Florian Illies
Anleitung zum Unschuldigsein
Das Übungsbuch für ein schlechtes Gewissen
FISCHER E-Books
Florian Illies, geboren 1971, studierte Kunstgeschichte in Bonn und Oxford und wurde 1997 Feuilletonredakteur der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«; 1999 bis 2001 leitete er die »Berliner Seiten« der FAZ; anschließend war Florian Illies Feuilletonchef der neugegründeten »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«, Mitbegründer und Herausgeber der Kunstzeitschrift »Monopol«. 2008 wechselte er als Ressortleiter Feuilleton und Literatur zur »Zeit«. Illies ist jetzt Partner des Berliner Auktionshauses »Villa Grisebach« und dort für die Kunst des 19. Jahrhunderts verantwortlich. 2012 erschien sein Weltbestseller ›1913‹. Im Mai 2014 wurde er für sein Werk mit dem Ludwig-Börne-Preis ausgezeichnet.
Du musst kein schlechtes Gewissen haben? Von wegen. Wenn ›Generation Golf‹ das Tagebuch einer vergangenen Kindheit und Jugend war, dann ist ›Anleitung zum Unschuldigsein‹ die Reise in unser inneres Absurdistan, in dem uns die Gewissensbisse täglich lustvoll quälen. Dieses Buch zeigt Wege zurück in die Unschuld. Mit vielen tollen Übungen! Bildlegende: Ich sollte mehr Sport machen. Ich sollte mein Fahrrad reparieren. Ich sollte nicht immer nur Gutscheine verschenken. Ich sollte mal wieder meine Mutter anrufen. Ich sollte mit dem Rauchen aufhören. Ich sollte mal wieder zum Zahnarzt gehen. Ich sollte weniger Geld für Kleidung ausgeben. Ich sollte mehr Obst essen. Ich sollte mal wieder die leeren Flaschen wegbringen.
Florian Illies' Buch ›Generation Golf‹ (Band 15065) erschien 2001 im Fischer Taschenbuch Verlag.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2002 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 144, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Buchholz/Hinsch/Hensinger
Coverabbildung: Ulf Döpking
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403702-8
Für Amélie
Das Leben könnte so schön sein. Wenn ich nicht jedes Mal innerlich zusammenzucken würde, wenn ich eine Bananenschale in den Papierkorb werfe und einen Joghurtbecher, ohne ihn auszuwaschen, in die gelbe Tonne stecke. Wer wirklich weiß, ob eine ausgespülte Feinwaschmittelplastikflasche in den gelben Sack gehört oder in den klassischen Müll, der als Restmüll inzwischen ein genauso kümmerliches Dasein fristet wie Restjugoslawien, muss ein Proseminar in Abfallwirtschaft absolviert haben. Alle anderen werden auch künftig, selbst bei kurz aufflackerndem schlechten Gewissen, immer mal ein Bananenschalchen und ein Joghurtbecherchen zu viel in den Restmüll werfen, damit es sich für die Müllabfuhr überhaupt noch lohnt, die schwarzen Tonnen zu leeren. Was waren das doch für wunderbare Zeiten, als man noch alles und jedes gedankenlos in die Mülltüte und dann in die schwarze Tonne stecken durfte, von einer Sache mal abgesehen – »Keine heiße Asche einfüllen« hieß der warnende Aufkleber –, aber die Zeiten, als man mit heißer Asche auf dem Schäufelchen zur Mülltonne ging, müssten eigentlich beendet gewesen sein, bevor es überhaupt die ersten Aufkleber gab. Und auch die sechshundert verbliebenen deutschen Kohleheizer dürften wissen, dass Glut in Plastik nicht ideal aufgehoben ist. Insofern handelt es sich bei den in millionenfacher Auflage hergestellten Aufklebern wahrscheinlich um eine weitere Marktlücke, die erneut jener Aufkleberhersteller besetzt, der sich auch die »Atomkraft, nein danke«- und »Ein Herz für Kinder«-Aufkleber ausgedacht hat. Der Produzent wusste, dass der Deutsche an sich eine Liebe zu Warnhinweisen besitzt, außerdem wusste er, dass es ihn freut, wenn Verbote aufgestellt werden, die er ohnehin nie verletzen will. Da war es dann letztlich nur Zufall, dass auf den Aufklebern »Keine heiße Asche einfüllen« steht. Es hätte auch darauf stehen können »Keinen kalten Kaffee einfüllen« beziehungsweise »Ein Herz für Restmüll«.
