Blick zu.

Tina aber lächelte unbefangen und winkte noch einmal beruhigend ab. »Keine Sorge, dein Ex hat kein Wort gesagt. Das ist gängige Praxis bei alten Ehepaaren. War bei mir und Bodo zuletzt auch so.«

 

Mein Vater freute sich erst recht, als ich ihm von der Scheidung erzählte. Schon nach der Trennung hatte er angefangen, sich wieder in mein Leben einzumischen. Und nach der Scheidung glaubt er wohl, sogar das Recht dazu zu haben. Endgültig und mit Amtssiegel. Er hat mich nach Mamas Tod allein großgezogen. Als Mama noch lebte, war er in seinem Job als Koch derart eingespannt, dass ich ihn kaum zu Gesicht bekam. Damals kochte er in einem Edelrestaurant am Elbufer.

»Koch zu sein«, sagte mein Vater immer, »bedeutet, Stress aushalten zu können!« Stundenlang am heißen Herd, Bestellungen von vierzig Gästen, ein schusseliger Kellner, der die Bestellungen durcheinanderbringt, ungeregelte Arbeitszeiten, Überstunden, Feiertagsschichten von dreizehn bis vierzehn Stunden … Papas Rekord lag bei dreißig Stunden am Stück, vom Silvestermorgen um zehn Uhr bis Neujahr um vier Uhr am Nachmittag, weil nach der Silvesterparty auch noch das Neujahrsbüfett angerichtet werden musste.

Mama litt unter einer Herzkrankheit. Ich habe mir als Kind immer vorgestellt, dass ihr Herz zu schwer wurde. Ich sah es vor mir – wie ein großes, atmendes Radieschen, das in ihrer Brust immer größer wurde und sie schließlich in die Tiefe zog. In ihr Grab, dachte ich damals. Sie war eine so kleine, zarte Person, dass ich sie schon mit zwölf Jahren um einen halben Kopf überragte.

Mama war alles, was ich nicht bin. Sie war zart, ich bin kräftig. Sie war sehr musikalisch, ich traute mich nur, im Schulchor zu singen. Sie wollte Malerin werden und wurde Zeichenlehrerin, ich bin Arzthelferin. Sie liebte Gedichte und zitierte ständig Verse. Ich lese zwar hin- und wieder einen Roman, aber nur noch selten Lyrik. Die schönsten Gedichte habe ich sowieso durch Mama im Kopf. Oder im Herzen. Und dann lese ich natürlich Bastelanleitungen in Zeitschriften oder den Fernsehteil in der Tageszeitung.

Ich habe keine einzige Pflanze in meiner Wohnung, Mama hatte einen grünen Daumen. Sie hat unseren Garten in der Bebelallee hingebungsvoll angelegt und gepflegt: Neben einem kleinen Apfelbaum und einem großen alten Birnbaum gab es Rhododendren, Pfingstrosen, Flieder, Forsythien und sogar eine Zaubernuss. Als feststand, dass sie nicht mehr aus dem Krankenhaus zurückkommen würde, holzte mein Vater in einer Nachtaktion alle Büsche im Garten ab. Nur den Birnbaum und das Apfelbäumchen rührte er nicht an. Ich wachte vom Geräusch der Motorsäge auf, lief zum Fenster und sah meinen Vater im Schein der Neonröhre, die über der Terrasse angebracht war, mit der Säge hantieren. Als sich ein Nachbar über den Lärm beschwerte, schrie mein Vater ihn so wild an, dass er sofort seinen Kopf einzog, die Fenster schloss und die Rollläden herunterließ. Danach wandte sich Papa der Zaubernuss zu, und ich schlich mit klopfendem Herzen zurück ins Bett.

Nach Mamas Tod zogen wir in eine Wohnung in Altona, in die Nähe der Elbe. Dort gab es keinen Garten, aber ich konnte den Anblick der abgeholzten Büsche nie vergessen. Papa hörte bei dem Nobelrestaurant auf – viel zu spät für Mama, dachte ich damals. Er wechselte in die Betriebskantine der Beiersdorf AG. »Bei Nivea«, wie Papa immer ein wenig abschätzig sagte, weil seine neue Arbeitsstätte natürlich nicht halb so glamourös war wie das Restaurant an der Elbe. Und er sagte es auch, weil er schon damals ein notorischer Nörgler war. Dabei arbeitete er gern in der modernen Kantine und suchte sich später eine Wohnung in Eimsbüttel, in der Nähe des Beiersdorf-Werks.

