Die Originalausgabe erschien im September 2019 unter dem Titel «Talking to Strangers. What We Should Know About The People We Don't Know» bei Little, Brown and Company, New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2019
Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Talking to Strangers» Copyright © 2019 by Malcolm Gladwell
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Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
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ISBN 978-3-644-00603-4
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-00603-4
Die Behauptung, Moctezuma habe in Cortés einen Gott gesehen, ist inzwischen gründlich widerlegt. So schreibt zum Beispiel die Historikerin Camilla Townsend, es habe sich vermutlich einfach um ein Missverständnis gehandelt, das daher rührte, dass die Azteken Cortés und seine Männer als «teotl» bezeichneten, was im Spanischen unter anderem «Gott» bedeutet. Townsend meint jedoch, dass sie dieses Wort verwendeten, «weil sie den Spaniern ja irgendeinen Namen geben mussten, auch wenn es nicht klar war, welchen … Im alten Mexiko wurden Menschen immer nach dem Dorf oder der Stadt benannt, aus der sie kamen, oder nach ihrer gesellschaftlichen Rolle (zum Beispiel Steuereintreiber, Adeliger oder Diener). Aber diese Leute gehörten nirgendwohin.»
Die CIA unterzieht ihre Leute regelmäßig Detektortests, um sich gegen die Art von Verrat zu schützen, wie Aspillaga sie beschrieb. Wann immer einer der Informanten Kuba verließ, wurde er heimlich in ein Hotelzimmer beordert und dort einem solchen Test unterzogen. Manchmal bestanden die Kubaner – der Leiter der Lügendetektorabteilung höchstpersönlich stellte sechs Agenten, die sich später als Doppelagenten entpuppen sollten, ein blendendes Zeugnis aus. Andere Kubaner fielen durch. Aber was passierte in diesen Fällen? Die Leute in der Kuba-Abteilung winken ab. John Sullivan, einer der früheren Mitarbeiter der Lügendetektorabteilung der CIA, erinnert sich, wie er nach einem solchen Test vorgeladen wurde: «Die haben uns unter Druck gesetzt und gnadenlos runtergeputzt. Die Offiziere haben zu uns gesagt: ‹Ihr habt doch keine Ahnung von eurer Arbeit. Bei euch würde sogar Mutter Teresa durchfallen.› Die haben uns richtig fertiggemacht.»
Aber wer wollte es ihnen verdenken? Die Offiziere hatten etwas gegen diese Methode, Fremde zu verstehen, und zogen ihr eigenes Urteil vor. Das ist nur zu verständlich. Der Lügendetektor ist ein stumpfes Instrument. Die Offiziere hatten dagegen jahrelange Erfahrung mit den Informanten: Sie trafen sich persönlich mit ihnen, sprachen mit ihnen und analysierten die Qualität ihrer Berichte. Die über Jahre gereifte Einschätzung eines Profis sollte der Wahrheit doch näher kommen als ein hastig durchgeführter Test in einem Hotelzimmer? Das war jedoch ein Irrtum.
«Viele Offiziere meinen, ‹Ich bin so ein guter Offizier, mich führen die nicht aufs Glatteis.› Ich denke da besonders an einen Kollegen, ein wirklich guter Mann, vielleicht einer der besten der CIA», erinnert sich Sullivan; offensichtlich meinte er den Bergsteiger. «Die sind ihm mit der Kamera in die Reinigung nachgelaufen. Die haben ihn dabei gefilmt, wie er einen toten Briefkasten besucht. Es war irre.»
Die einzige Ausnahme war der kanadische Premier William Lyon Mackenzie King. Er lernte Hitler 1937 kennen, bewunderte ihn und verglich ihn mit Johanna von Orléans.
Besser noch als Hitler kannte Henderson seinen Stellvertreter Hermann Göring. Mit ihm ging Henderson auf die Jagd. Sie führten lange Gespräche. Henderson war überzeugt, dass auch Göring den Frieden wollte und dass unter dem Nazi-Gepolter ein anständiger Mann steckte. In seinen Erinnerungen an seine Zeit in Berlin, die er kurz nach Kriegsausbruch veröffentlichte, beschrieb er Göring als einen Mann, der «Tiere und Kinder liebt. Obwohl er selbst keine Kinder hat, gibt es im Obergeschoss von Karinhall ein Spielzimmer mit allen mechanischen Spielsachen, wie sie das Herz eines Kindes von heute erfreuen können. Nichts bereitete Göring größere Freude, als dort hinaufzugehen und zu spielen. Zwar befanden sich unter den Spielsachen auch Flugzeuge, die Bomben auf schutzlose Städte und Dörfer abwarfen; doch als ich ihn darauf ansprach, erwiderte er, übermäßige Kultiviertheit und Verzärtelung von Kindern passten nicht zur nationalsozialistischen Lebensauffassung.»
Das Gesetz wurde seither geändert. Heute dürfen nur noch Volljährige auf Rikers Island inhaftiert werden.
Zwei technische Anmerkungen zum Vergleich zwischen Mensch und Maschine: Wenn Mullainathan angibt, dass die vom Computer auf Kaution freigelassenen Untersuchungshäftlinge 25 Prozent weniger Straftaten begehen als die von menschlichen Richtern ausgewählten, dann rechnet er auch das Nichterscheinen zum Gerichtstermin als Straftat. Zweitens fragen Sie sich vielleicht, wie Mullainathan mit solcher Gewissheit errechnen konnte, wer nach der Freilassung auf Kaution eine Straftat begehen würde und wer nicht. Er ist schließlich kein Hellseher. Es handelt sich um Schätzungen auf Grundlage von komplizierten statistischen Berechnungen. Hier die Kurzfassung: Die Richter arbeiten in Schichten, die Angeklagten werden ihnen nach dem Zufallsprinzip zugeteilt. Richter lassen ganz unterschiedliche Anteile auf Kaution frei beziehungsweise setzen die Kaution sehr unterschiedlich fest. Einige Richter sind großzügig, andere streng. Stellen Sie sich also vor, einer Gruppe strenger Richter werden 1000 Angeklagte vorgeführt, und sie lässt 25 Prozent gehen. Einer Gruppe großzügiger Richter werden 1000 identische Angeklagte vorgeführt, und sie lässt 75 Prozent gehen. Ein Vergleich zwischen der Verbrechensrate der freigelassenen Angeklagten jeder Gruppe vermittelt einen Eindruck davon, wie viele harmlose Menschen die strengen Richter einsperren und wie viele gefährliche Menschen die großzügigen freilassen. Diese Schätzung lässt sich auch auf die Vorhersagen der Maschine übertragen. Wenn sie ihre 1000 Angeklagten beurteilt, wie viel besser ist sie dann als die strengen Richter einerseits und die großzügigen andererseits? Das klingt kompliziert, ist es aber nicht. Wenn Sie mehr wissen wollen, empfehle ich Ihnen den Artikel von Sendhil Mullainathan.
