Andrew Lane
Young Sherlock Holmes 5
Der Tod kommt leise
Aus dem Englischen von Christian Dreller
FISCHER E-Books
Andrew Lane ist der Autor von mehr als zwanzig Büchern, unter anderem Romanen zu bekannten TV-Serien wie ›Doctor Who‹ und ›Torchwood‹. Einige davon hat er unter Pseudonym veröffentlicht. Andrew Lane lebt mit seiner Frau, seinem Sohn und einer riesigen Sammlung von Sherlock-Holmes-Büchern in Dorset, England. ›Young Sherlock Holmes - Der Tod kommt leise‹ ist der fünfte Band der Serie über das Leben des jungen Meisterdetektivs. Weitere Bände sind in Vorbereitung.
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Covergestaltung: bürosüd°, München
Umschlaggestaltung und -abbildung: www.buerosued.de nach einer Idee von HildenDesign
Erschienen bei FISCHER E-Book
Die englische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel ›Young Sherlock Holmes - Snake Bite‹ bei Macmillan Children’s Books, London, England
© Andrew Lane 2013
Für die deutschsprachige Ausgabe
© S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Lektorat: Lana Schmitz
Satz: pagina GmbH, Tübingen
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402748-7
Mike Elliot, Keith Garland, Derek Rothwell, Angus Martin, Lynn Martinez (beziehungsweise Lynn Furby, wie sie damals hieß), Paula Fountain und (vor allem) Sonia Morrish gewidmet – denjenigen, die mir geholfen haben, die Jahre 1982 bis 1985 mit einem Mindestmaß an gesundem Menschenverstand zu überstehen. Danke, dass ihr für mich da wart.
Ebenso gewidmet Steven Moffat, Mark Gatiss und Guy Ritchie, dafür, dass sie die Legende auf großen und kleinen Bildschirmen am Leben erhalten haben.
Und mit dankbarer Anerkennung an Sally Oliphant, die mit ihrem Geschick und ihrer Diplomatie in schlechten Zeiten weit über die Maßen des Pflichtgefühls hinaus unermüdlich dazu beigetragen hat, dass ich bei der Sache bleibe und nicht den Verstand verliere; und nicht zu vergessen Polly Nolan, die es geschafft hat, meinen ersten Manuskriptentwurf um 12000 Wörter zu erleichtern (darunter Hunderte sinnlose Verwendungen des Wortes »einfach«) und es unermesslich zu verbessern.
Die Flure und Korridore des Diogenes Clubs gehören wahrscheinlich zu den stillsten Orten in ganz London. Niemandem, der ihn betritt, ist es gestattet, zu sprechen – es sei denn im Besucherraum und selbst dort nur dann, wenn dessen Tür fest geschlossen ist. Die hier tätigen Angestellten – die Diener und Ober – tragen eine Lage gefütterten Stoffs unter den Schuhsohlen, um sich lautlos fortbewegen zu können. Die Zeitungen, die die Clubmitglieder lesen, sind auf speziellem Papier gedruckt, das beim Falten nicht raschelt. Jedem Mitglied, das sich mehr als dreimal im Monat räuspert oder die Nase schnäuzt, wird zudem eine schriftliche Verwarnung erteilt. Und schon drei davon führen zum Ausschluss.
Die Mitglieder des Diogenes Clubs wissen ihre Ruhe zu schätzen.
Als Amyus Crowe sich an dem Diener in der Empfangshalle vorbeischob und durch das Labyrinth aus Korridoren und Leseräumen zum Besucherraum schritt, wo Mycroft Holmes ihn erwartete, sprach er nicht ein einziges Wort. Aber er hatte etwas an sich, das jedermann veranlasste, missbilligend aufzusehen, um dann gleich wieder die Augen abzuwenden, sobald er Crowes Blick begegnete. Obwohl er sich still verhielt, obwohl seine Kleidung kaum ein Rascheln von sich gab, während er sich fortbewegte, und obwohl das Leder seiner Stiefelsohlen kaum mehr als ein leises Scharren auf den Bodenfliesen erzeugte, schien er eine laut und wütend knisternde Energie zu versprühen. Es war, als würde aus jeder Pore seines Körpers hörbarer Zorn entströmen.
Er schlug die Tür zum Besucherraum so hart hinter sich zu, dass selbst die druckluftgefederten Spezialtürangeln nicht in der Lage waren, den lauten Rums zu unterbinden.
»Was haben Sie gehört?«, blaffte er.
Mycroft Holmes stand neben dem großen Tisch des Besucherraumes und zuckte zusammen.
»Meine Agenten haben bestätigt, dass Sherlock in Farnham gekidnappt und in narkotisiertem Zustand nach London verschleppt worden ist«, erwiderte er. »Dort wurde er auf ein Schiff namens Gloria Scott verfrachtet.«
»Und was gedenken Sie bezüglich der Rettung Ihres Bruders und meines Schülers zu unternehmen?«
»Alles, was ich kann«, sagte Mycroft. »Was leider nicht sehr viel ist, wie ich fürchte. Das Schiff ist nach China ausgelaufen. Ich versuche gerade, ein Ladungsverzeichnis aufzutreiben, mit dessen Hilfe sich vielleicht herausfinden lässt, wann und wo das Schiff auf seiner Reise Station machen wird, um Vorräte aufzunehmen. Aber das erweist sich als schwierig. Die Routen des Schiffes werden auf Geheiß des Kapitäns bestimmt, bei dem es sich meinen Agenten nach um einen berüchtigten Exzentriker handeln soll. Auslauf- und Zielhafen, sprich London und Shanghai, stehen fest. Aber dazwischen könnte er praktisch überall einen Stopp einlegen.«
»Und«, begann Crowe und zögerte kurz fortzufahren, »… und sind Sie sicher, dass er am Leben ist?«
»Wenn die Absicht bestünde, ihn umzubringen, warum sollte man ihn dann erst betäuben und kidnappen? Wozu sich die Umstände machen und ihn auf ein Schiff verfrachten, wo man ihn doch einfach irgendwo im Wald verscharren könnte? Nein, mein Verstand sagt mir, dass er noch lebt.«
»Und was soll die Entführung bezwecken?«
Mycroft schwieg einen Moment lang, und seine Miene wurde noch ernster. »Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wer ihn entführt hat.«
»Ich glaube, wir beide kennen die Antwort«, knurrte Crowe.
