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Für Mams und Paps – das ist eure Royal Albert Hall
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
3. Auflage 2013
ISBN 978-3-492-96418-0
© 2013 Piper Verlag GmbH, München
Umschlaggestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin, unter Verwendung mehrerer Motive von iStockphoto
Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Liebe Layla,
erinnerst du dich noch an die Frage, die du mir gestellt hast? Ob ich wüsste, wie unsere Geschichte ausgeht? Wie mir scheint, wissen wir es noch immer nicht. Aber ich würde alles jederzeit wieder genau so tun. Es gibt noch so viel zu sagen, aber jetzt läuft mir dafür die Zeit davon. Ich habe dir einmal ganz zu Beginn gesagt: Wenn du nicht mehr kannst oder möchtest, werde ich gehen und dich in Ruhe lassen. Ich werde alles mitnehmen, was du möchtest, und dir lassen, was du brauchst.
Ich will dir in diesem Brief nur sagen, dass du mir viele Lieblingsmomente geschenkt hast. Ich werde dich jetzt also loslassen. Auch wenn du mir schrecklich fehlen wirst, weiß ich, dass ich es tun muss …
Die Zeit mit dir hat mir vieles klarer gemacht. Ich habe für eine kleine, unendlich schöne Weile die Welt durch dich und deine Augen sehen dürfen. Wenn du wüsstest, wie viel mir das bedeutet, würdest du dich wundern. Aber so wie die Sternschnuppen werde auch ich verschwinden und nur dann wieder wie wild den Himmel stürmen, wenn du es dir wünschst.
Vielleicht wirst auch du dich immer daran erinnern:
»Heute Nacht gehört der Himmel uns.«
Tristan
PS: Ich bin nicht besonders gut im Verabschieden. Hoffentlich verzeihst du mir.
Das Gedränge ist wie immer groß, aber meine Kamera gibt mir Schutz und das pinkfarbene Bändchen um mein Handgelenk ohnehin. Die meisten kennen mich, grüßen kurz und posieren für ein Foto – ob es jemals veröffentlicht wird, entscheide ich. Die verschiedenen Gesichter der Party ziehen an mir vorbei, und jedes einzelne erzählt eine eigene Geschichte. Das Schönste an meinem Job ist, jede dieser Geschichten mit einem einzigen Bild nachzuerzählen.
Es ist laut, und es riecht nach einer Mischung aus Bier, Schweiß und Sommerluft. Der laue Abend wird zur vielversprechenden Nacht. Mit anderen Worten: Es ist perfekt. Ein Open-Air-Event mit einem guten DJ und tanzenden Menschen, die laut zu jubeln beginnen, als sie das gerade einsetzende Stück erkennen. Es ist die Hymne dieser Partygeneration. Paul Kalkbrenner hat mit Sky and Sand ein Lied für genau diesen Moment geschrieben, das Gefühl von Sommer und ein bisschen Freiheit. Es ist der perfekte Soundtrack für das Leben auf der Tanzfläche. Jeder hier liebt das Lied, und so werde ich Zeugin eines kollektiven Tanzrausches. Jetzt und hier fühle ich mich mit meiner Mission am wohlsten. Mitten in dieser tanzenden, selbstvergessenen Menge. Hier entstehen die schönsten Fotos, weil niemand posiert, weil alle in der Trance der Musik sind, sich ihr hingeben, nicht nachdenken und in den nächsten Minuten auch keine Zeit zum Nachdenken haben werden. Fast möchte man meinen, die Menschen um mich herum wollten alle zusammen die im Refrain besungenen Schlösser im Himmel und im Sand bauen.
Ich bewege mich langsam durch die Menge, wie durch ein Meer aus sich bewegenden Körpern, lasse mich von ihm tragen und erhasche dabei Momente, die ich mit meiner Kamera für immer festhalte.
Da in der Mitte, irgendwo, als einer von vielen, steht dieser junge Mann, die Augen geschlossen. Während sich alle um ihn herum mehr oder weniger gleich bewegen, steht er wie ein Fels in der Brandung da, als wäre er in einer anderen Welt. Nur das Lächeln auf seinen Lippen verrät, dass auch er den Beat des Liedes hört und dass es ihn zu berühren scheint. Ich kann nicht anders, ich muss dieses Foto machen, auch wenn es sich anfühlt, als würde ich bei etwas stören. Er sieht so friedlich aus, passt so gar nicht in das laute und bunte Treiben hier auf der Tanzfläche. Ich betrachte ihn einen kurzen Moment durch den Sucher meiner Kamera – noch immer steht er da, bewegt sich nur ganz leicht hin und her. Er wirkt größer als die anderen, trägt ein schlichtes weißes T-Shirt, keinen Schmuck, keine besonderen Kennzeichen. Meine Kamera verfügt über einen 400-fachen Zoom, und so betrachte ich sein Gesicht für einen kurzen Moment. So ruhig. So markant. Vermutlich irre ich mich, aber da ist plötzlich ein Gefühl, das ich kenne, an das ich mich aber nicht mehr genau erinnere. Dann springe ich schnell wieder zurück in die Ausgangsperspektive: die tanzende Menge im Anschnitt, ihn mittig vor den bunten zuckenden Lichtern. Ich drücke ab. Einmal. Zweimal. Gleich viermal und mehr. Ich möchte eine Auswahl zu Hause vor dem Bildschirm treffen können. Das wird zumindest die offizielle Erklärung, falls mich jemand fragt. Die Wahrheit ist eine andere.
Und dann passiert es. Ganz ohne Vorwarnung oder Anzeichen. Es kommt aus dem Nichts, und es geschieht so schnell. Selbst wenn ich es hätte kommen sehen, hätte ich es nicht aufhalten können. Ein Ellenbogen schießt von der Seite ins Bild, trifft sein Gesicht, und bevor ich den Auslöser drücken kann, ist alles aus dem Bildausschnitt verschwunden. Ich sehe nur noch tanzende Menschen. Sofort nehme ich die Kamera runter und sehe mich suchend um, aber außer mir scheint es niemand bemerkt zu haben. Wieso auch? Die Musik übertönt alles, und wer sich einmal dem Beat verschrieben hat, der nimmt die Umgebung ohnehin nicht mehr wahr. Wo ist er? Ich schiebe mich durch die Menge, halte die Hand schützend vor das Objektiv meiner Kamera und schaffe es schließlich an den Rand. Hier ist die Luft etwas frischer, aber die Musik nicht weniger laut. Ich sehe mich suchend um. Da vorne ist er. An der Bar. Er lehnt mit dem Rücken an der Theke, hält sich mit einer Hand fest und presst die andere an sein linkes Auge. Ich sehe Blutflecken auf dem Kragen seines T-Shirts und komme langsam auf ihn zu, von etwas angezogen, das ich nicht erklären kann.
