Marie Cristen

Der Blutfluch

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Marie Cristen

Marie Cristen lebt mit ihrer Familie bei München. Nach zwei Romanbiographien über die berühmtesten Kaiserinnen der Habsburger erschien bei Knaur ihre große historische Flandern-Tetralogie (»Beginenfeuer«, »Die Stunde des Venezianers«, »Das flandrische Siegel« und »Der Damenfriede«) sowie »Turm der Lügen«, ein fesselnder Roman um einen authentischen Skandal des französischen Mittelalters.

Über dieses Buch

Von Zigeunern wurde die kleine Aliza einst gerettet, als ihre Mutter sich in einem reißenden Fluss ertränkte. Obwohl sie ein Blutmal im Nacken trägt, das immer wieder den Aberglauben nährt, nimmt man sie an Kindes Statt an.
Jahre später, als die Sippe 1156 bei Barbarossas Hochzeit in Würzburg ihr Lager aufschlägt, wendet sich Alizas Schicksal dramatisch: Ihr ungewöhnlicher Tanz betört den kaiserlichen Hof und lässt die »blonde Ägypterin« zum Zentrum eines Intrigenspiels werden, in dem sich Politik und Leidenschaft auf höchst gefährliche Weise mischen …

Impressum

© 2013 Knaur eBook
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: akg-images / © Bonhams, London, UK / The Bridgeman Art Library

ISBN 978-3-426-42298-4

Hinweise des Verlags

Wenn Ihnen dieses eBook gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weiteren spannenden Lesestoff aus dem Programm von Knaur eBook und neobooks.

Auf www.knaur-ebook.de finden Sie alle eBooks aus dem Programm der Verlagsgruppe Droemer Knaur.

Mit dem Knaur eBook Newsletter werden Sie regelmäßig über aktuelle Neuerscheinungen informiert.

Auf der Online-Plattform www.neobooks.com publizieren bisher unentdeckte Autoren ihre Werke als eBooks. Als Leser können Sie diese Titel überwiegend kostenlos herunterladen, lesen, rezensieren und zur Bewertung bei Droemer Knaur empfehlen.

Weitere Informationen rund um das Thema eBook erhalten Sie über unsere Facebook- und Twitter-Seiten:

http://www.facebook.com/knaurebook

http://twitter.com/knaurebook

http://www.facebook.com/neobooks

http://twitter.com/neobooks_com

Der Weise vermag mehr als der Starke,

und der Einsichtige mehr als der Kraftvolle.

Bibel – Das Buch der Sprüche

Prolog

Besançon, im April 1139

Was fehlt dir, Leena? Dein Stolz, den Tibo mit Füßen getreten hat? Schau der Wahrheit ins Gesicht! Danitza erwartet sein Kind!

Das Rauschen des Wassers bekam einen anderen Klang. Nicht länger verführerisch und einladend, sondern wütend und aufbrausend. Leena straffte die Schultern. Wie lange hockte sie schon hier am Ufer des Doubs, bis zum Scheitel in Selbstmitleid versunken? Was suchte sie hier? Einen Ausweg? Im Wasser? Weil ein Lügner, Schurke und Heuchler sie hintergangen hatte?

Oh, nein! Sie wollte ihm und der Sippe die Stirn bieten. Rache war das Gebot der Stunde, nicht Verzicht.

Leena erhob sich steif, taumelte, bis sie am Stamm einer verkrüppelten Weide Halt fand. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass es Nacht geworden war. Fröstelnd versuchte sie sich zu orientieren. Ihr Gewand, fadenscheinig und mit Flitter besetzt, bot kaum Schutz vor dem Eishauch des Flusses. Das Schmelzwasser aus den Bergen des Jura nährte seine Fluten. Völlig durchgefroren schlang sie auf der Suche nach etwas Wärme die Arme um den Oberkörper. Der Frühling in Burgund hatte den Winter noch längst nicht besiegt.