Mycroft nickte. »So ungern ich auch angesichts fehlender Hinweise Schlussfolgerungen ziehe, bin ich doch außerstande, eine andere Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Die Paradol-Kammer hat ihn.«
»Es gibt bereits Hinweise«, hob Crowe hervor. »Er hat geschworen, diesen Mr Kyte gesehen zu haben, der sich als Agent der Paradol-Kammer entpuppt hat. Auf seinem Weg nach Edinburgh, in Newcastle auf dem Bahnsteig. Sherlock hat es Rufus Stone gegenüber erwähnt, der es wiederum mir erzählt hat. Wir haben beide vermutet, dass die Paradol-Kammer Sherlock im Auge behält. Aber wir haben nicht damit gerechnet, dass sie tatsächlich aktiv werden.«
Erneut nickte Mycroft. »Und genau das erklärt Ihren Zorn, der sich in Wirklichkeit nicht gegen mich richtet, sondern gegen sich selbst. Sie sind wütend, dass Sie die Gefahr nicht vorhergesehen haben, in der Sherlock schwebte.«
Crowe wandte den Blick von Mycroft ab. Seine Augen blitzten unter den buschigen weißen Augenbrauen. »Sie sagten, wenn wir wüssten, wer ihn geschnappt hat, würden wir auch die Gründe dafür kennen. Also – es ist die Paradol-Kammer. Was aber wollen sie?«
»Die Paradol-Kammer ist … oh, verzeihen Sie. Hätten Sie auch gerne einen kleinen trockenen Sherry? Nein? Na schön, dann hätten Sie wohl nichts dagegen, wenn ich mir etwas einschenke, nicht wahr? Also, wie Sie bereits wissen, handelt es sich bei der Paradol-Kammer um eine Gruppe politisch motivierter Aufrührer, die darauf aus sind, bestehende Regierungen zu stürzen, um eigene Ziele zu erreichen. Welche meiner Vermutung nach unter anderem darin bestehen, durch Aktien- und Rüstungsgeschäfte ein Vermögen zu machen. So wie sie mir beschrieben wurden, sind sie so etwas wie eine kleine Nation ohne festes Territorium. Eine Beschreibung, die, wie mir scheint, ebenso gut ist wie jede andere auch. Meiner beschränkten Erfahrung zufolge handeln sie selten aus einem einzelnen Motiv heraus. Jede ihrer Aktionen zielt darauf ab, ihre Organisation an mehreren Fronten zugleich voranzubringen. Wenn ich eine Vermutung wagen sollte …« Er brach ab und schüttelte sein großes Haupt. »Ein Zeitvertreib, der mir übrigens zutiefst zuwider ist. Aber dennoch, wenn ich eine Vermutung wagen sollte, würde ich behaupten, sie haben Sherlock entführt, um ihn erstens dafür zu bestrafen, dass er in die Unterbindung einiger ihrer Pläne involviert war, ihn zweitens daran zu hindern, sich erneut einzumischen, und drittens, um Sie und mich in einen Zustand der Verwirrung zu stürzen, der uns davon abhalten soll, hinter ihre weiteren Pläne zu kommen.«
»Aber sie haben ihn nicht umgebracht«, gab Crowe zu bedenken. »Warum nicht?«
»Sherlock zu töten wäre eine Strafe gewesen, die nur ein paar Sekunden währt. Wonach ihm dann sowieso egal wäre, was sie getan haben. Auf einem Schiff festzusitzen hingegen, getrennt von seinen Freunden und der Familie und jeglicher Aussicht auf eine ordentliche Mahlzeit beraubt – das ist eine Folter, die lange dauert und sie nichts kostet. Und sie müssen genug über Sie und mich wissen, um sich darüber im Klaren zu sein, dass, falls Sherlock sterben sollte, wir, statt weiterhin zu versuchen, ihre Pläne zu entlarven, jede Minute und jede Guinea, die uns in die Hände kommt, dafür verwenden würden, sie aufzuspüren und vor Gericht zu bringen.«
»Oder die Gerechtigkeit selbst in die Hand zu nehmen«, knurrte Crowe. »Die Art von Gerechtigkeit, die aus dem Lauf einer Waffe kommt.«
»Zum ersten Mal«, räumte Mycroft leise ein, »könnte ich Ihnen in diesem Punkt zustimmen.«
»Können Sie kein Schiff der Royal Navy schicken, um diese Gloria Scott abzufangen?«
Mycroft schüttelte den Kopf. »Ich verfüge nicht über die Autorität, um eines einzigen Jungen willen ein Schiff zu entsenden. Auch wenn es sich dabei um meinen Bruder handelt. Und selbst wenn ich die Befugnis hätte, würde ich es nicht machen. Diese Schiffe sind mit wichtigeren Aufgaben betraut, wie zum Beispiel, unsere Küsten vor Angriffen zu schützen und dem Willen der Königin im Ausland Geltung zu verschaffen. Dagegen wiegt das Leben eines einzelnen Kindes so gut wie nichts.« Er seufzte und ballte hilflos die Hand zur Faust. »Die ganze Diskussion bessert unsere Lage nicht gerade. Wir können Sherlock nicht helfen. Er ist auf sich allein gestellt.«
»Ein auf sich allein gestellter Sherlock verfügt über mehr Einfallsreichtum als die meisten, die von Freunden oder Verwandten umgeben sind.« Crowes Stimme klang nun ruhiger, und die wilde Energie, die sein Körper zuvor versprüht zu haben schien, hatte etwas an Intensität verloren. »Er ist mutig und stark, und er weiß, was er will. Und wenn nötig, ist er in der Lage, geschickt die Fäuste einzusetzen. Ich denke, er wird schnell herausfinden, dass er das Beste aus seiner Situation machen muss. Er weiß, dass das Schiff irgendwann nach London zurückkehrt. Und das gibt ihm die Garantie, wieder nach England zurückzugelangen. Eine Garantie, die er nicht hat, würde er sich mitten während der Reise von Bord stehlen und dann versuchen, ein Schiff mit Heimatkurs zu finden. Außerdem wird der Kapitän der Gloria Scott zu wenig Leute haben. Denn das haben Kapitäne immer. Daher wird er dem jungen Mann Arbeit aufhalsen. Harte Arbeit, aber Sherlock wird es überstehen. Und vermutlich wird er sogar stärker und selbstbewusster daraus hervorgehen.«
»Kaum die Art von Folter, die die Paradol-Kammer im Sinn gehabt haben wird«, konstatierte Mycroft trocken.
