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Impressum

Die Originalausgabe erscheint 2018 unter dem Titel «Things to do when it's raining» im Verlag Simon & Schuster, Toronto.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg bei Reinbek, April 2019

Copyright © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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«Things to do when it's raining» Copyright © 2018 by Marissa Stapley

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ISBN Printausgabe 978-3-499-27403-9 (1. Auflage 2017)

ISBN E-Book 978-3-644-40402-1

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-40402-1

Margaret Jean und John Soper

Laurence Greenman

Margaret (McKay-McLeod) und Raymond Stapley

– Leonardo da Vinci

 

«Ich bin offenbar ebenfalls eine Kennerin des Regens, aber das erfüllt mich nicht mit Freude; es erlaubt mir, in eine Einsamkeit einzutauchen, die ich pflege wie ein Laster, das ich nicht aufgeben will.»

– Julia Glass, Three Junes

In der Ferne hört sie etwas krachen wie einen Schuss: Das Eis gibt nach. Wenn sie gewusst hätte, dass es regnen würde, wäre sie ihm früher zu Hilfe gekommen. Normalerweise spürt sie den Regen kommen. Diesmal ballten sich die Wolken am Himmel, und sie bemerkte es nicht. Sie musste über Wichtigeres nachdenken. Und jetzt ist sie hier draußen auf dem Fluss und kann nicht mehr zurück. Ihr Mann braucht sie. Der Fluss, der ihr mitteilt, wo es die größten Fische gibt, wenn sie mit ihrem Boot hinausfährt, der ihr so vieles erzählt, weil sie ihm zuhört, er sagt ihr jetzt, dass Chase in Gefahr ist.

Und jetzt braucht er sie. Das weiß sie.

Wenn ihre Tochter in Gefahr wäre, würde er es ebenfalls tun: Der Fluss würde ihr seine Drohung ins Ohr flüstern, und sie würde Mae suchen gehen. Aber ihr Mädchen ist in Sicherheit, oben in der Mansarde des Hotels von Virginias Eltern, in dem sie alle zusammenwohnen. Sie spielt dort mit ihrem Freund Gabriel, ohne zu ahnen, dass das Eis in ihrer Welt sich verschiebt und kurz davor ist zu brechen.

Noch ein Krachen in der Ferne, gerade, als Virginia kurz vor Island 51 angelangt ist. Sie bleibt stehen und schaut hinüber zu der Hütte. Die Fenster sind mit Brettern zugenagelt. Sie fürchtet sich vor ihrer nächsten Bewegung, fürchtet sich davor, stehen zu bleiben. Es ist sinnlos, es zu versuchen, aber vielleicht ist Jonah Broadbent ihre einzige Hoffnung. Ein Teil von ihr glaubt immer noch an den Jungen, den sie einst kannte, der jetzt ein gebrochener Mann ist. Also klettert sie aufs glitschige Ufer, stolpert die Stufen hinauf und hämmert gegen die Tür der Hütte.

 

Eine Liste von Virginia Summers, Junior-Inhaberin (selbsternannt) des Summers’ Inn, Alexandria Bay, New York

 

Gibt es zu Hause jemanden, den du vermisst? Schreibe ihm einen Brief und sage es ihm. Warte nicht damit; morgen regnet es vielleicht nicht mehr.

An dem Morgen, an dem Mae aufwacht und Peter fort ist, hat sie geträumt, dass sie ihren alten Freund Gabe über den Acker mit dem steilen Abhang jagte, den sie im Winter immer hinuntergerodelt sind. Es war eine Vollmondnacht, der Fluss lag in der Ferne, unsichtbar, aber stets gegenwärtig, und immer, wenn sie Gabe beinahe zu fassen bekam, stolperte sie über eine Wurzel, fiel, und er rannte einfach weiter. Das hätte er niemals getan, als sie noch Kinder waren. Er hätte angehalten, ihre Hand ergriffen und sie wieder hochgezogen – oder etwa nicht?