Weil inzwischen also weder heiße Asche noch irgendwelcher anderer Müll in die schwarzen Tonnen gefüllt wird, stattdessen für jede Abfallform eine eigene Tonne mit spezieller Farbe erfunden wurde, hat der wahrscheinlich total verzweifelte Schwarze-Tonnen-Hersteller eine Vorrichtung entwickelt, die nur noch die halbe Tonne nutzbar macht, wenn man sie von oben einhängt, und man muss, zumindest bei uns, weniger Müllabfuhrgebühren zahlen. Aber alles Mitleid mit der leeren schwarzen Tonne schützt uns nicht vor unseren Schuldgefühlen, wenn es in unserer Küche in unserem normalen Mülleimer sehr voll, in der blauen und grünen Tonne sowie dem gelben Sack hingegen auch nach zwei Monaten noch immer sehr leer aussieht. Wenn ich nicht immer wieder überraschte ausländische Besucher mit den vier verschiedenfarbigen Mülltonnen unter der Spüle und im Innenhof begeistern könnte, hätte ich wahrscheinlich schon längst dem ganzen Firlefanz ein Ende bereitet. Und diese ausländischen Besucher ahnen auch nicht, was es in Deutschland für eine Mutprobe darstellt, nach den vier grünen Flaschen auch die eine weiße Flasche in den Container für grüne Flaschen zu werfen, weil man zu faul ist, für die eine Flasche zum Weißglascontainer auf die andere Straßenseite zu gehen.
Seit 1993, dem Jahr, in dem sich Gerhard von Hillu Schröder trennte, sammeln die deutschen Verbraucher, wie man uns Müllerzeuger nennt, getrennt. Und diese Zeit hat vollkommen ausgereicht, um Menschen, die ihren Müll ungetrennt müllen, gesellschaftlich zu ächten. So schwächlich sind heutzutage alle Moralgebäude geworden, dass sich jede noch so seltsame Vorschrift in wenigen Jahren zur verbindlichen Norm entwickeln kann. Die Bösen sind demzufolge die, die ihre durchsichtigen Tüten nachts in den Eimer werfen, damit niemand sieht, dass darin Gurkenschalen, Joghurtbecher und Plastikfolien unrechtmäßig vereint sind. Wie lange diese Terrorisierung des Verbrauchers durch die Mülltrennung bereits geplant war, lässt sich an der Tatsache beweisen, dass seit der Nachkriegszeit in Deutschland ausschließlich durchsichtige Mülltüten angeboten werden. Das ist an und für sich unsinnig, denn man würde ja eigentlich sehr gerne darauf verzichten, beim Runtertragen des Mülls noch einmal zu sehen, wie viele abgelaufene Joghurts man in der letzten Woche ungegessen wegwerfen musste und wie sich eine verfaulte Tomate innerhalb einer Woche farblich verändert. Erst mit der Einführung des grünen Punktes zeigte sich nun das Ziel dieser von langer Hand geplanten Kampagne zur Transparenz des Verbrauchers. Was sich da harmlos Duales System Deutschland nennt, ist in Wahrheit die Kombination aus Gesinnungsterror und Überwachungsstaat, Big Brother in der Abfallwirtschaft. Die Melodie geht so: Wo man nicht Müll trennt, da lass dich niemals nieder, nur gute Menschen trennen immer wieder. Das Ganze könnte ökologisch ziemlich sinnvoll sein, und es gäbe also einen guten Grund, ein gehöriges schlechtes Gewissen zu haben, aber, ob es letztendlich wirklich umweltschonend ist, können noch nicht einmal die Umweltschützer sagen. Bis es so weit ist, stellt sich das deutsche Volk aber offenbar sehr gerne weiter als Versuchspersonal zur Verfügung. In keinem anderen Land fände man wohl Verbraucher wie uns, die sich durch ihr