Das Außenministerium hatte Hermanos al Rescate über die offiziellen Kanäle informiert, dass Flugpläne mit dem Ziel Kuba nicht genehmigt würden. Diese Warnungen fruchteten offensichtlich nicht.
CNN: Admiral, das Außenministerium hat schon früher Warnungen an Hermanos al Rescate herausgegeben, ist das richtig?
Carroll: Aber keine wirkungsvollen Warnungen … Sie haben gewusst, dass die Hermanos falsche Flugpläne einreichen und dann nach Kuba fliegen. Ein Grund für den Ärger der Kubaner war, dass sich die Regierung nicht um die Einhaltung der Vorschriften kümmerte.
Das stimmte sogar. Montes hielt strenge Diät, zeitweise ernährte sie sich ausschließlich von ungewürzten, gekochten Kartoffeln. CIA-Psychologen diagnostizierten später eine Zwangsstörung. Sie duschte ausgiebig mit verschiedenen Seifen und trug Handschuhe, wenn sie sich ans Steuer ihres Wagens setzte. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass andere ihr Misstrauen gegenüber ihren oftmals sonderbaren Verhaltensweisen wegerklärten.
Timothy Levine präsentiert seine Theorie in seinem Buch Duped: Truth-Default Theory and the Social Science of Lying and Deception. Wenn Sie mehr über Betrügerei erfahren wollen, lege ich Ihnen dieses Buch sehr ans Herz.
In meinem Buch Blink! beschreibe ich Paul Ekmans Theorie, dass eine kleine Zahl von Menschen in der Lage ist, Lügner zu entlarven. In den Anmerkungen finden Sie mehr zu der Kontroverse zwischen Ekman und Levine.
SAFE steht für Security Analyst File Environment [Sicherheitsanalysten-File-Umgebung]. Ich finde es immer wieder amüsant, wenn Leute sich von dem Akronym ausgehend den vollen Namen zusammenbasteln.
Moment mal! Wäre es dann nicht in unserem Interesse, wenn Mitarbeiter der Spionageabwehr heilige Narren wären? Ist das nicht gerade die Branche, in der Misstrauen wichtiger wäre als irgendwo sonst? Im Gegenteil. Einer von Scott Carmichaels berüchtigten Vorgängern war James Angleton, der auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges die Abteilung der Spionageabwehr der CIA leitete. Angleton war felsenfest davon überzeugt, dass irgendwo in der CIA ein sowjetischer Maulwurf saß. Er ermittelte gegen 120 CIA-Beamte, doch einen Maulwurf fand er nicht. In seiner Frustration setzte Angleton einen großen Teil der Sowjetabteilung vor die Tür. Hunderte Mitarbeiter – Russland-Experten mit einem gewaltigen Wissen über den großen Gegenspieler der Vereinigten Staaten – wurden in andere Abteilungen versetzt. Die Moral war am Boden. Es wurden keine neuen Spione mehr angeworben. Schließlich sahen Angletons führende Mitarbeiter ein, welch furchtbaren Preis sie für ein Jahrzehnt Paranoia bezahlt hatten, und kamen zum ultimativen paranoiden Schluss. Wenn es der Sowjetunion darum ging, die CIA außer Gefecht zu setzen, dann könnte ihr nichts Besseres einfallen, als einen Maulwurf einzusetzen, der sich auf eine lange und kräftezehrende Suche nach einem Maulwurf in den eigenen Reihen machte. Angleton selbst musste der Maulwurf sein. So wurde James Angleton das letzte Opfer seiner eigenen Hexenjagd. Im Jahr 1974, nach 31 Dienstjahren, wurde er aus der CIA gedrängt.
Das war damals die höchste Entschädigung, die eine amerikanische Universität in einem Missbrauchsfall zahlte. Dieser Rekord wurde allerdings bald von der Michigan State University gebrochen, die im Fall Larry Nassar 500 Millionen Dollar zahlte.
Zu den ursprünglichen Anklagepunkten gehörte auch Meineid. Dieser wurde allerdings fallengelassen, als die Angeklagten zustimmten, sich der Gefährdung Minderjähriger für schuldig zu bekennen.
Kurz bevor dieses Buch in Druck ging, wurde Graham Spanier von einem Berufungsgericht freigesprochen, just am Tag vor dem Haftantritt. Ob die Staatsanwaltschaft dieses Urteil anfechten will, war noch nicht bekannt.
Das war für Sandusky nicht ungewöhnlich. Er duschte dauernd nach dem Sport mit den Jungen von Second Mile und spielte gern Umkleidespiele. Ein ehemaliger Teilnehmer des Second-Mile-Programms sagte im Sandusky-Prozess aus: «Er fing zum Beispiel Seifenschlachten an. Neben den Duschen waren Seifenspender angebracht, und er hat eine Handvoll genommen und damit um sich geworfen.»
Die Vorstellung, dass traumatische Erinnerungen verdrängt werden und nur unter therapeutischer Anleitung wieder zugänglich gemacht werden, ist äußerst umstritten. Mehr dazu in den Anmerkungen.
Die von Ziegler gesammelten Beweise wirken überzeugend. Im Spanier-Prozess sagte Dranov aus, er habe sich Ende Februar bei anderer Gelegenheit mit Gary Schultz getroffen und das Thema angesprochen, «da seither vielleicht drei Monate vergangen waren und wir nie mehr etwas davon gehört hatten». Vermutlich werden wir das korrekte Datum nie herausfinden. Ziegler vertritt vehement die Auffassung, dass Sandusky fälschlich angeklagt wurde. Siehe auch: Mark Pendergrast, The Most Hated Man in America. Einige von Zieglers Argumenten sind überzeugender als andere. Mehr zu den Skeptikern finden Sie in den Anmerkungen.
Der Bericht der Staatsanwaltschaft über das Gespräch mit Allan Myers ist ein Hammer. Ein Staatsanwalt namens Michael Corricelli sprach mit Myers’ Anwalt. Dieser informierte Corricelli, Myers behaupte nun, mehrfach von Sandusky vergewaltigt worden zu sein. Der Anwalt legte eine dreiseitige Aussage vor, die angeblich von Myers stammte und den sexuellen Missbrauch durch Sandusky zusammenfasste. Corricelli begutachtete das Dokument und kam zu dem Schluss, dass es nicht von Myers stammte, sondern von seinem Anwalt. Schließlich gab die Staatsanwaltschaft auf.