Er ist wirklich ziemlich groß, trägt dunkle Jeans und Turnschuhe. Ein Gürtel versucht die Hose in einer anständigen Haltung zu bewahren, was ihm nicht wirklich gelingt, und ich erspähe ein Stück weiße Boxershorts, auf die ich aber nicht achte … auf die ich nicht zu achten versuche.
»Ist alles okay?«
Ich bleibe neben ihm stehen. Er sieht mich überrascht aus einem Auge an, hat mich aber wohl nicht verstanden, denn ich erkenne nur einen fragenden Gesichtsausdruck.
Langsam greife ich nach seiner Hand, an seinen Fingern klebt etwas Blut. Er sieht mich verwundert an, lässt es aber geschehen.
Dort, an der Theke, zwischen dem Lärm, dem Schweiß und der Musik, berühre ich ihn zum ersten Mal in meinem Leben. Seine Haut fühlt sich warm und rau an, aber nicht unangenehm rau, ganz im Gegenteil. Für gewöhnlich ist das kein besonders einschneidender Moment, aber diesmal ist es anders. Vollkommen anders. Diesmal ist es, als würden plötzlich viele kleine Käfer mit schnell schlagenden Flügeln in meinem Kopf losflattern.
Ich versuche, das Flattern zu überhören und sehe mir das Ausmaß des Zusammenpralls an: eine kleine Platzwunde über dem linken Auge, Blut läuft an seiner Schläfe herunter.
»Das solltest du behandeln lassen!«
Ich schreie es ihm über die Musik hinweg ins Gesicht. Er wirkt nicht betrunken, dafür sind seine Augen zu klar. Ein kräftiges Grün strahlt mich etwas verwirrt an. Er nickt, aber ich glaube nicht, dass er mich verstanden hat. Also versuche ich es erneut, stelle mich ein wenig auf die Zehenspitzen und lehne mich näher zu ihm. Dabei streift meine Wange sein Gesicht, nur für den Bruchteil einer Sekunde. Er riecht gut, nach Sommer und etwas anderem … Aufregendem.
»Das sieht übel aus. Das solltest du behandeln lassen.«
Er nickt noch einmal. Diesmal hat er mich verstanden.
»Mache ich. Danke.«
Seine Stimme ist tief und warm. Und sie klingt überraschend gefasst, wenn man bedenkt, was ihm gerade passiert ist. Ich gehe wieder leicht auf Abstand und sehe, dass ein amüsiertes Lächeln auf seinen Lippen liegt. Auf seinen schönen Lippen. In meinem Kopf versucht eine Frage gegen das Flügelschlagen der Käfer anzukommen: Was mache ich hier?
Wahrscheinlich fragt er sich gerade dasselbe.
Ich lasse seine Hand wieder los, drehe mich schnell zur Theke und bestelle mir ein Wasser, damit es so aussieht, als wäre ich ganz zufällig hier, um mir etwas gegen den Durst zu beschaffen. Wenn ich arbeite, so wie heute, trinke ich keinen Alkohol. Meine Fotos sind dann einfach besser.
Er versucht unterdessen eher ungeschickt, sich mit dem Kragen seines leicht verschwitzten Shirts das Blut aus dem Gesicht zu wischen. So wird das nichts. Ich kenne solche Platzwunden – als Partyfotografin habe ich sie schon oft gesehen. Man muss sie behandeln, sonst bleibt eine hässliche Narbe. Zumindest desinfizieren sollte man sie, damit sie sich nicht sofort entzünden. Also bestelle ich noch zwei klare Schnäpse und ein frisches Taschentuch. Etwas verwundert über meine Bestellung betrachtet mich der Barkeeper einen Moment, bevor er mir den Wunsch erfüllt und ich einen zweiten Versuch starte.
»Hier! Einer für den Kopf und einer gegen den Schmerz.«
»Was?«
Ich halte ihm eines der Schnapsgläser vors Gesicht, und wieder ernte ich nur ratlose Blicke. Ich würde mich ja gerne besser artikulieren, aber der dröhnende Bass eines Nico-Pusch-Tracks macht es mir etwas schwer.
»Trink das! Gegen den Schmerz!«
»Gegen welchen Schmerz?«
Ich drücke ihm das eine Schnapsglas einfach in die Hand, und er sieht mir dabei zu, wie ich das Taschentuch in das andere Glas tauche. Dann schüttelt er leicht den Kopf, hebt abwehrend die freie Hand und will mir ausweichen.
»Ich weiß, was ich tue! Vertraue mir!«
Es ist gelogen. Ich hatte meinen letzten Erste-Hilfe-Kurs vor knapp sechs Jahren und müsste meine Kenntnisse über die stabile Seitenlage dringend mal wieder auffrischen, aber das spielt jetzt keine Rolle. Hochprozentiger Schnaps desinfiziert. Das habe ich im Nachtleben gelernt – und in einer Episode von Grey’s Anatomy, was ich ihm aber nicht sagen werde.
Ich gebe ihm keine Zeit nachzudenken, tupfe mit dem Taschentuch einfach frech direkt über die Wunde und bekomme als Quittung ein verzerrtes Gesicht meines Patienten.
»Autsch!«
»Gegen den Schmerz!«
Ich blicke auf den Schnaps in seiner Hand. Er versteht endlich, und schon ist das Glas leer.
Ich tupfe etwas vorsichtiger weiter und weiß genau, dass es höllisch brennen muss. Er schließt die Augen und hält sich tapfer an der Theke fest. Ich muss mich wieder fast auf die Zehenspitzen stellen, um an sein Auge zu kommen. Er ist wirklich groß. Während ich tupfe, betrachte ich ihn etwas genauer. Die dunkelbraunen Haare trägt er kurz, aber nicht zu kurz. Einige schweißverklebte Strähnen reichen bis in die Stirn, wo sie ein lustiges Muster formen. Er hat kräftige Schultern, und den Rest kann ich unter dem T-Shirt nur erahnen. Plötzlich gesellen sich zu den flirrenden Käfern im Kopf flatternde Schmetterlinge in der Magengegend, und schnell versuche ich, mich wieder auf das Tupfen zu konzentrieren.
»So, fertig!«
Ich betrachte mein Werk und bin damit zufrieden. Er nickt, und ich sehe, wie angespannt er ist. Die Kieferknochen treten gefährlich hervor. Sambuca auf offener Platzwunde ist bestimmt nicht die beste Idee, die ich in meinem Leben hatte, aber für den Moment das Beste, was mir eingefallen ist. Er kneift das linke Auge fest zusammen und sieht mich aus dem rechten an. Unsere Gesichter sind keine zwanzig Zentimeter voneinander entfernt.