Schwarz gegen das Dunkel der Nacht erhob sich rechter Hand der Steinbogen jener Brücke, die als einzige weit und breit den Doubs überspannte. Bis zum heutigen Tag bezeugte sie die Meisterschaft römischer Baumeister, die sich weder von steilen Ufern noch von tief eingegrabenen Flussläufen hatten beeindrucken lassen.

Eine Bewegung auf der Brücke erregte ihr Misstrauen. Die Augen eng zusammengekniffen, versuchte sie Einzelheiten zu entdecken, während sie hastig die Böschung emporkletterte.

Am Scheitelpunkt der Wölbung des Bauwerks, genau zwischen Nachthimmel und Fluss, beugte sich eine Gestalt, gleich einem Schattenriss, gefährlich weit über die Brüstung. Herzbewegendes Säuglingsgeschrei übertönte das Wasserrauschen.

Noch eine Unglückliche, die ihrem Leben ein Ende setzen wollte? Leenas Gespür, das sie sogar befähigte, im Linienverlauf einer Handfläche Schicksal und Zukunft der Menschen zu erkennen, warnte eindringlich davor zu säumen.

Sie flog geradezu den Hang zur Straße hinauf. Kaum spürte sie unter ihren bloßen Sohlen den Übergang von Gras zu Stein. Keuchend rannte sie auf die Brücke, die Hände nach der Unbekannten ausgestreckt.

»Tu es nicht!«

Gemeinsam stürzten sie auf die Pflastersteine, so heftig war der Ruck, mit dem sie Mutter und Kind vom Abgrund zurückriss. Das Kleine verstummte jäh. Ob vor Schreck oder weil es zu Schaden gekommen war, konnte Leena nicht sagen. Sie rappelte sich hoch, wollte der Frau ebenfalls beim Aufstehen helfen und erntete nur Undank.

»Bist du von Sinnen? Was willst du? Fass mich nicht an!«

Der bestimmte Ton verriet die Person von Stand, auch wenn die Worte geschluchzt wurden.

Leena gab die Gewandfalten frei, die sie immer noch umklammert hielt. Stattdessen berührte sie angstvoll das stille Bündel, ohne dass ihr die Geste zu Bewusstsein kam. Nicht nur Tibo sehnte sich schmerzlich nach Kindern. Hatte er sich deswegen einer anderen zugewandt?

»Was tust du?«, fragte sie vorwurfsvoll, sobald sie eine Regung von Leben unter dem Tuch erspürte und leises Wimmern vernahm. »Der Tod löst keine Probleme. Ich weiß, wovon ich spreche.«

»Nichts weißt du. Du hast keine Ahnung, was mir das Schicksal angetan hat.«

»Kein Leid rechtfertigt es, sein Leben wegzuwerfen. Schon gar nicht das eines unschuldigen Kindes«, widersprach Leena heftig. »Kinder sind das kostbarste Geschenk des Himmels.«

»Dieses nicht. Es hätte nie zur Welt kommen dürfen.«

Ein Windstoß zerriss das Wolkenband vor dem Mond, so dass ein Lichtstrahl auf die Verzweifelte fiel. Sie war selbst noch ein Kind, kaum älter als fünfzehn Jahre, aber sichtlich von den Strapazen der Geburt gezeichnet. Feucht klebte ihr das Haar an den Schläfen. Das Kleid, obwohl aus Wolle und bestickt, war voller Schmutzflecken. Entweder hatte sie ihr Kind auf der Straße geboren, oder man hatte sie kurz nach der Geburt auf die Gasse gejagt. Woher sie die Kraft nahm, sich aufrecht zu halten, war Leena ein Rätsel.

»Du brauchst Hilfe«, stellte sie fest. »Wärme und Nahrung. Auch dein Kind hat Hunger. Hat dir niemand gezeigt, wie du es anlegen musst? Wann hast du es geboren?«

»Heute.«

»Und in aller Heimlichkeit, nehme ich an.«

»Ich hatte keine Wahl. Es ist ein Teufelsbalg, die Strafe für meine Sünden. Sieh her, es trägt ein Blutmal. Es ist verflucht. Ein solches Mal bringt Tod und Verderben für alle, die mit dem Kind in Berührung kommen.«

Sie riss die Tücher auseinander, und das Wimmern wurde prompt zum Kreischen. Mit Händen und Füßen wild fuchtelnd, schrie das Neugeborene aus voller Brust.

