Kai-Eric Fitzner

Krumme Dinger

Kriminalroman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Kai-Eric Fitzner

Kai-Eric Fitzner kam 1970 in Bremen zur Welt. Sein Frühwerk, die Geschichte vom geschenkgierigen Hasen, verfasste er im Alter von sieben Jahren und sorgte damit auf Omas Geburtstagsfeier für Furore. Auf die Schulzeit folgte ein geisteswissenschaftliches Studium, das Anfang des neuen Jahrtausends konsequenterweise in einer IT-Karriere mündete. Heute lebt er mit seiner Familie in Oldenburg. Krumme Dinger ist nach Willkommen im Meer sein zweiter Roman.

Impressum

© 2017 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© 2017 Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.

www.ava-international.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Regina Carstensen

Covergestaltung: semper smile, München

Coverabbildung: plainpicture/Elektrons 08

ISBN 978-3-426-43916-6

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Dies ist ein fiktives Werk. Ereignisse, Orte, Namen und Charaktere werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Hannes – Du fehlst mir.

So long, and thanks for all the fish.

Hauke

1

Donnerstag, 21.04.

Herr Turrturr stand auf Haukes Brust, seine Nase nur Millimeter von Haukes entfernt, und atmete ihm geräuschlos ins Gesicht.

Der Tag beginnt nicht gut, dachte Hauke, als er aus müden Augen auf den Wecker schielte und dort die vierfache Null blinken sah. Seit die eifrigen Bauarbeiter die Straße aufgestemmt hatten, fiel der Strom zwei- bis dreimal die Woche aus. Meistens gab es dazu einen Hinweis im Briefkasten, den die Elektriker leider erst morgens dort hineinwarfen, bevor sie sich ihrem Tagwerk widmeten. Das geschah um sechs, wie Hauke wusste, denn er war den Arbeitern einmal begegnet, als er um diese Zeit heimgekehrt war. Danach hatte er sich der Betriebsanleitung seines Radioweckers gewidmet und herausgefunden, dass dieser für solche Fälle mit einem Batteriefach für die Notstromversorgung ausgestattet war. Sofort hatte er es bestückt. Dreimal hatte er seitdem eine Stromversorgungsunterbrechungsmitteilung in seinem Briefkasten gefunden, also war er davon ausgegangen, dass die Notstromversorgung ihren Dienst tat.

Alles in allem ziemlich enttäuschend für eine Blockbatterie, fand Hauke. Er hob Herrn Turrturr hoch und stellte ihn neben sich aufs Bett. Dann stand er ruckartig auf, bevor er wieder einschlafen konnte. Wie spät es wohl sein mochte?

Er schlurfte in die Küche, um Kaffee zu kochen. Neun Uhr dreißig zeigte die Küchenuhr. Hauke brauchte einen Augenblick, um diese Information zu verarbeiten. Dann aber rannte er ins Bad und riss sich die Kleider vom Leib. Bevor er sich laut stöhnend unter die eiskalte Dusche stellte, warf er noch einen kurzen Blick in den Spiegel: Die dunklen Haare standen strubbelig von seinem Kopf ab, schlank war er mit seinen Mitte dreißig immer noch, leider nicht sehr groß, Freunde hatten ihn mal mit John Cusack verglichen. Er hatte erst gar nicht gewusst, wer das war, aber dann hatte er im Netz nachgeschaut und sich mit dem amerikanischen Schauspieler, der gern Antihelden spielte, schon identifizieren können.

Brrr. Kalt musste das Wasser sein, denn normalerweise liebte er es, allmählich aufzuwachen, doch nun hatte er eine geschlagene Stunde verschlafen. Irgendwie musste er das aufholen.

Seine Haut brannte noch immer von der Vereisung, als er sich in großer Hektik ankleidete. Natürlich gab es kein gebügeltes Hemd und natürlich auch keine Zeit, diesen Umstand zu ändern. Also schlüpfte er in einen nicht zu warmen Pullover, zog seine leichte Sommerjacke an, griff nach seiner Fototasche und dem Rucksack und verließ die Wohnung.

Sein Hausbäcker nebenan hatte keine Croissants und auch keine Plastikdeckel für die Kaffeebecher zum Mitnehmen mehr und sagte auf Haukes erstaunten Gesichtsausdruck: »Um diese Zeit?« Hauke entschied sich für einen Espresso, in der Hoffnung, diesen ohne Deckel während der Autofahrt trinken zu können.

Er balancierte den heißen Kaffee zu seinem Wagen und stellte den dampfenden Becher aufs Autodach, um seine Schlüssel zu suchen. Er schloss den Wagen auf, nachdem er sie nach endloser Suche in seinem Rucksack gefunden hatte, öffnete die Fahrertür und ließ dabei den Becher nicht aus den Augen.

Nur nicht vergessen, dachte er.

Hauke entgingen dabei die scheelen Blicke der herumlungernden Bauarbeiter nicht. Besonders der feiste Vorarbeiter ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass er Menschen, die später aus dem Haus gingen als er, zutiefst verachtete. Der Kapo war ein auffallend unsympathischer Zeitgenosse mit einem viel zu dicken Bauch, einer viel zu großen Goldrandbrille und einem viel zu auffälligen Toupet. Hauke hatte den Fettwanst noch nie irgendwas arbeiten gesehen. Er stand immer nur den ganzen Tag auf eine Spitzhacke gelehnt herum und grunzte seine Untertanen an.

»Moin«, rief Hauke ihm zu.

Der Fettwanst nickte ihm mit leicht geöffnetem Mund zu, wobei seine Brille ihm ein wenig weiter die Nase hinabrutschte. Dann brüllte er einen der Arbeiter an, der in seiner unmittelbaren Nähe stand, woraufhin dieser anfing, seinen Spaten in den Boden zu rammen.