Courtney hatte seine Zweifel an der Unschuld von Sandusky, doch am Ende war dessen Geschichte zu überzeugend. Er war nun einmal jemand, der dauernd in der Öffentlichkeit mit den Jungen von Second Mile herumalberte. Curley rief den Geschäftsführer von Second Mile an, einen gewissen John Raykovitz. Dieser versprach, mit Sandusky zu sprechen und ihn zu bitten, keine Jungen mehr mit auf den Campus zu bringen. «Ich kann nur für mich selbst sprechen, aber meiner Ansicht nach hatte Jerry ein Problem mit Grenzen und seinen Einschätzungen, das man ansprechen sollte», so Curley. Sandusky solle vorsichtig sein, weil ihn die Leute sonst für pädophil halten würden. Raykovitz: «Ich habe ihm gesagt, wenn er nach dem Training mit jemandem duschen wolle, dann solle er sich vielleicht eine Badehose anziehen. Das habe ich ihm gesagt, weil damals eine Menge Zeug über die Boy Scouts und die Kirche hochgekommen ist.»
Es handelt sich nicht um wörtliche Wiedergabe von Spaniers Ansprache, sie basiert auf dessen Erinnerung.
Entwickelt wurde die Kategorisierung vom legendären Psychologen Paul Ekman, über den ich in meinem Buch Blink! geschrieben habe. In den Anmerkungen erläutere ich, wie sich meine Ansichten zu Ekmans Arbeiten seither verändert haben.
Die Klägerin war Ginnah Muhammad. Ihre Antwort: «Zunächst einmal bin ich praktizierende Muslima, dies ist mein Lebensstil, ich glaube an den Koran, und Gott steht in meinem Leben an erster Stelle. Ich habe kein Problem damit, meinen Schleier vor einer Richterin abzunehmen. Deshalb frage ich, gibt es eine Richterin, vor der ich meine Klage vortragen kann? Dann habe ich kein Problem. Ansonsten kann ich dieser Anordnung nicht Folge leisten.»
Nur drei Personen zeigten alle drei Ausdrücke, sieben zeigten genau zwei. Obwohl die meisten Teilnehmer glaubten, mit ihrer Mimik Überraschung zum Ausdruck zu bringen, gab lediglich ein Teilnehmer mit einer ungewöhnlich guten Selbstwahrnehmung an, er glaube nicht, dass seine Überraschung zu erkennen gewesen sei.
Ein weiteres Beispiel: Dschochar Zarnajew – der jüngere der beiden tschetschenischen Brüder, die 2013 den tödlichen Anschlag auf den Marathonlauf von Boston verübten. Im Prozess ging es unter anderem um die Frage, ob Zarnajew die Todesstrafe verdient hatte. Die Staatsanwältin Nadine Pellegrini sprach sich dafür aus, weil sie keine Reue in ihm sah. Zum Beweis zeigte sie den Geschworenen ein Foto, auf dem Zarnajew in seiner Zelle der Überwachungskamera den Stinkefinger zeigt. «Er hatte eine letzte Botschaft», erklärte sie und beschrieb Zarnajew als «gewissenlos, reuelos, unverändert». Am Vorabend der Urteilsverkündung schrieb Seth Stevenson in der Zeitschrift Slate:
«So gefährlich es ist, allzu viel in die Körperhaltung und Mimik eines Menschen lesen zu wollen, muss man doch sagen, dass sich Zarnajew vor den Geschworenen kaum darum bemüht hat, einen geläuterten oder reuevollen Eindruck zu machen. Die Bilder, die am Dienstag aus dem Gerichtssaal in den Presseraum übertragen wurden, waren zwar nicht hochauflösend, und ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber: In dem Moment, in dem Pellegrini die Fotos zeigte, auf denen er den Stinkefinger in die Überwachungskamera reckt, sah es für mich so aus, als hätte Zarnajew gegrinst.»
So wurde Zarnajew schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. Im Anschluss erklärten zehn der zwölf Geschworenen, sie hätten keinerlei Anzeichen der Reue erkennen können.
Doch wie die Psychologin Lisa Feldman Barrett klarmacht, ist die ganze Diskussion darum, ob Zarnajew seine Tat nun bereute oder nicht, ein perfektes Beispiel für die Falle, in die wir tappen, wenn wir annehmen, Menschen seien durchschaubar. Die Jury ging davon aus, dass alles, was Zarnajew im Grunde seines Herzens empfand, automatisch an seinem Gesicht abzulesen war, wie es das amerikanische Stereotyp verlangt. Aber Zarnajew war kein Amerikaner. In ihrem Buch How Emotions Are Made schreibt Barrett:
«Wenn Zarnajew nach dem Anschlag auf den Marathonlauf von Boston Reue empfand, wie hätte diese dann ausgesehen? Hätte er öffentlich Tränen vergossen? Seine Opfer um Verzeihung gebeten? Sich über seine Fehler ausgelassen? Vielleicht, wenn er seine Reue so ausgedrückt hätte, wie es das amerikanische Stereotyp verlangt, oder wenn es sich um einen Hollywoodfilm gehandelt hätte. Aber Zarnajew war ein junger Muslim aus Tschetschenien. Die tschetschenische Kultur erwartet von einem Mann, dass er Schwierigkeiten mit stoischer Haltung begegnet. Wenn Tschetschenen eine Schlacht verlieren, dann müssen sie die Niederlage tapfer hinnehmen – das ist der »tschetschenische Wolf«. Wenn Zarnajew Reue empfunden haben sollte, dann hätte das möglicherweise nichts an seinem versteinerten Gesichtsausdruck geändert.
Auch Knox’ Liste mit Liebhabern war nicht, was sie zu sein schien. Um sie einzuschüchtern, informierte die italienische Polizei Knox, sie sei HIV-positiv – eine Lüge. Knox, die Angst hatte und allein in ihrer Zelle saß, schrieb eine Liste ihrer letzten Sexualpartner, um herauszufinden, ob das stimmen konnte.
Davon gibt es endlos viele weitere Beispiele. Für den Staatsanwalt kam der entscheidende Moment, als er mit Knox in die Küche ging, um in den Schubladen nachzusehen, ob ein Messer fehlte. «Darauf hielt sie sich die Ohren zu, als wollte sie ein schreckliches Geräusch ausblenden, das sie hörte.»
Oder: Beim Abendessen mit Merediths Freunden in einem Restaurant fing Amanda plötzlich zu singen an. «Aber womit ich in Seattle Gelächter provoziert hätte, erntete ich in Perugia betretene Blicke», schrieb sie. «Mir war damals nicht klar, dass die Schrullen, die meine Freunde zu Hause sympathisch fanden, Menschen, die weniger offen für Unterschiede waren, vor den Kopf stoßen würden.»
«Das Faszinierende an Amanda Knox ist, dass ihr diese leise Schrägheit zum Verhängnis wurde – eine Schrägheit, wie man sie auf jedem Pausenhof und an jedem Arbeitsplatz findet», schrieb Tom Dibblee in einem hellsichtigen Aufsatz. «Es ist diese leise Art von Schrägheit, die Klatsch und Verdächtigungen hinter vorgehaltener Hand provoziert, eine Schrägheit, die sich durch unseren Alltag zieht und darüber bestimmt, mit wem wir uns umgeben und von wem wir Abstand halten.»
