Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 2018
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ISBN Printausgabe 978-3-499-63419-2 (1. Auflage 2018)
ISBN E-Book 978-3-644-40549-3
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Zwei Tage bis Heiligabend
Offenbar ist für die nächsten Tage ein Atomkrieg angekündigt. Hunderte Menschen drücken sich, eine Mischung aus Panik und Überlebenstrieb in den Augen, durch die ohnehin schon zu schmalen Gänge des Kleinstadtsupermarktes. Jeder ist sich selbst der Nächste. Denn Vorräte müssen angelegt werden. Wasser, Konserven, Back-, Fleisch- und Wurstwaren, um die kommenden Wochen autark überleben zu können. Und Süßigkeiten dürfen natürlich nicht fehlen. Auch im Atomkrieg will schließlich niemand auf Elisenlebkuchen, Schokolade mit mindestens 70 Prozent Kakaogehalt und Mandelsplitter verzichten. Zumal der nukleare Super-GAU ausgerechnet für Heiligabend und die Weihnachtsfeiertage ausgerufen zu sein scheint.
Es ist Samstag, der 22. Dezember, der letzte volle verkaufsoffene Tag vor Weihnachten, was offenbar für alle Einwohner meines alten Heimatstädtchens Schwarzendorf wahnsinnig überraschend gekommen ist und jetzt den gesamten Ort zu einer Art Einkaufsflashmob bei Aldi-Süd versammelt.
Wer keinen Einkaufswagen ergattern konnte, stemmt mit Lebensmitteln vollgepackte Milchkartons, schleppt zum Zerreißen gespannte Plastiktüten oder lässt die Konsumgüter direkt in die nach vorne gespannte Jacke fallen wie im Sterntalermärchen.
Wir haben einen Einkaufswagen. Brigitte Kollinger – meine Mutter – manövriert in einer eleganten Kombination aus Slalom, Autoscooter und The Fast and the Furious durch die Regalreihen. Dabei missachtet die kleine Frau bewusst jedes Reißverschlussverfahren, jedes Vorfahrtsgebot und jede weitere Supermarkt-Verkehrsregel. Sie bremst ein junges Pärchen aus, driftet um die Gemüseauslage, lässt den Wagen einen Augenblick frei rollen und wirft, über einen Block aus zwei zeternden Seniorinnen hinweg, zwei Salatköpfe in den übervollen Drahtkorb wie Michael Jordan zu seinen besten Zeiten. Fadeaway Jumpshot mit elegant nachklappendem Handgelenk. Fehlt nur noch, dass sie dabt. Ich bin kurz davor, mit ihr abzuklatschen.
«Basti, wir brauchen Eier. Holst du die eben?», ruft sie mir zu, saust um die nächste Ecke zur Getränkeabteilung und lässt mich in dem chaotischen Gewusel zurück. Eier. Wo werden die wohl sein? Fremde Supermärkte sind mit Neuronenüberlastung ballernde Labyrinthe. Bis ich mich in dem Lidl an der Kreuzung zu meiner Wohnung in Köln nicht mehr hoffnungslos verlaufen habe, hat es über ein Jahr gedauert. Und ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal mit meiner Mutter in ihrem Stammdiscounter war. Seitdem wurde hier auf jeden Fall alles umgebaut. Ich bin einigermaßen überfordert. Wie ein Wellenbrecher stehe ich in dem Korridor zwischen den Obst- und Gemüsefächern und stemme mich gegen den Strom aus Nahrungsmittel hortenden Kunden, der unablässig wie durch eine geöffnete Schleuse durch die gläserne Eingangstür quillt. Ich bin unschlüssig, welche Abzweigung ich nehmen soll. Statistisch gesehen soll man sich in Irrgärten immer links halten, um mit doppelter Wahrscheinlichkeit zum Ziel zu kommen. Das ist selbstverständlich absoluter Quatsch. Aber mein Hirn hat es sich angewöhnt, sich in Stresssituationen mit erfundenen Statistiken zu beruhigen. Fiktive Fakten geben mir in Drucksituationen ein Gefühl von Sicherheit. Also nach links. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich meine Mutter zwischen dem Weinsortiment und Wänden aus Bier-, Wasser- und Saftkästen für eine – offensichtlich von ihr heimlich geplante – Bareröffnung eindeckt.