Hauke lehnte sich ins Auto hinein und verstaute Kameratasche und Rucksack im Beifahrerfußraum, wobei sich der Tragegurt seiner Tasche an der Handbremse verhedderte. Als er ihn schließlich befreit hatte, nahm er selbst Platz, schloss die Tür, setzte rückwärts auf die Straße und beobachtete den Espresso, als dieser die Windschutzscheibe hinablief.

***

Von seinem ersten Termin verpasste Hauke mehr als die Hälfte. Er kam erst wieder zu sich, als in voller Lautstärke Musik vom Band einsetzte.

Bitte nicht schon wieder »Star Wars«, dachte er und wischte sich das feuchte Rinnsal aus seinem linken Mundwinkel. Schlafspeichel. Mit den Fanfarenstößen, die aus den Lautsprechern der Provinzveranstalter plärrten, ging wüstes Gestampfe des gesamten Auditoriums einher, während der gedrungene und haargelichtete Conférencier der Veranstaltung irgendwas ins Mikrofon sagte.

Hier geht nur Musik oder Sprechen, Idiot, dachte Hauke. Nicht beides.

Dann ging plötzlich der Suchscheinwerfer an, der wie die Musikanlage vom einzigen Haustechniker bedient wurde.

Gleich läuft er zurück und schaltet von Musik auf Mikro, um dann wieder zum Scheinwerfer zu hecheln, überlegte Hauke weiter, während er nach seinem Notizblock kramte.

Er fand den traurigen, versifften Zettelblock zu seinen Füßen in einer Sektlache. Offenbar war er ihm, während er schlief, vom Knie gerutscht und dem Inhalt des Glases, das die Dame neben ihm umsichtigerweise auf den Boden geparkt hatte, zum Opfer gefallen. Das Glas wiederum war ihrem Gestampfe zum Opfer gefallen, nun planschte seine Nachbarin in der Lache. Nichtsdestotrotz bemerkte sie sein Herumfingern zu ihren Füßen. Sie tadelte ihn mit einem strafenden Blick. Es war ihr anzumerken, wie zutiefst unsittlich sie sein Verhalten fand.

»Entschuldigung«, sagte Hauke und versuchte, den Block trocken zu schütteln. Da er außer Datum und Namen der Veranstaltung aber noch nichts aufgeschrieben hatte, gab er diese Tätigkeit sehr schnell wieder auf und ließ den Block unbemerkt wieder fallen.

»… end ze vinna iss …«, moderierte der Mann auf der Bühne nach einem ohrenbetäubenden Klatschen einfach weiter. Es dröhnte ein kurzer Fanfarenstoß, diesmal der von »20th Century Fox«, durch die Mehrzweckaula. Unterdessen stolperte ein rotwangiger, dickleibiger Mann auf die Bühne. Oben angekommen, grinste er verschämt ins Publikum. Gegenstand und Grund seiner Ehrung hatte der Moderator leider nur dem Mikrofon mitgeteilt, aber Haukes Interesse an diesen Details hielt sich ohnehin in Grenzen. Er machte seine Kamera bereit für den wichtigen und unvermeidlichen Schnappschuss.

Der Suchscheinwerfer hatte mittlerweile den Preisträger in der Bühnenmitte erfasst, wo der stark schwitzende Mann am Mikro vorbei nuschelte. Hauke machte einige Bilder, eine richtig schöne Serie, packte dann seine Sachen zusammen und verließ schleunigst den Saal.

 

Drei Termine später traf Hauke in der Redaktion ein. Seine Kollegen waren wohl noch unterwegs, denn niemand ließ sich blicken, so dass er erst einmal einen Kaffee aufsetzte. Außer dem Kaffeeduft, der sich in der Lüftung seines Wagens festgesetzt hatte, war ihm Koffein an diesem Tag verwehrt geblieben. Selbst der Sprecher der Industrie- und Handelskammer bei seinem letzten Termin hatte ihm keinen Kaffee angeboten und diese Nachlässigkeit auch noch zum Abschied kokett vom Tisch gefegt. »Ach herrje«, hatte er gesagt, »da habe ich Ihnen ja nicht mal einen Kaffee angeboten. Na, nächstes Mal dann.« Der absolute Gipfel der Unverfrorenheit, wie Hauke fand.

Mit einem Becher in der Hand ging er zu seinem Arbeitsplatz. Er schloss die Kamera an den Rechner an und rief seine E-Mails ab, während er einen Schluck nahm. Die erste Mail war vom Administrator wegen irgendeiner Umstellung am Sonntag. Hauke fragte sich, was er damit zu tun hatte. Die zweite Mail jedoch verhagelte ihm seine ohnehin dürftige Laune gewaltig. Es war eine Nachricht von seinem Kollegen Piet, der eigentlich für das Ressort Sport verantwortlich war, letztlich aber zuständig für sämtliche lokalen Belange.

»Hauke!« So begann die Mail.

Prima, dachte Hauke. Mit Ausrufezeichen.

»Bin krankgeschrieben bis Montag. Nebenhöhlen! Morgen um zehn ist Pressekonferenz im Rathaus wegen Berl.-Platz. Samstag zum Basketball. 20 Uhr. Piet.«

»Na spitze. Basketball, Pressekonferenz. Ist ja nicht so, als hätte ich nicht selbst genug zu tun.« Er hatte das Bedürfnis gehabt, alles laut auszusprechen, war ja sowieso keiner da.

Um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, machte er sich sogleich an die Arbeit, den ersten Termin des Tages in einen Artikel zu gießen. Der dafür vorgesehene Platz ließ allerdings kaum mehr zu als ein Foto und ein paar freundliche, dem Anlass angemessene Worte.

