LASTESIS
Verbrennt eure Angst!
Ein feministisches Manifest
Aus dem Spanischen von Svenja Becker
FISCHER E-Books
Sibila Sotomayor, Daffne Valdés, Paula Cometa und Lea Cáceres aus der chilenischen Hafenstadt Valparaíso gründeten das feministische Performance-Kollektiv LASTESIS im April 2018. Ihr Name bedeutet »Die Thesen« und ist Programm: LASTESIS übersetzen die Schriften feministischer Wissenschaftler*innen in gelebten, kreativen Widerstand. Inspiriert von Theoretikerinnen wie Rita Segato und Silvia Federici, schrieben sie das Lied »Un violador en tu camino« (»Ein Vergewaltiger auf deinem Weg«), um die grassierende Gewalt gegen Frauen anzuprangern. Die Performance, die den Song begleitete, wurde von Frauen auf der ganzen Welt inszeniert; die »Times« hat das Kollektiv unter die 100 einflussreichsten Menschen des Jahres 2020 gewählt. Ihr Manifest ist der kraftvoll wütende Aufruf, sich ihnen anzuschließen.
Svenja Becker, geboren 1967 in Kusel/Pfalz, arbeitet nach einigen Jahren als Steinmetzgesellin und Kneipenkollektivistin und einem Studium der VWL und Spanischen Sprach- und Literaturwissenschaften seit dem Jahr 2000 als freie Übersetzerin von Literatur aus Spanien und Lateinamerika. Sie hat unter anderem Werke von Isabel Allende, Carla Guelfenbein und Milena Busquets ins Deutsche übertragen.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
»Was eine von uns erlebt, erleben wir alle.« LASTESIS
Mit ihrer viral gegangenen Performance gegen sexualisierte Gewalt hat das Kollektiv LASTESIS ein internationales Zeichen gegen Femizide und für feministische Solidarität gesetzt. Frauen auf der ganzen Welt haben den symbolisch gewordenen Protestsong »Un violador en tu camino« - »Ein Vergewaltiger auf deinem Weg« - gesungen, Seite an Seite gegen die Ohnmacht angetanzt und das Patriarchat im bassgestützten Chor verdammt.
Das Manifest der Aktivistinnen übersetzt die kathartische Wut ihrer Performance in eine feministische Vision der Zukunft. Denn Femizide und Vergewaltigung, häusliche und sexualisierte Gewalt, das Recht auf Abtreibung, Care-Arbeit und Mutterschaft gehen alle an. Verbrennt eure Angst! ist der Aufruf, die Ketten des Patriarchats zu sprengen, um eine feministische Gesellschaft zu begründen, die – wahrhaftig gleichberechtigt – in Freiheit, Solidarität und Selbstbestimmung lebt.
Deutsche Erstausgabe
Erschienen bei S. FISCHER
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »¡Quemar el miedo!« bei Editorial Planeta Mexicana, S.A. de C.V.
© Colectivo LASTESIS
© Daffne Andrea Valdés Vargas
© Lea Nicolás Cáceres Díaz
© Paula Stange Varas
© Sibila Sotomayor Van Rysseghem
In Zusammenarbeit mit Alejandra Carmona und mit freundlicher Genehmigung der Pontas Literary & Film Agency
Für die deutsche Ausgabe:
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Schiller Design, Frankfurt, nach einer Idee von LASTESIS und mit freundlicher Genehmigung von Editorial Planeta Mexicana, S.A. de C.V.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491552-4
Was eine von uns erlebt, erleben wir alle.
Die Vereinzelung des Empfindens und der Erfahrungen hat es dem Patriarchat ermöglicht, jede von uns allein und eingeschüchtert zu überraschen. Indem wir in Verbindung mit dem Kollektiv echte Einfühlung und Schwesternschaft einüben, können wir den patriarchalen Käfig aufbrechen.
»Das liegt nicht an mir.« »Es ist nicht meine Schuld.« »Es geht nicht gegen mich allein.«
Das ist keine Depression, es sind Kapitalismus und Patriarchat.
Wir sind hier zu viert, aber wir wissen, dass uns die gleichen historischen Gewalttaten durchdringen und unsere Erzählungen deshalb denen von so vielen anderen entsprechen.
Aus diesem Grund haben wir uns dafür entschieden, in diesem Buch das Pronomen »Wir« zu verwenden. Jedes Mal, wenn wir von einer persönlichen Erfahrung berichten, drückt sich im »Wir« eine politische, feministische Haltung aus, die notwendige Übung, sich in die andere hineinzuversetzen und ihre Erfahrung als kollektives Erlebnis zu begreifen.