Seine ehemaligen Arbeitskollegen und Freunde, Rudi und Helmut, mit denen er ständig zusammen ist, wohnen auch in dem Viertel, und ich sehe die beiden fast genauso häufig wie Papa. Die Brüder sind wie er Mitte siebzig und sehen einander zum Verwechseln ähnlich: Beide haben kurze weiße Haare, einen kleinen Bauchansatz unter ihren buntgemusterten Freizeithemden und tragen goldgeränderte Brillen. Rudis – oder Helmuts? – Frau hat sich vor Jahren von Rudi – oder Helmut? – getrennt, während Helmut – oder Rudi? – ein ewiger Junggeselle ist. Papa mit seinen grauen Locken und den Rollkragenpullis sieht in Gesellschaft der beiden immer ein bisschen deplaziert aus, finde ich. Sie ziehen ihn manchmal als »feinen Pinkel« auf. Damit spielen sie auch auf Papas ehemalige Stellungen als Chefkoch in schicken Restaurants an. Aber es klingt mehr nach Hochachtung als nach Häme.

Dass ich mich wirklich scheiden lassen und sogar in seine Nähe ziehen würde, fand Papa also wunderbar – und ich frage mich inzwischen, ob es richtig war. Natürlich konnte er die Gelegenheit nicht auslassen, auf mir herumzuhacken. »Hat Andreas inzwischen eine andere?«, muffelte er in den Kragen seines dicken Rollkragenpullovers, den er am liebsten auch im Hochsommer tragen würde. Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und lehnte mich an die Wand seiner Küche. Sie ist stets aufgeräumt, es gibt keine Flecken, keine Krümel, keine Glasränder, sondern nur aseptische Sauberkeit. Ist wohl eine Berufskrankheit – und die Erklärung dafür, dass in meiner Küche das Chaos herrscht. Denn mit jeder vergessenen Kartoffelschale, jedem nicht abgewaschenen Hackbrettchen, jedem Soßentropfen feiere ich den Ungehorsam gegen meinen perfekten Vater.

»Du mochtest Andreas doch sowieso nicht«, schnappte ich zurück.

Mein Vater ließ sein Kinn wieder im Pulloverkragen verschwinden. Wie eine Galapagosschildkröte sah er aus. Wie eine schlecht gelaunte, missmutige, bösartige Galapagosschildkröte. Er murmelte: »Stimmt. Angeber.«

Aber er besichtigte, gemeinsam mit »den Unvermeidlichen«, wie ich Rudi und Helmut nenne, umgehend das Häuschen und suchte eine Wand aus, durch die er vom Hof ein Loch für eine Rollstuhlrampe brechen will. »Man muss vorsorgen, Kind! Wenn ich später zu dir ziehe … und nicht mehr laufen kann.«

Papa und ich im selben Stadtteil – das macht mich nervös. Denn er ist wie gesagt ein klassischer Miesepeter. An allem hat er etwas rumzumeckern. Am Wetter, den Fahrscheinpreisen für den Nahverkehr, der Politik im Allgemeinen und der Rentenpolitik im Besonderen, am Fernsehprogramm, an tätowierten Menschen in Supermärkten genauso wie an Hunden in öffentlichen Grünanlagen. Am liebsten besäße er wohl auf dem Rathausmarkt einen Schreibtisch mit der Aufschrift: »Hier meckert für Sie …« Dann würde er Klagen aus der Bevölkerung annehmen und erst recht so richtig losgranteln. Manchmal stelle ich mir vor, dass er in seiner freien Zeit vorzugsweise bei diversen Beschwerdenummern anruft, aber das stimmt natürlich nicht. Im Gegenteil: Er ist Teilnehmer des täglichen Seniorenmittagstischs der Kirchengemeinde, kocht dort zweimal in der Woche mit einer Truppe rüstiger Senioren, besucht mit Helmut und Rudi den Schachclub in der Bücherhalle, und manchmal sitzt er in dem dickohrigen Lehnsessel, den ich bereits aus meinen Kindertagen kenne, und blättert in den alten Gedichtbänden meiner Mutter.