Crowe lächelte. »Soweit ich sagen kann, handelt es sich bei den führenden Köpfen der Paradol-Kammer um Leute, die ein luxuriöses Leben führen, mit Dienern, die ihnen jeden Wunsch erfüllen. Tauwerk zu spleißen oder sich an der Ankerwinde abzuschuften wäre für sie Folter. Für den jungen Sherlock jedoch wird es ein Abenteuer sein – jedenfalls, wenn er sich entschließt, es so zu betrachten.«
»Das hoffe ich. Das hoffe ich wirklich sehr.«
»Ich denke, ich werde jetzt Gebrauch von diesem Sherry machen«, sagte Crowe. »Gott weiß, dass ich mir eigentlich nichts draus mache. Aber jetzt kann ich wirklich einen ordentlichen Schluck gebrauchen.«
Mycroft machte sich daran, aus einer Karaffe auf dem Sideboard ein Glas für Crowe zu füllen. »Ich werde ein paar Briefe schreiben«, verkündete er, als er Crowe das Glas reichte, das beinahe in dessen riesiger, wettergegerbter Pranke verschwand. »Diese schicken wir per Telegraph in die verschiedenen Häfen, die auf seiner Route liegen. Darüber hinaus werde ich dafür sorgen, dass die Angehörigen des diplomatischen Korps nach der Gloria Scott Ausschau halten. Sie können dann unsere Nachrichten übermitteln und uns berichten, wie es ihm geht.«
»Er wird nur etwa ein Jahr fort sein«, hob Crowe hervor. »Vielleicht weniger, wenn es Wind und Wetter zulassen. Sie werden ihn bald wiedersehen.«
Mycroft nickte. »Ich weiß. Es ist nur … ich fühle mich so verantwortlich. So hilflos.« Er holte tief Luft, sich offenbar gegen einen plötzlichen emotionalen Ausbruch wappnend. »Natürlich darf ich Mutter nichts sagen. Sie würde es gesundheitlich nicht verkraften. Und Vater werde ich nichts davon schreiben, bis ich mehr Informationen habe – vielleicht nicht einmal dann. Unserer Tante und unserem Onkel sende ich eine Nachricht nach Farnham, um ihnen mitzuteilen, dass alles in Ordnung ist. Sie machen sich große Sorgen um ihn.«
»Ich werde mir was ausdenken, wie ich Virginia beibringe, was passiert ist«, sagte Crowe. »Offen gesagt, graust es mir davor mehr als vor allem anderen. Sie hat an Ihrem Bruder wirklich großen Gefallen gefunden.«
»Und er an ihr«, sagte Mycroft nachdenklich. »Lassen Sie uns hoffen, dass ihre Erinnerungen aneinander stark genug sind, dass sie sich nicht unterkriegen lassen.«
Eine dunkle Linie zeichnete sich am Horizont ab. Sherlock konnte sie deutlich erkennen, als er den Blick über den Ozean schweifen ließ. Der größte Teil des Himmels erstrahlte in einem makellosen, klaren Blau. Aber dort, in der Ferne, verdunkelte er sich zu einer violetten Schwärze, die an einen alten Bluterguss erinnerte. Hätte sich die Stelle nicht westlich ihrer Schiffsroute befunden, hätte man es für Land halten können. Doch das einzige Land in der Nähe – die Südspitze Afrikas – lag im Osten.
Er fragte sich, ob er Mr Larchmont, dem ersten Steuermann, davon erzählen sollte. Mr Larchmont hatte Sherlock unter seine Fittiche genommen und ihm einen Platz in der Mannschaft zugewiesen, nachdem Sherlock zu sich gekommen war und sich an Bord der Gloria Scott wiedergefunden hatte –, die, wie sich herausstellte, England bereits weit hinter sich gelassen hatte.
Vielleicht sollte er Kapitän Tollaway selbst davon erzählen. Doch der Kapitän war eine ferne, unnahbare Person, die sich selten an Deck blicken ließ. Womöglich könnte er sein Glück auch bei einem der anderen Besatzungsmitglieder versuchen. Sherlock blickte sich um. Aber alle gingen unbekümmert ihren Pflichten nach – ebenso, wie man es von ihm erwartete. Eigentlich sollte er das Deck schrubben. Es von Holzabrieb und alten Taufasern säubern, die sich während der letzten Tage angesammelt hatten – und von der Schicht aus feinen Salzkristallen, mit der die in der Sonnenglut verdunstende Meeresgischt permanent alles auf dem Schiff überzog.
Er schüttelte den Kopf und machte sich wieder ans Schrubben. Sherlock war der Unerfahrenste an Bord, und es stand ihm nicht zu, andere auf Dinge aufmerksam zu machen. Sie mochten es nicht.
Er tauchte den Mopp in den Eimer und schrubbte anschließend einen Deckstreifen, wo zuvor an diesem Morgen einer der Matrosen Blut verloren hatte. Der Mann war mit dem kleinen Finger in einer Taurolle stecken geblieben, die dann plötzlich durch die jähe Bewegung eines Segels fortgerissen worden war – samt seinem Finger. Der Schiffsarzt – oder vielmehr ein Gehilfe Mr Larchmonts, der im Laufe der Zeit ein paar medizinische Kenntnisse erworben hatte – hatte die Wunde gesäubert und verbunden, und nun ruhte der Seemann in seiner Hängematte mit einer doppelten Ration Rum intus, um die Schmerzen zu betäuben. Das hinterließ eine Lücke im Dienstplan, von der, wie Sherlock wusste, erwartet wurde, dass er sie ausfüllte.
Zum gefühlt tausendsten Mal fragte er sich, wie es dazu hatte kommen können, dass er eben noch ein in Hampshire lebender Junge gewesen war und im nächsten Augenblick schon ein Seemann, dessen Schiff sich auf dem Weg nach China befand. Zwischen dem Moment, in dem er plötzlich in der Bibliothek seines Onkels das Bewusstsein verloren hatte, und dem, als er schließlich auf der Gloria Scott aufgewacht war, klaffte eine Lücke in seinem Gedächtnis. Die beste Erklärung, auf die er kam, war, dass man ihn betäubt, entführt und vor dem Auslaufen auf das Schiff verfrachtet hatte. Aber wer würde so etwas machen, und warum?
Als einzige Antwort fiel ihm jene kriminelle Organisation ein, die sich selbst als Paradol-Kammer bezeichnete. Er war ihr schon zu viele Male in die Quere gekommen. Vielleicht war dies ihre Rache?
Eine Zeitlang hatte Sherlock mit dem Gedanken gespielt, sich bei der ersten Gelegenheit heimlich von Bord zu schleichen, um zu versuchen, sich nach Hause durchzuschlagen. Aber schließlich gewann die Logik die Oberhand über das Heimweh. Die Gloria Scott war eine bekannte Größe – die Mannschaft ging freundlich mit ihm um, er hatte eine Hängematte und etwas zu essen. Und er wusste, dass das Schiff irgendwann wieder nach England zurückkehren würde. Falls er von Bord ging, wenn die Gloria Scott gerade in irgendeinem Hafen Proviant aufnahm, wäre er allein in einem fremden Land. Er konnte allen möglichen Arten von lichtscheuem Gesindel zum Opfer fallen, und sollte er womöglich ein Schiff mit Kurs nach Hause auftreiben, so gab es keine Garantie, dass er es dort ebenso komfortabel antreffen würde wie auf der Gloria Scott – wobei es selbst hier nach normalen Maßstäben alles andere als komfortabel war.