Wir sind von unserem Vater verlassen worden.
Wir sind von unserer Mutter verlassen worden, selbst wenn wir mit ihr gelebt haben.
Wir sind allein aufgewachsen, weil sich unsere Mama zwischen zwei Rollen aufreiben musste.
Wir sind Töchter eines Vaters, der unserer Mutter Gewalt angetan hat.
Wir sind missbraucht worden.
Wir sind auf der Straße von Autos verfolgt worden.
Wir hatten Angst, tagsüber durch die Straßen zu gehen.
Wir hatten Angst, nachts durch die Straßen zu gehen.
Wir mussten sehen, wie ein Mann neben uns im Bus masturbierte. Da waren wir neun, waren zwanzig Jahre alt.
Wir sind vergewaltigt worden.
Wir sind unsichtbar gemacht worden.
Wir haben für die gleiche Arbeit weniger Geld bekommen als ein Mann.
Wir mussten uns anhören, wie uns ein Mann von oben herab etwas erklärte, das wir längst wussten.
Wir haben mitbekommen, wie unsere Ideen erst durch die Stimme eines Mannes Gehör fanden.
Wir sind bedrängt worden, weil wir nicht heterosexuell sind.
Wir haben unsere Familie verloren, weil wir verteidigt haben, was wir sind.
Wir haben entbunden.
Wir haben allein erzogen. Studiert und allein erzogen. Studiert, gearbeitet und allein erzogen.
Wir haben illegal und unter unwürdigen Bedingungen abgetrieben.
Wir haben unsere Freundinnen zu ihren Abtreibungen begleitet.
Wir sind von unseren Partnern abgelehnt worden, weil wir abgetrieben haben.
Wir sind von einem Ex auf der Straße geschlagen worden.
Wir haben wirtschaftliche Gewalt erfahren.
Wir haben Gewalt beim Gebären erfahren.
Wir haben Gewalt in sexuellen Beziehungen erfahren.
Wir haben in drei Schichten gearbeitet.
Wir waren Migrantinnen ohne Papiere.
Wir sind Töchter von politischen Flüchtlingen.
Wir sind im Exil geboren und aufgewachsen.
Wir setzen auf die Kunst als Widerstandsform.
Wir sind verfolgt und bedrängt worden, weil wir sagen, was wir denken.
Wir kümmern uns umeinander.
Wir wissen, dass wir zum Teil Glück hatten und Privilegien genießen, die andere nicht hatten, denn wir sind am Leben.
Wir weigern uns, weiter gemeinsame Sache zu machen mit den Formen patriarchaler Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit, die wir euch in diesem Buch darlegen wollen. Ihr werdet auch von der Verletzlichkeit lesen, die in unseren Geschichten steckt, lodernden Geschichten, aus denen sich unsere Leben zusammensetzen. Das Leben ist ungerecht auf dieser Seite der Straße, aber wenn du lernst, deine Anliegen durch Kunst auszudrücken und sie öffentlich machst, schaffst du eine tiefe Verbindung zu deinen Gefühlen, den positiven wie negativen, und kannst sie mit deinen Vorstellungen verknüpfen. Mit Gefühlen zu arbeiten ist ein subversives Geschenk an die Welt.
Subversion, in Schönheit getaucht, ist Revolution.
Kollektiv LASTESIS
Mit »Frau« meinen wir alle, die sich subjektiv als solche begreifen, unabhängig von den Genitalien.
Mit »dissident« meinen wir alle, die sich subjektiv als der LGBTQIA+-Community zugehörig begreifen.
Mit »Mann« meinen wir im Allgemeinen den patriarchalen Mann, also denjenigen, der die Machogewalt auf allen Ebenen fortschreibt.
Mit »binär« meinen wir die Vorstellung, Geschlechter seien auf Männer und Frauen beschränkt.
Mit »cis« meinen wir Personen, deren Geschlechtsidentität mit ihren Genitalien übereinstimmt, also etwa jemand, der sich als Mann definiert und männliche Genitalien besitzt.
Mit »heteronormativ« meinen wir den gesellschaftlichen Zwang, der heterosexuelle Sexualbeziehungen über alle anderen Formen von Beziehungen erhebt.
Mit »Hegemonie« meinen wir die absolute Übermacht von etwas über etwas anderes.
Mit »Patriarchat« meinen wir das Gesellschaftssystem, das Männern Privilegien gegenüber Frauen und jedem anderen Selbst einräumt.
Mit »Performance« meinen wir eine Aktion, an der sowohl diejenigen teilhaben, die sie sehen, als auch diejenigen, die sie umsetzen. Die Aktion findet an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit statt.