Leena konnte kein Mal entdecken, das den Kindskörper entstellte. Im Gegenteil: Die Haut des Kindes schimmerte wie die Blüte einer Christrose. Den Kopf bedeckte silbriger Flaum, die Augen blickten klar. Es war ein Mädchen, zart, aber hungrig und mit kräftiger Stimme.

»Ich sehe kein Mal. Was ich sehe, ist lediglich, dass deine Tochter friert und vor Durst weint«, antwortete sie ruhig. »Halte sie warm und gib ihr zu trinken. Ich versichere dir, danach wird es auch dir bessergehen. Ihr müsst jetzt füreinander da sein.«

»Und was ist das?«

Die Mutter ergriff ihr Kind um die Körpermitte und zog die Decke von seinem bloßen Rücken. Haltlos sank das Köpfchen gegen ihre Schulter. Im Nacken, am Ende der zerbrechlichen Wirbelsäule, wies die Haut eine deutlich sichtbare Verfärbung auf.

Leena trat neugierig näher. Der Mond enthüllte die fremdartigen Zeichen auf ihren Wangenknochen. Erschrocken wich die junge Mutter zurück.

»Du gehörst zu den Ägyptern, die vor dem Stadttor lagern. Zu den Zauberern«, stammelte sie. »Du willst mein Kind. Man erzählt sich hinter vorgehaltener Hand von euren heidnischen Ritualen und Opfern.«

Ausgerechnet einer Selbstmörderin, die ihr Kind mit in den Tod nehmen wollte, den Aberglauben ausreden zu wollen war fast zu viel für Leena.

»Ich will dir nur helfen. Es ist Unsinn, was sie über uns erzählen. Wir sind weder Ägypter noch Zauberer. Unsere Sippe gehört zum Volk der Tamara, und wir tun keinem Menschen etwas zuleide. Schon gar nicht unschuldigen Kindern. Im Gegenteil, unsere Heilerin kann …«

»Lass mich! Ich glaube dir kein Wort.«

Obwohl sie die ablehnende Reaktion nicht überraschte, hätte Leena die Verzweifelte am liebsten geschüttelt, um sie zur Vernunft zu bringen. Welches Argument konnte sie nur überzeugen?

»Denk an deine Mutter. Hat sie dich nicht mit Liebe umsorgt und dich vor Bösem bewahrt? Nimm dir ein Beispiel an ihr.«

»Und wie schlecht habe ich meiner Mutter diese Liebe gedankt!«

Leena hatte ins Schwarze getroffen. An der Brückenmauer brach die Verzweifelte in Ströme von Tränen aus. »Ich habe meine Familie entehrt und meiner Mutter das Herz gebrochen. Onkel Eléazar hat mir die Tür gewiesen. Er sagt, er duldet keine Hure unter seinem Dach.«

»Erzähl mir davon«, ging Leena auf die Fremde ein. »Auch die ärgste Last wird leichter, wenn man sie teilt.«

»Das wirst du nicht mehr sagen, wenn du die Wahrheit kennst …«

Nicht alles, was das Mädchen überstürzt und unzusammenhängend hervorsprudelte, verstand Leena. Teils, weil sie die Sprache der Gegend nicht gut genug beherrschte, teils, weil ihr Schluchzen manche Sätze verstümmelte. Dennoch konnte sie sich die Tragödie schnell zusammenreimen. Adeliza war die Tochter eines angesehenen Magistrats in Besançon. Sie hatte den Liebesschwüren eines jungen Ritters vertraut, der sie umworben und danach verlassen hatte. Entehrt und schwanger war sie zurückgeblieben, der Schande und der allgemeinen Verachtung preisgegeben. Weder die kranke Mutter noch der strenge Onkel, der die Vaterstelle an ihr vertrat, fanden sich bereit, die Sünde zu verzeihen. In ihrer Bedrängnis sah sie nur einen Ausweg. Den Fluss.