Seufzend schob er den vom Deck geschrubbten Schmutz in Richtung Reling. Dort gab es Aussparungen, sogenannte Speigatten, durch die sich die Drecksbrühe über Bord befördern ließ, während man zusehen konnte, wie sie sich in die Tiefe ergoss. Augenblicklich kurvten Seevögel – Albatrosse und Möwen, die dem Schiff folgten – neugierig herbei, für den Fall, dass sich unter der Masse aus Holzabrieb und Taufasern etwas Fressbares befand. Tief unter ihm klatschte die Brühe in einer weißen Sprühfontäne auf das Wasser.
Wieder hob Sherlock den Blick zum Horizont, um noch einmal nach dem dunklen Streifen zu sehen. Doch da nahmen seine Augen plötzlich eine Bewegung unter der Wasseroberfläche wahr. Als er genauer hinsah, durchbrach ein glitzernd grauer Körper die Oberfläche. Es war ein Fisch, allerdings einer, der größer zu sein schien als er selbst – wohl in etwa so groß wie Amyus Crowe, sein Lehrer. Überrascht schnappte er nach Luft, als weitere fünf – nein zehn – Tiere hinter ihrem Anführer die Oberfläche durchstießen. Sie hatten langgezogene, schnabelartige Schnauzen und platte Flossen, und ihre Augen waren groß und dunkel.
»Na, machste den Mädels schöne Augen?«, rief hinter ihm jemand.
Sherlock wandte den Kopf und rief zurück: »Eine von ihnen behauptet, deine Frau zu sein! Sie sagt, du hast ihr die Hälfte deiner Heuer versprochen, aber nie was rausgerückt. Jetzt ist sie gekommen, um sie sich zu holen!«
Das Gelächter der Matrosen hallte über das Deck. Sherlock hatte schnell herausgefunden, dass sie sich ständig mit anzüglichen Witzen auf die Probe stellten. Es erinnerte ihn an Hunde, die im Spiel permanent nacheinander schnappten, um herauszufinden, wer der Rudelführer war. Entweder spielte man dann die beleidigte Leberwurst, in welchem Fall die Witze immer gröber und spitzer wurden, oder man machte mit und steigerte dadurch sein Ansehen. Sherlock hatte sich rasch für die zweite Option entschieden, seit er Teil der Mannschaft geworden war, und es schien zu funktionieren. Sie akzeptierten ihn, und er gehörte nicht zu den Letzten in der Hackordnung. Zur Spitze war es zwar auch noch weit, aber zumindest wurde er wie einer von ihnen und nicht wie ein Außenseiter behandelt.
Einer der Matrosen – sein Name war Jackson – stand dicht neben Sherlock. Mit der knappen Drehung seines Daumens wies er auf die Gestalten im Wasser. »So was hab’ ich noch nie gesehen, schwör ich dir.«
»Ich auch nicht«, gestand Sherlock. »Was sind das für Tiere? Kann man sie essen?«
Jackson bekreuzigte sich. »Das sind Tümmler«, antwortete er. »Und einen zu töten bringt Unglück. Ganz zu schweigen davon, einen zu essen. Sie begleiten das Schiff auf seiner Fahrt. Manche sagen, wenn ein Seemann über Bord geht, umringen sie ihn. Sie sorgen dafür, dass er nicht untergeht, und schützen ihn vor Haien.«
»Haie?«, fragte Sherlock.
»Wölfe der See«, erwiderte Jackson. »Mit Zähnen wie eine Bandsäge. Die trennen dir schon den Arm ab, wenn ihre Kiefer ihn nur streifen.«
»Gut. Dann werde ich versuchen, nicht reinzufallen. Oder wenn, dann nur, wenn ein paar Tümmler in der Nähe sind.« Sherlock nahm die Gelegenheit wahr, um mit einem Nicken zum Horizont zu deuten. »Was ist das?«, fragte er. »Diese Farbe sieht irgendwie … komisch aus.«
Jackson hob den Blick zum Horizont und runzelte die Stirn. »Du hast scharfe Augen«, räumte er ein. »Sieht für mich ganz wie ein Tropensturm aus. Mr Larchmont wird davon wissen wollen. Willst du’s ihm sagen?«
Sherlock schüttelte den Kopf. »Mach du«, sagte er. Er wusste, dass Mr Larchmont eine mentale Liste sämtlicher Seeleute führte. Mit einer kleinen Note hinter jedem einzelnen Namen, um festzuhalten, wie gut oder schlecht er von ihnen dachte. Diese Bewertungen stiegen oder fielen – abhängig davon, wie hart oder schlecht die Männer arbeiteten, wie aufmerksam sie schienen, wie respektvoll sie sich ihm und dem Kapitän gegenüber verhielten und in wie viele Schlägereien sie an Bord gerieten. Indem er als Erster Mr Larchmonts Aufmerksamkeit auf den Sturm lenkte, konnte Sherlock sich ein paar Bonuspunkte verdienen – wenn es denn ein Sturm war. Doch überließ er Jackson die Gelegenheit, könnte er sich den Seemann mehr zu so etwas wie einem Freund machen. Und das mochte sich in Zukunft vielleicht noch einmal als nützlich erweisen.
»Danke«, sagte Jackson und beäugte Sherlock neugierig. »Das werd’ ich dir nicht vergessen.«
Er wandte sich ab und steuerte auf den höher gelegenen Bereich des Schiffes zu, wo sich die Brücke befand und Mr Larchmont üblicherweise anzutreffen war.
Wieder blickte Sherlock zum Horizont. Die dunkle Linie war nun ausgeprägter. Bei nach vorn gestreckter Hand nahm sie zwei Finger breit über dem Horizont ein, und die Seitenränder schienen sich weiter auszudehnen, wie Arme, die versuchten, das Schiff zu umschlingen. Da war etwas an dieser unnatürlich violetten Farbe der Sturmwolken, was ihm ein flaues Gefühl in der Magengrube bereitete. Er spürte eine warme Brise auf seinem Gesicht, die aus Richtung des Sturms heranwehte. Er nahm wahr, dass das Deck unter seinen Füßen auf einmal schwerer stampfte als noch kurz zuvor. Ein erneuter Blick über die graugrüne See überzeugte ihn, dass die Wellen höher wurden. Als wären es Schaumkronen in einem vollen Bierhumpen, riss der Wind Fetzen weißer Gischt von ihren Kämmen fort und wehte sie über das Wasser davon.
