Ursula Hegi
Hotel der Heiligen
Erzählungen
Aus dem Amerikanischen von Susanne Goga-Klinkenberg
Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
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Ursula Hegi kam mit 18 Jahren aus Deutschland in die USA, wo sie heute noch lebt. Sie hat zahlreiche Romane und Erzählungen veröffentlicht und literarische Preise erhalten. Hegi wurde vor allem durch ihren in zahlreiche Sprachen übersetzten Roman »Stones in the River«, dt. »Die Andere« (1998), bekannt.
Liebende und Einsame, Künstler und Exzentriker, Kinder und Eltern stehen im Mittelpunkt dieser elf Erzählungen, in denen die amerikanische Schriftstellerin Ursula Hegi ihre ganze Sensibilität und Beobachtungsgabe beweist. Sie schlüpft in die Haut ihrer Figuren, wenn sie die schwierige Phase einer Beziehung, den Balanceakt zwischen Selbstbehauptung und Verletzung, zwischen Bindung und Ablösung darstellt. Durch die Dichte der Beschreibungen und kunstvoll eingesetzte Zwischentöne gewinnen die Erzählungen eine große Suggestivkraft, sodass eindringliche, poetische Bilder und unvergessliche Figuren entstehen.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei KiWi Bibliothek
© 2017 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Impressum der Reprint Vorlage
ISBN (eBook) 978-3-462-41075-4
Für meine Kindheitsfreundin
Marga Duda
Lennys Mutter, die Mehlkönigin, backt für das Begräbnis ihres Bruders: Zimtplätzchen und Brombeerkuchen, Knoblauchbrot und nach ihrem eigenen Rezept Mohnstrudel. Lenny schaut gern zu, wie die sommersprossigen Fäuste seiner Mutter den Teig knuffen. Neben ihr kommt er sich in seiner Seminaristenkleidung blutarm vor.
Am anderen Ende der Küche backen auch ihre beiden Schwestern, um ihren einzigen Bruder Leonard gemäß der Gemeindetradition zu verabschieden – das Wettbacken der Mehlschwestern.
Schon früh lernte Lenny, seinem Onkel Leonard auszuweichen, der ihm viel zu pingelig und fromm war, der es auf sich nahm, in Lennys Leben die Vaterrolle zu spielen. Er gab ihm bei der Geburt seinen Namen und am Ostersonntag Heiligenbildchen aus seinem Geschenkladen im Hotel. Vor vier Jahren dann, als Lenny ins Jesuitenseminar eingetreten war, schenkte er ihm eine Taschenuhr.
»In einer Familie mit lauter Frauen«, sagte Onkel Leonard oft, »ist es wichtig, dass ein Junge zu einem Mann aufblicken kann.«
Doch mit elf war Lenny bereits einen halben Kopf größer als sein Onkel und fühlte sich bei den Frauen der Familie weitaus wohler. Nach einer überstürzten Heirat mit Ende dreißig hatte sich die Mehlkönigin, zwei Monate bevor Lenny geboren wurde, von seinem Vater Otis scheiden lassen; sie brannte darauf, zu ihren Schwestern, die nie geheiratet hatten, zurückzukehren und das Leben ihrer Kindheit fortzuführen. Die Taluccio-Schwestern waren einander immer nahe gewesen: Als Mädchen beharrten sie darauf, sich das Turmzimmer im dritten Stock des alten viktorianischen Hauses am Willamette River in Portland zu teilen. Nun hat jede Schwester eine Vielzahl von Zimmern für sich allein, doch sie versammeln sich in der gefliesten Küche und auf der breiten Veranda, die das Haus von drei Seiten umgibt.