«Warum glaube ich immer noch, dass du ein guter Mensch bist?», hat sie seiner sich entfernenden Gestalt hinterhergerufen, bevor sie erwacht ist und die Hand nach Peter ausgestreckt hat.

Aber sie liegt auf dem Sofa, nicht in ihrem Bett.

Peter. Ihr Lebensgefährte. Wo ist er? Sie sucht in der ganzen Wohnung, findet aber keine Spur von ihm. Alle Gedanken und Erinnerungen an Gabe sind wie weggewischt, die Schlafwärme wird von Angst verdrängt. Sie stellt sich vor, wie ein schwarzes Funktaxi Peter überfährt. Einen Raubüberfall, vielleicht sogar einen Herzinfarkt. Sie versucht es auf seinem Handy: keine Antwort. Sie geht erneut durch die Wohnung, ganz langsam, und erwischt sich dabei, wie sie innerlich die Gegenstände aufzählt, die ihr gehören. Es beruhigt sie irgendwie, die Spuren ihrer Existenz in seinem Zuhause zu sehen: das Gemälde des Sankt-Lorenz-Stroms an einer Wand; neben der Tür eine Vase mit einer Fuchsjagd darauf, die sie als Regenschirmständer benutzt und die genauso aussieht wie die, die ihre Großmutter an der Tür im Inn stehen hat, in dem Mae aufgewachsen ist; das Bild vom Summers’ Inn selbst, gemalt von demselben Künstler, das im Flur hängt, und schließlich die Fotokopie der Liste, die sie in der Schublade ihrer Kommode aufbewahrt und deren Original an einer Pinnwand in der Eingangshalle des Inns hängt, ein Erinnerungsstück aus der Zeit, als Maes Mutter Virginia noch lebte. Was würde meine Mutter mir raten, wenn sie hier wäre? Sie würde mir sagen, geh raus und suche Peter.

Mae fährt im Taxi zum Büro. Vielleicht ist er an seinem Schreibtisch eingeschlafen. Der Gedanke beruhigt sie, lässt ihr Herz langsamer schlagen.

Aber als sie in seinen Geschäftsräumen ankommt,

Zuerst findet sie den Zettel, der in ihrem Columbia-Business-School-Becher steckt:

Mae: Es tut mir leid. Und ich möchte, dass du weißt, dass du mir etwas bedeutet hast. Du bist nicht in die Sache verwickelt, WindSpan hatte mit dir nichts zu tun. Und ich werde dich nicht vergessen.

 

In Liebe,

Peter

 

PS: Bitte vernichte diesen Brief.

Erst wird die Welt ganz schwarz. Der Zettel ist der Beweis, dass er weder verletzt noch tot ist. Aber das hier ist erstaunlicherweise schlimmer. Mae untersucht die Sätze, die auf Firmenbriefpapier gekritzelt worden sind, wie eine Anthropologin die Spuren an den Wänden einer Höhle. Dies ist der Mann, den sie heiraten wollte. Dies ist das Leben, das sie führen wollte. Trotzdem hat sie sich nicht erlaubt, das hier vorherzusehen.

Und jetzt steht sie hier. Am Anfang vom Ende.

 

Mae öffnet ihren Computer und loggt sich in den Hauptserver ein. Wie viele Leben hat er zerstört? Wie viele hat sie zerstört, vertreten durch ihn? Gibt es irgendetwas, das sie tun kann, um es wiedergutzumachen? Bitte lass es etwas geben, das ich tun kann, um es wiedergutzumachen.

WindSpan Turbinen gibt es gar nicht. Es hat die Firma nie gegeben. Aber das Geld gab es. Und jetzt ist es weg.