»Die Kuh ist vom Eis«, wählte Hauke als Überschrift und als Untertitel: »Ammerländer Rinderzüchter feiern den Frühling und sich selbst.« Der Rest war ein Selbstläufer, obwohl er den Großteil der Veranstaltung verschlafen hatte. Aber das war ja nicht das erste Mal.

***

Hauke fühlte sich immer noch eigenartig angespannt, als abends seine Wohnungstür hinter ihm ins Schloss fiel. Seit er Piets Mail gelesen hatte, war er pausenlos damit beschäftigt gewesen, seine Termine für die kommenden beiden Tage zu verinnerlichen. Morgen um neun hatte er ein Gespräch mit der neuen Leiterin des Stadtbüros für Touristik und Fremdenverkehr in Oldenburg und Umgebung, das sich sogar offiziell ToFOU nannte.

Ob die das wohl auch wie Tofu ausspricht?, fragte sich Hauke. Oder eher Französisch, mit der Betonung auf »Fou«?

Um zehn musste er bereits im Rathaus zur Pressekonferenz anlässlich der möglichen Errichtung eines Einkaufszentrums auf dem Berliner Platz sein, Piet sei Dank. Samstagmorgen stand die NPD-Demo auf der Agenda. Danach musste er in die Redaktion und die restlichen Artikel für die Sonntagsausgabe verfassen und sich gleichzeitig mental auf das Basketballspiel am Abend vorbereiten.

Hauke öffnete eine Flasche Wein und setzte sich in seinen Sessel neben der geöffneten Balkontür. Er legte die Füße hoch und blickte auf den kleinen Stapel Kopien auf seinem Schoß, die er zum Einkaufszentrum am Berliner Platz im Archiv zusammengeklaubt hatte. Der Tenor all dieser Artikel war typisch Piet: »Großinvestor von außerhalb möchte in Oldenburg Arbeitsplätze schaffen, doch die kleinkarierten Einzelhändler aus der Fußgängerzone laufen dagegen Sturm.« Aus der Berichterstattung seines Kollegen ging leider nicht hervor, weshalb er diese Ansicht vertrat, was Hauke ziemlich merkwürdig vorkam. Piet war ein Lokalpatriot par excellence und hätte normalerweise, ohne mit der Wimper zu zucken, Partei für die Oldenburger Kaufleute ergreifen müssen.

Ein Artikel fiel Hauke besonders ins Auge: »Eine verschärfte Konkurrenzsituation ist schon deshalb auszuschließen, weil die Norddeutsche Kommerz-Entwicklungsgesellschaft (NKE) dafür Sorge trägt, dass das Angebot im neuen Einkaufszentrum die Angebotspalette in der Oldenburger City ergänzen statt ersetzen wird.« Als Beleg dafür führte Piet den Pressesprecher der NKE an: »Unser Interesse an einem starken Standort verbietet engstirniges Konkurrenzdenken. Wir wollen den Standort Oldenburg gemeinsam mit dem ansässigen Einzelhandel stärken und sind überzeugt, dass es uns gelingen wird, die Interessengemeinschaft durch gezielte Kommunikation von dieser Win-win-Situation zu überzeugen.«

Was für ein Geschwafel, dachte Hauke. Als hätten die irgendein anderes Interesse, als Geld zu verdienen. Aber warum war Piet auf diesen Quatsch reingefallen?

Gerade als sich eine Antwort auf diese Frage in Haukes müdem Kopf manifestieren wollte, klingelte das Telefon. Ein kurzer Blick in Richtung des Apparats verriet Hauke, dass er wohl oder übel rangehen musste. Das Lämpchen des Anrufbeantworters signalisierte, dass dieser sich außerstande sah, weitere Nachrichten aufzunehmen. Hauke stellte das Weinglas ab und schlurfte extra langsam zum Telefon, von der Hoffnung beseelt, das Klingeln würde einfach aufhören, wenn er sich nur genügend Zeit ließ. Aber es tat sich nichts dergleichen, also griff Hauke nach dem Hörer.

»Nöhlert?«, meldete er sich.

»Na, das ist ja was«, antwortete eine verheulte Stimme am anderen Ende. »Dass du auch noch mal ans Telefon gehst.«

Die Mischung aus hysterischer Verzweiflung und Vorwurf verriet Hauke die Identität des Anrufers. »Conny? Alles in Ordnung?«

»Nichts ist in Ordnung«, schluchzte Conny. »Überhaupt nichts.«

»Was ist denn los?«, fragte Hauke so einfühlsam, wie er es eben vermochte.

»Du wirst Vater, das ist los«, erwiderte die Angesprochene überraschend scharf.

Hauke spürte, wie ihm ein zusätzlicher Liter Blut in den Kopf und insbesondere in die Ohren schoss.

»Äh, was soll ich denn jetzt dazu sagen?«

»Du könntest dich freuen.« Conny heulte jetzt herzzerreißend.

Nach dem ersten Schock fiel Hauke ein, dass er sie seit über fünf Wochen nicht gesehen hatte.

»Seit wann weißt du das denn?«

»Hörst du denn deine Nachrichten nie ab?«, giftete Conny.

»Ich bin gerade erst nach Hause gekommen. Also, seit wann?«

Weiter brauchte er nicht zu sprechen. Conny hatte aufgelegt.

Da werde ich wohl die Nachrichten abhören müssen, dachte Hauke und machte sich an die Arbeit.