Als ich in die Wiesenstraße gezogen bin, habe ich in meinen Umzugkisten den Bilderrahmen wiedergefunden, den er mir zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt hat. Darin steckt ein Blatt Papier, auf das er mit seiner schönsten Handschrift das Lieblingsgedicht meiner Mutter geschrieben hatte: »Der Herbst« von Georg Heym. Mama liebte Lyrik, und immer wenn es Herbst wurde, zitierte sie Heym. Das Gedicht beginnt mit den Worten »Viele Drachen stehen in dem Winde,/Tanzend in der weiten Lüfte Reich./Kinder stehn im Feld in dünnen Kleidern,/Sommersprossig und mit Stirnen bleich …« Wenn Mama diese Worte sprach, wurde mir als Kind sehr feierlich und friedlich zumute. Es klang wie ein Märchen, und ich sah die vielen bunten Drachen an einem blauen Herbsthimmel tanzen. Natürlich verstand ich nicht alles, aber Mama erklärte mir, was hinter den Worten stand.

»Warum haben die Kinder bleiche Stirnen?«, fragte ich. Mama strich meinen Pony beiseite. »Sieh mal, die Kinder waren im Sommer alle draußen und sind braun gebrannt. Der Herbstwind schiebt ihnen die Haare aus der Stirn, so wie ich es jetzt bei dir mache. Und dann sieht man, dass ihre Stirnen viel heller sind. Das ist ein Bild für den Herbst.« Meine Lieblingsstelle kam in der zweiten Strophe. Da heißt es: »In dem Meer der goldnen Stoppeln segeln/Kleine Schiffe, weiß und leicht erbaut.«

Was mit den kleinen Schiffen gemeint ist, habe ich nie gefragt. Das war mir immer klar. Zu einem Meer gehören doch Schiffe! Ob sie für die verdorrten Blütenstände von Disteln oder Löwenzahn stehen? Das ist mir erst viel später eingefallen. Als Kind sah ich kleine weiße Segelboote über ein goldenes Meer gleiten. Mehr noch, ich fühlte sie, ich war selbst eines dieser kleinen Schiffe, das verträumt und stolz über glänzende Wellen glitt. Sicher aufgehoben, geborgen.

Ausgerechnet dieses Gedicht las mein Vater bei Mamas Beerdigung vor. Ich erinnere mich, dass ich ihn dafür genauso gehasst habe wie für die Verwüstung des Gartens. Die Worte, die ich mit der Stimme meiner Mutter im Ohr hatte, klangen aus seinem Mund ungewohnt und unpassend. »In dem Meer der goldnen Stoppeln segeln/Kleine Schiffe, weiß und leicht erbaut; Und in Träumen seiner lichten Weite/Sinkt der Himmel wolkenüberblaut.« Papa stolperte über die Verse wie jemand, der barfuß über spitze Steine geht, und ich ertrank an diesem schrecklichen Tag in Trauer, Scham und Wut.

An jenem achtzehnten Geburtstag verstaute ich den Rahmen kommentarlos in einer Wäscheschublade. Auch in der Wohnung in der Wiesenstraße liegt er zwischen meinen Unterhemden im Kleiderschrank. Manchmal berühre ich ihn, wenn ich Wäsche aus dem Schrank nehme. Aber ich denke dann nie an meinen Vater. Ich kenne das Gedicht Wort für Wort – und zwar nicht aus-wendig, sondern viel tiefer. Inwendig. Unvergesslich. Dazu muss ich keinen Rahmen aufstellen.

Das Schlafzimmer habe ich zuerst gestrichen, denn ich wollte auf einmal so schnell wie möglich aus der alten Wohnung raus und in mein neues Leben hinein. Andreas hatte schon bei seinem Auszug etliche Möbel mitgenommen, und ich trennte mich jetzt von weiteren. Außer einigen kleinen Teilen musste allerdings der alte Nussbaum-Schlafzimmerschrank meiner Großeltern mit in mein neues Haus. Und natürlich habe ich auch alle meine Bastelutensilien aus der Kammer mitgenommen. Sie stehen jetzt in dem Raum neben dem Wohnzimmer, und ich denke darüber nach, ihn zum reinen Bastelzimmer zu machen.

Dass ich das Häuschen so günstig und schnell bekommen habe, lag an der Tatsache, dass ich dem Vermieter versicherte, es mache mir nichts aus, vieles selbst zu renovieren.