schlechtes Gewissen so perfekt zu irgendwelchen komplizierten täglichen Tätigkeiten zwingen ließen. Wie war das jetzt noch mal gleich mit den Milchtüten? Auswaschen und dann in die blaue Tonne? Oder ist doch eine Spur Plastik in der Innenbeschichtung drin, und es gehört in die gelbe Tonne, oder gehört es wegen des bloß 0,5-prozentigen Plastikanteils nicht vielleicht doch in die schwarze Tonne, denn da muss ja auch mal irgendwann etwas rein? Und was mache ich jetzt mit der Zellophanverpackung um den Dallmayr-Prodomo-Kaffee, gelb oder schwarz? Und sind Zitronenschalen wirklich etwas für den Bioabfall, angeblich sind sie doch inzwischen so stark gespritzt, dass sie mehr aus Insektenvernichtungsmitteln als aus Zitrone bestehen? Zitronenschalen vielleicht auch der Farbe wegen lieber doch gleich in den gelben Sack? Und gab es nicht für Flaschenkorken früher eigene Müllsäckchen, und wohin wirft man eigentlich kaputte Glühbirnen? Das sind so die Gedanken, denen ich tagtäglich nachhänge, und da nur die gelben Säcke und Tonnen eine lange Liste von den Sachen draufstehen haben, die reinsollen, bin ich jeden neuen Tag so ratlos wie zuvor. Besonders dumm ist, dass man das Schuldbewusstsein eben nicht dadurch mindern kann, dass man die langen Listen auf den gelben Säcken liest – denn dort steht zwar, was reinsoll, aber dort gibt es genauso eine Liste mit dem, was nicht reindarf. Spätestens eine Stunde später habe ich vergessen, was auf welcher Liste stand, und ich kann mich nur noch erinnern, dass Feinwaschmittelflaschen auf einer der Listen des gelben Sacks standen, nur, ob auf der guten oder auf der bösen, das weiß ich nicht mehr. Meinen täglichen gedanklichen Aufwand würde ich mit 3,2 Minuten berechnen, wenn man das mal hochrechnet auf achtzig Millionen Müll machende Deutsche, dann könnte man (manche können so etwas ausrechnen) wahrscheinlich erklären, dass Deutschland täglich insgesamt vier Jahre lang über die Mülltrennung nachdenkt oder dass man mit der Gedankenzeit, die sich Deutschland täglich über das Mülltrennen macht, rechnete man dies auf die Arbeitskraft um, in zehn Minuten einen Castortransport von München nach Gorleben tragen könnte, inklusive polizeilicher Bewachung.
Das Problem bei der Mülltrennung also ist, dass diese teure Form der Müllsortierung eventuell ökologisch sinnvoll, in jedem Fall aber wirtschaftlich unsinnig ist. Das Duale System nahm bislang über vier Milliarden Mark an Lizenzgebühren ein, die der Verbraucher zu zahlen hatte – für sein Grünes-Punkt-Gewissen. Das eigentliche Ziel jedoch, die Müllmenge zu verringern, ist nicht erreicht worden. Selbst der Bund für Naturschutz kritisierte das Verfahren: »Das Vermeiden von Müll ist in den Hintergrund getreten und das schlechte Gewissen durch das Aufstellen vieler verschiedener Eimer beruhigt.« Das Duale System Deutschland ist demzufolge wahrscheinlich nichts anderes als der erste Versuch, Sigmund Freuds Psychologie im Grundgesetz zu verankern.
Das Schuldgefühl, sagt Freud, ist das wichtigste Problem der Kulturentwicklung: Die Regulation sozialen Verhaltens (Kultur oder Abfallwirtschaft) liegt demnach in den Händen des Über-Ichs (des Gewissens und des grünen Punktes) – dieses bedient sich dabei der Mittel des Schuldgefühls. Und schon braucht man vier Mülleimer.