»Ich weiß nicht, ob ich mich bedanken oder dich verfluchen soll.«
Sein Atem riecht wegen dem Sambuca leicht nach Anis.
»Gern geschehen, aber das solltest du wirklich nähen lassen.«
Es klingt sehr fachmännisch, wenn man bedenkt, dass ich meine Anleitung aus einer Fernsehserie habe. Ich stelle Glas und Tuch auf die Theke neben uns.
»Bist du Krankenschwester?«
»So was in der Art.«
Bin ich nicht. Ist glatt gelogen. Ich bin vom ärztlichen Fachbereich so weit entfernt wie London von Tokio, aber wenn ich das jetzt zugebe, dann sieht es wie die billige Anmache einer verrückten Sadistin aus. Das will ich wirklich verhindern.
»Ich weiß gar nicht, wie das passieren konnte.«
Er kneift noch immer das linke Auge zusammen, was ihm einen spitzbübischen Ausdruck verleiht.
»Zwei Jungs neben dir meinten, sie müssten Pogo zu Techno tanzen. Der Ellenbogen des Größeren hat dich mit voller Wucht erwischt.«
»Aha.«
Er lehnt sich ein wenig zurück und sieht mich überrascht an. Woher ich das weiß? Oh. Ich tippe auf die Kamera.
»Ich arbeite hier, mache Fotos für den Veranstalter und … habe es zufällig gesehen.«
Er nickt nur. Das ist ja auch Unfug. Ich habe es gesehen, weil ich meine Blicke nicht von ihm nehmen konnte und es zufällig genau zu dem Zeitpunkt passiert ist, als ich ausgiebig sein Gesicht studiert habe. Aber das kann ich ihm ja schlecht sagen.
»Kommt wohl vor.«
Er zuckt mit den Schultern, als würde es ihm nichts ausmachen. Was mich überrascht. Ich würde versuchen, diese Typen zu finden, und sie dann zur Rede stellen. Sie sind sicherlich auf einem der Fotos, die ich von ihm geschossen habe. Zumindest das Taxi ins Krankenhaus sollten sie zahlen.
»Layla! Da bist du ja!«
Meine beste Freundin Beccie hat manchmal ein unfassbar schlechtes Timing, und diese Erfahrung mache ich immer und immer wieder. Heute ist keine Ausnahme, und so setze ich ein möglichst freundliches Lächeln auf, als die blonde Schönheit mit den erschlagenden weiblichen Argumenten neben mir auftaucht.
»Beccie. Hi!«
»Ich habe dich in der Menge verloren. Wir sollten weiter!«
Sie sieht zu meinem Patienten, und ihre Augen weiten sich kurz.
»Du blutest.«
Sie berührt mit ihrer Hand ganz beiläufig seinen Arm, und in mir flackert plötzlich etwas auf. Wut? Ich will nicht, dass sie ihn anfasst.
»Habe ich schon gemerkt.«
»Das sieht übel aus.«
Er nickt und wirft mir einen kurzen Blick zu.
»Halb so wild.«
»Ich bin übrigens Beccie.«
Ganz ungeniert lässt sie seinen Arm los und schiebt ihre Hand in seine. Ich würde sie gerne erwürgen. So ist das schon seit der Schulzeit. Immer wenn Beccie auftaucht, habe ich mich für das männliche Geschöpf neben mir auf magische Weise in Luft aufgelöst. Wieso? Das ist schnell erklärt: Ich bin klein, habe durchschnittlich braune Haare, durchschnittlich braune Augen und eine durchschnittlich gute Figur, also keine Modelmaße oder blondes wallendes Haar zu strahlenden blauen Augen. Wie Beccie. Ich bin einfach eher durchschnittlich, und wenn sie neben mir steht, werde ich zu einer Art Hilfssheriff, der auf dem Esel neben dem strahlenden Helden der Geschichte als klassischer Side-Kick mitreiten darf.
»Hallo, Beccie.«
Dann sieht er plötzlich wieder zu mir, streckt mir seine Hand entgegen, und sofort ist da wieder dieses Schlagen der Flügelchen in meinem Kopf. Nur lauter als zuvor.
»Und du bist Layla? Wie in dem Clapton-Song?«
Ich nicke und bin überrascht. Nicht nur über den richtig erratenen Grund, warum meine Eltern mich genannt haben, wie sie mich genannt haben, sondern vor allem darüber, dass Beccies unverschämter Flirtversuch und die geballte Ladung weibliche Argumente, die ihr sehr tief geschnittenes T-Shirt gibt, an ihm abzuprallen scheinen. Ich sollte seine Rippen zählen, um sicherzugehen, dass es sich um ein menschliches und männliches Wesen handelt.
»Ja, ich bin Layla, wie in dem Clapton-Song.«
Ich nehme seine Hand an.
»Tristan.«
Ich höre ihn durch das Flattern in meinen Ohren und lächle. Der Name ist mir noch nie außerhalb von Filmen oder Büchern begegnet. Jetzt bekommt er zum ersten Mal ein reales Gesicht für mich. Ein markantes und interessantes Gesicht. Sicherlich nicht perfekt, vor allem nicht mit dem zusammengekniffenen Auge und dem ganzen Blut, aber ich finde, es passt. Sehr gut sogar.
Beccie hakt sich bei mir ein und zieht mich ein kleines Stückchen von ihm weg, was ich geschehen lasse und was mir zugleich missfällt.
»Wir müssen weiter. Gibt noch mehr Events, bei denen wir erwartet werden. Mach es gut, Tristan.«
Sie spricht für uns beide, was mir noch mehr missfällt. Tristan und ich schauen uns einen Moment lang unschlüssig an, dann werde ich aber auch schon weggezerrt. Beccie winkt ihm zum Abschied neckisch zu, und damit verschwinden wir in der Menge. Ich sage nichts, versuche keinen Blick zurückzuwerfen, weil es zu auffällig wäre und ich mir diese Blöße in Beccies Gegenwart nicht geben möchte.
Am Ausgang gebe ich auf und wage es doch. Nur einen Blick.
Aber er ist verschwunden.