»Meine Hochachtung, gnädige Frau«, sagte er etwas schnöselig und deutete eine Verbeugung an. Ich kenne diese Sorte Männer aus der Praxis: stets im Anzug, enorm smart, aber häufig mit sehr unreiner Haut auf dem Rücken.

»Eine Frau von Ihrem Format begrüße ich gern als Neuzugang in unserer Hausgemeinschaft«, fügte er hinzu. Was mir Tina hinterher mit »solvent, alleinstehend, keine lauten Partys, keine Hunde und keine Kinder« übersetzte.

Dass ich mir das Häuschen überhaupt leisten kann, verdanke ich Tante Susanne, Papas Schwester. Die ist nämlich kurz nachdem Andreas und ich uns getrennt hatten gestorben. Sie lebte in einer Eigentumswohnung in Hannover, die sie uns hinterließ. Papa vermietet sie, und ich bekomme davon monatlich genug, um mir die Miete in der Wiesenstraße leisten zu können. Den Rest spart Papa, für den Fall, dass er bettlägerig wird oder medizinische Hilfe braucht. Es geht mir also gut. Manchmal habe ich deswegen ein schlechtes Gewissen. Deutschland ist immer noch ein Land der Erben, Krise hin oder her. Ich gehöre zu diesen Erben. Und könnte ohne Erbschaft nicht so leben, wie ich es tue.

Natürlich ist das Häuschen ein wenig zu groß für eine einzige Person. Aber ich fühle mich dort jetzt schon wohler als jemals in unserer alten Wohnung. Als ich am ersten Morgen im neuen Haus in meiner Küche stand und mir den ersten Kaffee machte, erfasste mich keinesfalls wie erwartet das heulende Elend. Im Gegenteil: Ich spürte, wie mich ein warmer Strom Aufregung und Vorfreude durchflutete. Ich blickte mich in meiner Küche um, sah auf das verwilderte Grün vor dem Küchenfenster und fing an, mich in meiner neuen Welt einzurichten. Die Küche ist zu großen Teilen Papas Werk, und diesmal habe ich ihn ausnahmsweise schalten und walten lassen. Seine Hilfe bei der Küche abzulehnen wäre ungefähr so gewesen, als würde man sich beim Durchchecken eines Autos gegen die Hilfe eines Automechanikers wehren. Papa hat dankenswerterweise keine chromglänzende Schulküche eingerichtet, sondern eine gemütliche Kochinsel geschaffen, mit Hängeschränken, einem modernen Herd und einer beeindruckenden Kühlschrank-Gefriertruhe-Kombination, die mich an den Eisberg erinnert, der die Titanic zum Untergang brachte. Auf der breiten Fensterbank ist Platz für Kräutertöpfe, es hängen Körbe für Zwiebeln und Knoblauch von der Decke der Speisekammer, und gegen einen großen, ovalen Holztisch vom Flohmarkt hatte er ebenso wenig wie gegen die Anschaffung eines gemütlichen Küchensofas. Im Untergeschoss gibt es außer der Küche noch eine Gästetoilette, einen kleinen Flur mit Windfang, das geplante Bastelzimmer und ein Wohnzimmer mit Kamin. Oben befinden sich neben dem Badezimmer mit der zweiten Toilette noch drei Zimmer. Eines davon ist mein Schlafzimmer, aus einem will ich ein Gästezimmer machen und aus dem dritten – keine Ahnung. Herrlich, wie viel Platz ich jetzt habe. Und wie viele Möglichkeiten! Aber das hat noch Zeit. Zunächst müssen die oberen Räume gestrichen werden.

Genau das tue ich zwei Tage nach der Scheidung im Anschluss an die Arbeit, während auf Klassikradio leise Filmmusik dudelt. Tina, die mir helfen will, öffnet erst einmal die mitgebrachte Flasche Sekt. Nach dem charakteristischen Korkenknallen höre ich wenig später ihre Schritte auf der Treppe. Während sie ein Tablett mit Flasche und Gläsern auf dem Boden abstellt, wirft sie ihre langen dunklen Haare mit Schwung nach hinten.