Eigentlich hatten meine Eltern das Menü für die Festtage schon vor Wochen festgelegt und alle Einkäufe längst erledigt. Was heißt hier vor Wochen? Seit ich denken kann, läuft Weihnachten bei uns Kollingers gleich ab. Eine herrliche, kulinarische Routine. Ein durchgehender Festschmaus, auf den ich mich das ganze Jahr freue. Wie auch auf die Zeit mit meiner Familie, die ich schon seit Monaten nicht mehr gesehen habe.
Diese Vorfreude alleine ist allerdings nicht ausschlaggebend dafür gewesen, diesmal einen Tag früher als sonst in die bayerische Heimat zu kommen. Vielmehr hoffe ich, dass mir ein Tag mehr bei meiner Mutter und meinem Vater die Gelegenheit gibt, endlich den richtigen Moment abzupassen, um mit ihnen über eine entscheidende Veränderung in meinem Leben zu sprechen: Ich habe eine neue Freundin. Und ich muss meinen Eltern noch etwas sagen, das untrennbar mit dieser Neuigkeit verknüpft ist: Ich werde Heiligabend dieses Jahr das erste Mal nicht mit ihnen zusammen verbringen.
Irgendwie muss ich meiner Mutter und meinem Vater beichten, dass die Eltern meiner neuen Freundin, die auch erst von meiner Existenz erfahren haben, darauf bestehen, mich zur Bescherung zu sich nach Hause einzuladen, um den neuen Mann an der Seite ihrer Tochter kennenzulernen.
Doch im Moment ist weder die Zeit noch der Ort, diese Themen anzusprechen. Denn nicht zu wenige Gäste sind gerade das Problem der Familie Kollinger, sondern zu viele. Fest geplant hatten meine Eltern über Heiligabend hinaus nämlich lediglich mit mir. Sie hatten für mich, wie jedes Jahr, eine Matratze in meinem alten Zimmer überzogen, die Speisekammer mit meinem Lieblingsessen gefüllt und den knisternden Kachelofen vorgeheizt. Mein Bruder Niklas und seine Frau Fine wollten mit ihrem kleinen Sohn Lenni ebenfalls am Vierundzwanzigsten für den Abend aus München vorbeikommen, was meinen Eltern beim bloßen Gedanken an den kleinen Wonneproppen das pure Entzücken um die Mundwinkel malte. Lenni ist jetzt knapp fünf Monate alt. Ein Kind so süß wie in Zuckerwatte gepackter Sonnenschein. Kennengelernt habe ich Baby-Lenni noch nicht. Dafür ist seine Entwicklung in der Kollinger-Familien-WhatsApp-Gruppe mit so vielen Fotos dokumentiert worden, dass diese zettabytegroße Bilderflut mutmaßlich der Auslöser für die sich in letzter Zeit häufenden Serverprobleme der App-Betreiber war. Wenn WhatsApp down ist, hat Lenni vermutlich gerade unfreiwillig eine lustige Grimasse geschnitten.
Gestern hat mein Bruder dann angerufen und gefragt, ob es möglich wäre, dass Fine, Lenni und er vielleicht doch für eine oder zwei Nächte bleiben könnten, da sie Freunde von früher in der Nähe besuchen wollten und dann nicht mehr extra zurück nach München fahren müssten. Die frischgebackenen Großeltern waren natürlich einverstanden. Mehr Lenni-Time!