Mein MacBook ist die einzige Lichtquelle im Wohnzimmer. Es ist kurz nach vier Uhr in der Früh, und neben mir steht eine Tasse Kaffee. Nur so überstehe ich den Rest der Nacht. Ich komme meistens um diese Uhrzeit nach Hause und kann dann nicht schlafen. Ich bin zu aufgekratzt und will die frisch geschossenen Bilder am liebsten sofort bearbeiten. Hier und jetzt, nicht erst morgen im Büro. Da es sich aber wie heute oft um geschätzte vierhundert Fotos handelt, ist das unmöglich. Deshalb schaue ich sie mir zunächst nur an, treffe eine mentale Vorauswahl und gehe dann irgendwann im Morgengrauen ins Bett. Auf diese Weise läuft so ziemlich jeder Sonntagmorgen ab, und heute ist es nicht anders.
Ich habe die Kopfhörer auf den Ohren und leise läuft etwas Musik im Hintergrund, während ich die Speicherkarte meiner Kamera auslesen lasse und einen Schluck trinke.
Irgendwie muss ich langsam wieder zurück auf den Planeten Erde finden. So ein Abend voller Musik, Tanzen, Getränke, Locationwechsel und Beccie ist eine ziemlich extreme Mischung. Vor allem wenn meine beste Freundin nichts anderes zu tun hat, als mir von den vier Kerlen vorzuschwärmen, die sie heute hätte abschleppen können. Was in der Regel nicht einmal übertrieben ist. Beccie ist wunderbar, aber was Männer angeht, ist sie manchmal wie einer dieser kleinen Hunde. Sie hüpft und bellt, aber sie schnappt nicht zu. Dafür fehlt ihr der Mut. Sie sagt, dass sie mit einem Kerl erst nach Hause geht, wenn sie zwei Dates mit ihm verbracht hat und ihn dann noch immer nicht abstoßend findet. Jemandem, den sie in einem Club mal eben so kennengelernt hat, würde sie niemals in seine Wohnung folgen.
»Wobei ich bei diesem Tristan eine Ausnahme gemacht hätte.«
Ich wollte und will es noch immer nicht hören, aber in meinem Kopf spielt sich eine Endlosschleife ihrer Beschreibungen Tristans ab. Dabei hat sie gerade mal zwei Minuten mit ihm verbracht. Nicht mehr und nicht weniger. In ihrer Version könnte man meinen, sie wären den halben Abend und die gesamte Nacht zusammen gewesen. Wieso mich das so ärgert, weiß ich selber nicht. Gut, natürlich, ich habe eine Ahnung, versuche sie aber zu ignorieren. Mit mäßigem Erfolg. Irgendwann, als wir schon auf dem Weg nach Hause waren, habe ich mir einen patzigen Kommentar nicht mehr verkneifen können und dann einen irritierten Blick von Beccie dafür geerntet. Sie hat gemerkt, dass ich aufgewühlt war, und fand es nicht gut. Sie hatte wohl auch eine Ahnung, wie das so ist mit besten Freundinnen: Sie kennen einen zu gut. Schlimmer noch, sie haben meistens recht!
»Erstens: Dieser Kerl ist doch nicht mal dein Typ. Nicht mal ein bisschen …«
Ich muss ihr leider zustimmen. Tristan ist wirklich nicht mein Typ, und ich bin nicht stolz darauf, sagen zu müssen, dass ich sehr wohl einen Typ habe. Schon immer. Das alles hat schon sehr früh angefangen. Damals, als ich die Kinderserie Flipper zum ersten Mal im TV gesehen habe, war ich sofort bis über beide Ohren in Sandy verliebt. Mir war klar, so muss mein zukünftiger Mann eines Tages aussehen. Danach folgten Poster des Surfweltmeisters Kelly Slater, der ebenfalls genau in dieses Beuteschema passt. Und dem bin ich bis heute treu geblieben. Blond, blaue Augen, sportlich, glatt rasiert. Dunkelhaarige, mysteriöse Typen mit leuchtenden grünen Augen haben mich niemals angesprochen, und sie werden mich niemals ansprechen. Auch ein Dreitagebart und Tätowierungen lassen mich kalt. Ich stehe nicht auf dieses Bad-Boy-Image von wegen Lederjacke, Ohrringe und Motorrad. Das ist so, und damit kann ich sehr gut leben. Außerdem sind Beccie und ich uns deshalb nur selten in die Quere gekommen, wenn es um Männer ging. Sie suchte sich die Bad Boys, und ich landete bei Prince Charming.
»… und zweitens, liebe Layla, hast du ja Oli.«
Ja. Seit fünf Jahren habe ich Oliver, meinen Freund.
Das Pling! meines MacBooks sagt mir, dass alle Bilder nun auf der Festplatte sind, und ich öffne den Ordner. Wie immer will ich mir meine Ausbeute sofort ansehen. Bei manchen Fotos weiß man schon im Moment der Aufnahme, dass es ein neues Lieblingsbild wird. Auch heute Abend hatte ich wieder dieses Gefühl, und bisher hat es mich nie getäuscht.
Ich klicke mich diesmal allerdings etwas hektischer als sonst durch die Vorschau auf der Suche nach einem ganz besonderen Bild. Eigentlich suche ich diesmal eine ganz besondere kleine Bilderserie, von der ich mir viel verspreche. Dabei lasse ich alle anderen Bilder links liegen. Mögen sie auch noch so gelungen und schön sein, nehme ich sie doch nicht wahr. Da sehe ich die Bilder, nach denen ich gesucht habe. Ich weiß nicht, was ich darauf zu finden hoffe, aber als ich das erste Bild öffne, zittern meine Hände leicht. Der Mauszeiger fliegt zum ersten der vier Bilder. Doppelklick, und mit einem Mal nimmt es den ganzen Bildschirm ein und … mein Herzschlag will kurz aussetzen. Die tanzende Menge ist unscharf, man erkennt die Menschen zwar, aber der Fokus liegt auf einer einzigen Person. Die Abendsonne steht so, dass sie ihn in weiches, warmes Licht hüllt. Wieder höre ich die Musik, schmecke die Atmosphäre, und ich bin froh, dass es mir gelungen ist, genau diesen Moment einzufangen. Tristan ist dabei das ruhige Zentrum. Sein T-Shirt ist schlicht, kein wilder Aufdruck, kein Anzeichen für eine bestimmte oder bekannte Marke. Es ist einfach nur weiß. Keine Kette, keinen Schmuck. Ich klicke auf das nächste Foto, das etwas näher an seinem Gesicht ist. Ich betrachte die Form seines Kinns, den Hals, die Schultern, die Form seiner Lippen. Er ist kein klassischer Schönling, er hat keine perfekten Augenbrauen, die jede Frau auf dieser Welt vor Eifersucht erblassen lässt, und der leichte Dreitagebart lässt ihn etwas älter wirken, als er vermutlich ist. Aber er ist wunderschön, und ich spüre wieder dieses leise Flattern in mir. Ich klicke auf das dritte Bild, und plötzlich höre ich seine Stimme. Sie klingt noch immer in meinem Ohr. Auch sein Geruch ist wieder da, die raue Wärme seiner Haut. Dann klicke ich das vierte Bild an und weiß sofort: Es ist das Eine. Die anderen Bilder kann ich löschen. Ich kann es nicht in Worte fassen, aber beim Anblick dieses Fotos zieht sich mein Herz zusammen und stößt einen Schwarm Schmetterlinge in meinem Bauch aus. Das hier ist das schönste Foto, das mir seit Langem geglückt ist. Und das Motiv ist einfach atemberaubend. Ich betrachte das Bild noch eine kleine Weile, präge mir seine Gesichtszüge ein, erinnere mich an alles, was dann kam: das Gespräch, mein heldenhafter Einsatz als Florence Nightingale, sein …
»Du bist ja schon zu Hause.«
Ich fahre erschrocken zusammen, als mir jemand von hinten einen Kuss auf die Wange drückt. Panisch klappe ich das MacBook zu und verschütte dabei fast meinen Kaffee.