Übung: Wir trennen eine Woche den Müll nicht, werfen alles in eine durchsichtige Tüte, warten, bis möglichst viele Leute im Hof sind, und werfen die Tüte unter Anteilnahme der Hausgemeinschaft in die gelbe Tonne. Anschließend werfen wir noch zweihundert alte Batterien nach und einen vom Vormieter übernommenen und längst abgestorbenen Ficus Benjamini. Dann tauschen wir die Aufkleber »Weißglas« und »Grünglas« auf den öffentlichen Glascontainern aus und gehen zurück in unsere Wohnung.
Meine persönliche Bestleistung liegt bei sechzehn Schuldgefühlen auf zwölf Kilometer Fahrstrecke. Mehr ist kaum zu schaffen. Ich fuhr mit dem Saab eines Freundes, den ich als meinen eigenen ausgab (1), nach der Arbeit nach Hause anstatt wie sonst mit dem Rad (2), nahm dabei nur Sibylle mit, die ich vor der Tür traf, ohne es meiner Freundin nachher zu erzählen (3) und ohne Frau Wecker zu fragen, die denselben Heimweg hatte (4), ich fuhr dabei so schnell durch eine Tempo-30-Zone, dass eine Mutter mit Kinderwagen wegspringen musste (5), warf meine Zigarettenkippe aus dem Auto (6), am Ortsausgang ließ ich einen Tramper stehen (7), fuhr dann an einem Plakat vorbei, das für die Europawahl warb, zu der ich gestern nicht gegangen war (8), und schnitt anschließend beim Abbiegen einen Radfahrer, der mir einen Vogel zeigte (9), fuhr am Haus des Zahnarztes vorbei, bei dem ich letzten Montag eigentlich einen Kontrolltermin gehabt hätte (10), nahm verschämt die Klassik-CD aus dem Autoradio (11), griff beim linkshändigen Kramen nach einer cooleren CD in dem Fach der Autotür in die mayonnaiseverschmierten Reste einer Big-Mäc-Verpackung vom frühmorgendlichen Besuch bei McDrive (12), schreckte auf, weil ich bei dem Versuch, die Mayonnaise unbemerkt an die Unterseite des Fahrersitzes zu schmieren, fast rechts von der Fahrbahn gekommen wäre und Sibylle, sehr bleich, bereits symbolische Bremsbewegungen machte (13), dann fuhr ich über ein Stück Erde auf der Straße, das sich beim Drüberfahren als Kröte entpuppte (14), um nach einem kurzen Blick auf die Videothek, bei der ich seit vier Wochen American Beauty abgeben musste, den ich als Einziger immer noch nicht angesehen hatte (15), zu Hause anzukommen, und erinnerte mich in diesem Moment daran, dass ich versprochen hatte, heute endlich bei meiner Großmutter im Krankenhaus vorbeizuschauen (16).