»Ahoi! Alle Mann an Deck!«, ertönte eine barsche Stimme. Sherlock drehte sich um und sah Mr Larchmont mit Jackson an der Seite auf dem höher gelegenen Achterdeck stehen. »Setzt so viele Segel wie möglich und holt die Taue durch«, brüllte er mit einer Stimme, die mühelos von einem Ende der Gloria Scott ans andere drang. »Ein Sturm kommt auf, Jungs! Besser gesagt, die Mutter aller Stürme, und wir werden versuchen, vor ihr abzuhauen.« Er packte Jackson an der Schulter. »Verständigen Sie den Kapitän«, sagte er mit leiserer Stimme. Sherlock konnte die Worte von seinen Lippen ablesen. »Sagen Sie ihm, was vor sich geht.«
»Aye, aye, Sir«, erwiderte Jackson und wandte sich zum Gehen.
Urplötzlich hatte sich das Schiffsdeck in ein hektisches Gewimmel verwandelt, während Seeleute in alle Richtungen liefen oder kletterten. Larchmonts Blick fiel auf Sherlock, der reglos inmitten des Chaos dastand. »Beweg deinen Hintern, du blinder Passagier! Sieh zu, dass du in die Takelage aufenterst, und guck, ob beim Vormastsegel alle Anschlagbändsel stramm sitzen. Oder ich setz dich in einem Beiboot aus, und du kannst dich alleine mit dem Sturm amüsieren.«
»Aye, aye, Sir!« Sherlock flitzte zu den nächsten Wanten. Wie ein Spinnennetz aus Tauen führten sie zu den sich übereinandertürmenden Segeln empor. Das Tau scheuerte rau über seine Haut, und er spürte, wie sich seine jüngst gewachsenen Muskeln spannten, als er sich hochzog und an den Aufstieg machte. Das Schiff stampfte und schlingerte, während sich die raue See gegen den Rumpf warf. Einen Moment legte es sich stark auf die Seite, und als Sherlock herabblickte, konnte er die See direkt unter sich sehen. Fast schien es, als würden die Wellen nach ihm greifen – Hunderte weißer Hände, die sich aus dem Wasser zu ihm emporstreckten. Entschlossen vertrieb er das Bild und kletterte weiter.
Er erreichte das unterste Segel und robbte, die Finger um das raue Holz gekrallt, bäuchlings an der Rah entlang. Nacheinander überprüfte er jedes einzelne Tau, mit dem das Oberliek des Segels an der Rah befestigt war. Alle saßen fest – ausgeschlossen, dass eines davon während des Sturms nachgab. Es sei denn, es würde besonders übel werden. Mit festem Griff klammerte er sich unablässig an die Taue und achtete sorgsam auf Splitter, die womöglich aus der rauen Oberfläche der Holzrahen ragten. Er hatte selbst gesehen, was mit Seeleuten passieren konnte, die sich einen Splitter in die Haut rammten: Die Wunde konnte sich infizieren und bis ins Unermessliche anschwellen, und dann stand es auf Messers Schneide, ob die betroffene Stelle oder gar das ganze Körperglied chirurgisch entfernt werden musste. Auf einem Schiff gab es Tausende von Möglichkeiten, sich eine üble Verletzung zuzuziehen. Zum ersten Mal konnte Sherlock Mycrofts Standpunkt nachvollziehen: Die sicherste Weise, sein Leben zu verbringen, bestand darin, die ganze Zeit zu Hause zu bleiben. Aber tat man das, verpasste man auch alle Abenteuer. Plötzlich musste er lächeln. Vielleicht war es das Beste, sich mit einem Arzt anzufreunden – wäre doch so stets Hilfe zur Hand.
Von diesem Gedanken abgelenkt, rutschte seine Hand auf einmal an einer Algenschicht ab, die sich im Laufe der Zeit irgendwie auf einer Stelle des Taus hatte ansiedeln können. Ehe er es sich versah, kippte er auch schon zur Seite. Er presste mit aller Kraft die Beine gegen die Rahe, aber sein Körpergewicht zerrte so stark an ihm, dass er schließlich kopfüber herunterhing. Die nasse Segelleinwand klatschte ihm ins Gesicht, als jäh der auffrischende Wind hineinfuhr. Im Nu hatte er die Orientierung verloren. Wo zum Teufel war nur oben? Er krümmte den Rücken und streckte die Hand dorthin, wo sich seiner Vermutung nach die Rah befand. Aber seine Finger griffen unablässig ins Leere.
Er spürte, wie seine Beine abrutschten. Jede Sekunde würde er kopfüber den ganzen Weg bis zum Deck hinunterstürzen.
Da ergriff seine rechte Hand etwas Warmes. Verzweifelt packte er fester zu und spürte, wie er wieder hochgezogen wurde. Seine linke Hand krallte sich an ein Tau, und fieberhaft zerrte er daran, bis er sich plötzlich wieder in der Senkrechten befand. Er blickte zu dem Gesicht seines Retters empor. Es war ein junger Seemann namens Gittens, der sich in kauernder Haltung mit dem linken Arm an den Mast gekrallt hatte und von dort auf Sherlock hinabstarrte.
»Danke«, keuchte Sherlock.
»Landratte!« Abrupt ließ Gittens Sherlocks Hand los und kletterte weiter den Mast zum nächsten Segel empor, ohne sich noch einmal umzublicken.
Sherlock kroch zum Mast zurück und zog sich dann an einem Fallseil in eine aufrechte Position. Es war, als würde man sich während eines Erdbebens an die Spitze eines Baumstammes klammern. Heftig schwankte der Mast hin und her, während die Wellen das Schiff von einer Seite auf die andere warfen. Er gestattete sich, einen kurzen Moment einen Blick auf den fernen Horizont zu werfen. Und wünschte augenblicklich, er hätte es nicht getan. Der Sturm nahm nun ein Viertel des Himmels ein. Kein Zweifel, er holte sie ein.
Die anderen Seeleute widmeten sich weiter ihren Aufgaben, und Sherlock wusste, dass er dies auch tun sollte. Obwohl ihm das Herz bis zum Hals klopfte und er vor blankem Horror das Gefühl hatte, als würden eiskalte Dolche durch seine Nervenbahnen schießen, kraxelte er am Mast vorbei auf die gegenüberliegende Rahe hinaus, um auch dort die Taue zu überprüfen. Zum Glück saß alles fest. Als er zum Hauptmast zurückkehrte, war er von Gischt und Schweiß völlig durchnässt, und seine Muskeln schmerzten, als wäre er einen Marathon gelaufen. Erleichtert, aber dennoch äußerst vorsichtig, kletterte er an den Wanten wieder aufs Deck hinab.
Noch nie zuvor war er so glücklich gewesen, festen Boden unter den Füßen zu spüren.
Mr Larchmont stand in der Nähe. »Tauwerk unteres Vormastsegel sicher angeschlagen, Sir«, erstattete Sherlock Meldung.