Sie lässt den Computer stehen und geht erneut in sein Büro. Sie setzt sich an seinen Schreibtisch und sieht zu, wie die Sonne über dem Brooklyn Bridge Park aufgeht. Vor weniger als zwölf Stunden hat sie noch asiatische Nudeln zum Mitnehmen gekauft, zusammen mit einem Sixpack des Craftbiers, das Peter am liebsten mag. Sie hat noch an die scharfe Soße gedacht und sich ein wenig schuldig gefühlt, weil sie es selbstgefällig genoss, von jemand gebraucht zu werden, während sie an anderen Menschen vorbeiging, die womöglich von niemandem gebraucht wurden. Sie hat den Tisch gedeckt, die Nudeln in Glasschüsseln gefüllt und in den Ofen gestellt, um sie warm zu halten. Dann hat sie darauf gewartet, dass er aus dem Büro nach Hause kam. Sie hat ihn angerufen. «Hier ist was Unvorhergesehenes dazwischengekommen. Ich komme, so schnell ich kann», hat er ihr gesagt. Schließlich ist sie vor ihrer Netflix-Serie eingeschlafen.

Jetzt wendet sie den Blick vom Park ab und betrachtet den gelben Diamanten an ihrem linken Ringfinger. Er hat seiner Mutter gehört, behauptete Peter mit einer Stimme,

Sie nimmt den Ring ab und legt ihn auf seinen Zettel. Sie haben sich am Wochenende ein Stadthaus angesehen. Ein teures weißes Kleid hängt in ihrem Schrank. Ihre größte Sorge in letzter Zeit bestand darin, die perfekten Schuhe dazu zu finden. Was für ein Mensch ist sie nur geworden?

Sie hört ein Schluchzen und kann kaum glauben, dass sie ihr eigenes Weinen nicht wiedererkennt. Aber dann begreift sie, dass es Bud war. «Du Mistkerl, du hast deinen Hund zurückgelassen!» Der Hund – benannt nach Bud Fox aus dem Film Wall Street – liegt in der Ecke in seinem Körbchen mit dem zart gemusterten Toile-de-Jouy-Polster. Mae hatte es ausgesucht, weil es sie an die Vorhänge in ihrem Kinderzimmer im Inn erinnerte. Sie steht auf, und Bud bellt und kriecht auf sie zu.

«Okay, Bud. Na komm.»

Sie fand den Namen des Hundes bisher süß, aber jetzt fügt sie ihn der Liste der Dinge hinzu, die sie auf Peters kriminelle Energie hätten aufmerksam machen müssen: Bud Fox, gute Absichten hin oder her, endet schließlich im Gefängnis. «Na komm, wir gehen Gassi.» Bud wedelt mit dem Schwanz und springt um sie herum, wobei er sie zurück auf den Stuhl schubst. Er ist kein Stadthund, er ist ein

«Aber … meine Eltern sind gestorben, als ich sechs war.» In diesem Augenblick dachte sie, er habe das vielleicht kurz vergessen, aber er winkte nur ab und nickte. Nein, er hatte es nicht vergessen.

«Da warst du doch noch so klein, du kannst dich doch gar nicht richtig erinnern. Warum solltest du dich nach etwas sehnen, was du nie wirklich hattest?»

Diese Worte verletzten sie, schnell und tief. Was sie gern gesagt hätte, war: «Ich erinnere mich an alles – und doch erinnere ich mich an nichts. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr das weh tut. Manchmal wache ich aus einem Traum auf und weiß, dass er eine Erinnerung gewesen sein muss, aber sie entgleitet mir wie ein Fisch in einem Eisloch. Und egal, wie sehr ich mich bemühe, ich kann es nicht abschütteln: das letzte Mal, als ich meinen Vater sah. Was ich gesagt habe, was ich getan habe, was ich verursacht habe. Ich habe es noch nie jemandem erzählt, aber …» Nicht einmal in ihrer Vorstellung kann sie den Satz beenden. Also vergräbt sie ihn dort, wo er hingehört, tief im Flussbett ihrer Seele. Sie hat wirklich geglaubt, dass Peter gut für sie sei, weil er es ihr nicht erlaubte zu grübeln, in der Vergangenheit zu leben.