Die Taluccio-Schwestern, schlanke, starke Frauen mit festen Armen, lachen zu laut und klopfen Männern zur Begrüßung auf den Rücken. Sie sprechen selten von Otis, der nach der Scheidung aus Portland weggezogen ist und nie Verbindung zur Mehlkönigin oder seinem Kind aufgenommen hat. Als Lenny ein Kind war, sahen die Schwestern manchmal die Sehnsucht nach dem Vater in seinen Augen und beantworteten seine Fragen nach Otis – dass Otis Regen hasste; dass Otis eine Mischung aus Himbeeren und Bananenscheiben liebte; dass Otis als Junge eine Katze namens Muffy hatte; dass Otis gern bei offenem Fenster Auto fuhr –, und sie halfen Lenny dabei, sich Otis in einer trockenen, warmen Gegend vorzustellen, wo er in einem Jachthafen oder bei einem Autohändler arbeitete. Untereinander sind sich die Mehlschwestern jedoch sicher, dass Otis einfach weiter von einer Arbeitslosenschlange zur nächsten gezogen ist und dazwischen immer nur so lange gearbeitet hat, bis ihm weitere Unterstützung zustand.
Nun, da sie ihre Arbeit im Postamt und dem Stoffgeschäft und dem Eisenwarenladen aufgegeben haben, spielen die Mehlschwestern gerne zu dritt bis spät in die Nacht Karten, sitzen um den Küchentisch, auf dem eine Schale Brezeln und eine Flasche Chianti stehen. Sie beten mit der gleichen Hingabe, mit der sie sich auch ihrem Essen und ihren Kartenspielen widmen, und sind stolz darauf, noch immer zu der Gemeinde zu gehören, in der sie getauft wurden, einer Gemeinde, die so arm ist, dass die Altargesellschaft für die Statue des Jesuskindes von Prag nur ein Gewand zum Wechseln besitzt.
Mit ihrer Schwägerin Jocelyn haben die Mehlschwestern Geduld, obwohl deren Hilflosigkeit sie entsetzt. Vor vierzig Jahren hatte Lennys Tante Jocelyn während der Flitterwochen den Fahrunterricht aufgegeben, weil sie das Auto gegen einen Baum setzte, als Onkel Leonard ihr beibringen wollte, wie man rückwärts einparkt. So ist es mit allem – sobald sie sich aufregt, klappt Tante Jocelyn zusammen. Damit sie sich nicht aufregt, braucht sie Pillen, deren Einnahme Onkel Leonard früher auf einer Karteikarte abhakte, die am Kühlschrank klebte. Er tat alles für Tante Jocelyn – fuhr sie jeden Morgen zur Messe, vereinbarte Arzttermine, brachte sie zum Lebensmittelgeschäft, kaufte ihr Kleider, suchte in der Bibliothek Bücher aus, damit sie zufrieden war, während er das Hotel und den Geschenkladen führte.
Als die Mehlkönigin mit Lenny schwanger war, sagte Tante Jocelyn, sie wolle auch ein Baby, doch Onkel Leonard beschwor sie: »Nicht in deiner Verfassung.« Um sie zu beschwichtigen, legte er auf dem halbkreisförmigen Rasenstück vor dem Hotel einen Rosengarten an, mit preisgekrönten Arten von Hybrid-Teerosen, die er aus einem Katalog bestellt hatte – nicht die Farben, sondern die Namen hatten ihn verlockt: Command Performance, Sterling Silver, King’s Ransom, Golden Gate, Apollo, Century Two, Royal Highness, Texas Centennial.
Aber Tante Jocelyn goss die Rosen nicht einmal. Nur er düngte die Pflanzen im März und September; besprühte sie gegen Rostpilz und Schimmel, Blattläuse und Spinnmilben; entfernte im Herbst die dürren Zweige und schnitt die kräftigen um ein Drittel zurück; deckte im Winter die Rosen mit Kiefernnadeln ab.