»Gute Arbeit, Jungchen.« Der erste Steuermann wandte sich um und fixierte ihn. »Du hast das Zeug zu einem guten Seemann. Wenn wir den Sturm überleben und in einem Stück nach Shanghai kommen, kannst du bleiben. Wenn du willst.«
»Das würde ich gerne, Sir«, erwiderte Sherlock und dachte bei sich: »Wenn auch nur, um zurück nach England und meinen Freunden zu kommen.«
Gleich darauf stürmte Larchmont auch schon wieder mit großen Schritten davon, um einem armen Matrosen einzuheizen, der ein Tau zu schnell durch seine Finger hatte gleiten lassen und nun schockiert auf seine blutigen Handflächen starrte. »Aus dem Weg, du tollpatschiger Idiot!«, rief Larchmont. »Lass das jemand machen, der Ahnung davon hat!« Während er das Tauende packte und den Mann wegstieß, wandte er sich gleichzeitig um, um zu sehen, was auf dem Deck vor sich ging. »Macht alle Luken dicht!«, brüllte er. »Sichert alles, was sich bewegt. Oh, und bringt diese Ziegen und Schafe da unter Deck, bevor sie Haifischfutter werden!«
Das Knarren von Holz erregte Sherlocks Aufmerksamkeit. Er hob den Blick nach oben in die Takelage. Dort fuhr der Wind mittlerweile so heftig in die straff gespannte Segelleinwand, dass es fast so schien, als würden sich die Masten unter dem gewaltigen Druck nach vorne biegen. Vom Bug des Schiffes wurde eine breite V-förmige Gischtwolke nach achtern geweht, und Sherlock vernahm einen zischenden Laut, während das Schiff durch die Wellen pflügte. Erneut sah er nach oben. Das klare Blau des Himmels hatte einen seltsam metallenen Farbton angenommen. Außerdem schien irgendetwas zu fehlen. Er brauchte einen Moment, um darauf zu kommen, was es war. Vögel. Die ewig präsenten Seevögel waren verschwunden. Im Wissen, dass ein Sturm aufzog, hatten sie vermutlich die Chance genutzt, sich von den Vorbotenwinden des Unwetters forttragen zu lassen und in Sicherheit zu bringen. Sehr vernünftig, dachte Sherlock.
Plötzlich schien es auf Deck viel kälter geworden zu sein, und das Licht hatte eine unheilvolle Färbung angenommen. Als Sherlock sich umdrehte und zum Heck des Schiffes blickte, sah er, dass nun der halbe Himmel von violetten Wolken verdeckt war. Im nächsten Augenblick prasselten ihm auch schon Regentropfen auf Wangen und Stirn – keine kalten und nadelartigen, wie er sie in England erwartet hätte, sondern warme, dicke fette Tropfen. Sherlock schlang seinen Arm um ein Wantentau. So gewappnet, blickte er sich um und versuchte zu ergründen, ob er noch irgendwo helfen konnte. Was er dann sah, ließ vor jähem Entsetzen sein Herz verkrampfen. Während der vordere Bereich des Schiffes sich in die eine Richtung wand, krümmte sich der hintere in die entgegengesetzte. Unter der Wucht von Wind und Wellen wurde die gesamte Schiffsstruktur in sich selbst verbogen. Für Sherlock, der das Schiff immer für etwas Solides, Festes gehalten hatte, war dies eine Offenbarung – allerdings keine angenehme. Plötzlich wurde ihm klar, wie zerbrechlich seine neue, aus Holz und Leinen bestehende Welt war.
»Sherlock!«, rief eine Stimme. »Sherlock! Hier drüben!«
Er blickte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Aus einer noch nicht verschalkten Lukenöffnung beugte sich eine Gestalt vor, der feuchte Strähnen schwarzen Haares über Gesicht und Augen klebten. Es war Wu Chung, der chinesische Schiffskoch. Er war ein großer, fröhlicher Mann mit schwarzem Pferdeschwanz, einem langen Schnurrbart, der zu beiden Seiten seines Mundes herabhing, und einer Haut, die infolge einer überstandenen Pockenerkrankung mit Narben übersäht war. An Bord der Gloria Scott war er für Sherlock zu dem geworden, was einem Freund am nächsten kam. In unerschütterlicher Geduld unterrichtete er Sherlock sogar in Kantonesisch – der Sprache, die in Shanghai, ihrem Zielhafen, gesprochen wurde.
Sherlock löste seinen Klammergriff um die Wanten und steuerte schwankend auf die Luke zu, während er vorherzusagen versuchte, in welche Richtung das Deck jeweils im nächsten Augenblick kippen würde.
Schließlich packte der Koch Sherlock am Arm, um zu verhindern, dass der Wind ihn einfach vorbeitrieb. »Ich brauch dich in der Kombüse«, brüllte er gegen den tosenden Wind an. »Meine Töpfe und Pfannen, überall liegen sie herum. Muss sehen, dass ich sie sichere.«
»In Ordnung!«, rief Sherlock und folgte Chung den Niedergang hinunter in das Schiffsinnere. In den Gängen herrschte ein flackerndes Halbdunkel, denn das Stampfen und Schlingern der Gloria Scott ließ die Laternen an den Wandhaken hin und her schaukeln. Die Kerzen tauchten alles in gelbes Licht, was sämtliche Gegenstände irgendwie kränklich aussehen ließ, und ohne den Horizont, der half, den Gleichgewichtssinn zu wahren, fühlte Sherlock sich rasch ganz genauso. Der Geruch, der hier unten herrschte, bestand aus der üblichen Kombination ungewaschener menschlicher Körper und Kerzentalg. Seewasser schwappte über die Unterdecks, als das Schiff sich bewegte. Normalerweise sammelte es sich nur in den schwarzen Tiefen des Frachtraums, doch nun schien es praktisch überall zu sein.
Sherlock folgte Chung in die Kombüse, die aus einem schmalen Verschlag am Ende eines der Gänge bestand. Er bemerkte, dass das Feuer im Herd bereits gelöscht war. Ansonsten hätten Funken herausfliegen und einen gefährlichen Brand entfachen können. Die Kupferpfannen, die Chung benutzte, hingen normalerweise an Haken von der Decke. Aber die meisten waren heruntergefallen und schlidderten auf dem Boden herum, und die wenigen, die noch an der Decke baumelten, schwangen gefährlich hin und her. Ein Treffer am Kopf genügte, um einen Mann bewusstlos zu Boden zu schicken. In allen verfügbaren Ecken und Winkeln waren Schränke und Schubladen untergebracht. Während das Schiff von einer Seite auf die andere geworfen wurde, schlugen unablässig Schranktüren auf und zu und glitten Schubladen vor und zurück. Es war, als würde ein bösartiger Poltergeist mit allen Mitteln versuchen, Chaos zu verbreiten. Der Lärm war ohrenbetäubend.