Jetzt sind drei zusätzliche Erwachsene und ein Baby-Lenni logistisch schon eine Herausforderung für ein kleines Einfamilienhaus mit nur einem Badezimmer, aber nichts, was mein Vater nicht mit einem mit dem Schichteinteilungsprogramm seiner Apotheke erstellten Excel-Zeitplan in den Griff bekommen würde. Jedem von uns ist ein Ausdruck des von ihm ausgeklügelten Badplans auf das Kopfkissen gelegt worden – auch Lenni –, mit dem Hinweis, dass sich alle Bewohner möglichst an die vorgeschriebene Zeit zu halten hätten. Meine Mutter war ihre Menüs und das Plätzchenlager im Keller noch mal durchgegangen und zu dem Schluss gekommen, dass niemand verhungern würde. So weit, so gut.
Der Grund, warum mein Vater in dieser Sekunde über einem neuen Einteilungsplan für die Badzeiten brütet, meine Mutter bereits den zweiten Einkaufswagen heranzieht und ich immer noch auf der Suche nach Eiern durch die Supermarktgänge stolpere wie ein Kleinkind an Ostern, dessen Eltern beim Verstecken des Nestchens übermotiviert gewesen waren, ist eine Sprachnachricht meines inzwischen 91-jährigen, fast tauben, so gut wie erblindeten Großvaters Georg und seiner Lebensgefährtin Lisbet von heute Morgen auf der Mailbox meiner Mutter:
«Brigitte, Schatz, hier ist Lisbet …», hatte Lisbet in ihr altes Tastentelefon geflötet.
«Wo ist die Brigitte?», hatte mein Opa sie, neben ihr sitzend, verwirrt unterbrochen.
«Bei sich zu Hause, Georg. Wir rufen sie gerade an.» Kurzes, ungläubiges Schweigen.
Dann Opa Georg: «Gib mir mal das Telefon!»
«Wir sind auf Lautsprecher, Georg», hatte Lisbet geantwortet.
Was ein Telefonlautsprecher ist, weiß mein Großvater. Doch diese Information schien ihn nur noch mehr verwirrt zu haben: «Auf Lautsprecher? Warum höre ich Brigitte dann nicht, hm? Bestimmt sind die blöden Hörgerätbatterien schon wieder leer. Kannst du mal gucken, Lisbet? BRIGITTE, HALLO?»
«Das Hörgerät funktioniert einwandfrei, Georg. Mich hörst du doch auch», hatte Lisbet Opa Georg die Situation in sanftem Ton weiter zu erklären versucht. Erneut ungläubiges Schweigen.
Dann wieder mein Opa: «Na, wenn alles funktioniert, warum antwortet meine Tochter dann nicht, hm? Ist sie wieder eingeschnappt? BRIGITTE, BIST DU WIEDER EINGESCHNAPPT?»
«Niemand ist eingeschnappt, Georg. Brigitte ist gar nicht am Telefon.»
«Aber eben hast du doch noch …? Hast du heimlich einen Kräuter getrunken, Lisbet?»
«Nein.»
«Wollen wir gleich zusammen einen Kleinen?»
«Es ist 9 Uhr morgens, Georg.»
«Vielleicht ein Schüsschen in den Kaffee?»
«Schauen wir gleich. Brigitte, also …»
«Ist sie jetzt doch dran? Schätzchen, grüß dich, freust du dich schon?»
«Wir telefonieren mit dem Anrufbeantworter, Georg. Und Brigitte weiß doch noch gar nichts.»
«Was weiß sie noch nicht?»
Es war förmlich zu hören gewesen, wie Lisbet ihrem Lebensgefährten liebevoll die Hand auf den Oberschenkel legte, während sie weitersprach: «Na, Georg, dass wir sie morgen für die Weihnachtstage besuchen kommen. Deswegen rufen wir doch an. Brigitte, hörst du? Dein Vater und ich kommen zu euch. Morgen. Zum Mittagessen. So wie früher. Mit dem Mercedes. Wir werden gebracht. Ihr müsst euch also keine Sorgen machen und braucht uns auch nicht abzuholen. Das wird ganz wunderbar.» Stille.
Schließlich wieder mein Opa: «Warum sagt sie denn nichts?»
«Ach, Georg … Komm, ich mach uns Frühstück. Bis morgen, Brigitte. Wenn noch was ist, kannst du mich entweder hier oder auf meinem Mobilfunkgerät erreichen. Tschüüüühüüüs.»