Der Tod seines Onkels hatte Lenny eine brauchbare Entschuldigung geliefert, das Seminar eine Zeit lang zu verlassen und Tante Jocelyn dabei zu helfen, das Hotel für den Verkauf vorzubereiten. Lenny bezweifelt, dass er im Seminar richtig ist; schon seit einiger Zeit spürt er, dass er, könnte er das Seminar nur für einige Monate verlassen, so manches für sich klären würde. Bevor er in den Orden eintrat, war ihm das, was er zu wollen meinte, viel klarer gewesen, und in den vier Jahren seitdem hat er versucht, wieder dorthin zu gelangen – zu diesem unerklärlichen Gefühl einer einzigen Quelle.
Der Glaube ist kompliziert geworden; er hat sich von Lennys Herzen in den Kopf bewegt, wo er nun wohnt, genährt von Bibelstellen und Gebeten. Doch Lennys Herz vergisst ständig, und er empfindet nicht mehr die Gewissheit des Glaubens, die er als Junge gekannt hat.
Lenny hat dies nur zwei Menschen anvertraut – ganz behutsam seinem Mentor, Vater Richard Bailey, und sehr viel offener seinem besten Freund, Fred Fate. Fred ist zwei Tage älter als Lenny und trat – so erzählt er jedenfalls – ins Seminar ein, »weil mich dann alle Vater Fate nennen müssen«. Doch man erkennt Freds Glauben an seinem Gang, hört ihn in seinem Lachen. Verglichen damit ist Lennys Glaube klitzeklein. Er fühlt sich eingeschnürt von der schwarzen Kleidung, sehnt sich nach Kanariengelb und einem intensiven Orangeton, der schon vulgär ist, nach üppigem Grün und jenem Blau, in das man hineinsteigen kann.
Am Morgen von Leonards Begräbnis holt Fred sich ein Mönchmobil – seine Bezeichnung für die langen, gepflegten Wagen in der Garage der Jesuiten – und trifft sich im Haus der Mehlkönigin mit Lenny zum Frühstück. Tante Jocelyn sitzt bereits am Tisch, die Hände über ihrem Chiffonrock gefaltet. Ihr Cousin Bill hat sie hergebracht. Lenny ist nicht daran gewöhnt, seine Tante in Schwarz zu sehen. Fast alle ihre Kleider sind weiß, und mit ihrer bleichen Haut – die Mehlschwestern nennen sie »Drinnenhaut« – sieht sie meist aus wie eine Missionarin auf einem überbelichteten Foto. Doch der schwarze Stoff lässt ihre Haut noch verblichener wirken. Als Lenny ihre Hände ergreift und seine Tante auf beide Wangen küsst, würde er sie gerne zeichnen: Sie hat die Art von Gesicht, das durch Augen, nur durch Augen wirkt.
Cheryl Albott, die beste Freundin der Mehlkönigin aus High-School-Zeiten, trifft mit zwei Tischdecken und Stapeln passender Stoffservietten ein, auf denen noch die Etiketten des Herstellers kleben. Cheryl, die in der Kundendienstabteilung bei Sears arbeitet, hat zusammen mit der Mehlkönigin ein Opernabonnement für die erste Reihe. Seit Jahrzehnten besuchen die beiden jede Premiere in Portland, und seit Jahrzehnten erstattet Cheryl der Mehlkönigin den Kaufpreis von schicken Kleidern, die diese für die Oper oder andere besondere Anlässe kauft und ein paar Tage später zurückbringt.
Seit Lenny Jesuit geworden ist, betrachtet Cheryl ihn voller Ehrfurcht und nennt ihn »Vater«, obwohl Lenny ihr erklärt hat, er sei ein Bruder und dass Brüder – obwohl auch sie die Gelübde von Armut, Keuschheit und Gehorsam ablegen – nicht die Sakramente spenden oder die Absolution erteilen.
Durch Cheryls Eintreffen fällt Lenny nun auch das dunkle Schneiderkostüm mit dem Spitzenkragen auf, das seine Mutter trägt. »Neu?«, fragte er, obwohl er es eigentlich gar nicht wissen möchte.