Chung streckte ihm eine Handvoll dünner Holzkeile entgegen. »Nimm!«, sagte er. Sherlock hielt zwei hohle Hände empor, und Chung ließ zehn oder mehr Keile hineinfallen. »Mach die Schubladen und Türen fest«, sagte er. »Schnell.«
Sherlock verstand sofort. Ständig darauf bedacht, dem Hindernisparcours der schwingenden Pfannen aus dem Weg zu gehen, verkeilte er rasch alle Schranktüren und Schubladen, indem er die hölzernen Dreiecke in jede sichtbare Ritze rammte und sie mit der Handkante festhämmerte. Unterdessen tat Chung sein Bestes, um, ohne sich den Schädel einzuschlagen, die restlichen Pfannen von der Decke zu holen und im größten Wandschrank zu verstauen.
Überall um sich herum konnte Sherlock hören, wie die Holzplanken des Schiffes unter der enormen Beanspruchung ächzten und knarrten. In London hatte er einmal gesehen, wie ein Kutscher mit einem hölzernen Transportkarren so schnell in eine Kurve gefahren war, dass der Wagen umkippte und zerbrach. Und hier war er nun, inmitten einer besseren Art von Holzkiste, die von nichts weiter als Nägeln und Teer zusammengehalten wurde, zu weit von der Küste entfernt, um sich schwimmend in Sicherheit zu bringen, falls das Schiff auseinanderbrach.
War es das, was die Paradol-Kammer für ihn im Sinn gehabt hatte? War dies ihre Strafe?
Als sämtliche Schubladen und Schranktüren gesichert waren, wandte er sich an Chung. Das Stöhnen und Ächzen des Schiffsrumpfes war zu gewaltig, um sich in normaler Lautstärke verständlich zu machen. Also gestikulierte Sherlock mit den Händen herum und hob die Schultern zu einem Achselzucken, als er brüllte: »Ich will wieder an Deck!« Was eigentlich nicht stimmte – er wollte nur nicht im Schiffsinneren in der Falle sitzen, falls der Sturm die Gloria Scott zum Kentern brachte. Aber Chung war kein Seemann und verstand nicht, was Sherlock antrieb. Er nickte. Sein pockennarbiges Mondgesicht war ernst. Er schob Sherlock halb zur Tür und gleichzeitig nach links, fort von der Luke, die aufs Deck hinaufführte. Sherlock widersetzte sich. Als Chung erneut versuchte, ihn zu schieben, packte Sherlock ihn am Handgelenk und schüttelte energisch den Kopf.
Offensichtlich wollte Chung so weit weg vom Sturm wie möglich, und wenn das bedeutete, dass er sich in den Eingeweiden des Schiffes verkriechen musste, war das für ihn vollkommen in Ordnung.
Wieder versuchte Chung, Sherlock voranzutreiben, aber der schüttelte den Kopf. »Nein!«, schrie er. Chung schien von den Lippen abzulesen, was Sherlock sagte. Denn er ließ Sherlocks Schulter los und tätschelte sie traurig. Es war wie eine Art Abschied. Anscheinend erwartete er nicht, Sherlock wiederzusehen.
Sherlock glitt an dem chinesischen Koch vorbei und steuerte halb laufend, halb stolpernd auf den Niedergang zu, der zur Luke führte.
Als er den Fuß auf die unterste Sprosse setzte, drehte er sich noch einmal um und sah den breiten Rücken des Koches um eine Ecke verschwinden. Er hastete die Stufen hinauf in der Hoffnung, dass Chung falschlag und sie beide überleben würden. Dass sie alle überleben würden.
Als er den Kopf an Deck streckte, waren drei Seeleute gerade dabei, die hölzerne Lukenabdeckung anzubringen. Sie waren von Kopf bis Fuß durchnässt, und ihre Gesichter vor Anstrengung und Furcht verzerrt. Einer von ihnen zog Sherlock hinauf, während die anderen beiden den Deckel festnagelten.
Die Situation an Deck war noch schlimmer als zuvor. Der Himmel hatte nun von Horizont zu Horizont ein einheitliches Violett angenommen – oder hätte es vermutlich, wenn der Horizont denn zu sehen gewesen wäre. So wie die Dinge standen, war die Sicht ein paar hundert Meter vom Schiff entfernt auf null gefallen. Eine oder zwei Sekunden lang verharrte Sherlock und nahm alles in sich auf – die Wellen, die höher als das Schiff waren, den Schaum, der alles bedeckte, den scharfen Geschmack von Salz in der Luft –, dann rannte er auf die nächsten Wanten zu, um die Arme durch das Taugerüst zu schlingen und sich daran festzuklammern.
Doch auf halber Strecke legte sich das Schiff jäh auf die Seite, und das Deck verwandelte sich ohne Vorwarnung in eine hölzerne Rutschbahn. Sherlock verlor das Gleichgewicht und schlitterte hilflos das Deck hinab, wobei sich etliche Splitter in seiner Kleidung verfingen. Im nächsten Moment krachte er auch schon mit solcher Wucht gegen die Reling, dass er sich fast die Beine gebrochen hätte. Um ein Haar wäre er dabei geradewegs durch eine der Speigatten gesaust und von der brodelnden See verschlungen worden, hätte er sich nicht noch im letzten Moment an einen Messingknauf krallen können, der fest mit der hölzernen Reling verschraubt war. Sherlock hatte sich schon häufiger gefragt, wozu der Knauf diente – hatte er doch noch nie erlebt, dass einer der Seeleute jemals etwas daran befestigte –, aber welchen Zweck auch immer das Ding erfüllte, jedenfalls war er nun überaus dankbar, dass es da war. Langsam zog er sich wieder auf das Deck zurück und schlang erst den einen, dann den anderen Arm um die Reling, dicht gefolgt von den Beinen.
Sein Herz hämmerte in der Brust, und vor Entsetzen schnürte sich ihm der Hals zusammen. Der Sturm hatte sie mit beängstigender Geschwindigkeit eingeholt.
Die anderen Besatzungsmitglieder waren überall auf dem Deck verstreut und hatten die Arme in die Takelage geschlungen, um nicht jählings von einer Welle von Deck gefegt und in die wogende See befördert zu werden.
Ein greller Blitz zuckte plötzlich über den Himmel und blendete Sherlock. Automatisch begann er die Sekunden zu zählen: eins, zwei … und schon ertönte ein gewaltiger Donnerschlag. Sherlock konnte ihn nicht nur hören, sondern durch das Holz von Deck und Reling hindurch sogar regelrecht spüren. Zwei Meilen. Das Sturmzentrum war noch zwei Meilen entfernt. Das wusste er, weil Mycroft ihm einmal erklärt hatte, dass jede Sekunde, die zwischen Blitz und darauffolgendem Donner verging, für eine Meile stand, die das Zentrum noch entfernt war.