Vereinzelt sind bei ihr schon graue Strähnen zu sehen, aber Tina hat sich geschworen, die Haare niemals abzuschneiden. »So eine Kurzhaarfrisur für Frauen ab vierzig, das kommt bei mir nicht in die Tüte«, versichert sie mir in regelmäßigen Abständen. »Wieso wollen Frauen in diesem Alter eigentlich einen praktischen Haarschnitt? Die Kinder sind in der Pubertät, der Kerl beim Fußball, da hat man doch endlich mal Zeit für die Haare!«

»Alles Gute zur Scheidung, Süße!«, ruft sie jetzt. Sie drückt mir ein Glas in die Hand, und wir stoßen an. »Auf die Freiheit!«, sagt Tina.

»Auf die Freiheit!«

Während wir streichen und dabei munter die Sektflasche leeren, malt sich Tina unsere gemeinsame Zukunft aus. »Glaub ja nicht, dass du für alle Zeit ohne Männer durchs Leben gehen musst«, tröstet sie mich. »Wenn du aus dem Nestbau-Kinderwagenkauf-Schwiegerelterntreffen-Alter raus bist, lernst du Männer viel einfacher kennen. Die sind total erleichtert, dass du sie nicht gleich für das gemeinsame Elternjahr verhaften willst.« Unter ihrem Zeitungshut mit den gelben Farbspritzern blinzelt sie mich unternehmungslustig an.

»Und was, wenn ich gar nicht darauf erpicht bin, irgendwelche Männer kennenzulernen?«, wage ich einzuwenden.

Tina ist empört. »Süße, du bist vierundvierzig, nicht vierundachtzig. Du willst doch jetzt nicht etwa enthaltsam leben und zur alten Jungfer verkommen?« Sie stemmt ihre Hände in die Hüften. »Jetzt geht es doch erst richtig los! Keine Angst, schwanger zu werden, kein Druck von außen, endlich unter die Haube zu kommen. Das haben wir doch alles hinter uns.«

»Und was kommt jetzt?«

Tina hebt erneut ihr Sektglas. »Na, Vergnügen! Sieh mal, wir leben in einer Zeit, in der alles möglich ist. Wir sind noch voll in Saft und Kraft, haben beide einen Job, verdienen Geld und können es uns gutgehen lassen – ohne einem Kerl die Socken zu sortieren, die Hemden zu bügeln und das Klo zu putzen. Bevor die Krise bei uns ankommt, möchte ich noch ein wenig leben.«

Ich lasse den Farbpinsel sinken.

»Du hörst dich an wie eine Frauenrechtlerin aus dem vorigen Jahrhundert. Seine Socken hat Andreas allein sortiert, das Klo haben wir abwechselnd geputzt, und seine Hemden waren bügelfrei.«

»Und trotzdem kommen die wenigsten Männer von allein darauf, im Haushalt mit anzupacken.«

Tina hat die klassische Doppelbelastung – Arbeit und Haushalt – in ihren Ehen natürlich stärker gespürt als ich. Schließlich besitze ich keine eigene Praxis, sondern habe bei meinem Internisten recht geregelte Arbeitszeiten und, trotz mancher Stresstage in Stoßzeiten, einen eher ruhigen Job. Ich trage nicht wie Tina die Verantwortung für den ganzen Laden. Ich bekomme regelmäßig mein Gehalt, während sie dafür sorgen muss, dass es nicht nur ihr, sondern auch ihren zwei Angestellten gutgeht.

Dennoch finde ich, dass sie sich mit ihrem Nörgelton fast schon wie mein Vater anhört. »Aber die meisten Männer tun was im Haushalt, wenn man sie bittet«, widerspreche ich. »Wir müssen jetzt alles allein machen.«

Tina zuckt mit den Achseln. »Ja, aber nur unseren Kram. Das macht mir nichts aus. Aber ich fand es immer blöd, wie meine Gatten letztlich davon ausgingen, dass ich die Verwalterin der Putzmittel und Waschmaschinenprogramme war.«

Ich schweige, denn mir hat das alles viel weniger ausgemacht als Tina. Andreas arbeitete als Anästhesist in der Universitätsklinik Eppendorf, und ich hatte mit seiner Arbeitskleidung nichts zu tun. Die Reinigung übernahm die Klinik. Privat trug er meistens Jeans, T-Shirts und Polohemden. Die modernen Sportklamotten – Andreas ist passionierter Läufer und Radfahrer – kommen fast trocken aus der Maschine und machen wenig Arbeit. Nur: Weil ich besser koche – das habe ich von Papa nebenbei gelernt –, war ich meistens für die Mahlzeiten zuständig. Das war jedoch gleichzeitig auch Eigennutz.