Als sie das Büro durchquert, denkt sie darüber nach zu fliehen. Einfach fortzulaufen. Aber damit würde sie praktisch ihre Schuld eingestehen – und an alldem hier trägt sie keine Schuld. Außerdem weiß sie, dass sie niemals damit leben könnte, fortgelaufen zu sein, sich vor den Folgen einer Straftat versteckt zu haben, die sie zwar nicht begangen hat, die aber in ihrem Namen begangen wurde. Sie hält an und schaut in das Büro von Andrew, dem Finanzvorstand, aber es ist ebenso still und leer wie das von Peter. Etwas fehlt: Andrew hatte immer einen Briefbeschwerer aus Meteoritengestein auf seinem Schreibtisch stehen. Jetzt entdeckt sie dort einen staubfreien Kreis. «Der Meteorit erinnert mich daran, dass die Welt jeden Augenblick untergehen könnte. Das heißt, ich sollte das Leben besser auskosten», hat er einmal zu ihr gesagt, um zu erklären, warum er mit einer fünfundzwanzigjährigen Kellnerin zusammen war, die er bei Hooters kennengelernt hatte. Sie

Der Aufzug öffnet sich, als sie auf den Pfeil nach unten drückt, und Bridget, eine der Kundenberaterinnen, tritt heraus. «Morgen!», sagt sie.

«Oh, hallo!» Mae schreit fast.

«Hey, ist Peter da?»

«Noch nicht.»

«Können wir uns kurz unterhalten? Ich habe letzte Nacht einen komischen Anruf von Alex Moffatt bekommen. Ich habe versucht, Peter zu erreichen, aber sein Telefon ist ausgeschaltet, und …»

«Unbedingt!» Mae zerrt Bud heftig in den Aufzug. Es ist nicht leicht, diesem Hund seinen Willen aufzuzwingen. «Ich bin gleich wieder da.» Sie hält den Knopf, der die Türen schließt, so lange gedrückt, bis sie endlich zugehen. Draußen zieht sie sich die Ärmel ihres Pullovers über die Hände und blinzelt in die Wintersonne. Bud zieht sie zum Park. Sobald er innerhalb der Umzäunung ist, löst sie seine Leine, und er rennt los. Erst hebt er sein Bein an einem Zaunpfahl, dann geht er ein paar Schritte weiter, wo er sich hinhockt und demütig den Kopf senkt. Sie lässt sich auf eine Bank sinken und spürt, wie die kalte Feuchtigkeit durch ihren Hosenboden dringt.

«Mae?» Sie schaut auf. Es ist Jon Evans, ein Rechtsanwalt, der in der Nähe arbeitet und mit seiner Frau Mattie genau wie Peter und sie in Williamsburg wohnt. Sie haben eine kleine Tochter namens Jorja. Mae durfte sie einmal halten, als Mattie sie ins Büro mitbrachte. Jon hat ihr erzählt, dass Mattie kurz nach Jorjas Geburt krank wurde. Non-Hodgkin-Lymphom – als sie ihren Mann im

«Das ist meine Frau», hat Peter Mae damals Jon vorgestellt. «Beziehungsweise meine zukünftige Frau. Sie macht für uns das Marketing.» Wie Mae in diesen beiden Worte schwelgte: meine Frau. Sie versprachen eine Zukunft, in der sie nicht allein und ohne Familie sterben würde – das war immer eine nachvollziehbare Sorge gewesen, zumal die beiden einzigen lebenden Verwandten (von denen sie Kenntnis hatte) bereits über achtzig waren. «Willst du eigentlich Kinder?», hatte sie Peter gefragt, als sie lange genug miteinander ausgegangen waren, dass sie das Thema anschneiden konnte. Sie hatte sich vor der Antwort gefürchtet: So viele Männer wollten keine oder behaupteten, sie wollten keine, bis es zu spät war. Danach zeugten sie Kinder mit Frauen, die noch nicht so lange auf der Wartebank gesessen hatten und noch fruchtbar waren. «Natürlich will ich Kinder», hatte er geantwortet. «Was für eine dumme Frage.»