Lisbet hatte aufgelegt und meine Mutter noch mit dem Knacken in der Leitung versucht, sie zurückzurufen. Vergeblich. Bei meinem Großvater zu Hause ertönte kein Freizeichen, und Lisbets «Mobilfunkgerät» war ausgeschaltet. Aber wie wir alle meinen mittlerweile immer wunderlicher werdenden Opa und seine Partnerin kannten, würden die beiden sich ohnehin nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen, die knapp 210 Kilometer von ihrem Wohnort Gmund am Tegernsee zu uns nach Schwarzendorf zu fahren. Mit dem Mercedes. So wie früher. Einziges Problem an der Sache ist, dass Georg vor Jahren die Fahrerlaubnis – wegen eines kleinen Vorfalls mit einer Politesse und einem nicht ausgewiesenen Parkplatz in einem Springbrunnen – entzogen worden war und Lisbet den Führerschein nie gemacht hatte. Deswegen wäre es für meine Eltern durchaus interessant gewesen zu erfahren, wer das greise Paar denn nun über Landstraßen und Autobahnen zu uns nach Hause kutschieren würde. Auch ob der Fahrer oder die Fahrerin verpflegt werden muss und wo er oder sie schlafen soll, hätten sie gerne geklärt. War bis zum jetzigen Zeitpunkt aber nicht möglich. Deshalb wollten meine Eltern auf alles vorbereitet sein.
Und deshalb muss ich jetzt Eier suchen.
Zwei Gänge weiter werde ich fündig. Ich greife mir die letzten beiden Pappschalen. Im Aldi stehen wir stimmungsmäßig inzwischen kurz vor Plünderung. Wenn es noch etwas zu plündern gäbe. Die ausgeräumten Regale könnten mittlerweile auch hervorragend als Kulisse bei The Walking Dead genutzt werden. Nur noch einzelne Alu-Dosen mit abgerissenen Etiketten liegen dort. Die Kühltruhen stehen offen. Die Lager des Discounters sind leer. So wie die Augen und Antworten der kurz vor dem Burnout stehenden, von Kunden bedrängten Verkäufer und Verkäuferinnen. Aufgerissene Mehlpackungen liegen überall verstreut, und der Boden sieht aus, als wäre Pablo Escobars Geburtstagsparty etwas aus dem Ruder gelaufen. Die Obst- und Gemüsefächer wirken, als hätte ein Heuschreckenschwarm alles bis auf die Stiele kahlgefressen. So hatte mein früherer Geschichtslehrer immer Kaufhallen in der ehemaligen DDR beschrieben, wenn eine Bananenlieferung eingetroffen war.
Jetzt wollen die Leute raus aus dem Markt und die Beute in die eigenen vier Wände schaffen. In den beiden fast bis zum Eingang reichenden Einkaufswagenschlangen zur Kasse wird längst mit den Füßen gescharrt. Die Rufe, den dritten Verkaufsschalter zu eröffnen, nehmen parolenartige Züge an. Ich rechne jede Sekunde damit, dass jemand ein Megaphon zückt, Bengalos zündet und Spruchbanner hisst. Plötzlich leuchtet die 3 über dem verbleibenden Kassenband grün. Einen Atemzug hält die Menschenmasse inne. Dann herrschen Zustände wie bei einer in Panik geratenen Gnu-Herde. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass es zu 57 Prozent schneller geht, an der Kasse, an der man ohnehin ansteht, zu bleiben, als im Herdentrieb mit allen anderen kopflos zur neuen Kasse zu wechseln. Leider scheine nur ich diese Statistik zu kennen. Es wird getrampelt, gedrückt und geschubst. Ein rüstiger Frührentner hat in dem engen Durcheinander eine Lücke entdeckt. Er deutet seiner Frau mit einem Fingerzeig den geplanten Spielzug an, schnappt sich einen Kürbis aus dem Wagen wie einen Football, tänzelt geschickt durch die Reihen und bricht schließlich bis zur Schlangenspitze durch. Triumphierend vollführt er einen ekstatischen Siegestanz und knallt die orange Frucht auf das Warenband, als hätte er den entscheidenden Touchdown beim Super Bowl gemacht. Seelenruhig schiebt seine Frau nun die restlichen Einkäufe an allen Wartenden vorbei, als würde sie auf der Gästeliste stehen, und stellt ihre Artikel zu dem leicht lädierten Kürbis und sich selbst zu ihrem Ehemann.