Die Mehlkönigin streicht sanft über das Revers, zwinkert Cheryl zu. »Für Leonards Begräbnis gibt es nur das Beste.«
Am Grab stützt Lenny Tante Jocelyn. Sie ist jünger als die Mehlkönigin, doch sie kann kaum allein gehen und stolpert häufig. Ihr Cousin erzählt Lenny, dass Tante Jocelyn nicht für sich kochen könne, dass sie sich weigere, aus dem Hotel auszuziehen, obwohl ihre Seite der Familie eine gute Unterkunft für sie gefunden habe.
»Von Nonnen geführt. Deine Tante könnte jeden Tag die Messe besuchen. Du weißt, wie wichtig ihr die Messe ist.«
»Wir müssen sie ja nicht drängen.«
»Sie kann nicht allein leben. Sie benutzt nicht mal das Telefon.«
»Ich werde nach ihr sehen, während ich im Hotel arbeite.«
»Und wie lange ist das?«
Als die Mehlkönigin nach dem Begräbnis versucht, Fred eine zweite Portion auf den Teller zu häufen, lenkt er sie mit der Frage ab: »Wussten Sie, dass Lenny im Seminar fast gar nichts isst? Finden Sie nicht, dass er furchtbar dünn geworden ist?«
Der Servierlöffel mit den Manicotti bewegt sich noch, und die Mehlkönigin schwenkt damit von Fred zu Lenny, der seinem Freund über den Tisch hinweg ein lautloses Arschloch zuzischt.
»… arbeitet zu viel«, fährt Fred fort. »Rennt ständig herum. Sieht spitz aus. Finden Sie nicht?«
Cheryl aus der Umtauschabteilung hat jetzt diesen Geben-Sie-mir-Ihren-Segen-Vater-Blick, und ein dickes Stück öliges Knoblauchbrot gesellt sich zu den Manicotti auf Lennys Teller.
Doch Lenny schlägt zurück, als Fred gehen will. »Vater Fate ist ganz wild auf eure Küche«, erzählt er den Mehlschwestern. »Ihr solltet ihn hören. Er schwärmt ständig von euch.«
Prompt stehen die Mehlschwestern alle an der Küchentheke, packen für Vater Fate Reste von Lasagne, mit Parmesan überbackene Auberginen und Mohnstrudel ein, verstauen alles in einer Einkaufstasche.
»Das kann ich unmöglich alles essen«, stöhnt Fred.
Doch Lenny treibt die Mehlschwestern an. »Vater Fate ist immer so bescheiden.«
»Heute Abend bekommen Sie sicher Hunger«, verspricht die Mehlkönigin.
»Sie können es ja mit den anderen Vätern teilen«, sagt Cheryl.
Schmiedeeiserne Balkone, zu schmal, um darauf zu stehen, schmücken die Fassade von Onkel Leonards Hotel am N.E. Sandy Boulevard. Rosen, groß wie Pampelmusen, bedecken den Hang davor, und der Geschenkladen ist voll gestopft mit religiösen Bildern und so vielen Statuen, dass man vier Kathedralen damit ausstatten könnte. Das Hotel ist nur wenige Häuserblocks von der Grotte – dem Heiligtum unserer schmerzensreichen Mutter – entfernt, und die Gäste fahren gern mit dem riesigen Aufzug zu der steilen Klippe hinauf, um über den Aussichtsweg zu spazieren, der von den Geheimnissen des Rosenkranzes gesäumt ist.
In dem Jahr, als Onkel Leonard die Chemotherapie bekam, ist das Hotel schäbig geworden – trotz der Bemühungen von Mr. Wolbergsen, dem Mann für alles, der zu seiner Schwester nach Walla Walla zog, als Onkel Leonard das Hotel drei Monate vor seinem Tod schloss.