Zum Zeitpunkt des Vorfalls hatte sie nach Schätzung von Gutachtern des Gerichts einen Blutalkoholspiegel von 2,49 Promille und er von 1,71 Promille.
Eine Gruppe kanadischer Psychologen unter Leitung von Tara MacDonald besuchte jüngst eine Reihe von Kneipen und bat die Gäste, eine kurze Geschichte zu lesen. Sie sollten sich vorstellen, sie lernten eine attraktive Person kennen, begleiteten sie nach Hause und landeten im Bett, nur um dann festzustellen, dass sie beide kein Kondom haben. Nun sollten sie mit einer Punktezahl von 1 bis 9 beantworten, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie trotzdem mit dieser Person schlafen würden. Die Gäste waren umso eher bereit, je mehr sie getrunken hatten: Die Betrunkenen kamen auf einen Durchschnittswert von 5,36, die Nüchternen auf 3,91. Die Trinker konnten die langfristigen Folgen von ungeschütztem Sex nicht absehen. Dann ging MacDonald in die Kneipen zurück und drückte einigen Gästen einen Stempel mit dem Text «AIDS ist tödlich» auf die Hand. Davon ließen sich die Betrunkenen eher beeinflussen als die Nüchternen: Sie waren nicht zu den Rationalisierungen in der Lage, die nötig sind, um die AIDS-Gefahr kleinzureden. Wenn Normen und Standards klar und offensichtlich sind, dann sind Betrunkene offenbar regelhöriger als Nüchterne.
Ist Zustimmung in betrunkenem Zustand Zustimmung? Ja, so das Urteil. Sonst gehören die allermeisten Menschen, die in alkoholisiertem Zustand Geschlechtsverkehr haben, ins Gefängnis. Wenn Doe behaupten kann, dass sie aufgrund ihrer Alkoholisierung nicht für ihre Handlungen verantwortlich war, warum kann Turner dann nicht dasselbe Recht für sich in Anspruch nehmen? Das Prinzip «Zustimmung in betrunkenem Zustand ist Zustimmung», so das Urteil, «erinnert daran, dass ein Mann, der in betrunkenem Zustand eine Vergewaltigung beabsichtigt und begeht, nicht durch die Tatsache entschuldigt werden kann, dass eine Absicht in betrunkenem Zustand keine Absicht ist». Dann kommt das Bree-Urteil auf die Frage zu sprechen, die das kalifornische Recht beantworten will: Was ist, wenn einer der Beteiligten stark betrunken ist? Aber wie soll man entscheiden, was «stark betrunken» bedeutet? Wir wollen schließlich nicht, dass der Gesetzgeber komplizierte Formeln mit zahlreichen Variablen entwickelt, um uns vorzuschreiben, wann wir mit jemandem schlafen und wann nicht. Der Richter kommt zu dem Schluss: «Die Probleme entstehen nicht aus juristischen Grundsätzen. Sie haben ihre Ursachen in den zahllosen Umständen des menschlichen Verhaltens, das in der Regel in der Privatsphäre und nicht vor unabhängigen Zeugen stattfindet, woraus sich die Schwierigkeit ergibt, eine Straftat nachzuweisen.»
Es ist erstaunlich schwer festzustellen, ob jemand betrunken ist oder nicht. Das wird immer wieder in Polizeikontrollen deutlich. In einer Freitagnacht winkt ein Beamter auf einer stark befahrenen Straße eine Reihe von Autos heraus, spricht mit den Fahrern, sieht sich im Auto um und lässt dann diejenigen pusten, die ihm ausreichend angetrunken erscheinen. Diese Entscheidung zu treffen, ist erstaunlich schwierig. Der beste Beweis ist, dass mehr als die Hälfte der betrunkenen Fahrer nicht pusten muss. In einer Untersuchung in Orange County, Kalifornien wurden an einem Abend mehr als 1000 Fahrer auf einen Parkplatz gewunken. Sie sollten einen Fragebogen zum Verlauf ihres Abends ausfüllen und wurden dann von Studenten vernommen, die in der Identifizierung von Alkoholkonsum geschult waren. Wie sprachen die Fahrer? Wie bewegten sie sich? Rochen sie nach Alkohol? Waren im Auto Flaschen oder Dosen zu sehen? Nachdem sich die Studenten ein Urteil gebildet hatten, mussten die Fahrer pusten. Der Anteil der korrekt erkannten betrunkenen Fahrer lag bei 20 Prozent.
In einem bemerkenswerten Artikel in der New York Times beschrieb Ashton Katherine Carrick, eine Studentin der University of North Carolina, ein besonderes Trinkspiel. Dabei bleiben zwei Leute so lange mit Handschellen aneinandergefesselt, bis sie einen Dreiviertelliter Schnaps getrunken haben. Sie schreibt: »Den besonders Ehrgeizigen wird die Zahl der Schnäpse mit Kugelschreiber auf den Arm geschrieben, und am Ende wird das Verhältnis zwischen der Zahl der Schnäpse und der Zeit bis zum Umfallen ermittelt – auf einen hohen Wert waren die Jungs besonders stolz.« Sie schreibt weiter:
Wie wir Studenten mit der Ohnmacht unserer Kommilitonen umgehen, ist ein Grund dafür, warum es so häufig dazu kommt. Wir finden es witzig. Am nächsten Tag lachen wir darüber, wie lächerlich unsere Freunde ausgesehen haben, während sie ohnmächtig auf dem Klo lagen, oder wir machen Snapchat-Fotos von ihnen, wenn sie tanzen und mit Unbekannten herumknutschen. Das bestätigt und spornt an, es wieder zu tun. Umkippen ist derart normal geworden, auch wenn man es selbst nicht macht, kann man nachvollziehen, warum es andere machen. Es ist eine anerkannte Methode des Stressabbaus. Alles andere wäre abwertend.
Amerikanische Männer haben ein Durchschnittsgewicht von 88,7 Kilogramm, Frauen von 76,4 Kilogramm.
Es ist nicht nur eine Frage des Gewichts, auch bei der Verstoffwechselung des Alkohols gibt es erhebliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Da Frauen weniger Flüssigkeit im Körper haben als Männer, geht Alkohol bei ihnen deutlich schneller ins Blut über. Wenn eine 88 Kilogramm schwere Frau vier Stunden lang genauso viel und genauso schnell Alkohol konsumiert wie ein 88 Kilogramm schwerer Mann und er am Ende 1,07 Promille hat, dann hat sie 1,4 Promille.
Erwachsene sehen das deutlich anders. Hier sind 58 Prozent der Ansicht, dass eine Reduzierung des Alkoholkonsums effektiv zur Verringerung der sexuellen Gewalt beiträgt.