«Bastian!» Meine Mutter winkt mir von Kasse 1.
Nach einem guten Dutzend «Entschuldigung …», «Dürfte ich mal kurz …» und «Ich müsste nur mal eben …» stehe ich neben ihr, und die Kassiererin zieht meine Eierpackungen als letzte Stücke unserer Errungenschaften über den Scanner. Meine Mutter bezahlt, wir schichten alles in mitgebrachte Stofftaschen und Klappkörbe und schieben unsere Wagen ins Freie.
Das Wetter ist trist, und es ist düster, trotz der frühen Uhrzeit. Die Parkplatzbeleuchtung funzelt, Scheinwerfer der anfahrenden und abbremsenden Autos leuchten auf und blenden ab. Langsam rollende Reifen, stampfende Schritte auf 100 mal 100 Metern rissigem Teer.
In einer Ecke des Parkplatzes hat ein Weihnachtsbaumhändler, ein verschroben aussehendes Hutzelmännchen mit Spitzhut und langstieliger Pfeife, ein paar Quadratmeter mit grünem, engmaschigem Netz abgesteckt. Viel Ware hat der Herr, der aussieht, als wäre er aus einem seiner Baumstümpfe geschnitzt worden, nicht mehr feilzubieten. Doch für diejenigen, die den Tannenkauf wieder bis zur letzten Sekunde rausgezögert haben, ist er heute die letzte Chance. Den mickrigen Rest seiner letzten Stauden, die eher an Waldsterben als an festliche Christbäume erinnern, verkauft der runzelige Schrat, dessen struppige Gesichtsbehaarung man direkt selbst mit Lametta und Lichterketten schmücken könnte, den Höchstbietenden zum Fest der Liebe für mehrere Jahresgehälter.
Generell geht es hier draußen noch chaotischer zu als drinnen. Männer, Frauen und Kinder drücken sich entlang an verkeilten Kleinwagen, sich gegenseitig blockierenden Familienkutschen und an in dritter und vierter Reihe einfach stehengelassenen Kombis und Kleintransportern. Wie zur Rushhour in Bangkok kommt die Blechlawine kaum noch vor und zurück. Das aggressive Schnauben im Leerlauf durchgedrückter Gaspedale und wütendes Hupen befeuern die drohenden Gesten der sich um die verbliebenen freien Parklücken reißenden Fahrerinnen und Fahrer, die in ihren Cockpits auf und ab hüpfen wie in Gummizellen.
Unsicher, wie wir unsere Einkäufe unversehrt bis zu unserem Auto bringen sollen, schauen wir uns um. Der kleine Opel Corsa meiner Mutter steht in Abschnitt B, ganz außen links hinter den Fahrradständern, nicht einmal 30 Meter Luftlinie vom Ausgang und unserem Standort entfernt. Ein paar Schritte. Ein Katzensprung. Eine viel zu kurze Strecke, um Zeit zu verschwenden und den Fußgängerweg um die sich eng an eng im Schneckentempo bewegenden Fahrzeuge herum zu nehmen. Schon entdecke ich eine Lücke zwischen den Pkw. Elegant drehe ich einen der Einkaufswagen vor mich und ziehe den zweiten schwungvoll hinter mir her, um mich geschickt zwischen einem schwarzen Audi A4 und einem alten, jägergrünen Jaguar XJ6 durchzuschlängeln. Klasse, Bastian! Hat fast etwas Choreographisches. Anmutig. Eine einzige, fließende Bewegung. Volle Punktzahl in der B-Note. Das «Basti, pass auf!» meiner Mutter übertönt das kreischende Geräusch, das ein schwungvoll an einer Autotür entlangschrammender Einkaufwagen macht und in etwa wie Fingernägel auf Schiefertafel klingt, nur um ein paar Dezibel lauter.