Vierundzwanzig Mitteilungen später war sein Schockzustand einer inneren Gelassenheit gewichen. Offenbar hatte Conny an ebendiesem Tag damit gerechnet, ihre Regel zu bekommen, und da sie sich zu der Kategorie »Frauen, die immer ganz genau wissen, wann sie ihre Tage kriegen« zählte, war nach diesem ihrem Weltbild nur noch Platz für eine Schwangerschaft. Zu gern hätte er gewusst, ob sie vier Wochen zuvor schon ihre Periode bekommen hatte und ihr dieser Umstand lediglich entgangen war, denn eigentlich hätte sie ja zu dem Zeitpunkt längst Alarm schlagen müssen.

Vielleicht erfahre ich morgen mehr, dachte Hauke und setzte sich wieder in seinen Sessel. Herr Turrturr, seiner eigenen Meinung nach der wahre Herr im Hause Nöhlert, hatte sich inzwischen dazu herabgelassen, Haukes Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. Er ließ sich auf seinem Schoß nieder.

Lange blieben sie so allerdings nicht sitzen. Hauke konnte sich einfach nicht mehr auf die Artikel zum Einkaufszentrum konzentrieren, denn die Sache mit Conny ließ ihm keine Ruhe. Was hatte ihn nur dazu bewogen, überhaupt etwas mit ihr anzufangen? Klar, sie war blond, hübsch. Aber er wusste nicht mal, was sie beruflich tat oder ob sie sich für irgendetwas besonders interessierte. Er beschloss, sie doch noch mal zurückzurufen, und sprang hektisch auf. Herr Turrturr quittierte es mit einem empörten Maunzen.

Kaum hatte Hauke Connys Nummer gewählt, nahm sie auch schon ab.

»Hallo?«, wimmerte sie theatralisch ins Telefon.

»Ich bin’s«, sagte Hauke.

»Was willst du?«

»Ich habe deine Nachrichten jetzt abgehört und hätte da noch eine Frage.«

»Und?«

»Nun ja. Hast du … also, das letzte Mal, als du deine Tage gekriegt hast … wann war das?«

»Vor vier Wochen, du Idiot. Das ist immer so. Hat dir das nie jemand erklärt?«, antwortete Conny ziemlich herablassend.

»Ich meine ja nur … also, wie soll ich’s sagen? Wir haben … also, das letzte Mal, als wir … du weißt schon … das ist jetzt über fünf Wochen her.«

»Was willst du damit sagen?«

»Nichts … Ich meine ja nur.«

»Ach, so ist das. Die blöde Schlampe vögelt ja eh ständig herum! Wie will sie da wissen, ob das Kind von mir ist? Verdammtes Arschloch.«

Abrupt legte sie wieder auf. Hauke war sehr erleichtert. Er war zwar kein Freund davon, Frauen irgendwelche kollektiven Eigenschaften zuzuschreiben, aber eine Sache, die all seinen bisherigen Freundinnen gemein schien, war, dass ihnen kurz vor ihrer Periode jedwede Form logischen Denkens abhandenkam. Also war Conny nicht schwanger. Das fand er sehr beruhigend, und es ließ ihm ein paar Tage Zeit, sich eine Strategie zu überlegen, wie er den Kontakt zu ihr endgültig abbrechen konnte.

Sichtlich entspannt ging er zum Sessel zurück, hob Herrn Turrturr hoch, um ihn dann wieder auf seinen Schoß zu setzen, und nahm, nachdem er die übrigen Artikel überflogen hatte, einen großen Schluck Wein. Er schloss die Augen und lauschte der lauen Frühlingsnächten innewohnenden Stille.

2

Freitag, 22.04.

Die individuelle Erreichbarkeit der City spielt für viele Verbraucher eine erhebliche Rolle, Herr Nöhlert«, sagte Frau Weißhaupt. »Potenzielle Kunden, gerade von außerhalb, fühlen sich von den mangelnden Parkmöglichkeiten eher abgeschreckt.«

Die Leiterin des ToFOU trug einen tief sitzenden Pferdeschwanz, eindeutig schwarz gefärbt, was sie vermutlich jünger aussehen lassen sollte, als sie tatsächlich war. Ende vierzig? Der dezent hellbeige Hosenanzug unterstrich diesen Eindruck. Frau Weißhaupt saß leicht vornübergebeugt hinter ihrem Schreibtisch und spielte ohne Unterlass mit einem matt gebürsteten Metallkugelschreiber. Sie blickte Hauke immer ein wenig von unten an, wobei sie ihren Kopf nach links legte, wenn sie sprach, und nach rechts, wenn sie zuhörte.

»Tja, aber die Belegung des Parkrings und des Parkhauses am Waffenplatz deutet ja darauf hin, dass es noch Reserven gibt, Frau Weißhaupt. Wieso brauchen wir da ein neues Parkhaus?« Hauke nahm die Leiterin scharf ins Visier.

»Die NKE besteht auf einem eigenen Parkhaus für die Erschließung des Berliner Platzes. Ohne zusätzliche Parkplätze wäre die Mall nicht realisierbar.«

»Die Mall?«

»Ein Begriff aus dem Amerikanischen, Herr Nöhlert.«

»Ich weiß wohl, was eine Mall ist. Bislang war aber immer von einem Einkaufszentrum die Rede.«

»Wir sind der Überzeugung, dass der Begriff ›Einkaufszentrum‹ zu allgemein ist, um unser Vorhaben zielgenau zu pitchen. Bei einer Mall schwingen mehr Nuancen, mehr Feinheiten mit. Wir wollen die Mall als wesentlichen Bestandteil der Oldenburger Fußgängerzone positionieren.«

»Aha.«

»Wir sehen sie als Brückenkopf für alle Auswärtigen. Sie parken in der Mall, schlendern durch die Gänge, schauen in die Läden. Dann folgt ein Spaziergang durch die Fußgängerzone, sozusagen ein Ausflug in die Vergangenheit. Ein bisschen Bummeln hier, ein wenig Preise vergleichen da. Dann geht’s zurück durch die Mall zum Auto. Das ist ein Quantensprung in Sachen qualifiziertes Kaufverhalten.«

Frau Weißhaupt legte den Kopf wieder nach rechts, also musste Hauke jetzt etwas sagen.