In der SERE-Schule der Navy hatte man dagegen viel Erfahrung mit Waterboarding gesammelt. Dort war die Ausbildungsphilosophie eine andere. «Die Navy ist der Ansicht, wenn Menschen in eine Situation gehen, die sie auszuhalten glauben, dann werden sie arrogant. Aber wenn sie diese Situation nicht aushalten, dann brechen sie und erholen sich nicht mehr», erklärt Mitchell. «Bei der Navy versucht man daher, den Leuten klarzumachen, dass sie irgendwann kapitulieren werden. Aber ihre Aufgabe als amerikanische Soldaten besteht darin, so gut wie möglich zu widerstehen.» Die Navy will den Soldaten zeigen, wie schlimm es werden kann. Bei der Air Force hält man es für besser, wenn die Soldaten das nicht wissen.
In einer weiteren Untersuchung stellte Morgan fest, dass 77 von 114 Soldaten ihre Vernehmer auf Fotos falsch erkannten – und das nur 24 Stunden nach dem Verhör! Als die Soldaten angeben sollten, wie sicher sie sich waren, bestand kein Zusammenhang zwischen ihrer Gewissheit und der Korrektheit ihrer Aussage.
«Ein Dichter muss sich, bewusst oder unbewusst, auf die Anforderungen seines Berufs einstellen», schrieb der Dichter Stephen Spender. «Daher die Verschrobenheit der Dichter und die Bedingung der Inspiration, die viele Menschen in die Nähe des Wahnsinns rücken.»
«Als sie sich im Alter von dreißig Jahren das Leben nahm», schrieb der Psychoanalytiker Ernest Shulman, «passte Sylvia in einige der Kategorien, die auf ein erhöhtes Selbstmordrisiko hindeuten. Obwohl Menschen, die mindestens einen Selbstmordversuch begangen haben, nur 5 Prozent der Bevölkerung ausmachen, kommt ein Drittel der erfolgreichen Selbstmörder aus dieser Gruppe, darunter auch Sylvia. Psychiatriepatienten machen einen erheblichen Anteil der Selbstmörder aus, auch dies trifft auf Sylvia zu. Geschiedene Frauen nehmen sich um ein Vielfaches häufiger das Leben als verheiratete; Sylvia befand sich in Scheidung. Ausländer haben überall eine erhöhte Selbstmordrate; Sylvia lebte in England, weit weg von vertrauten Orten und Menschen. Selbstmörder sind oft isolierte Menschen, die große Belastungen erleben; auch dies trifft auf Sylvia zu. Zerrüttete Familien bringen einen unverhältnismäßig großen Anteil von Selbstmördern hervor; Sylvia kam aus einer solchen Familie.» Er fährt fort: «Nie wieder würde sie mit einem Mann zusammen sein, an dessen vermeintlicher Größe sie ihre eigenen Träume vom Ruhm nähren konnte.» Nicht zu vergessen Plaths verdrängte Trauer um ihren Vater, der starb, als sie gerade einmal acht Jahre alt war. «Die Verdrängung der Trauer stört die Entwicklung des Kindes und verhindert den Erwerb jener Wechselseitigkeit, die Voraussetzung für die Entwicklung einer integrierten Identität und den Aufbau fester emotionaler Beziehungen ist», so Shulman weiter. «An ihrem Narzissmus ging Sylvia schließlich zugrunde.»
Das wichtigste Beispiel dafür, dass unser falsches Verständnis von Selbstmord Menschenleben kostet, habe ich gar nicht erwähnt. In den Vereinigten Staaten nehmen sich pro Jahr rund 40000 Menschen das Leben, die Hälfte davon mit Schusswaffen. In den Vereinigten Staaten sind Handfeuerwaffen das Selbstmordinstrument der Wahl, und das Problem ist natürlich, dass diese Waffen in ihrer Wirkung nahezu unfehlbar sind. Schusswaffen sind das Kohlegas der Vereinigten Staaten. Was würde passieren, wenn man den Amerikanern ihre Schusswaffen wegnähme, so wie es in Großbritannien mit dem Kohlegas passierte? Die Antwort fällt nicht weiter schwer. Menschen, die sich das Leben nehmen wollen, hätten keinen Zugang mehr zu ihrer bevorzugten Methode. Die wenigen, die dennoch entschlossen sind, müssten sich für eine weniger wirkungsvolle Methode entscheiden, zum Beispiel Tabletten, deren Einnahme in weniger als 2 Prozent der Fälle zum Tod führt. Einer sehr konservativen Schätzung zufolge würde ein Verbot von Schusswaffen pro Jahr 10000 potenziellen Selbstmördern das Leben retten. Das ist viel.
Selbstmorde sind hier derart häufig, dass der Filmemacher Eric Steel im Jahr 2004 auf jeder Seite der Brücke zwei Kameras montierte und im Laufe eines Jahres 22 Selbstmorde filmte. Das Material verarbeitete Steel zu seinem Dokumentarfilm The Bridge; im Mittelpunkt steht der Suizid eines 34-jährigen Mannes namens Gene Sprague, der 39 Minuten lang auf der Brücke auf und ab geht, ehe er in den Tod springt. Wenn man lange genug auf der Brücke steht, kann man fast davon ausgehen, jemanden zu sehen, der sich in die Tiefe stürzen will.
34 Prozent nahmen an, dass alle, die auf der Brücke kein Glück hatten, es einfach mit einer anderen Methode versuchen würden.
Werfen Sie einen Blick auf Weisburds Karte von Seattle in den Anmerkungen. Die Markierungen auf der Karte sind die Brennpunkte von Seattle. Wenn man sich mit Leuten aus Seattle unterhält, dann bestätigen diese, dass es gefährliche Stadtteile gibt. Doch diese Karte verrät etwas anderes. In Seattle gibt es keine gefährlichen Stadtteile, sondern buchstäblich gefährliche Ecken, die über die ganze Stadt verteilt sind. Was unterscheidet diese gefährlichen Straßenabschnitte von allen anderen? Hier spielen eine Reihe von Faktoren zusammen. Brennpunkte befinden sich meist an Durchgangsstraßen, haben mehr freie Grundstücke, und es gibt viele Bushaltestellen, auch liegen sie eher in der Nähe öffentlicher Einrichtungen wie Schulen und in Gegenden mit vielen Nichtwählern. Diese Liste lässt sich endlos fortsetzen, und einige der Faktoren sind besser erforscht als andere. Weil diese Faktoren recht stabil sind, verändern sich diese Blocks kaum.
Wilson führte erste Experimente mit der Präventivstreife durch, während er Polizeichef von Wichita, Kansas war. Später wurde er Polizeidirektor von Chicago.