«Shit!» Was passiert ist, weiß ich noch, bevor ich mich umdrehe. Wie Bärenkrallen hat sich das Gitter meines hinteren Einkaufswagens gut 30 Zentimeter lang tief in die Lackierung der Fahrerseite des Jaguar gekratzt. Drei scharfkantige Rillen durchziehen das Grün des liebevoll gepflegten Sammlerstücks. Das sieht nicht gut aus. Wäre das Fahrzeug ein Mensch, hätten wir es mit einer klaffenden Fleischwunde zu tun. Druckverband und 55 Stiche Minimum. Erschrocken glotze ich durch die Glasscheibe des Autofensters in das Wageninnere, direkt in das mich anstarrende Gesicht des Jaguar-Fahrers, eines breitschultrigen Herrn Ende 50 in klassisch-elegantem Wintermantel, der außer weit aufgerissenen Augen keinerlei Regung zeigt. Sofort keimt Hoffnung in mir: Vielleicht war ich das mit dem Kratzer ja gar nicht. Vielleicht ist meine Panik völlig unbegründet. Vielleicht war der Schaden schon vorher am Fahrzeug und dem Fahrer längst bekannt. Oder vielleicht ist das, was er mir nach seiner kurzen Schockstarre mit wutverzerrten Zügen durch die seine Worte abdämpfende Scheibe entgegenbrüllt, nur die Beschwichtigung, dass ich mir keine Sorgen wegen des Kratzerchens zu machen brauche und dass ja alles noch mal gutgegangen sei. Vielleicht. Hoffentlich. Allerdings leider ziemlich unwahrscheinlich.
Ohne geübter Lippenleser zu sein, kann ich seinen Mundbewegungen recht zweifelsfrei die Worte «Volltrottel», «Schadensersatz» und «Haschischverkicherung» entnehmen – wobei das Letzte vielleicht auch «Haftpflichtversicherung» geheißen haben könnte.
Viel erschrockener als über die Folgen meiner Ungeschicktheit und die Reaktion des Fahrers bin ich allerdings, als ich erkenne, wer da neben dem tobenden Mantelträger auf dem Beifahrersitz des Oldtimers sitzt und die Kapuze der Winterjacke bis über die schlanke Hornbrille gezogen hat.
Auf dem Beifahrersitz sitzt: Karina, meine Freundin.
Wie lange Karina und ich zusammen sind, können wir beide nicht auf den Tag genau festlegen. Also richtig zusammen. Nicht nur: Wir haben zwar mit niemand anderem Sex, aber deine Bad- und Kosmetikutensilien verteilst du bitte noch nicht in meiner Wohnung. So zusammen, dass meine Mutter es als «miteinander gehen» bezeichnen würde. Ein paar Monate, würde ich sagen. Wir wurden enger und enger, bis wir irgendwann nicht mehr auseinanderkamen. Aktueller Status: Fernbeziehung.
Kennengelernt haben wir uns vergangenes Weihnachten, genauer gesagt am Abend vor Heiligabend im Hirschwirt beim jährlichen vorweihnachtlichen Homecoming-Get-Together-Umtrunk, dem traditionellen Treffen, an dem sich alle Weggezogenen und Dagebliebenen des Städtchens im örtlichen Gasthaus zusammenfinden, um zu sehen und zu vergleichen, wer auf seinem Lebensweg welche Abzweigung genommen hat, wer von wem schwanger ist und wer wie viel anders aussieht als auf seinem Facebook-Profilbild. Um noch genauer zu sein, hatten Karina und ich uns auch da schon von der Schule gekannt – sie war zwei Jahrgangsstufen unter mir gewesen –, was mir aber erst etwa zur Hälfte unseres Umtrunk-Gesprächs wieder eingefallen war.