Wenn Tante Jocelyn schlafen gegangen ist, wandert Lenny durch die Zimmer – alle gleich, blassgraue Wände, verblichene Vorhänge und ein einziges Gemälde über der Kommode, meist Maria oder Jesus mit leberfarbenem Herzen, das aus dem geöffneten Gewand weint. Für den Fall, dass seine Tante nachts Hilfe braucht, richtet sich Lenny in dem Zimmer ein, das ihrer Wohnung am nächsten liegt, doch als er aufwacht, ist es schon acht, und sie steht für die Messe gekleidet in der Küche am Gasherd und rührt in einer Mischung aus Schweineschmalz und Sonnenblumenkernen.
Ihm wird flau. »Ich esse später«, sagt er.
Als er sie in Onkel Leonards altem Kombi zur Kirche fährt, sitzt sie steif neben ihm, die Handtasche an die Brust gepresst, der Blick leer. Während der Messe runzelt sie die Stirn und reibt mit einem Finger über die Falten, als wollte sie sie ausradieren. Auf dem Nachhauseweg hält Lenny am Eisenwarenladen und kauft fünfundvierzig Liter blassgraue Latexfarbe für Innenräume, während Tante Jocelyn bei den Farbkarten stehen bleibt, auf helle Rosa- und Rottöne zeigt. Sie wird erst gehen, wenn er einen Liter fuchsienrote Farbe gekauft hat.
Im Hotel löffelt sie das abgekühlte Schmalz und die Kerne in eine Pastetenform und stellt sie auf die Fensterbank.
»Ach so, für die Vögel«, sagt Lenny.
Sie hält die Hände über die Augen. Späht zu ihm hinüber.
Nachdem er Eier gebraten und ihren Toast mit Butter bestrichen hat, beginnt er mit der Renovierung, fängt im letzten Zimmer am Ende des Flurs an. Bald schon tut ihm das ständige Grau in den Augen weh, und seine Arme fühlen sich schwer an, wenn er den Pinsel hebt. Er wünscht, er könnte alles bei den Jesuiten akzeptieren. Oder gar nichts. Während Fred sich aussucht, was er glaubt, ist es Lenny bei diesem Dazwischen unbehaglich. Doch wann immer er sich vorstellt, den Orden zu verlassen, beginnt er zu schwitzen und fürchtet, im Glauben wäre er nicht stark genug, um allein zu bestehen, dass er das Gefüge der Kirche braucht, so wie sein Onkel religiöse Statuen und Heiligenbildchen als Requisiten gebraucht hat.
Irgendetwas an der harten Arbeit und der Müdigkeit, die ihm in die Knochen dringt, gefällt ihm, weil es allmählich seine Zweifel auslöscht. Graue Krümelchen kleben an seinen Nasenlöchern, an den Augenbrauen, den feinen Härchen auf seinen Armen. Er könnte schwören, dass er Farbe atmet.
Als er am späten Nachmittag duscht, verbraucht er vier winzige Stücke Hotelseife. Er ist nun bereit, für seine Tante und sich das Abendessen zuzubereiten, und humpelt in die Küche; dort sieht er Tante Jocelyn am Tisch, vor sich eine Dose Thunfisch. Er holt den Öffner, mischt den Fisch mit Mayonnaise, Zwiebelringen und Selleriesamen. Im Schrank findet er ein Glas Nelkenpfeffer und streut die Körner über den Thunfischsalat.
»So macht ihn die Mehlkönigin gern«, sagt er zu Tante Jocelyn. »Mir fehlt das Kochen. Im Seminar bekommen wir alles vorgesetzt.«
Nach dem Essen ruht sich Tante Jocelyn in einem Liegestuhl auf der gefliesten Terrasse aus. Sie schließt die Augen, während Lenny den Rosengarten gießt. Nass wirken die Blätter noch grüner. Er würde die Farbe gern vor den düsteren Wänden sehen, die er heute gestrichen hat – nicht nur grün, auch andere Farben, so üppig, dass man sie gar nicht mehr von der Haut waschen möchte, nachdem man ein ganzes Zimmer mit ihnen gestrichen hat.