»Da wird mir aber der Gewinn für die in der Fußgängerzone ansässigen Geschäftsleute nicht so ganz klar. So wie Sie das jetzt sagen, klingt das, als sollten die potenziellen Käufer sich in der Altstadt lediglich vergewissern können, dass die Sachen in der Mall billiger sind als in der Fußgängerzone, um dann auf dem Rückweg zum Wagen dort zuzuschlagen.«

Diesmal lehnte Frau Weißhaupt sich zurück und hielt ihren Kugelschreiber mit Daumen und Zeigefingern beider Hände vor die geschürzten Lippen.

»Da haben Sie wohl kürzlich mit Herrn Buhlmann gesprochen, oder? Alles, was ich Ihnen dazu sagen kann, ist, dass ich diese verkürzte Sicht der Dinge nicht teilen kann. Natürlich müssen wir vom Einzelhandel erwarten, dass er sich wettbewerbsfähig aufstellt. Oldenburg muss schließlich seine Stellung als Oberzentrum behaupten. Die Zeiten, wo wir uns auf Traditionen ausruhen konnten, sind vorbei, Herr Nöhlert.«

Hauke versuchte sich zu erinnern, woher er den Namen Buhlmann kannte. Da ihm nichts zu diesem einfiel, machte er sich eine mentale Notiz. Frau Weißhaupt lehnte sich erneut nach vorne und legte den Kopf nach links. Offenbar hatte sie ihren verlorenen Faden wiedergefunden.

»Schauen Sie. Unsere Aufgabe ist es, ein gut vermittelbares Profil von Oldenburg zu erstellen, damit wir zielgruppengerechtes Marketing betreiben können. Mit diesem Klein-Klein der Einzelhändler lassen sich keine neuen Käuferschichten erschließen.«

»Sehen Sie da kein Problem mit den bereits bestehenden Käuferschichten? Ich meine, es kaufen ja Leute in der Stadt ein. Denen scheint es ja zu gefallen. Wenn nun die Mall das Einzelhandelsgefüge durcheinanderbringt, wie können Sie da sicher sein, dass die jetzigen Käufer der Stadt nicht fernbleiben werden?«

»Da sehen wir natürlich noch Kommunikationsbedarf. Bislang liegt uns jedoch keine qualifizierte Profilierung der bestehenden Käuferschichten vor, so dass es derzeit schwierig ist, irgendeine Prognose zu wagen. Erste Untersuchungen deuten aber darauf hin, dass die Nutzer der Fußgängerzone viel zu heterogen sind, von einer einheitlichen Käuferschicht kann da gar keine Rede sein.«

Der Kopf lag rechts. Hauke wusste, was er Frau Weißhaupt schuldig war.

»Heißt das, dass Sie die bestehenden ›Nutzer‹ in Ihrer Planung gar nicht berücksichtigen, weil die sich nicht zu einer homogenen Gruppe zusammenfassen lassen?«

»Einspruch! So einfach machen wir es uns natürlich nicht. Aber Sie müssen zugeben, Herr Nöhlert, dass es extrem schwierig ist, das Einkaufserlebnis ›Oldenburg City‹ auf eine Zielgruppe abzustimmen, die sich nicht als Gruppe darstellen lässt.«

»Ja, aber die kaufen doch trotzdem, Gruppe oder nicht.«

»Natürlich.« Zur Abwechslung strich Frau Weißhaupt eine nicht vorhandene Strähne aus ihrem Gesicht. »Aber solange wir nicht wissen, warum sie das tun, können wir nicht neu avisieren.«

»Wenn sie es aber doch trotzdem tun und dieser Umstand allen Beteiligten viel Freude bereitet, warum dann die Mall?«

»Kennen Sie das chinesische Sprichwort: ›Kein Fortschritt bedeutet Rückschritt‹? Nochmals: Ohne eine qualifizierte Profilierung der bestehenden Nutzerschaft können wir diese bei unserer Neuausrichtung nicht berücksichtigen. Zudem konkurriert Oldenburg als Oberzentrum der Region mit anderen Oberzentren, die allesamt über vergleichbare Einkaufsangebote verfügen. Wie sollen wir uns da profilieren, wenn wir nur diesen verstreuten Einzelhandel vorzuweisen haben?«

»Verstehe ich Sie richtig? Profilierung durch Assimilation ist da die Strategie? Ein Profil ist doch eher genau das Gegenteil, oder?«

»Ich gebe ja gerne zu, dass wir uns da eine Menge Arbeit aufgeladen haben, aber ich sehe das als Herausforderung.«

»Ja, äh, dann vielen Dank für Ihre Zeit, Frau Weißhaupt«, sagte Hauke und packte sein Diktiergerät ein.

»Gerne, Herr Nöhlert. Wenn Sie dann noch Fragen haben, können Sie sich jederzeit an meine Assistentin wenden.«

Frau Weißhaupt erhob sich, strich über ihre Anzugjacke, als müsste sie einen lästigen Fussel loswerden. Anschließend schüttelte sie Hauke zum Abschied die Hand.

Vor dem ToFOU-Büro schrieb sich Hauke den Namen Buhlmann in sein Notizheft. Ihn interessierte sehr, warum Frau Weißhaupt der Meinung war, er hätte mit ihm geredet. Bemerkenswert war, dass der bloße Verdacht dieser Konstellation ihr Rechts-Links-Programm zum Absturz gebracht hatte. Gleichzeitig fühlte er sich durch dieses Interview auf die nun folgende Pressekonferenz zum gleichen Thema ausgezeichnet vorbereitet. Beschwingt ging er durch die Fußgängerzone in Richtung Rathaus.