»So schreckhaft? Ich habe gar nicht mitbekommen, dass du schon da bist.«
Es ist Oliver, der in einem T-Shirt und Boxershorts hinter mir steht und dessen blonde Haare vom Schlaf in eine wilde, für ihn untypische Unordnung gebracht worden sind. Mein Oliver, der jetzt mit schlurfenden Schritten um die Couch herum in die Küche geht. Der Mann, mit dem ich diese Wohnung, den Tisch und vor allem das Bett teile. Der Mann, den ich liebe und mit dem ich mir eine Zukunft aufgebaut habe. Mein Freund. Die Worte fühlen sich auf einmal ungewohnt fremd an.
Er streckt seinen Kopf aus der Küche.
»Haben wir noch Milch?«
Oli und seine Milch. Er braucht sie jeden Morgen in seinem Kaffee und nachts, wenn er das Gefühl hat, sein Magen hätte das scharfe indische Essen doch nicht so gut verarbeitet, wie er immer behauptet. Jeder Versuch ist zum Scheitern verurteilt, denn seine Vorliebe für viel zu scharfes Essen ist seine große Schwäche. Am liebsten würde er alles in Tabasco, Chili-Öl und Sambal Oelek ertränken. Auch wenn sein Magen darunter leidet. Da ihm nur noch Milch hilft, wenn er es mal wieder übertrieben hat, sorge ich für gewöhnlich dafür, dass ein ordentlicher Vorrat im Haus ist.
»Neben der Spüle.«
Wir sind seit fünf Jahren zusammen und wohnen seit knapp zwei Jahren zusammen. Wir leben zusammen. Wieso bin ich jetzt so überrascht, ihn hier zu sehen? Ich fahre meinen Mac herunter, wiederstehe der Versuchung, später doch noch einmal einen Blick auf den Bildschirm zu werfen.
Oliver kommt mit einem Glas Milch aus der Küche und sieht mich aus schlaftrunkenen Augen an.
»Wie lief es so?«
»Gut.«
»Gute Fotos?«
»Einige.«
Er nickt, nimmt einen überraschend großen Schluck, stellt das leere Glas auf den Tisch vor mir und drückt mir einen Kuss auf die Wange, wobei ich seinen Milchbart spüre. Oli eben.
»Komm auch bald schlafen, ja?«
Damit lässt er mich wieder alleine, und ich sehe ihm nach. Ich denke wieder an Beccie und ihre Standpauke. Ich hatte wirklich keinen Grund, auf sie wütend – gut, eifersüchtig – zu sein. Tristan ist nicht mein Typ, und vor allem habe ich Oliver. Sie hat recht, und es erschreckt mich, dass ich ausgerechnet ihre Worte brauche, um mich daran erinnern zu lassen. Als hätte ich die Beweise dafür nicht überall um mich herum. Mein Blick fällt auf das leere Milchglas. Das ist so typisch für ihn. Er lässt Dinge stehen, wo er sie zuletzt benutzt hat. Das gilt im Übrigen auch für Socken aller Art, Schuhe, Jacken, Jeans. Es ist eine kleine Macke, an die ich mich zuerst gewöhnen musste, in die ich mich dann aber verliebt habe. Sie ist irgendwann zu etwas Vertrautem geworden, und heute erinnert sie mich daran, dass in dem Anzug tragenden, verantwortungsvollen und hart arbeitenden Oliver noch immer mein Oli steckt. Der Oli, der noch keinen Fünfjahresplan hatte, mir dafür aber jeden Sonntagmorgen völlig verkatert ein sagenhaftes Frühstück gemacht hat – und danach jedes Mal alles in der Küche stehen und liegen ließ. Vielleicht ist diese Erinnerung der Grund dafür, warum ich jetzt aufstehe und das Glas mit einem Lächeln zurück in die Küche stelle. Ja, ich habe einen Typ. Oliver. Und das heute war ein schöner, aber kurzer, aufregender Moment der Schwärmerei. Mehr nicht. Und wie heißt es so richtig? Was schön ist, gefällt auch dem lieben Gott.
Betreff: Erste-Hilfe & Dankeschön
Hallo Layla,
ich habe mich gestern gar nicht für deine schnelle Erste Hilfe bedankt. Zum Glück stand auf deinem T-Shirt der Hinweis auf deine Website. Ich dachte, ich bedanke mich mal, so wie es sich gehört und ohne von den Schmerzen der in Schnaps getränkten Wunde abgelenkt zu sein, und frage bei der Gelegenheit auch gleich, ob ich mich irgendwie revanchieren kann. Vielleicht mit einem Getränk deiner Wahl, das wir uns nicht ins Gesicht reiben? Melde dich einfach. Und: danke!