Am nächsten Tag kommt Fred beinahe zwei Stunden zu spät, diesmal in einem anderen Mönchmobil, einem Chrysler. Fred war an der Reihe, die Nonnen aus der Klosterschule zum Blutspenden zu fahren.
»Du siehst … erschöpft aus«, sagte Lenny.
Fred lacht. »Die Nonnen haben sich nach dir erkundigt.« Er setzt sich auf den Boden und sieht zu, wie Lenny die nächste Wand streicht. »Mal sehen …« Er zählt an den Fingern ab. »Da hätten wir Schwester Mary vom allerheiligsten entblößten Herzen, Schwester Margaret vom heiligen entblößten Grabtuch, Schwester Catherine vom unbefleckten Blut –«
»Entblößt«, sagt Lenny, da er weiß, wie gern Fred die Namen der Nonnen verhunzt und ein »entblößt« hinzufügt, wenn er im Seminar Anrufe entgegennimmt. »Also – wer hat sich nun wirklich nach mir erkundigt?«, möchte Lenny wissen.
»Nur Vater Bailey und diese alte, aufdringliche Schwester, die immer zwei Pappbecher Orangensaft haben will, wenn sie Blut gespendet hat.«
»Schwester Barbara.«
»Von der allerehrwürdigsten Dornenkrone –«
»Entblößt.«
Am dritten Tag, an dem Lenny anstreicht, mischt er einige Tropfen von Tante Jocelyns Fuchsienrot unter das Grau, doch es reicht nicht aus, um den öden Farbton aufzuhellen. Als seine Tante hereinkommt, um ihm zuzuschauen, taucht sie einen Finger in die Dose mit dem Fuchsienrot und hält ihn nahe ans Fenster. Lenny und die Tante schauen einander an; sie versucht zu lächeln, doch ihre Lippen zittern. Sie greift nach Lennys Pinsel, taucht ihn in das Fuchsienrot und schmiert einen leuchtenden Klecks auf die Wand neben dem Fenster.
Lenny will die Tante stützen, doch sie ist nicht mehr so wackelig wie sonst, und ihm fällt nichts Besseres ein, als mitzumachen. Als sie am frühen Abend fertig werden, sind Tante Jocelyns weißer Hosenrock und die dazu passende Bluse mit fuchsienroten Spritzern übersät. Das ganze Zimmer einschließlich der Holzleisten ist fuchsienrot. Sie halten sich nicht mit Saubermachen auf, sondern fahren zum Eisenwarenladen und kaufen Dosen mit Blau, Gelb, Rot. Am Morgen gehen sie zur Messe, doch Tante Jocelyn hat es eilig, nach Hause zu kommen und für das nächste Vorhaben die Farbe zu mischen – ein üppiges Sonnenorange, das die Wände viel schneller zu bedecken scheint als das Grau.
Sie setzen sich an den Mittagstisch. Sie hat leuchtende Streifen auf Haar und Bluse. Als Lenny die Arbeitsplatte abwischt, findet er oben auf den Küchenabfällen zwei Pillenfläschchen. Beide sind noch mehr als halb voll. Er holt sie heraus.
»Ohne geht’s mir besser«, sagt sie.
»Hast du mit deinem Arzt darüber gesprochen?«
»Ich habe die Beipackzettel in Leonards Schreibtisch gefunden … eine Liste, was alles schief gehen kann.« Sie steht auf, zerreißt die Karteikarte, die ihr Mann für die Pillen geschrieben hatte, und streckt die Hand nach den Fläschchen aus. »Sag keinem was davon.«
»Ich möchte sie wenigstens behalten, bis du mit deinem Arzt gesprochen hast.«
»Mein Arzt hat sie mir doch verschrieben.«
»Wie lange nimmst du sie schon nicht mehr?«
»Seit dem Tag, an dem wir Leonard begraben haben.«
Zuerst überlegt er, ob er die Mehlkönigin anrufen und um Rat fragen soll, doch Tante Jocelyn sieht mit jedem Tag besser aus – ist nicht mehr so hilflos, sondern ist seltsam energiegeladen –, sodass er sich weniger Sorgen macht. Und als die Mehlschwestern zu Besuch kommen, selbst gemachte Fettuccine und fünf Liter Tomatensoße mit vielen winzigen Fleischbällchen mitbringen, kann er damit prahlen, dass Tante Jocelyn nun zur Bücherei geht, um sich selbst Bücher auszusuchen, dass sie sich ein Taxi ruft, das sie zum Supermarkt bringt.