Andreas liebt Knoblauch und würde ihn wahrscheinlich auch ins Apfelmus reiben, wenn man ihn ließe. Außerdem schwärmt er für alles, was ungesund ist: zu fett, zu salzig, zu süß, zu dunkel gebraten. Obwohl er Arzt ist und es besser wissen müsste. Bei mir hat er zähneknirschend sogar Tofu gegessen – am liebsten natürlich scharf angebraten und mit viel frischem Knoblauch.

Tina entgegne ich: »Eigentlich habe ich gern für Andreas gekocht und abends mit ihm gegessen. Für mich allein zu kochen, finde ich viel schwieriger.«

Sie lacht. »Dann ist es für dich umso einfacher, eine Neubesetzung für dein unbemanntes Raumschiff zu finden.« Sie breitet die Arme aus, packt mich und wirbelt mich durch den Raum. »Du bist ungebunden, ohne lästigen Kinderanhang, siehst gut aus und kannst kochen. Die Männer werden dir die Tür deines Häuschens einrennen!«

»Dazu muss die Tür aber erst einmal gestrichen werden!«, japse ich, befreie ich mich aus ihrem Griff und gieße den letzten Sekt ein. »Also, Prost!«

 

Schon einen Monat später meldet Tina uns für einen Kochkurs an.

»Aber ich kann doch kochen!«, jammere ich entgeistert, als sie nach der Arbeit mit der Nachricht bei mir vorbeikommt. »Wieso kochen? Warum nicht wenigstens ein Gospel-Workshop?«

Jetzt ist es an Tina, mich entgeistert anzustarren. »Gospel-Workshop? Seit wann singst du denn?«

Ich zucke nur mit den Achseln. Dass ich vor einigen Tagen im Bioladen einen Zettel mit der Ankündigung »Gospelchor sucht neue SängerInnen« abgerissen habe, verschweige ich ihr lieber und lenke ab. »Soll ich den Kamin anheizen? Es ist ja immer noch recht kühl.«

Unser Gespräch findet auf meinem neuen Sofa statt, das ich auf einem meiner Wochenendbeutezügen durch Einrichtungshäuser und Wohnmärkte entdeckt habe. Es ist mit rotem Samt bezogen und sehr gemütlich. Als das Feuer brennt, schließe ich die Glastür vor dem Kamin und setze mich im Schneidersitz auf den Teppich.

Tina lehnt sich zufrieden zurück. »Eine neue Wohnung ist wie eine neue Liebe, nicht wahr?«

»Ach, weißt du, die alte Liebe wäre mir eigentlich genug gewesen«, seufze ich.

Tina schürzt missbilligend die Lippen. »Nun begreif das doch endlich als Chance! Andreas ist weg und kommt so schnell nicht wieder.«

»Du hast ihn doch auch gemocht.«

Tina nickt. »Ja, und zwar sehr. Aber ich finde, dass er dich … nun ja …« Sie verstummt.

Ich starre sie an. »Er hat mich was?«

Tina zieht unbehaglich die Schultern hoch. »Na, ich fand schon, dass er dich manchmal ein bisschen bevormundet hat.«

Das ist mir neu. »Wie meinst du das?«

»Er hat dir überhaupt nichts zugetraut – außer vielleicht, sein Lieblingsessen zu kochen.«

»Das stimmt doch gar nicht!« Meine Stimme klingt schärfer, als ich will.

Aber Tina lässt sich davon nicht beeindrucken. Sie kontert ebenso laut: »Doch, Franzi, das stimmt.« Dann zählt sie auf: »Er ist ständig auf Achse gewesen – Lauftreff, Marathongruppe, Segeln, Radtouren. Und wenn er nach Hause kam, hat er sich an den gedeckten Tisch gesetzt.«

Da hat sie recht. Andererseits hatte ich doch nichts Besseres vor. Ich habe das gern getan. Und ohne, dass Andreas das von mir verlangt hätte. Wir haben das nie besprochen. Ich habe es einfach gemacht – und war stolz darauf, dass er mein Essen mochte.