»Sie allein ist an allem schuld!« Adeliza streckte das winzige Kind mit solchem Abscheu von sich, dass Leena fürchtete, sie würde es fallen lassen. »Der Teufel hat die Saat in meinen Schoß gepflanzt, um mich für meine Sündhaftigkeit zu bestrafen. Das Mal im Nacken beweist es. Ihr Blut ist verflucht!«

»Wer hat dir so etwas eingeredet? Viele Kinder kommen mit einem solchen Mal zur Welt. Es hat nichts zu besagen, es verblasst im Laufe der ersten Lebensjahre.«

»Du lügst.« Adelizas Stimme überschlug sich in Hysterie. »Wir sind verflucht, mein Kind und ich. Die Hölle wartet auf uns.«

Alles geschah zur selben Zeit.

Leena erfasste sofort, was Adeliza im Sinn hatte. Tollkühn warf sie sich halb über die Mauer, um zu verhindern, dass das Kind mit der Mutter in die Tiefe stürzte. Im letzten Moment erhaschte sie ein Füßchen, aber sie verlor das Tuch dabei, das das Neugeborene notdürftig vor der Nachtkälte geschützt hatte. Fahl segelte der Stoff in die Tiefe. Auf keinen Fall durfte sie dieses erbärmlich dünne Bein loslassen, es hätte den sicheren Tod des Kindes bedeutet. Rote Kreise tanzten ihr vor Augen, ihr Herz raste vor Angst. Tief unten toste der Fluss.

Die Mauerkante presste sich ihr hart in den Magen, ihre bloßen Sohlen rutschten auf den Steinen. Das Entsetzen raubte ihr den Atem, und erst nach und nach gewann ein anderes Gefühl die Oberhand. Erleichterung. Adeliza mochte das eigene Leben geringgeschätzt haben, aber sie hatte ihre Tochter vor ihrem Sturz im letzten Augenblick freigegeben. Das Mädchen zappelte erbärmlich, und Leena beugte sich noch tiefer, um es sicher zu halten.

»Tu es nicht!«

Nach einer kurzen Verschnaufpause wurde Leena so unerwartet rücklings an den Oberarmen gepackt, dass sie vor Schreck das Kind fast wieder verloren hätte. Wütend trat sie mit dem Fuß nach hinten und barg das zappelnde, eiskalte Neugeborene schützend an ihrer Brust. Erst dann drehte sie sich um: Tibo!

Sie maß ihn mit einem Blick purer Verachtung, weil sie ihm ansah, was er dachte. Aber sie war weder so verzweifelt noch so schwach wie Adeliza, die nur einen einzigen Ausweg gesehen hatte: den Tod.

»Was soll ich nicht tun? Denkst du, ich stürze mich in den Fluss wie dieses arme, irregeleitete Mädchen? Nehme mir deinetwegen das Leben? Das bist du nicht wert, Tibo. Danitza kann dich behalten. Ich will dich nicht mehr. Geh zu deiner Dirne und mach ihr die Söhne, die du so dringend haben willst.«

Wie es seine Art war, überhörte er die Anklage einfach und deutete auf das Kind.

»Und was soll das hier sein?«

Seine Stimme verriet sowohl Zorn wie ein schlechtes Gewissen und eine Spur von Unsicherheit. Seine Zornesausbrüche waren ihr vertraut, die beiden anderen Gefühlsregungen waren ihr fremd an ihm. Gemeinhin strotzte Tibo vor Selbstsicherheit und Kraft, Skrupel oder Schwäche schienen ihm fern. Was hatte ihn durcheinandergebracht? Die Sorge um eine Frau, die er ohnehin betrog? Kaum vorstellbar. Leena bot ihm unerschrocken die Stirn.

»Es ist mein Kind.« Sie hüllte das Neugeborene schützend in die Falten ihres Rockes.

Die Bewegung sollte Tibo zeigen, wie sehr sie sich als Mutter dieses Kindes fühlte. In ihrem Volk konnte man die Brüste entblößen, ohne Anstoß zu erregen, aber keine Tamara enthüllte ohne äußerste Not ihre Schenkel.