»Als ich sie zum ersten Mal am Telefon gehört habe, war ich ganz erstaunt«, sagt er.
»Du tust ihr gut«, sagt die Mehlkönigin. »Jeder in der Familie weiß, dass Jocelyn nicht mehr telefoniert, seit sie sich vor zwölf Jahren verwählt hat.«
»Es sind eher dreizehn Jahre«, sagt eine der Mehlschwestern.
Lenny fühlt sich zufrieden, als er mit Tante Jocelyn an der Verwandlung der Zimmer arbeitet. Genau so hatte er sich das Jesuitendasein vorgestellt – dass er seine Fähigkeiten einsetzt, um anderen zu helfen, ein einfaches Leben führt. Genau das hatte ihn dazu bewogen, in den Orden einzutreten. Sein Glaube gedieh in einer einfachen Umgebung – wenn er Dinge für andere tat, wie seine Mutter und ihre Schwestern es während seiner ganzen Kindheit und Jugend in ihrer eigenen Gemeinde getan hatten –, doch im Seminar war diese Schlichtheit an ein Leben verloren gegangen, das von Annehmlichkeiten erfüllt war, Tagen voller Philosophie und Theologieunterricht. Er weiß, er könnte für immer im Orden bleiben, wo man alle seine Bedürfnisse erfüllen wird – vom Geld für Bücher über Mönchmobile, die ihm zur Verfügung stehen, bis hin zu den üppigen Mahlzeiten, die alles andere als einfach sind.
Eines Nachts träumt er, Tante Jocelyn stünde neben dem Kühlschrank und starrte auf eine leere Karteikarte. Sie hebt beide Arme, heult, während sie mit den Fäusten gegen die Kühlschranktür hämmert. Er packt ihre Fäuste, zieht die Tante zu sich heran. Das feine Haar fällt ihr aus dem Gesicht, und er kann in ihre Seele blicken. »Das Krankenhaus ist auf dem Dach«, will er sagen, kann aber nicht die Lippen öffnen. Mit einer Hand hält er die Handgelenke seiner Tante fest, damit sie sich nicht verletzt; mit der anderen streichelt er ihr Gesicht.
Als er aufwacht, beschließt er, ihren Arzt anzurufen, doch sobald er seine Tante in der Küche sieht, sind seine Sorgen verschwunden. Sie hat dieses kleine, verstohlene Lächeln, und als sie ihm sagt, er solle mitkommen, folgt er ihr in den Geschenkladen. Sie trägt das Hemd und den Hosenrock – Sachen, die sie zur Malerkleidung gemacht hat und die fleckig sind von allen bislang verwendeten Farben. Mit jedem Vorhaben ist Tante Jocelyn kräftiger, muskulöser geworden.
»Was ist los?«, fragt er.
Sie sagt es ihm erst, als sie im Laden stehen, umgeben vom religiösen Kitsch seines Onkels. Dann sprudeln die Worte aus ihr heraus. »Ich habe da eine Idee, eine wunderbare Idee, Lenny … Wir dekorieren jedes Zimmer nach einem anderen Heiligen.«
»Es könnte schwierig werden, das Hotel zu verkaufen.«
Sie schüttelt den Kopf und sagt, was Lenny schon geahnt hat. »Ich behalte das Hotel.«
»Für dich allein ist es zu viel Arbeit.«
Sie betrachtet ihn schweigend. Dann lächelt sie, als wäre sie sich gerade über etwas klar geworden, und legt ihm einen Finger auf das Herz. »Es muss authentisch sein …«
Lenny sieht sich als Messdiener, fühlt sich heilig, wie er vor der Statue vom Heiligen Herzen Jesu kniet. Die Zehen Jesu waren verschmiert von den Küssen der vielen Leute, und sein Herz war mit falschen Rubinen bedeckt, die glitzerten, wenn man eine Votivkerze anzündete.