Grüße,
Tristan
Es ist Montagmorgen, ich sitze in meinem Büro, habe auf meinem Bildschirm zu viele Fenster geöffnet und starre mit einem dümmlich anmutenden Grinsen auf die E-Mail, die mich heute Morgen erreicht hat. Ich lese sie jetzt zum achten Mal, und immer wieder muss ich grinsen. Tristan ist witzig. Und aufmerksam. Ich hatte am Samstag wie immer, wenn ich beruflich auf Partys unterwegs bin, ein T-Shirt mit dem am Rücken aufgedruckten Logo und der Internetadresse meiner eigenen kleinen Firma an: Pix-n-Party.com. Auf der Homepage ist es dann einfach, meine E-Mail-Adresse zu finden, da es außer meiner nur noch eine allgemeine Infoadresse gibt. Er muss mir also nachgeschaut haben, als wir gegangen sind. Mein dämliches Grinsen wird noch breiter. Auf der anderen Seite bedeutet diese E-Mail aber auch, dass er eine Rückmeldung erwartet, eine Antwort – und sei sie auch noch so kurz. Und schon klappen meine Mundwinkel wieder nach unten. Soll ich ihm antworten? Was soll ich ihm antworten? Ein Treffen steht außer Frage. Oder? Wenn ich ehrlich bin, würde ich ihn aber gerne wiedersehen – was nicht geht. Schon allein wegen der Käfer und der Schmetterlinge. Ach ja, und wegen Oliver. Tristan weiß nicht, dass ich in einer Beziehung bin. Vielleicht sollte ich ihm das zuallererst schreiben, aber wie kommt das dann rüber? »Lieber Tristan, ich habe einen Freund.« Vermutlich will er einfach nur nett sein. Oder? Ich schaue ratlos auf die vielen geöffneten Fenster auf meinem Monitor. Eigentlich habe ich mit dieser ganzen Geschichte doch schon abgeschlossen, sie als schöne Schwärmerei abgetan. Zwar habe ich noch einige Male an ihn gedacht, aber dann war das auch schnell wieder verschwunden. Nur die Fotos von ihm auf meinem Rechner erinnern noch an diesen kurzen, schönen Moment, als er mich mit einem zugekniffenen Auge angelächelt hat – nachdem ich ihm mit einem Schnaps die Platzwunde abgetupft habe. Ich muss wieder grinsen. Schade, dass ich davon kein Foto habe. Andererseits ist das vielleicht auch besser so.
Ich habe Oliver gestern meine Bilder von Samstag gezeigt, und er hat sie wie immer sehr kritisch bewertet. Von den knapp vierhundert Bildern hatte ich ungefähr dreißig zur Auswahl, die mir richtig gut gefallen haben, aber von ihm kamen dazu nur wenige positive Kommentare. Er ist einfach so. Er ist sehr schnell sehr streng und sagt lieber die ungeschminkte Wahrheit, als mir etwas in Zuckerwasser eingelegt verkaufen zu wollen. Auch wenn es sich manchmal so anfühlt, als nehme er meine Bilder und meine kleine Firma – auf die ich übrigens sehr stolz bin – nicht wirklich ernst, weiß ich doch, dass er es nicht böse oder verletzend meint. Er will, dass ich mich immer weiterentwickle, mich nicht auf meinen Lorbeeren ausruhe. Er will nur das Beste für mich. Wissentlich würde er nie etwas tun, was mich verletzten kann. Im Gegenzug würde ich nie etwas tun, was ihn verletzt.
Deswegen sollte ich diese E-Mail einfach in den Spam-Ordner schieben und dort verenden lassen. Das sollte ich. Wirklich. Nicht. Stattdessen schließe ich das Fenster und kümmere mich um die Fotos – beziehungsweise die paar Bilder, die nach Olivers Kritik noch übrig geblieben sind. Wenn alles gut ist und ich mit der Bearbeitung heute schnell durchkomme, dann kann ich vielleicht schon CDs mit der vorläufigen Auswahl per Fahrradkurier an den Veranstalter schicken und mich dann um den nächsten Auftrag kümmern. Arbeit ist eine gute Alternative zum Nachdenken, stelle ich fest, und so klicke ich mich durch die Fotos, setze gezielt ein paar Fotofilter oder Farbkorrekturen an und schaffe in Rekordgeschwindigkeit einen ganzen Stapel an Arbeiten.
Als ich vor lauter Pixel kaum noch scharf sehe, entscheide ich mich für eine kleine Pause, die ich mir als meine eigene Chefin genehmigen kann, wann ich will, und für ein Mittagessen außer Haus. Ich esse ungern alleine und entscheide mich deshalb spontan dazu, Beccie mal anzurufen. Sie sollte eigentlich zu einem kleinen Happen in der Sonne zu überreden sein und nimmt für gewöhnlich jede Ablenkung von ihrem Studium dankend an. Vor allem in den Semesterferien. Sie sitzt seit Wochen an ihrer Hausarbeit über Massenmedien und einen gewissen Herrn Luhmann, der ziemlich kompliziert zu sein scheint und den sie lieber heute als morgen abservieren würde. Und so werde ich auch heute nicht enttäuscht. Wir verabreden uns in einer Viertelstunde in unserem Lieblingsrestaurant am Wilhelmsplatz. Das Meals & More ist ab zwölf Uhr mittags genau das, was mein hungriger Magen verlangt.
Der große Vorteil, wenn man im Stadtzentrum arbeitet? Man verlässt schnell das Büro, stolpert, fällt einmal hin, steht auf – und ist schon da. Heute schlendere ich aber etwas langsamer und bin nicht ganz so in Eile, wie die meisten anderen Menschen, die ich auf dem Weg zu ihrem Mittagessen antreffe. Im Sommer verwandelt sich Stuttgart in eine Stadt ohne Gehwege. Überall werden Tische und Stühle vor die Restaurants gestellt, und lässig dasitzende Gäste mit Sonnenbrille genießen schwäbische Küche, ein kühles Bier oder einen Wein aus der Region. Die Landeshauptstadt Baden-Württembergs – oft unterschätzt und doch geliebt. Für mich ist Stuttgart im Sommer mindestens so schön wie die Toskana. Es gibt keine Stadt, in der ich mich so wohlfühle wie hier, auch wenn im Sommer die Luft im Stuttgarter Westen zu stehen scheint und ich mir eine kühle Meeresbrise wünsche. Ich habe hier alles, was ich brauche, um mich wohlzufühlen.
Deswegen kann ich die Leute nicht ganz verstehen, die jetzt mit gehetzten Gesichtern in schicken Anzügen stecken, in denen sie bestimmt schwitzen, und gestresst an mir vorbeieilen. Können sie einen Sommertag in der Kesselstadt nicht einfach genießen? Nur ein bisschen? Stattdessen rempeln sie mich an oder schieben mich in ihrer Eile sogar aus dem Weg. Kurz will ich protestieren, unterlasse es dann aber. Ich wäre in so einem Anzugträger-Leben wahrscheinlich auch unglücklich. Ich liebe die Fotografie, und wenn ich die Chance habe, diese Leidenschaft zum Beruf zu machen und dafür auch noch bezahlt zu werden, dann würde ich das für nichts in der Welt aufgeben wollen. Schon gar nicht für einen stressigen Büroalltag, in dem ich kaum Zeit habe, meine beste Freundin zum entspannten Lunch am Wilhelmsplatz zu treffen.