 

Er war eine Viertelstunde zu früh. Ursprünglich hatte er etwas mehr Zeit für das Gespräch mit Frau Weißhaupt eingeplant, aber länger als eine halbe Stunde hatte er ihr Gerede nicht ertragen. So konnte er sich jedenfalls einen guten Platz suchen, nicht zu weit vorne, falls er einschlafen sollte.

Als die ersten Stadtverordneten eintrudelten, hielt eine fünfköpfige Gruppe direkt vor Hauke an. Der Anführer der Gruppe, ein Mann, der seine besten Jahre hinter sich hatte, aber davon keinesfalls etwas wissen wollte, musterte ihn eindringlich aus grauen Augen.

»Wer hat Sie denn da hingesetzt?«

»Oh, das war ich selbst«, sagte Hauke. »Ist das Ihr Platz?«

»Ihr Platz ist eine Drogerie«, sagte der Mann zu seinen Begleitern gewandt, die wie auf Kommando irrsinnig zu kichern begannen. »Aber Spaß beiseite«, fuhr der Sprachführer fort. »Eigentlich sind das hier die Plätze unserer Fraktion.«

Hauke wollte eben aufstehen, als sein Gegenüber beide Hände abwehrend vor sich hielt.

»Gemach, gemach! Ist ja keine Sitzung im eigentlichen Sinne. Da will ich mal nicht so sein. Aber denken Sie nächstes Mal bitte dran.«

Die fünf Spaßvögel entfernten sich und suchten sich eine andere Sitzgelegenheit. Hauke hörte noch, wie einer der Gefolgsleute »Ihr Platz ist eine Drogerie« wiederholte, als hätte er nie einen besseren Witz gehört. Kurz überlegte er, welcher Fraktion das Herren-Quintett wohl angehören mochte, aber da sich im Laufe der nächsten zehn Minuten niemand zu ihnen setzte, waren sie wohl nicht Teil einer, sondern die komplette Fraktion der Freien Liberalen.

Schließlich war der Saal zur Hälfte gefüllt, und ein drahtiger, für die Jahreszeit etwas zu dunkel gebräunter Mann im Maßanzug betrat das Podium und startete eine PowerPoint-Präsentation.

Die Pressekonferenz entpuppte sich sehr schnell als Werbeveranstaltung der Norddeutschen Kommerz-Entwicklungsgesellschaft, jener in Berlin ansässigen AG, die sich getreu ihres Namens ganz auf die Entwicklung des Handels in Norddeutschland spezialisiert hatte. Der schmächtig-drahtige PR-Manager der NKE, Bernd Meiners, hielt einen Vortrag, der immer wieder von vermeintlich kritischen Zwischenrufen diverser Stadtverordneter jeglicher Couleur unterbrochen wurde. Er sprach die ganze Zeit von Synergieeffekten und qualifizierten Nutzerprofilen, wobei er ständig beide Fäuste vor seiner Brust gegeneinanderschlug, um irgendwas zu verdeutlichen – was, war wahrscheinlich keinem der Anwesenden klar. Auf jeden Fall klirrten dabei immer die goldenen Armreifen, die er an beiden sonnengebräunten Handgelenken trug.

»Abschließend gebe ich zu bedenken«, sagte der Endfünfziger schließlich und fuhr sich mit der Hand durch das perfekt gegelte Haar, »dass wir uns mit einer Schwächung des Standorts Oldenburg City ins eigene Bein schießen würden. So, und jetzt haben wir noch eine Viertelstunde Zeit für Ihre Fragen.«

Während die ersten Hände in die Höhe schnellten, begann der junge und reichlich blass wirkende Assistent des PR-Experten Meiners, die Pressemappen auszuteilen. Es waren zwar kaum mehr als fünf Pressevertreter im Saal anwesend, und Hauke fragte sich, warum diese Veranstaltung überhaupt Pressekonferenz hieß, aber jeder der Abgeordneten bekam ebenfalls eine Mappe.

Zu Haukes Überraschung ergriff der Oberbürgermeister Andreas Mertens das Wort. Der junge Mann, seines Zeichens Ingenieur, der in Hamburg studiert hatte und erst für sein Amt des Oberbürgermeisters wieder in seine Heimat Oldenburg gezogen war, hatte sich von seinem Platz erhoben und beäugte den PR-Mann kritisch. Mertens war sehr groß und wollte mit seiner kerzengeraden, autoritären Haltung seinen Worten offenbar zusätzlich Geltung verleihen. »Vielen Dank für Ihren erhellenden Vortrag, Herr Meiners. Wie Sie wissen, stehen wir dem Vorhaben der NKE wohlwollend gegenüber. Das sage ich, damit kein Zweifel an unserer Bereitschaft für die Erschließung des Berliner Platzes aufkommt. Mittlerweile liegen ja auch die entsprechenden Gutachten vor, allen voran die Verträglichkeitsstudie, die das Vorhaben durchweg positiv beurteilen.«

»Das ist doch lächerlich!« Ein Zwischenruf von irgendwo hinter Hauke. Er widerstand dem Impuls, sich umzudrehen, weil ihn die Reaktion des Oberbürgermeisters interessierte. Der verzog keine Miene, ging aber auf den Zwischenruf ein.

»Da ich weiß, worauf Sie anspielen wollen, Herr Buhlmann«, sagte Oberbürgermeister Mertens, »will ich meine Aussage präzisieren. Die qualifizierten Gutachten beurteilen das Vorhaben durchaus positiv.«

Bei der Nennung des Namens Buhlmann drehte sich Hauke augenblicklich um und erblickte einen hageren Mittfünfziger, der ihm als Inhaber eines Tabakwarengeschäfts bekannt war.