»Das Dekor«, sagt sie, »wir machen das Dekor authentisch – sodass es die Gläubigen nicht kränkt. Sie müssen sich … bestätigt fühlen, wenn sie im Hotel wohnen.«
»Vielleicht ist genau das die Herausforderung.« Er nickt. »Es so authentisch zu machen, dass manche sich über den Kitsch amüsieren und andere denken, sie seien in ihrem eigenen Himmel angelangt.«
Fred ist begeistert von der Idee – »ein frommes Sakrileg«, nennt er sie – und begierig zu helfen. Das erste Zimmer, St. Antonius, ist leicht herzurichten – ein Korb mit Dingen, die frühere Gäste vergessen haben: Schlüssel, Gläser, Stifte, Hüte.
Die winzige Bar neben der Eingangshalle taufen sie Maria Magdalena, und so erscheint es nur logisch, das Frühstückszimmer Letztes Abendmahl zu nennen. »Platz für dreizehn bei Tisch«, verkündet Lenny, obwohl an dem langen Tisch nur elf Stühle stehen. Fred stöbert in Second-Hand-Läden im Zentrum von Portland und kommt mit zwei Holzstühlen zurück.
Die Flitterwochen-Suite wird nach Maria Goretti benannt, die ganz jung starb, als sie ihre Unschuld verteidigte. Es gibt ein Zimmer für St. Simon Stock, den Eremiten, der in einem hohlen Baum lebte. Neben das Bett hat Tante Jocelyn eine Lavalampe auf den Baumstumpf gestellt, den Fred in einem Mönchmobil herangeschafft hat.
Die Herrentoilette in der Eingangshalle nennen sie St. Peter. Der Versuch, einen ähnlich passenden Namen für die Damentoilette zu finden, bleibt ohne Ergebnis, und sie einigen sich schließlich auf zwei Unisex-Toiletten, die beide St. Peter heißen. Einzig der Wäscheraum ist ganz weiß gestrichen und hat den Namen Unbefleckte Empfängnis.
Andere Ideen sind zu frevelhaft, um sie umzusetzen, doch sie lachen, wenn sie darüber sprechen. »Würdest du das in einer Kirche aufhängen?«, lautet die Testfrage für die Qualitätskontrolle. »Das ist respektlos«, drückt Zustimmung aus. Und Tante Jocelyn wird unweigerlich sagen: »Da geh mal von aus.«
Die Mehlschwestern fahren mit Tante Jocelyn zum Stoffladen, wo sie ganze Ballen bunt bedruckter Stoffe kaufen. In ihrem viktorianischen Haus helfen sie ihr beim Zuschneiden und Nähen der Vorhänge. Das St.-Franziskus-Zimmer, das aufwändigste im ganzen Haus, bekommt ein Waldmuster. Vor einem Gemälde von St. Franziskus drängen sich ausgestopfte Vögel und eine banale hölzerne Möwe. Über dem Bett hängt ein Plastikflamingo mit einer Schleife um den Hals. Lenny malt Spritzer auf den Boden, die wie Vogelmist aussehen, und Fred bringt vor dem Fenster ein Futterhäuschen an.
Im Zimmer der hl. Agnes sind die Vorhänge mit Lämmern gemustert, um die jungfräuliche Reinheit der traurigen Gipsheiligen zu symbolisieren, deren Augen so weit nach oben gewandt sind, dass man nur noch das Weiße sieht, und die ihre Hände so vor der Brust gefaltet hat, dass die Fingerspitzen in dieselbe Richtung wie ihre Nase weisen.