Beccie ist schon da und hat einen Tisch draußen erobert – und wie immer sieht sie umwerfend gut aus. Ich habe es lange Zeit nicht glauben wollen, aber dafür muss sie gar nichts tun. Gott hat es einfach unheimlich gut mit ihr gemeint. Sie winkt mir lächelnd zu, und ich bin mir sicher, stünde gerade ein Mann hinter mir, würde er sehr hoffen, dass dieses Lächeln ihm gilt. Sie trägt ein rotes Sommerkleid, perfekt geschnitten für ihre Figur, und ihre schlanken langen Beine kommen in diesem Kleid viel zu gut zur Geltung. Plötzlich habe ich wieder die Gewissheit, neben ihr zu verblassen. Ich trage meine kurzen Jeansshorts, weinrote Chucks und ein helles Trägershirt. Eigentlich sollte das für ein Mittagessen mit der besten Freundin reichen, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher.
»Hi, Beccie.«
»Hallo. Du warst wirklich meine Rettung. Ich dachte schon, der Anruf kommt nie. Wusstest du, dass …«
Ich habe noch nicht ganz Platz genommen, da sprudelt es schon aus ihr heraus. Beccie hat, wie soll ich sagen, immer etwas zu erzählen. Vor allem über Männer. Man tut gut daran, sie nicht zu unterbrechen, denn das kränkt sie. Sie braucht die Aufmerksamkeit. Schon immer. Ich denke, deswegen haben wir uns in der Grundschule angefreundet. Ich war froh, nicht viel sprechen zu müssen, und sie war froh, einen Zuhörer zu bekommen. Aus dieser anfänglichen Nutzgemeinschaft wurde aber schnell echte Freundschaft, spätestens als ich gemerkt habe, dass Beccie nicht nur unheimlich gerne redet, sondern auch unheimlich nett und überraschend gutmütig ist. Sie ist immer für mich da, zugegeben, manchmal vielleicht sogar zu sehr. Dann erdrückt sie mich fast mit ihrer Fürsorge, und ich muss sie davon abhalten, mir wegen einer kleinen Erkältung Bettruhe zu verordnen, die halbe Apotheke leer zu kaufen und meine Hand zu halten. Jetzt strahlt sie mich aber an. Offenbar sind die Männergeschichten zu Ende.
»Und? Wie geht es mit deiner Hausarbeit voran?«
»Ach, ich kann dieses ganze Medientheoriegerede nicht mehr sehen, hören und lesen. Und was ist da besser als ein Mittagessen im Freien mit meiner besten Freundin? Vor allem bei diesem Wetter?«
Sie reicht mir die Speisekarte, die ich bereits in- und auswendig kenne, und verfällt in einen Monolog über ihren Sonntag. Sie war Joggen, Radfahren, danach eine Runde Schwimmen und dann hat sie diesen süßen Rettungsschwimmer getroffen, mit dem sie abends noch aus war. Nachdem ich einen Blick auf Beccies lange Beine und den flachen Bauch geworfen habe, entscheide ich mich gegen Sahnesoße und für die Penne mit Limonensoße und Pistazien-Pesto. Außerdem wähle ich ein Glas Rotwein zum Essen. Beccie bestellt dasselbe. Soll noch mal einer sagen, wir Schwaben hätten keinen guten Geschmack.
»Übrigens, kriegst du mich wirklich nicht auf die Gästeliste für Freitag? Ich würde so gerne mitkommen.«
Freitag ist ein weiterer Event, bei dem ich als Fotografin dabei bin. Diesmal ist es der seit Wochen ausverkaufte Auftritt eines angesagten Berliner DJs, und wir wissen beide jetzt schon: Bekomme ich Beccie nicht auf die Gästeliste, stehen ihre Chancen sehr schlecht, den DJ aus der Nähe zu sehen. Leider ist der Veranstalter bisher hart geblieben.
»Ich habe mein Bestes gegeben, aber es sind wohl ohnehin schon zu viele Karten verkauft. Tut mir leid.«
»Schade. Aber mach dir keine Sorgen. Ich komme schon irgendwie rein.«
Sie nippt an ihrem Wein und sieht mich aus verträumten Augen an.
»Ich wette, der heiße Typ ist auch da. Ich meine, wer wird nicht da sein?«
Bei Beccies Lebenswandel und Flirtgewohnheiten muss man Buch führen oder notfalls erst mal so tun, als wüsste man genau, von welchem heißen Typen sie gerade spricht. Gestern noch war es ein Rettungsschwimmer, und morgen schon ist es ein Rechtsanwalt. Ich habe den Überblick verloren, erinnere mich nur an Steffen, ihren letzten und einzigen echten Freund. Er wollte sie aber so sehr an die kurze Leine nehmen, dass Beccie es nicht mehr ausgehalten und Schluss gemacht hat. Seitdem lebt sie, wie es ihr passt. Sie tut niemandem weh und lässt sich im Gegenzug von niemandem wehtun. Ich wünsche mir trotzdem manchmal etwas mehr Ordnung in der Liste ihrer Männerbekanntschaften. Eine alphabetische Ordnung wäre schon mal ein Anfang. Und Namen.
»Der heiße Typ?«
Sie nickt.
»Welcher?«
»Na, Tristan, der so heftig mit mir geflirtet hat.«
Ich verschlucke mich fast an meinem Essen bei dieser Version der Ereignisse. Das wäre so, als wenn jemand behauptet, die Zwillingstürme des World Trade Center in New York hätten sich in die Flugbahn geworfen.
»Wie bipffe?«
Für gewöhnlich spreche ich nicht mit vollem Mund, aber diesmal bin ich zu schockiert, um erst zu schlucken. Vielleicht auch sauer. Aber das würde ich niemals zugeben.
»Erinnerst du dich nicht? Tristan? Dunkle Haare, nicht dein Typ?«
Wenn sie wüsste, wie gut ich mich an ihn erinnere, hätten wir ein größeres Problem. Moment. Will sie mich testen? Ist sie wegen der pampigen Bemerkung am Samstag noch immer sauer? Kurz überlege ich, ihr zu sagen, von wem ich heute Morgen eine E-Mail in meinem Postfach hatte. Aber auch das würde zu nichts führen.
»Doch, da klingelt etwas. Samstag, Open-Air, Blut.«
»Genau der! Tristan.«
»Du fandst den Kerl, den wir danach getroffen haben, doch noch viel niedlicher.«
»Stimmt. Der könnte von mir aus am Freitag auch gerne da sein.«
»Hat er sich noch mal gemeldet?«
»Nein. Ich glaube aber, ich habe ihm aus Versehen eine falsche Nummer gegeben. Ich sollte mir wirklich Visitenkarten zulegen, meinst du nicht?«
Fast möchte ich lachen, aber ich verkneife es mir und zucke nur ratlos mit den Schultern.