Um diese Hürde zu umgehen, entwickelte der Pistolenspäher Robert T. Gallagher alle möglichen Tricks. Er und sein Partner näherten sich jemandem, von dem sie annahmen, dass er eine Waffe trug. Sie bedrängten ihn, damit er sich in der Defensive fühlte. Dann wies sich Gallagher aus: Ich bin Polizeibeamter. «Wenn Sie einen Mann mit einer Pistole vor sich haben, dann verhält er sich in 99 von 100 Fällen identisch», erklärte Gallagher vor Jahren einem Journalisten. «Er dreht sich so, dass die Waffe von Ihnen wegzeigt – ein paar Zentimeter, eine halbe Hüftdrehung oder halb herum.» Das sei eine instinktive Schutzhaltung. «Dann brauchen Sie nicht mehr zu warten, ob er die Pistole unter dem Hemd hervorholt oder sie einfach bedeckt hält. Dann haben Sie allen Grund, ihn zu durchsuchen.»
Barak Ariel, ein ehemaliger Student von Weisburd, überprüfte diesen Widerstand gegen die Vorstellung der Verknüpfung in der Region Derry in Nordirland. Polizeibeamte müssen auf ihrer Streife konkrete Brennpunkte benennen, an denen zusätzliche Einsatzkräfte gebraucht werden. Ihre Prognosen werden als «Wegmarkierungen» bezeichnet. Ariel fragte sich, inwieweit diese Wegmarkierungen mit den tatsächlichen Brennpunkten von Derry übereinstimmten. Vermutlich haben Sie es schon erraten. «Die meisten der markierten Straßen waren weder Brennpunkte noch gefährlich, die Prognosen waren zu 97 Prozent falsch.» Das heißt, 97 Prozent der von den Beamten als gefährlich und gewalttätig eingestuften Straßenzüge waren weder gefährlich noch gewalttätig. Und die Beamten, die diese Markierungen vergaben, saßen nicht etwa hinter einem Schreibtisch, fernab der Straßen. Sie befanden sich in ihrem Revier. Es ging um Verbrechen, in denen sie ermittelten, und um Verbrecher, die sie festnahmen. Trotzdem übersahen sie ein grundlegendes Muster im Verhalten der Fremden, die sie verhafteten.
Das ist natürlich auch der Grund für Blands Verärgerung. «Das ist doch ein Scheiß, wofür ich jetzt einen Strafzettel bekomme. Ich habe Ihnen Platz gemacht. Sie haben Gas gegeben und sind auf mich aufgefahren, also habe ich Ihnen Platz gemacht, und Sie halten mich an.» Will heißen: Ein Streifenwagen rast hinter ihr her, sie macht Platz, wie man das laut Straßenverkehrsordnung nun einmal muss, und dann gibt ihr derselbe Polizist einen Strafzettel, weil sie ohne zu blinken die Spur gewechselt hat. Encinia hat den Strafzettel provoziert. Das nennt sich aggressive Polizeiarbeit.
Es gibt ausreichend Belege dafür, dass Afroamerikaner mit deutlich größerer Wahrscheinlichkeit bei Verkehrskontrollen angehalten werden als ihre weißen Mitbürger, weshalb die Demütigung der falschen Verdächtigung nicht gerecht auf die gesamte Bevölkerung verteilt ist. Sie konzentriert sich vielmehr auf denjenigen Teil, der bereits unter anderen Demütigungen leidet.
In späteren Projekten mit Scotland Yard in London, die die Bekämpfung tödlicher Messerstechereien unter Jugendlichen zum Ziel hatten, empfahl Sherman den Streifenbeamten sogar, jedem, mit dem sie sprachen, ein Kärtchen zu geben. Die Beamten hielten pro Nacht bis zu 500 Personen an und gaben jedem einen Beleg mit dem Namen und der Dienstnummer des Beamten und der Aufforderung, sich bei Beschwerden oder Fragen an eine Dienststelle zu wenden und diesen Beleg vorzulegen.
Für Graham Gladwell,
1934–2017
Vor vielen Jahren, als meine Eltern aus Kanada kamen, um mich in New York City zu besuchen, brachte ich sie im Mercer Hotel unter. Es war ein freundlicher Streich. Das Mercer ist chic und exklusiv und ein Hotel für die Reichen und Schönen. Meine Eltern, vor allem mein Vater, bemerken solche Dinge nicht. Mein Vater sah nie fern, er ging nicht ins Kino und hörte keine Popmusik. Klatschzeitschriften nahm er überhaupt nicht wahr. Er hatte klar definierte Interessen: Mathematik, sein Garten und die Bibel.
Als ich meine Eltern zum Abendessen abholte, fragte ich sie, wie ihr Tag gewesen sei. «Wunderbar!», erwiderten sie. Offenbar hatten sie den ganzen Nachmittag über in der Lobby des Hotels gesessen und sich mit einem Herrn unterhalten. Das war typisch für meinen Vater, er sprach gern mit Fremden.
«Worüber habt ihr euch denn unterhalten?», fragte ich.
«Gartenarbeit», erwiderte mein Vater.
«Und wie hieß der Herr?»
«Keine Ahnung. Aber es sind dauernd Leute gekommen, um Fotos von ihm zu machen und ihn auf Zetteln unterschreiben zu lassen.»
Sollten Sie ein Hollywoodstar sein und sich daran erinnern, wie Sie sich vor ein paar Jahren in der Lobby des Mercer Hotels mit einem bärtigen Engländer unterhalten haben, dann schreiben Sie mir bitte.
Wenn nicht, dann können Sie aus dieser Geschichte etwas lernen: Manchmal sind die besten Gespräche zwischen Fremden diejenigen, die es den Fremden erlauben, Fremde zu bleiben.
Im Juli 2015 fuhr eine junge Afroamerikanerin namens Sandra Bland aus ihrer Heimatstadt Chicago in eine Kleinstadt in der Nähe von Houston, Texas. Sie war zu einem Vorstellungsgespräch an der Prairie View University eingeladen worden, an der sie einige Jahre zuvor selbst studiert hatte. Sie war eine große und attraktive Frau mit der entsprechenden Persönlichkeit. Während ihrer Studienzeit hatte sie einer Verbindung angehört, in der Blaskapelle gespielt und Freiwilligenarbeit in einer Seniorengruppe geleistet. Auf YouTube hatte sie ihren eigenen Kanal «Sandy Speaks», und ihre Videos begann sie oft mit der Anrede «Guten Morgen, meine schönen Könige und Königinnen».
Ich bin gerade aufgestanden und lobe den Herrn, gepriesen sei sein Name. Ich danke ihm nicht nur, weil heute mein Geburtstag ist, sondern auch für meine Entwicklung und für alles, was er im vergangenen Jahr für mich getan hat. Ich schaue auf die 28 Jahre zurück, die ich auf dieser Erde bin, und auf alles, was er mir gezeigt hat. Und auch wenn ich ein paar Fehler gemacht habe und wenn ich einiges definitiv vergeigt habe, liebt er mich, und ihr, meine Könige und Königinnen da draußen, ihr sollt wissen, dass er euch auch liebt.