Karina lebt wie mein Bruder und seine kleine Familie in München, wo sie als Radioredakteurin bei einem überregionalen Privatsender arbeitet. Kein Traumjob, aber der Arbeitsaufwand hält sich in Grenzen, und das Gehalt reicht für ein Anderthalb-Zimmer-Apartment in Maxvorstadt.
Gefunkt hat es schon am Abend unseres zweiten Kennenlernens im Hirschwirt, und die folgenden Tage war kaum eine Stunde vergangen, in der wir uns nicht via WhatsApp über die Weihnachtsereignisse bei unseren Familien ausgetauscht hatten. Wiedergesehen haben Karina und ich uns dann – wie gegenseitig im Gasthaus nach etlichen Schierbecker-Pils und Shots versprochen – eine Woche später an Silvester in Köln, wo sie mich besuchen gekommen war.
Silvester vor einem Jahr.
«Schuhe ausziehen, oder?» Karina stand, ein bisschen außer Atem, klatschnass vom rheinländischen Dezember-Schnurregen im Türrahmen zu meiner Wohnung, ihren Rollkoffer, den sie mich nicht die Treppe in den vierten Stock hatte hinauftragen lassen, neben sich.
«Eigentlich schon aus, ja», antwortete ich, Herzschlag bis zum Hals, schlüpfte aus meinen Stiefeln und führte sie vom winzigen Garderoben-Vorraum ins Wohnzimmer. «Ist gerade frisch gewischt.» Ich hatte mich nochmals zu ihr umgedreht, um meine «Keine-Schuhe-Policy» zu rechtfertigen. «Also, nicht, dass ich nur geputzt hätte, weil du vorbeikommen wolltest, haha», schob ich schnell, fahrig lachend, hinterher, um nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, ich sei ansonsten wahnsinnig unordentlich. «Ich wische, sauge und kehre sehr regelmäßig.» Hä? Keine Ahnung, warum ich das noch angefügt hatte. Ich war offenbar nervöser, als ich mir selbst eingestehen wollte. Regelmäßig die eigenen vier Wände zu säubern, war etwas Selbstverständliches und bedurfte keiner besonderen Erwähnung, Bastian. Außer natürlich, man war ein Reinheits-Freak und wollte extra unterstreichen, dass man nur ab und zu, in völlig gängigen Abständen zu Mopp und Putzlappen griff, um vom eigenen, zwanghaften Putzwahn abzulenken. Ich fing an zu schwitzen. Niemand wollte einen Psycho mit Putzfimmel! «Aber nicht, dass du mich jetzt für einen zwanghaften Sauberkeits-Fanatiker hältst», machte ich alles nur noch schlimmer. «Mein Verhältnis zu Hygiene ist völlig gesund.» Völlig gesund?! Wtf? Es gab nur eine Sorte von Leuten, die betonte, dass sie völlig gesund war. Und zwar die Sorte, die es eben nicht war. Mein Atem ging schwer. Vor meinem inneren Auge sah ich Karina schon fluchtartig meine Behausung verlassen. Ich trat näher an sie heran. «Ich habe kein Problem. Ehrlich, Karina! Ich bin nicht krank! Weißt du was: Lass die Schuhe einfach an.»
«Alles gut, Basti. Mach dich mal ’n bisschen locker. Schön hast du es hier», unterbrach sie mich und lächelte mir zu. «Wohnlich. Gefällt mir. Wo kann ich meine Sachen denn abstellen?»
Ich hatte mich wieder etwas gefangen: «Ähm, also, ich würde auf der Couch schlafen, und du könntest mein Bett haben, wenn du willst. Am besten packst du dein Gepäck einfach ins Schlafzimmer.»
«Das da ist deine Couch, nehme ich an?» Karina deutete in die Ecke am Fenster.
«Exakt.»
«Und auf der willst du schlafen?»
«Correctamundo.» Correctamundo?! Gedanklicher Face Palm. Was war nur los mit mir?