»Dann sagen Sie doch bitte dazu, dass die positive Beurteilung des Vorhabens das einzige Qualifikationskriterium war, Herr Mertens. Sagen Sie das doch einfach«, rief Herr Buhlmann aufgebracht.

»Dies ist sicher nicht der geeignete Anlass, um über Ihre persönlichen Einwände zu diskutieren, Herr Buhlmann. Die haben Sie uns ja nun oft genug vorgetragen. Worauf ich hinauswill, ist Folgendes.« Oberbürgermeister Mertens widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem PR-Chef von der NKE. »So gerne wir grünes Licht geben würden, Herr Meiners, existiert da doch noch eine Kleinigkeit in den von Ihnen vorgelegten Plänen, über die wir sprechen müssen. Diese Kleinigkeit berührt nicht das Vorhaben als solches, das möchte ich in aller Deutlichkeit sagen. Aber wir sind angehalten, die Bauvorschriften einzuhalten, denen in dieser Stadt, wie Sie ja wissen, eine ganz besondere Bedeutung zuteilwird.«

Hauke spitzte die Ohren. Was auch immer der Oberbürgermeister sagen wollte, er hatte das gründlich vorbereitet. Warum hatte er für die Äußerung seiner plötzlichen Bedenken diese Veranstaltung gewählt?

»Der Teufel steckt ja oftmals im Detail«, sprach Oberbürgermeister Mertens weiter. »In diesem Fall heißt das Detail Bauhöhe. In den vorliegenden Plänen ist die Bauhöhe des Parkhauses durch Weglassen der vorgeschriebenen Sicht- und Lärmschutzblenden innerhalb der vorgeschriebenen Parameter eingehalten worden. Das geht so natürlich nicht. Ohne Lärm- und Sichtschutz kann in der Innenstadt kein Parkhaus errichtet werden, ich denke, da sind wir uns alle einig. Mit ihnen wird die Höhe des Parkhauses laut Bauvorschrift allerdings um mehr als drei Meter überschritten. Somit müssen wir abwarten, wie die neuen Pläne aussehen, die Sie uns dann vorlegen werden, bevor wir alles Weitere angehen können.«

Herr Meiners war PR-Mann genug, um sich nichts anmerken zu lassen. Er versuchte, so souverän wie möglich zu bleiben.

»Ich verstehe diesen Einwand nur zu gut und habe ihn, wenn ich ehrlich sein soll, erwartet«, sagte er mit einem künstlich wirkenden Siegerlächeln. »Sie werden sehen, dass die lokalen Bauvorschriften in den endgültigen Plänen in vollem Umfang berücksichtigt sind. Was Ihnen bislang vorliegt, betrachten wir eher als Diskussionsgrundlage. Gibt es sonst noch Fragen oder weitere Einwände?«, fragte er etwas zu hastig in die Runde, während sich sein Assistent vor Hauke aufbaute und ihm die Pressemappe mit einem verschwörerischen Augenzwinkern überreichte.

»Sie haben bei all Ihren Synergieeffekten noch nicht erklärt, wie Sie sich die Kooperation mit dem ansässigen Einzelhandel vorstellen«, rief Herr Buhlmann.

»Seien Sie unbesorgt, Herr Buhlmann. Wir verstehen Ihre Einwände und arbeiten derzeit an den entsprechenden Kommunikationskanälen, damit wir gemeinsam diese Herausforderung für die Stadt Oldenburg wuppen werden.«

Als er wuppen sagte, schlug er abermals die zu Fäusten geballten Hände gegeneinander.

»Mit anderen Worten: Sie können’s mir nicht erklären.«

»Ich kann mich nur wiederholen, Herr Buhlmann. Wir wissen aus unseren Erfahrungen in anderen Städten, wie fragil ein geografisch konzentrierter und inhaltlich diversifizierter Einzelhandel sein kann. Ich bitte Sie, uns da ein wenig zu vertrauen, denn schließlich liegen unsere gemeinsamen Interessen in der Stärkung des Standorts.«

»Nochmals: Wie wird das aussehen? Erzählen Sie mir das doch bitte mal.«

»Alles, was ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt zusagen kann, ist, dass wir neue Nutzergruppen aktivieren werden, die Sie mit Ihrem Angebot bislang gar nicht ansprechen.«

»Na klar doch«, rief Herr Buhlmann. »Sie wollen für uns neue Käufer in die Stadt holen. Wie freundlich von Ihnen.«

»Ich denke, wir drehen uns hier im Kreis«, sagte Oberbürgermeister Mertens. »Wenn es von den Vertretern der Presse keine weiteren Nachfragen gibt, können wir die Sitzung beenden.«

»Ich habe da noch eine Frage. Meinhoff, Oldenburger Morgenpost. Ich habe da jetzt rausgehört, dass der vorliegende Plan nicht genehmigungsfähig ist, aber irgendwie trotzdem, mit Einschränkung, genehmigt wird.«

»Das Vorhaben wird erst genehmigt, wenn die Pläne die notwendigen Vorschriften berücksichtigen. Ist das geschehen, steht der Sache nichts mehr im Weg. Es ist also keine Genehmigung mit Einschränkung, sondern unter Vorbehalt, Herr Meinhoff«, erklärte Oberbürgermeister Mertens.

Meinhoff nickte und schrieb etwas in sein Notizheft.

Zeitgleich erhob sich der Oberbürgermeister und verließ mit seinen Fraktionsschranzen sowie Herrn Meiners den Saal. Hauke packte seine Sachen zusammen und folgte ihnen nach draußen.

Als er in der wärmenden Frühlingssonne vor dem Rathaus stand, hatte er die Idee, dass er zunächst in Ruhe die Pressemappe lesen sollte, bevor er in die Redaktion fuhr. Er lenkte seine Schritte zu einem Café in der Nähe.