Sie rauben uns alles, außer der Wut
[Frauen im Lockdown]
Neben der Ödnis des Haushalts, der Wiederholung daheim,
könnte ich an keinem
gefährlicheren Ort für mich sein.
Heute verbrennt der Schleier der Gewalt.
Es kochen die Wunden, in unsre Körper geschrieben.
Jetzt fehlt uns sogar das Dach überm Kopf
in unseren eigenen vier Wänden.
In der Falle ohne Ausweg
zur Hand die Waffen für den Mord,
vor den Augen der
ganzen Familie.
Sie rauben uns alles, außer der Wut
Lied zur gemeinschaftlich entwickelten Videoperformance gegen häusliche Gewalt, Juni 2020, Kollektiv LASTESIS
Im Tierreich kann sich eine Art Wut übertragen, wenn ein Tier seine Zähne in den Körper eines anderen schlägt. Das Tollwutvirus wandert vom Entstehungsort der Wunde ins Gehirn. Das führt erst zu einer Entzündung, dann zum Tod. Doch die Fähigkeit, eine unheilbare Krankheit zu verbreiten, können wir noch bei einer anderen Wut konstatieren. Bei einer, die seit Jahrhunderten unbehandelt bleibt. Ein primitives, längst verstaubtes System, das ebenfalls über den Körper angreift. Über unsere Körper. Es verletzt uns, es lähmt und tötet uns.
Wir haben diese Wut. Wut auf die jahrtausendelange Unterdrückung. Wut auf die althergebrachte Straffreiheit. Wut und Angst, dass man uns angreift, ermordet, vergisst.
Das Patriarchat pulst in den Adern von Regierungen und Machtapparaten, von Medien und Polizei. Es durchdringt sämtliche sozio-ökonomischen Bereiche. Es sickert in die Gerichtshöfe ein. Es durchzieht unter der Oberfläche – und häufig genug auch offenkundig – den Staat. Es verwandelt sich in das Wüten von Narcos und Banden wie den mittelamerikanischen Maras, die Frauen in einer alten, unseligen Tradition, die sich bis in unsere Zeit gehalten hat, als Schutzschilde und Beute von Rachefeldzügen benutzen. Alles, was das Patriarchat anfasst, wird zu Wut.
Wir haben diese Wut. Wut, dass das, was man uns antut, beständig unsichtbar gemacht wird. Wie kommt es, dass fast alle Frauen, die du kennst, schon einmal Opfer eines Missbrauchs geworden sind, die Männer aber keinen einzigen Täter kennen? Weil sie es nicht sehen. Weil unser Blut in ihrer privilegierten Position unsichtbar ist.
Als junge Mädchen sind wir oft auf der Straße angefasst worden, haben Übergriffe am eigenen Leib erfahren, ohne dass sie je bestraft wurden. Man hat unseren Hintern begrapscht, im Bus den Penis an uns gerieben. Man hat uns mit Gewalt geküsst. Man hat uns als kleine Mädchen, als Jugendliche und später als Erwachsene missbraucht; wir waren betrunken, wir waren nüchtern. Einmal, als wir durch Valparaíso gingen, kam ein Typ aus dem Gebüsch und schrie: »Du willst ihn gern reingesteckt kriegen. Renn doch, du Schlampe!« Und es blieb uns nichts anderes übrig, als zu rennen. Und diese Übergriffe, die für viele unsichtbar sind, erleben wir täglich, ohne dass wir sie anzeigen könnten.
Was wir bezeugen, wird immer in Frage gestellt, ist immer strittig, zweifelhaft, nie reicht es aus. Die Unschuldsvermutung mäht unsere Wahrheit nieder. Dass der Missbrauch, die Vergewaltigung straffrei bleiben, ist die Norm, und dass die Opfer dadurch erneut zum Opfer werden, ist unerträglich. Und dann hassen sie uns noch, wenn wir in Massen auf die Straße gehen, um ihnen zu sagen, dass wir ihre Misshandlungen, die Gewalt und die Folter nicht länger hinnehmen.
Als wir Ein Vergewaltiger auf deinem Weg geschaffen hatten, bekamen wir jede Menge Drohungen in den sozialen Netzwerken. Wer sich gestört fühlte, verteidigte sich oft reflexhaft mit einem »Nicht alle Männer sind so«. Einige posteten sogar: »Wieso nennt ihr mich einen Vergewaltiger, ich bin doch keiner?« Also noch mal zum Mitschreiben: Es handelt sich um eine Aufführung, um eine Performance, die auf eine Strafe hinweist,