»So wie du. Du machst das so clever. Wie oft steckst du den Männern nachts denn Visitenkarten zu? Und sie rufen immer zurück.«
»Beccie, bei mir sind es berufliche Kontakte. Das sind Veranstalter. Ich fotografiere für die und will kein Date mit denen.«
»Wieso auch? Du hast Oli. Er ist perfekt. Ihr seid perfekt.«
Das klingt fast trotzig und ist im Moment etwas, das ich weder hören will noch brauchen kann. Was hat Beccie nur? Ich weiß, dass sie Oliver sehr mag, ihn auch schätzt, aber selten hat sie so viel von ihm geschwärmt wie in den letzten Wochen – seit sie Steffen mit seiner neuen Freundin gesehen hat. Sie hat sich zwar betont cool gegeben, aber ich kenne sie besser, als sie denkt: Es hat sie getroffen, ihn mit einer anderen Frau zu sehen. Beccie will gar keine Männerbekanntschaften mehr, sie will einen süßen Freund, der immer für sie da ist. Sie will quasi ihren eigenen Oliver.
»Ja, ich habe Oli.«
Und das ist gut so. Auch wenn es weit davon entfernt ist, so perfekt zu sein, wie Beccie sich das vielleicht vorstellt, mag ich unser Leben genau so, wie es ist. Er gibt mir Stabilität und Sicherheit. Er ist immer da, wenn ich ihn brauche, und er hilft mir bei der Steuererklärung. Ich liebe ihn wegen den unendlich vielen Kleinigkeiten, die ihn zu dem Mann machen, den ich damals kennengelernt habe und der noch immer das Milchglas auf dem Tisch stehen lässt. Bei der Erinnerung muss ich schmunzeln. Ja, ich habe Oliver, und das ist wirklich gut so. Irgend so ein blutüberströmter Tristan hat da keinen Platz.
»Willst du seine E-Mail-Adresse?«
Beccie sieht mich an, und ihre Augen werden so groß wie Untertassen. Ich weiß nicht so recht, wieso ich das gesagt habe. Vielleicht einfach nur, um es loszuwerden und aus dem Kopf zu bekommen. Oder weil ich ihn bereitwillig an Beccie abgebe.
»Wie war das?«
»Er hat mir eine E-Mail geschickt. Wollte sich nur kurz bedanken.«
Ich sage es einfach. Es ist keine große Sache, und es soll auch keine werden.
»Für was wollte er sich bedanken?«
»Ich habe seine Platzwunde desinfiziert und ihm einen Schnaps ausgegeben.«
Beccie nickt und zeigt mit der Gabel auf mich, als würde sie mich aufspießen wollen.
»Wieso erfahre ich das jetzt erst? Und wo bleibt die wortgetreue Wiedergabe des Mail-Inhaltes, junge Frau?«
»Es war eine nette E-Mail. Er hat sich nur bedankt, das war alles.«
»Gut. Und ja, ich will seine E-Mail-Adresse. Ich könnte ihn ja anschreiben und mal so nach seinen Plänen fürs Wochenende fragen.«
»Ja. Mach das.«
Ich nehme einen Schluck Wein. Einen großen Schluck. Überraschenderweise bin ich erleichtert, dass ich es jemandem erzählt habe, dass ich es ausgesprochen habe und es somit kein Geheimnis mehr ist. Ich bin froh, dass es jetzt wirklich vorbei ist.
Ich verabschiede mich von Beccie am Wilhelmsplatz und gönne mir danach noch einen Spaziergang durch die schöne Stuttgarter Innenstadt bis hinunter zum Marktplatz. Hier, wo sich im Winter der Weihnachtsmarkt breitmacht und unzählige Menschen an den verschiedenen Ständen Weihnachtsschmuck bestaunen, ist es jetzt im Sommer angenehm ruhig. Einige Pärchen schlendern Hand in Hand an mir vorbei, genießen wie ich den sonnigen Tag. Ich komme an der Stiftskirche vorbei und verweile kurz auf dem Schillerplatz vor dem Denkmal des weltberühmten schwäbischen Dichters. Dann ist es nur noch ein kleines Stück Fußweg zum Schlossplatz, und spätestens jetzt weiß ich, dass ich wegen der Sache mit Tristan überreagiert habe. Es war nichts, aber es hat sich trotzdem irgendwie schwer angefühlt, fast so als würde ich Oliver hintergehen. Dabei habe ich gar nichts gemacht. Es war nichts anderes als eine E-Mail von einem netten Menschen, der sich bedanken wollte, mehr oder weniger. Ich werde ihm eine kurze Mail zurückschreiben, vielleicht das vierte Foto anhängen und erwähnen, dass sich meine Freundin gerne bei ihm melden würde. Damit hat sich die Geschichte dann erledigt, und ich kann mich wieder auf das konzentrieren, was ich gerne mache: leben.
Betreff: Re: Erste Hilfe & Dankeschön
Hi Tristan,
du musst dich nicht bedanken. Ich hoffe, deinem Auge geht es besser. Im Anhang sende ich dir übrigens ein schönes Foto, auf dem du noch unversehrt bist. Vielleicht findet es Verwendung. Das mit dem Getränk musst du echt nicht machen. Es war eine Selbstverständlichkeit.
Übrigens, meine Freundin Beccie lässt fragen, was du am Freitag machst und ob ich deine E-Mail-Adresse an sie weitergeben kann. Du hast mächtig Eindruck gemacht.
LG
Layla
Das Foto muss ich allerdings erst suchen, denn bei Olivers kritischer Prüfung ist es durchgefallen. Er fand es öde und nicht aussagekräftig genug. Ein tanzender Kerl, nicht gerade etwas Besonderes. Dabei war ich mir gerade bei dem Foto so sicher, es wäre ein echter Volltreffer. Alle Fotos von Tristan sind gut – aber das vierte, das ist fast perfekt. Mir hat an dem Foto alles gefallen. Vielleicht war ich einfach nicht mehr objektiv genug? Vielleicht musste man dort gewesen sein, um den Moment darin wiederzuerkennen? Ich finde es und muss es noch mal betrachten. Während ich bei allen anderen einige Korrekturen vornehmen musste, ist es unberührt schon perfekt genug. Ich verschicke die E-Mail mit dem Bildanhang. Damit ist das Kapitel nun wirklich abgeschlossen.