Manche dieser Schuldgefühle sind nur etwas für Fortgeschrittene, es braucht dafür ein jahrelang trainiertes schlechtes Gewissen. Aber das Autofahren eignet sich ideal auch für Anfänger auf diesem Gebiet. Wir wollen heute mit einer einfachen Fahrübung beginnen. Schon nach wenigen Minuten wird ein jeder sein schlechtes Gewissen spüren. Das Gute an einer Fahrt mit dem Auto ist, dass das Nachdenken und die Sorgen lange vor dem Moment beginnen, in dem man ins Auto steigt. Denn vor jeder Fahrt mit dem Auto sitzen wir einige Hundertstelsekunden lang auf der Anklagebank unseres inneren Gerichtshofes. Irgendeine Stimme fragt dann kurz die einzelnen Punkte ab: Ist es wirklich nötig, mit dem Auto zu fahren? Wäre es nicht möglich, den Weg auch zu Fuß zu machen oder per Bus und Bahn? (Denn die Stimme des schlechten Gewissens kennt nicht so anstrengende Worte wie Öffentlicher Personennahverkehr, sie spricht ein einschüchternd geradliniges Deutsch.) Zu früheren, quälenderen Zeiten – in den siebziger und achtziger Jahren – kannte die Stimme des schlechten Gewissens, wie mein älterer Bruder, der Philosoph, erzählt, dafür noch zwei weitere bohrende Fragen: 1. Sollte ich nicht lieber eine Fahrgemeinschaft bilden? Sowie 2. Sollen die Rohölvorkommen der Erde tatsächlich deshalb weiterschrumpfen, weil ich mit dem Wagen zum Friseur fahren will? In Nanosekundenschnelle werden dann die Argumente der Verteidigung vorgetragen: Es regnet, ich weiß nicht, ob um diese Zeit noch ein Bus fährt, ich muss so viel Gepäck mitnehmen. Hält man eine dieser Ausflüchte für aussagekräftig genug, sollte man sofort die Wohnung verlassen und in den Wagen steigen. Denn im Grunde hat das schlechte Gewissen natürlich Recht, und man dürfte nie Auto fahren, weil jede Autofahrt das Ozonloch ein klitzekleines bisschen größer macht und deshalb eine Kuh in Australien im Jahre 2009 vier Minuten früher Hautkrebs bekommt. Aber wer nie Auto fährt, bringt sich um eine sehr schöne Leidensquelle, wie sonst sollte man all die schönen Momente kennen lernen, in denen einen hinter dem Lenkrad das schlechte Gewissen ganz unerwartet packen kann. Ich fahre also los, im Zustand der umweltzerstörenden Erbschuld, und sammle auf der Strecke möglichst viele Schuldgefühle. Besonders einfach gelingt dies auf der Autobahn. Dort werde ich alle paar Kilometer von Schildern und Plakaten sehr eindringlich ermahnt, die Geschwindigkeit einzuhalten, ausreichend Pausen einzulegen, das Licht anzumachen, genügend Abstand zum Vordermann zu halten und heute bitte ausnahmsweise keine Waldbrände durch Zigarettenkippen auszulösen. Experten fühlen sich auch durch Windräder in Autobahnnähe schmerzlich zum Nachdenken über ihren Umgang mit alternativen Energien aufgefordert. Sehr schön ist auch das mulmige Gefühl, wenn ich verträumt auf der linken Fahrbahn einen Berg hochfahre, dabei mit dem Handy telefoniere und fünf Minuten später in den Rückspiegel blicke, um zu erkennen, dass hinter mir rund fünfzehn Mercedes und BMWs ungeduldig und sehr sauer mit der Lichthupe drängeln. Aber das alles sind bloß kleine, kurze Gewissensbisse, die nicht lange vorhalten. Es sind die schlechten Gewissen vor sich selbst. Komplizierter wird es, wenn man für das schlechte Gewissen eines ganzen Landes büßt: Fährt man etwa in Brandenburg herum, so darf man sich daran erfreuen, dass auf den Straßenschildern statt Stettin Worte stehen, die aussehen, als hätte man das deutsche Wort durch ein Computerprogramm mit sehr vielen »c« und »z« ersetzt, damit es sich polnisch anhört: also ungefähr Szczetzctczin. Hier erlebt man ein erstes kurzes Aufleuchten des kollektiven deutschen Basisschuldgefühls, das unser Leben lang unser aller treuer Begleiter sein wird. Die Manie, vor allem jene Orte, die einmal deutsch waren, also vornehmlich in Polen und Tschechien, ausschließlich mit ihrem neuen polnischen oder tschechischen und höchstens in Klammern mit ihrem alten deutschen Namen zu versehen, ist eine wunderbare Ausgeburt des schlechten Gewissens. Auch auf den leise klappernden Flughafenanzeigetafeln treibt es seine schönsten Blüten. Natürlich ist in Frankfurt nicht Roma angezeigt, sondern Rom, und nicht Nice, sondern Nizza – aber dort haben wir im Zweiten Weltkrieg ja auch kein Unheil angerichtet. Wer jedoch nach Krakau fliegen will, muss nach Krakow suchen, und Königsberg heißt zwar inzwischen immer öfter wieder Königsberg – nur in Deutschland pflichtschuldig und schuldbewusst und bis ans Ende unserer Tage: Kaliningrad. Und wer gar »Ostpreußen« sagt und dabei die Anführungszeichen vergisst, der muss sich Sorgen machen um sein polizeiliches Führungszeugnis. Die Flughafenanzeigetafel als immer währende Bußübung, unbedroht von Streiks der Lufthansa-Piloten – da darf man stolz sein, Deutscher zu sein. Wenn man das lächerlich findet, wird man von der Political-Correctness-Polizei sofort aufgegriffen und zu Gräfin Dönhoff in die Heimatvertriebenen-Zelle gesteckt. Daraus kann man – und auch nur auf Bewährung – nur wieder entlassen werden, wenn man verkündet, ein weiteres Deutsch-Polnisches Jugendzentrum gründen zu wollen oder 100000 Mark für die Restaurierung einer kleinen Kirchenorgel in Tschechien zu spenden. All dies ist eine schmerzliche Lektion darin, dass es nichts hilft, wenn das eigene Gewissen gut, das der Sittenwächter aber schlecht ist.