Wenn sie noch zwei Meilen vom Zentrum des Unwetters entfernt waren, was mochte sie wohl erst erwarten, wenn es sie erreichte?
Durch den Regen und die Gischt konnte er Mr Larchmont auf der Brücke stehen sehen – die Beine gegen das Deck gestemmt und die Hände so eisern an ein Geländer gekrallt, dass Sherlock hätte schwören können, die Finger würden sich tatsächlich ins Holz graben. Die Haare peitschten ihm ins Gesicht. Doch Mr Larchmont sah nicht ängstlich oder etwa besorgt aus. Er wirkte lediglich entschlossen. Er starrte das Deck entlang nach vorn, als wolle er den Sturm auffordern, doch endlich einmal sein Bestes zu geben. Sherlock sah, wie sich seine Lippen bewegten, und unbegreiflicherweise war seine kommandierende Stimme selbst über den Sturm hinweg zu hören.
»Fiert die Segel!«, brüllte er. »Lockert die verdammten Segel, wenn ihr jemals eure Mütter und Liebsten wiedersehen wollt!«
Sherlock blickte empor und begriff augenblicklich. Der Sturm fuhr mit solcher Macht in die Segel, dass sie sich enorm spannten – so sehr, dass sie jeden Moment glatt entzweireißen konnten, würde der Sturm noch stärker werden. Und wenn die Gloria Scott noch zwei Meilen von dessen Zentrum entfernt war, konnte es durchaus so kommen. Zudem waren die Taue, an denen die Segel befestigt waren, straff wie Violinsaiten gespannt. Sie konnten reißen, wodurch das schwere Segeltuch mit vernichtender Wucht in der Takelage herumflattern würde. Selbst wenn all dies nicht eintraf, musste man damit rechnen, dass der immer stärker werdende Wind das Schiff einfach umwarf. Fierte man jedoch die Segel, hätte die Mannschaft zumindest eine geringe Chance. Den Launen des Sturmes ausgeliefert, würden sie dahintreiben, ohne zu wissen, wohin es sie am Ende verschlug. Aber ihre Chancen zu überleben würden steigen.
Unglaublicherweise stürzten einige Seeleute von ihren diversen Zufluchtsorten auf dem Deck zu den Stellen, an denen die Segelschoten belegt waren. Sherlock war nicht sicher, ob sie mehr Furcht vor Mr Larchmont als vor dem Sturm hatten oder ob sie einfach wussten, dass sie ihr Leben riskieren mussten, wollten sie das Schiff retten. Was immer auch der Grund für ihr Handeln war, sie packten die Taue dort, wo sie befestigt waren, verringerten zu zweit oder dritt deren Zug, gaben ihnen mehr Spiel und belegten sie erneut. Augenblicklich fuhr der Wind wieder in die Segel und zog die Taue straff. Doch als er kurz die Richtung wechselte, flatterten die Segel lose an den Masten, und die Taue hingen durch – allerdings nur, um Augenblicke später wieder bis zum Zerreißen gespannt zu werden.
Sherlock blickte an der Reling vorbei aufs Meer hinaus und hielt den Atem an. Einmal, vor mittlerweile mehr als einem Jahr, war er unversehens in einem Schlafzimmer eines französischen Schlosses aufgewacht, das Baron Maupertuis gehörte. In der Annahme, er befände sich noch in Farnham, hatte er die Vorhänge aufgerissen und sprachlos vor Entsetzen durch das Fenster auf die Berge vor sich gestarrt. Plötzlich schien er wieder genau dort zu sein, verwirrt auf Berge starrend, die sich vor ihm auftürmten. Nur dass diese Berge aus Wasser bestanden und viel näher waren. Nah genug, dass er meinte, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um sie zu berühren.
Jäh wurde ihm die unermessliche Größe der Welt und der Schöpfung bewusst. Ein Hochgefühl durchströmte ihn, das alle Furcht mit sich riss und ein wundersames Staunen an ihre Stelle treten ließ. Farnham war klein. London war klein. Aber es gab noch so viel anderes dort draußen zu entdecken. Wie konnte Mycroft es nur ertragen, sein ganzes Leben in seiner Wohnung, dem Club, seinem Büro oder in der Kabine einer Kutsche zu verbringen, die ihn zwischen diesen Orten hin- und herbeförderte – wo es doch all diese Wunder zu bestaunen gab?
Der eigentliche Sturm brach etwa eine Stunde später über sie herein. Aber er hatte die Macht über Sherlocks Emotionen verloren. Von jenem Moment an war er lediglich ein Beobachter, der einfach nur ergriffen war angesichts dessen, was er sah. Seine geistigen und körperlichen Empfindungen – Angst, Müdigkeit, Schmerz, Hunger –, sie alle verblassten in Anbetracht der tosenden, unglaublichen Naturgewalten. Es spielte keine Rolle, dass die Gloria Scott vom Sturm wie ein Blatt auf den Wellen hin und her geworfen wurde; es spielte keine Rolle, dass zweimal ein Blitz im Hauptmast einschlug, der tiefe Brandkerben im Holz und einen beißenden Geruch hinterließ. Es spielte keine Rolle, dass die Decksplanken unter den Wassermassen verschwanden und die verschalkten Luken nur an den spritzenden Gischtfontänen zu erkennen waren, wenn sich die Wellen an deren Rändern brachen.
Nichts davon war wichtig. Das Schiff und die Besatzung waren wie Ameisen angesichts von etwas so Gewaltigem, Unbezwingbarem und Schönem.
Irgendwann glitt Sherlock in einen Zustand zwischen Schlaf und Hypnose, die Augen noch offen, ohne jedoch etwas wahrzunehmen.
Als er allmählich wieder zu Sinnen kam, stellte er fest, dass der Sturm abgeflaut war. Die Besatzungsmitglieder bewegten sich über das Deck, holten die Leinen und Taue durch und entfernten die Abdeckungen von den Luken. Der Himmel war wieder blau, blau und strahlend klar. Die Vögel waren zum Schiff zurückgekehrt und lauerten darauf, dass Essensreste über Bord geworfen wurden.
Mr Larchmont stand ein paar Meter entfernt. Er wandte den Blick Sherlock zu.
»Na, genießt du dein Nickerchen?«, fragte er.
Sherlock wusste, welche Antwort von ihm erwartet wurde. »Bereit zum Dienst, Sir!«, bellte er und rappelte sich wieder hoch.
»Schön zu hören«, sagte Mr Larchmont und schaute zum Vormast empor. »Da oben sehe ich ein paar lose Tampen. Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du die für mich festziehen würdest.«
»Aye, aye, Sir!« Sherlock steuerte auf die Wanten zu. Dann drehte er sich noch einmal um und blickte Mr Larchmont einen Augenblick an. »Wie viele haben wir verloren, Sir?«