Bland bekam die Stelle an der Universität. Sie war überglücklich. Sie hatte vor, nebenher Politikwissenschaften zu studieren. Am 10. Juli fuhr sie vom Campus zum Supermarkt, und als sie auf die Umgehungsstraße bog, die um das Universitätsgelände herumführt, wurde sie von einer Polizeistreife angehalten. Der Beamte hieß Brian Encinia, er war hellhäutig, hatte kurze dunkle Haare und war dreißig Jahre alt. Er war freundlich, zumindest zu Beginn. Er klärte sie auf, dass sie beim Spurwechsel nicht geblinkt habe. Dann stellte er ihr einige Fragen, die sie beantwortete. Als Bland sich eine Zigarette anzündete, forderte Encinia sie auf, die Zigarette auszumachen.
Der folgende Wortwechsel wurde von der Videokamera auf seinem Armaturenbrett aufgezeichnet und in der einen oder anderen Form mehrere Million Mal auf YouTube angeklickt.
Bland: Ich sitze in meinem Auto, warum soll ich meine Zigarette ausmachen?
Encinia: Sie können jetzt aussteigen.
Bland: Ich muss nicht aussteigen.
Encinia: Steigen Sie aus.
Bland: Warum soll ich …
Encinia: Steigen Sie aus!
Bland: Nein, dazu haben Sie kein Recht. Nein, dazu haben Sie kein Recht.
Encinia: Steigen Sie aus.
Bland: Dazu haben Sie nicht das Recht. Sie haben nicht das Recht dazu.
Encinia: Ich habe das Recht. Steigen Sie aus, oder ich hole Sie raus.
Bland: Ich weigere mich, weiter mit Ihnen zu sprechen, wenn Sie sich nicht ausweisen. Werde ich verhaftet, weil ich nicht geblinkt habe?
Encinia: Steigen Sie sofort aus, oder ich hole Sie raus.
Bland: Ich rufe meinen Anwalt an.
Das Gespräch zwischen Bland und Encinia zieht sich unangenehm in die Länge. Die Emotionen schaukeln sich hoch.
Encinia: Ich ziehe Sie jetzt aus dem Wagen. [Greift ins Wageninnere.]
Bland: Okay, Sie ziehen mich aus meinem Wagen? Okay, in Ordnung.
Encinia [ruft Verstärkung]: 2547.
Bland: Dann machen wir mal.
Encinia: Ja, wir machen mal. [Packt sie.]
Bland: Fassen Sie mich nicht an!
Encinia: Steigen Sie aus dem Wagen aus!
Bland: Fassen Sie mich nicht an! Fassen Sie mich nicht an! Ich bin nicht verhaftet! Sie haben nicht das Recht, mich aus dem Wagen zu holen!
Encinia: Sie sind verhaftet!
Bland: Sie verhaften mich? Wofür? Wofür? Wofür?
Encinia [in sein Funkgerät]: 2457 County FM 1098 [unhörbar]. Schicken Sie mir einen Streifenwagen. [Zu Bland:] Steigen Sie aus! Steigen Sie sofort aus!
Bland: Warum wollen Sie mich festnehmen? Sie wollen mir einen Strafzettel geben wegen …
Encinia: Steigen Sie aus, habe ich gesagt!
Bland: Warum wollen Sie mich festnehmen? Sie haben meine Autotür geöffnet …
Encinia: Dies ist ein polizeilicher Befehl! Ich ziehe Sie da raus!
Bland: Sie drohen mir damit, mich aus meinem eigenen Wagen zu ziehen?
Encinia: Steigen Sie aus!
Bland: Und dann werden Sie mich …
Encinia: Ich werde Sie betäuben. Steigen Sie aus! Sofort! [Zieht einen Elektroschocker und richtet ihn auf Bland.]
Bland: Wow. Wow. [Steigt aus.]
Encinia: Steigen Sie aus! Sofort! Steigen Sie aus dem Wagen!
Bland: Weil ich nicht geblinkt habe? Sie tun das, weil ich nicht geblinkt habe?
Bland wurde verhaftet und eingesperrt. Drei Tage später beging sie in ihrer Zelle Selbstmord.
Der Fall Sandra Bland fiel in ein seltsames Zwischenspiel in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Dieses Zwischenspiel setzte im Spätsommer 2014 ein, als ein achtzehnjähriger schwarzer Jugendlicher namens Michael Brown in Ferguson, Missouri von einem Polizeibeamten erschossen wurde. Angeblich hatte Brown ein Päckchen Zigaretten aus einem Minisupermarkt gestohlen. In den folgenden Jahren wurden immer neue Fälle bekannt, in denen die Polizei mit Gewalt gegen Schwarze vorging. Im ganzen Land kam es zu Protesten und Ausschreitungen. Eine neue Bürgerrechtsbewegung namens Black Lives Matter wurde geboren. Eine Zeitlang gab es in den Vereinigten Staaten kaum noch ein anderes Thema. Vielleicht erinnern Sie sich an einige der Namen, die damals in den Schlagzeilen waren. In Baltimore wurde ein junger Schwarzer namens Freddie Gray verhaftet, weil er ein Taschenmesser bei sich trug, und fiel dann im Streifenwagen ins Koma. In Minneapolis wurde ein junger Schwarzer namens Philando Castile in seinem Wagen von einer Polizeistreife angehalten; nachdem er dem Beamten seine Fahrzeugpapiere gegeben hatte, schoss dieser aus unerfindlichen Gründen sieben Mal auf ihn. In New York City wurde ein Schwarzer namens Eric Garner von mehreren Polizisten umringt, weil diese vermuteten, er verkaufe illegale Zigaretten, und erstickte im nachfolgenden Handgemenge. In Charleston, South Carolina, wurde ein Schwarzer namens Walter Scott angehalten, weil sein Rücklicht nicht funktionierte; er floh aus seinem Wagen und wurde von einem weißen Polizeibeamten hinterrücks erschossen. Scott wurde am 4. April 2015 getötet. Sandra Bland widmete ihm ein Video auf ihrem Kanal «Sandy Speaks»:
Guten Morgen, meine schönen Könige und Königinnen! … Ich bin keine Rassistin. Ich bin in Villa Park in Illinois aufgewachsen. Ich war die einzige Schwarze in unserer weißen Cheerleader-Gruppe. … Ihr Schwarzen, ihr werdet in dieser Welt keinen Erfolg haben, wenn ihr nicht lernt, mit Weißen zusammenzuarbeiten. Ihr Weißen da draußen, ihr müsst verstehen, dass wir Schwarzen tun, was wir können … aber wir können nicht anders, als wütend zu werden, wenn wir Situationen sehen, in denen ein schwarzes Leben ganz offensichtlich nichts zählt. Für diejenigen, die sich fragen, warum er weggelaufen ist, verdammt noch mal, in den Nachrichten haben wir in letzter Zeit doch gesehen, dass man sich den Bullen ergibt, und dass man trotzdem erschossen werden kann.
Drei Monate später war auch sie tot.