Übung: Wir stehen immer so lange auf der Linksabbiegerspur an der Ampel, bis wir im Rückspiegel einen Radfahrer sehen. Dann fahren wir los, biegen kurz entschlossen rechts ab, schneiden den Radfahrer und brüllen aus dem schon vorher geöffneten Seitenfenster: »Kannste nicht aufpassen, du Idiot!«
Am schönsten entfalten sich die Schuldgefühle im automobilen Bereich, wenn man sich zu einer Taxifahrt entschließt. Besonders rasch werden sie bei mir wirksam, wenn ich in einer fremden Stadt am Bahnhof in ein Taxi steige, das angegebene Fahrziel aber nur rund 1000 Meter entfernt ist, der Fahrpreis dafür also das Briefporto für einen 100-Gramm-Brief kaum übersteigt. Sofort drängt sich die Frage auf, wie anständig es wäre, den Taxifahrer mit 20 Pfennig Trinkgeld abzuspeisen, obwohl er einem gerade erzählt hat, dass er auf diese Fahrt zwei Stunden gewartet hat und dass er sich jetzt wieder in eine Taxischlange einordnen muss, um erneut zwei Stunden auf den nächsten Kunden zu warten. Hatte man in diesem Falle wenigstens eine Minute noch ein ruhiges Gewissen, weil man ja nicht wusste, wie nah das angegebene Fahrziel war, so ändert sich die Konstellation, wenn man in der Stadt, in der man lebt, in ein Taxi steigt und als Ziel einen nur kaum entfernten Ort nennt. Wenn mir dies gelingt, obwohl es nicht regnet, habe ich an guten Tagen vier schlechte Gewissen auf einmal: das gegenüber dem Fahrer, weil ich wissentlich nur für eine Strecke von 5 Mark 40 fahre, obwohl der Fahrer darauf zwei Stunden warten musste und vom Trinkgeld lebt, und jenes, weil ich nun vom Fahrer für dekadent gehalten werde, solch kurze Strecken mit dem Taxi zu fahren. Stand man noch oft genug an Ampeln und wurde dabei von Fußgängern überholt, gesellt sich dazu noch die bohrende Frage, ob es wirklich sinnvoll gewesen war, das Taxi zu benutzen, und, zum Abschluss, zu Hause, das schlechte Gewissen vor sich selbst (wenn man lügt) oder vor der Freundin (wenn man ehrlich war), wenn man gefragt wird, wie man nach Hause gekommen ist. Dieses Basisrepertoire kann noch durch allerhand weitere vereinzelt auftretende Schuldgefühle erweitert werden: etwa das schlechte Gewissen gegenüber den Nachbarn, die mit Tüten voll gepackt vom Fahrrad steigen, während man selbst gerade ganz entspannt die Taxitür zuwirft. Dieses Gefühl ist glücklicherweise unabhängig davon, ob man eine lange oder kurze Strecke mit dem Taxi zurückgelegt hat.