Tina fährt ungerührt fort: »Nicht einmal ein Bild durftest du selbst aufhängen. Er hat dir doch ständig das Werkzeug aus der Hand genommen. Und dann hat er dir dauernd alles erklärt: wie man Kochwäsche behandelt, Espresso kocht, am sinnvollsten staubsaugt! Nein, nein, Andreas hat in dir das hilflose Weibchen gesehen, das am liebsten Patchworkdecken näht und Konfitüre einmacht.«

Ich muss lachen. Dass er mir ständig etwas erklärte, was ich schon längst täglich benutzte (Waschmaschine, Tiefkühltruhe, das neue Dampfbügeleisen, den Staubsauger, die Kaffeemaschine), war sogar zwischen Andreas und mir ein häufig zitierter Witz gewesen. Aber ein Fünkchen Wahrheit steckt natürlich in dem, was Tina sagt: Andreas war immer mein Beschützer – er gab in unserer Beziehung den Ton an. Vielleicht hat ihn das am Ende gelangweilt?

Tina scheint meine Gedanken zu lesen. »Jetzt fang aber bitte nicht an, darüber nachzugrübeln, ob das alles deine Schuld war. War es nicht. Jedenfalls nicht ausschließlich. ›Was zwei Menschen verbindet, kann kein dritter beurteilen‹, heißt es. Wahrscheinlich gilt das genauso für das, was Menschen irgendwann trennt. Da wird plötzlich aus einer Mücke ein Elefant – und die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Eigentlich ist es doch ein völlig normaler Vorgang. Man liebt sich, man entliebt sich, man verliebt sich aufs Neue. Keine große Sache. Passiert dauernd und täglich.« Für mich stimmt das so nicht. Für mich ist das eine große Sache. Ich habe mich nie richtig entliebt. Ich liebe Andreas immer noch. Seine Marotten? Ich habe mindestens ebenso viele! Mich neu zu verlieben – das erlebe ich wahrscheinlich auch nicht. Jedenfalls nicht täglich.

Laut sage ich: »Aber dass etwas dauernd und täglich passiert, macht es doch nicht weniger schmerzhaft.«

Tina streicht mir verständnisvoll über den Arm. »Ich weiß, Süße.« Dann klatscht sie in die Hände. »Jetzt wird aber nicht mehr Trübsal geblasen.« Sie zieht aus der Umhängetasche ihr kleines Laptop und öffnet es auf ihren Knien. »Komme ich hier eigentlich ins Netz?«

»Ja, ich darf die Wireless-LAN-Verbindung der Hebammenpraxis aus dem Vorderhaus benutzen.«

Tina zieht die Augenbrauen hoch. »Hebammenpraxis?«

»Das sind zwei wirklich nette Frauen um die dreißig. Wir haben uns vor kurzem kennengelernt und waren uns sehr sympathisch.«

Tina nickt. »Du lässt dich aber von denen nicht anstecken, oder?«

Ich runzele die Stirn. »Womit denn? Ich werde bestimmt keine Hebamme, und Babys sind kein Thema mehr.«

Tina nickt ungeduldig. »Glücklicherweise. Wie heißt das Passwort?«

»Bambino.«

Tina loggt sich auf einer Website ein, und plötzlich ist der Raum von Geschirrgeklapper und Stimmengewirr erfüllt.

Interessiert beuge ich mich vor. »Was ist das?«

»Die Website vom Restaurant »Nil« am Neuen Pferdemarkt«, erklärt Tina und klickt auf ein Icon. »Hier kommen die Kochkurse.«

»Ich sag’s noch einmal: Ich kann kochen!«

Tina wirft mir einen vernichtenden Blick zu. »Aber nicht so: ›Warmer Bauernziegenkäse mit braisiertem Chicorée und Tomatenconfit, Provençalische Fischsuppe mit Rouille, Ente à l’orange mit Oliven und Rosmarin. Gâteau au chocolat.‹« Sie sieht mich triumphierend an. »Oder?«

»Gâteau au chocolat!«, meckere ich. »Das ist nichts weiter als ein Schokoladenkuchen!«

»Hört sich aber besser an«, kontert Tina. »Das Kochen ist doch nur Nebensache.«

»Und was ist die Hauptsache?«

Mit einer großen Geste wirft Tina die Arme in die Luft. »Das Essen hinterher! Der Spaß vorher! Und die Männer, die man da kennenlernen kann.«