Dieses Buch ist ein Versuch, zu verstehen, was wirklich an jenem Tag auf der Umgehungsstraße einer Kleinstadt in Texas passiert ist.
Warum ein Buch über eine schiefgegangene Verkehrskontrolle? Weil die damalige Debatte über Polizeigewalt einen zutiefst unbefriedigenden Verlauf nahm. Die eine Seite führte eine Debatte über Rassismus und blickte aus olympischen Höhen auf diesen Fall. Die andere nahm jede Einzelheit unter die Lupe. Wer war dieser Polizeibeamte? Wie hat er sich genau verhalten? Die einen sahen vor lauter Wald die Bäume nicht und die anderen vor lauter Bäumen keinen Wald.
Auf ihre Weise hatte jede Seite recht. Vorurteile und Inkompetenz erklären vieles von dem, was in unserer Gesellschaft schiefgeht. Aber was kann man nach diesen Diagnosen schon tun, außer ein ernstes Gesicht aufzusetzen und Besserung zu geloben? Es gibt unqualifizierte Polizisten. Es gibt rassistische Polizisten. Konservative bevorzugen erstere Erklärung, Liberale letztere. Am Ende heben sich beide Seiten auf. Bis heute werden in den Vereinigten Staaten Menschen von Polizisten getötet, auch wenn diese Fälle keine Schlagzeilen mehr machen. Vermutlich hatten auch Sie längst vergessen, wer Sandra Bland war. Nach einer Anstandsfrist haben wir das Thema abgehakt und sind zum nächsten übergegangen.
Aber ich will nicht einfach zum nächsten Thema übergehen.
Im 16. Jahrhundert wurden in Europa an die siebzig Kriege geführt. Die Dänen kämpften gegen die Schweden, die Polen gegen den Deutschherrenorden, die Osmanen gegen Venedig, die Spanier gegen die Franzosen und so weiter. Wenn es in diesem endlosen Blutvergießen ein Muster gab, dann waren es überwiegend Nachbarn, die einander bekriegten. Man bekriegte sich mit Menschen, die auf der anderen Seite der Grenze lebten und schon immer dort gelebt hatten. Oder mit Menschen im eigenen Land: Im Osmanischen Krieg des Jahres 1509 prallten sogar zwei Brüder aufeinander. In der gesamten Geschichte der Menschheit fanden nur die wenigsten Begegnungen – ob friedlich oder feindlich – zwischen Menschen statt, die sich nicht kannten. Die Menschen, die einander begegneten und bekämpften, hatten dieselben Götter, bauten dieselben Häuser, lebten in denselben Städten und führten ihre Kriege mit denselben Waffen und nach denselben Regeln.
Der blutigste Konflikt des 16. Jahrhunderts fällt allerdings aus der Reihe. Als der spanische Eroberer Hernán Cortés dem Aztekenherrscher Moctezuma Xocoyotzin gegenübertrat, wusste keine der beiden Seiten etwas von der anderen.
Cortés landete im Februar 1519 in Mexiko und machte sich auf den beschwerlichen Weg ins Landesinnere, in Richtung der Aztekenhauptstadt Tenochtitlan. Als die Spanier Tenochtitlan erreichten, waren sie beeindruckt. Der Anblick war atemberaubend, an Größe und Reichtum übertraf die Stadt alles, was er und seine Männer aus Spanien kannten. Sie befand sich auf einer Insel, die über Brücken mit dem Festland verbunden und von Kanälen durchzogen war, und die mit breiten Prachtstraßen aufwartete, mit ausgeklügelten Aquädukten, florierenden Märkten, mit Tempeln, die mit weißem Stuck verkleidet waren, mit öffentlichen Parks und sogar mit einem Zoo. Tenochtitlan war blitzsauber, was für jemanden, der im Schmutz einer mittelalterlichen europäischen Stadt aufgewachsen war, ein wahres Wunder gewesen sein muss.
«Wir marschierten wie im Traum durch diese Herrlichkeiten», schrieb Bernal Díaz del Castillo, einer der Begleiter von Cortés:
Zum ersten Mal [sahen wir] die große Zahl der Städte und Dörfer, die mitten in den See gebaut waren, und die noch weitaus größere Zahl der Ortschaften an den Ufern und schließlich die sehr gepflegte, kerzengerade Straße, die in die Stadt Mexiko führte. Wir waren bass erstaunt über dieses Zauberreich, das fast so unwirklich erschien wie die Paläste in dem Ritterbuch des Amadis. Hoch und stolz ragten die gemauerten, steinernen Türme, Tempel und Häuser mitten aus dem Wasser. Einige unserer Männer meinten, das seien alles nur Traumgesichte.
Auf einer der Brücken wurden die Spanier von einer Abordnung aztekischer Granden in Empfang genommen und zu Moctezuma geführt. Moctezuma war ein Herrscher von beinahe surrealem Prunk, er wurde auf einer mit Gold und Silber bestickten und mit Blumen und Edelsteinen geschmückten Sänfte getragen. Einer seiner Hofleute ging vor ihm her und fegte den Boden. Cortés stieg von seinem Pferd, Moctezuma von seiner Sänfte. Als Spanier wollte Cortés Moctezuma umarmen, doch Moctezumas Begleiter hielten ihn zurück. Niemand durfte Moctezuma umarmen. Stattdessen verbeugten sich die beiden voreinander.
«Bist du es? Bist du Moctezuma?»
Und Moctezuma erwiderte: «Ja, ich bin es.»
Kein Europäer hatte je seinen Fuß nach Mexiko gesetzt. Kein Azteke war je einem Europäer begegnet. Cortés wusste nichts von den Azteken, er hatte nur von ihrer legendären Stadt gehört. Moctezuma wusste nichts von Cortés, außer dass er mutig in die aztekische Hauptstadt aufgebrochen war und sonderbare Waffen und große, geheimnisvolle Tiere mitbrachte – es waren Pferde –, wie sie die Azteken nie zuvor gesehen hatten.
Es ist kein Wunder, dass die Begegnung zwischen Cortés und Moctezuma die Historiker seit Jahrhunderten fasziniert. In diesem Moment vor 500 Jahren, als europäische Entdecker über das Meer segelten und kühne Expeditionen ins Unbekannte wagten, kam es zu einer ganz neuen Form der Begegnung. Cortés und Moctezuma mussten miteinander kommunizieren, obwohl sie nicht das Geringste voneinander wussten. Wie verlief dieses Gespräch? Jedenfalls nicht so, wie ich es eben beschrieben habe. Als Cortés fragte: «Bist du es? Bist du Moctezuma?», richtete er die Frage nicht direkt an den Herrscher der Azteken, denn Cortés sprach ja nur Spanisch. Aber er hatte zwei Dolmetscher dabei. Einer war eine Frau von der Golfküste namens Malinche, die neben verschiedenen Maya-Dialekten auch die Aztekensprache Nahuatl beherrschte. Der andere