***

Zum ungefähr zehnten Mal blickte Hauke irritiert auf den handgeschriebenen Zettel in seiner Pressemappe. Was zur Hölle …?

»PP für jeden Abgeordneten bei Genehm. SPTG OK. Eilverf. für Start 04. GA OK. H-AG wird bauen. OG Mall-PH fällt weg.«

Auch wenn sich Hauke die Bedeutung dieses Papiers nicht ganz erschloss, so war er sich doch ziemlich sicher, dass dieser Schrieb nicht für ihn gedacht war. Was auch immer sich dahinter verbarg, es wirkte latent beunruhigend. Er konnte nicht von sich behaupten, dass er ein großartiger investigativer Journalist war, aber inzwischen hatte er so viel Erfahrung gesammelt, dass da etwas ganz und gar nicht stimmte. Er war Lokalreporter, weil er es wichtig fand, dass die Menschen sich mit ihrer Umgebung identifizierten und sie über alles informiert wurden, was für sie wichtig sein konnte. Doch das hier stank zum Himmel. Und hatte der Typ, der ihm die Pressemappe ausgehändigt hatte, ihm nicht zugezwinkert?

Spinnen wir das mal durch, überlegte er weiter. Sollte das irgendwas mit dieser Bausache zu tun haben, dann heißt »OG Mall-PH« vermutlich Obergeschoss Mall-Parkhaus. »PP für jeden Abgeordneten bei Genehm. SPTG OK« könnte dann »Parkplatz bei Genehmigung« bedeuten. Wow. Jeder Abgeordnete würde demnach einen Parkplatz bekommen, wenn sie die Mall im Eilverfahren genehmigen … Mit »Start 04« könnte vielleicht April gemeint sein. Was, wollen die etwa diesen Monat anfangen, wenn das Obergeschoss wegfällt? Der April hatte doch nur noch wenige Tage. Er schüttelte sich, als wolle er eine recht nahe Bedrohung nicht akzeptieren. Und was war mit »SPTG« gemeint?

Hauke klappte die Mappe zu. Er wurde das Gefühl nicht los, dass ihm eine wichtige Einzelheit fehlte, um den vollen Umfang dieses merkwürdigen Memos zu verstehen. Es gab für ihn aber keinen Zweifel, er ging davon aus, dass der eigentliche Adressat des Schreibens der Mann war, dessen Platz er besetzt hatte. Und das konnte nur bedeuten, dass er etwas wusste, was man besser nicht wissen sollte. Er bezahlte seinen Kaffee und machte sich auf den Weg zum Auto.

 

In der Redaktion des Oldenburg Report war es angenehm ruhig. Der Chef war vermutlich mit irgendwelchen Kunden essen oder gleich ganz zu Hause geblieben. Die Anzeigenvertreter, Herzstück des Blattes, kamen ohnehin kaum vorbei, außer um sich für einen neu gewonnenen Großkunden feiern zu lassen. Haukes Kollegen Piet und Harm waren – in Piets Fall – krank oder – in Harms Fall – mit einer Artikelserie zu ALG II/Hartz IV beschäftigt. Schon seit Wochen pendelte er zwischen Arbeitsagenturen und Sozial- und Jugendämtern hin und her. Die Volontäre ließen sich nur selten in der Redaktion blicken, weil sie ständig auf der Suche nach Themen waren, die ihnen schnellstmöglich einen lukrativeren und zudem festen Job einbringen würden.

Hauke schätzte es sehr, wenn er ungestört arbeiten konnte. Nach einigen Telefonaten mit der Polizei, der Feuerwehr, der Notruf-Einsatzzentrale und Sprechern der einschlägigen Kulturverbände hatte er das Gros der Daten für seine Artikel zusammen, die in der Sonntagsausgabe erscheinen sollten. Morgen Vormittag stand die NPD-Demo an, deshalb schien es ihm sinnvoll, so viel wie möglich heute fertigzustellen – man wusste nie, wie eine solche Veranstaltung enden würde.

Er begann sein Tagwerk mit den üblichen Mitteilungen über Einbrüche, Autounfälle, Brände, Herzinfarkte. Es erleichterte ihn ungemein, dass er sich keine Wohlfühlartikel aus den Fingern saugen musste. Die Mall-Geschichte konnte er auf die Mittwochsausgabe verschieben. Das war ihm recht, weil er so eventuell noch Zeit haben würde, Herrn Buhlmann zu der Sache zu befragen.

Gegen sieben kehrte er der Redaktion den Rücken und ließ den Abend mit Fitnessstudio und anschließender Sauna ruhig ausklingen. Der morgige Samstag würde es in sich haben. An Conny hatte er nicht einen Gedanken verschwendet.

3

Samstag, 23.04.

Als Hauke sich gegen neun dem Bahnhof näherte, überkam ihn eine eigenartige Stimmung. An jeder Straßenecke standen Grüppchen von als Sturmtruppen verkleideten Polizisten neben vorsorglich abgestellten Absperrungen. Die Polizisten befragten alle Passanten, wo sie denn hinzugehen gedachten, und verweigerten nach wahrheitsgemäßer Aussage – zum Bahnhof – den Durchgang. Hauke wurde ebenfalls aufgehalten, obwohl er sich zweifelsfrei als Presseangehöriger ausweisen konnte. Seine Nachfrage, mit welchem Recht ihm sein Fortkommen verweigert wurde, ignorierten die schwer gerüsteten Staatsdiener geflissentlich: Sie taten einfach so, als wäre er gar nicht da. Also ging er die Rosenstraße hinunter, in der Hoffnung, er könne sich so der geplanten Marschroute der Nationaldemokraten nähern.