«Wie groß bist du, Bastian?»
«Hm, etwa eins fünfundachtzig.» Eins vierundachtzig.
«Und wie breit ist die Couch?»
«Vielleicht so eins vierzig?» Eher so eins dreißig. IKEA. Zweisitzer mit blauem Bezug. Im linken Polster konnte man gut eine deutlich eingesessene Kuhle, die etwa 150 komplette Serienstaffeln tief sein musste, erkennen.
«Denkst du nicht, dass das vielleicht ein bisschen unbequem werden könnte heute Nacht? Und ich würde ja vielleicht sogar ein paar Tage länger bleiben, wenn du mich lässt.» Karina hatte ihren Schal und ihre Mütze auf dem Wohnzimmertisch abgelegt und begutachtete das Sofa kritisch. Ihre Brille hatte sie ebenfalls abgenommen, um die beschlagenen Gläser mit einem Mikrofasertuch zu reinigen. Ihre blonden Haare waren wieder zu diesem strengen Zopf gebunden, der mich schon im Hirschwirt ziemlich aus der Fassung gebracht hatte.
Ich kratzte mich am Hinterkopf und erwiderte: «Ach, das wird schon gehen. Zur Not habe ich auch noch einen Schlafsack. Damit kann ich mich auch hier auf den Teppich legen.» Heldenhaft, Bastian. Wahrlich heldenhaft.
«Wie groß ist denn dein Bett?», wollte Karina wissen und spähte durch die Wohnzimmertür, die an der Küche vorbei zum Schlafzimmer führte.
«Mein Bett? Größer. Keine Angst, da passt du schon rein.»
«Ja, ich meinte ja auch eher, ob wir da zu zweit reinpassen.» Okay. Wie reagierte man da jetzt am coolsten? Karina hatte meinen Gesichtsausdruck, der ziemlich identisch mit dem Emoji mit den aufgerissenen Augen sein musste, bemerkt und verdrehte jetzt ihrerseits die Augen: «Ach, komm, guck nicht wie Özil. Ich meine das so, wie das erwachsene Menschen halt meinen.»
«Erwachsen? Im Kopf bin ich zwölf.»
«Mein Gott, Basti!» Sie streifte, die Finger wie zufällig über meinen Unterarm fahrend, an mir vorbei. «Du kannst ja ganz außen am Bettrand im Schlafsack schlafen, oder du gibst mir einfach eine Wolldecke oder so. Kriegen wir schon hin. Hättest du vielleicht ein Glas Wasser für mich? Und magst du mir vielleicht mal den Rest deiner Wohnung zeigen?» Ich mochte. Viel zu zeigen gab es allerdings nicht. Die Wohnung sah damals aus wie heute: Wohnzimmer mit Couch, Fernseher, Bücherregal und kleinem Schreibtisch. Küche mit Herd, Küchentisch mit drei alten, aus der Haushaltsauflösung meiner verstorbenen Großmutter übriggebliebenen Stühlen, Kühlschrank und Gefriertruhe mit Energieeffizienzklasse Z, die wohl der alleinige Grund dafür ist, dass Deutschland immer noch nicht alle Atomkraftwerke vom Netz genommen hat. Ein paar Bilder vom Flohmarkt hängen an den Wänden. Eine Musikanlage mit Plattenspieler und WLAN-Connection steht auf zusammengezimmerten Brettern. Trotz der einfachen, fast kargen Ausstattung könnte man die Wohnung als gemütlich bezeichnen. Die Fenster sind groß, fast bodentief, und die dicken Mauern schirmen ab gegen polternde Nachbarn und wummernden Straßenlärm. Die schweren Vorhänge im Schlafzimmer verstärken dieses Gefühl von Geschütztheit, der Zwei-Quadratmeter-Balkon zum Innenhof lässt einen auf Höhe des Wipfels einer kräftigen Linde durchatmen.
Karina fühlte sich sichtlich wohl, was mir ein wenig half, meine Nervosität abzulegen und wenigstens wieder ansatzweise ich selbst zu sein.