»Kinder fallen nicht vom Himmel. Und du kannst keine zur Welt bringen«, erwiderte Tibo.

Es war gefühllos, sie daran zu erinnern, aber Tibo war ein Freund klarer Worte.

»Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten«, erhielt er zur Antwort.

»Du bist wütend, ich weiß. Ich war ein Trottel, mich auf Danitza einzulassen. Sie ist eine Schlange. Verzeih mir. Ich will es wiedergutmachen. Du musst nicht einer anderen Frau das Kind nehmen, damit ich zu dir zurückkomme. Wir werden auch ohne eigene Kinder glücklich …«

»Sei still.«

Leena war es endlich gelungen, den Herzschlag des Mädchens zu ertasten. Eilig, wie der eines verletzten Vogels, drängte er sie zu handeln. Das Schicksal schenkte ihr eine Tochter, aber wenn sie sich nicht sputete, würde sie sie noch in dieser Nacht wieder verlieren.

»Das Kleine braucht Wärme, Milch und Liebe. Dieses Kind wird mir niemand nehmen. Im Notfall werde ich gegen Tod und Stammesgesetz zugleich kämpfen, das schwöre ich dir, Tibo. Wenn dir wirklich an meiner Vergebung liegt, wirst du mir helfen und ihm ein guter Vater sein.«

»Und was ist mit der Mutter? Womit hast du sie überredet, dir das Kind zu überlassen? Hast du ihr Schicksal aus den Handlinien gelesen und sie in Ängste versetzt, bis sie nicht mehr wusste, worauf sie sich einlässt? Wenn du deine Talente auf solche Weise einsetzt, musst du dich vor dem Stammesrat verantworten. Unsere Regeln erlauben keinen Missbrauch, das solltest du wissen.«

Leena schnaubte verächtlich. Sie kannte die Gesetze des Stammes besser als Tibo. Von Generation zu Generation mündlich überliefert, bildeten sie die Basis ihres Lebens. Von Mutter zu Tochter wurden sie weitergegeben.

»Die Mutter dieses Würmchens hat sich vor meinen Augen in den Fluss gestürzt. Gott hat ein Wunder bewirkt und mir erlaubt, das Kleine zu retten, ehe sie es mit in den Tod reißen konnte. Wenn der Fluss ihre Leiche freigibt, werden alle denken, dass der Strom ihr Kind auf Nimmerwiedersehen verschlungen hat. Niemand wird je davon erfahren, dass es als unsere Tochter weiterlebt.«

Tibo beugte sich über das Geländer und sah in die Tiefe, wo der Fluss um die Brückenpfeiler tobte. Wer dort hinuntersprang, wählte den sicheren Tod.

»Du machst es dir zu einfach, Frau. Du bringst die Sippe in Gefahr. Wir können kein Christenkind bei uns aufwachsen lassen. Ohnehin ist unser Leben schwierig genug. Nirgendwo dürfen wir länger bleiben. Überall haben die Dummköpfe Angst vor uns, da können ihre Frauen noch so oft heimlich in unser Lager schleichen und dich bitten, ihnen die Zukunft vorauszusagen. Man schimpft uns Gauner und Landstreicher und sieht uns am liebsten, wenn wir wieder abziehen. Das weißt du doch.«

Seine Einwände fanden kein Gehör bei Leena. Für sie zählte allein das Kind. Aliza würde sie es nennen, im Andenken an seine verzweifelte Mutter. Wenigstens diese Erinnerung schuldete sie ihr.

»Aliza ist mein Kind. Du musst dich auch für sie entscheiden, Tibo, wenn dir daran liegt, mit mir in Frieden zu leben.«

Nie zuvor hatte Leena gewagt, ihm Befehle zu erteilen.

Erschrocken über die eigene Kühnheit, nahm sie dennoch kein Wort zurück. Sie wandte sich zum Gehen.

Wenn er ihr folgte, hatte sie gewonnen – eine Tochter und die künftige Oberhand über den Ehemann und Stammesführer der Tamara.

Würde er ihr folgen?

Erstes Buch
Hoftage