Mae stellte sich vor, Jon und Mattie zum Abendessen einzuladen, sah Jorja in die Augen und betete, dass es Mattie bald wieder gutgehen möge, damit Jorja nicht ihr ganzes Leben lang nach verblassten Erinnerungen an ihre Mutter suchen musste. Sie stellte sich vor, wie Jorja mit Peters und ihren eigenen zukünftigen Kindern spielte, jenen Kindern, die sie retten würden; sie malte sich eine perfekte Welt aus.

Jon und Mattie haben eine riesige Summe in WinSpan Turbinen investiert. Und jetzt kann sie Jon nicht mehr in

«Wie geht es Mattie?»

«Ganz gut. Sie ist voller Hoffnung. Es geht ihr jeden Tag besser. Sie ist eine großartige Frau.»

Mae sieht Krankenhausrechnungen vor sich, die nicht bezahlt werden können. Sie ruft nach Bud. «Tut mir leid», sagt sie zu Jon. «Ich fühle mich nicht gut. Wirklich gar nicht gut.»

«Kann ich irgendwas tun?»

«Nein. Aber danke. Ich muss zurück ins Büro. Oder vielleicht lieber gleich nach Hause, mich hinlegen.»

«Das ist vermutlich eine gute Idee, du siehst blass aus. Hey, aber könntest du vielleicht Peter sagen, dass er mich anrufen soll, wenn er eine Sekunde Zeit hat? Ich müsste etwas mit ihm besprechen. Gestern Abend habe ich etwas auf Twitter gesehen, das mir ein bisschen Sorgen macht. Über WindSpan. Einen Artikel, in dem es heißt, die Baustelle sei verlassen. Beziehungsweise nicht verlassen … sondern dass es sie gar nicht gibt. Das kann sicher überhaupt nicht sein. Wahrscheinlich bloß wieder Trolle oder so, aber ich wollte das trotzdem besprechen. Gut also, dass wir uns über den Weg gelaufen sind.»

Maes Hand zittert, als sie Bud wieder anleint. «Natürlich, ich richte es ihm aus, mach dir keine Sorgen. Sicher ist alles in Ordnung.» Sie geht und merkt, dass sie etwas vergessen hat. Jetzt kann sie noch etwas auf die Liste ihrer Verfehlungen setzen: Und sie ging, ohne den Haufen ihres Hundes zu entsorgen.

Im Büro haben sich inzwischen ein paar Leute

Die Türen des Aufzugs hinter ihr gleiten auf. Ein Mann und eine Frau treten heraus. Sie sind unauffällig gekleidet. Als sie in ihre Jackentaschen greifen, weiß Mae, dass sie ihre Polizeimarken hervorholen. Sie greift in ihre eigene Tasche und ertastet den Zettel. Schnell zerknüllt sie ihn noch mehr, versucht ihn so klein zu machen, dass er verschwindet, aber der Ring hindert sie daran.

Gabe sitzt in einem Restaurant, in dem er noch nie war, und weiß, dass er nie mehr herkommen wird. Vermutlich wird er künftig das ganze Viertel meiden. Er sitzt hier mit seiner Frau, die in ein paar Augenblicken seine Exfrau sein wird, und sie sagt ihm gerade auf den Kopf zu, dass er sie nie geliebt hat.

«Du hast mich gemocht, Gabe. Du hast mich gerngehabt. Aber geliebt? Nein. Du hast mich nie geliebt. Du warst viel zu kaputt, um mich zu lieben. Ich glaube, du hast mal jemanden geliebt, dieses Mädchen, von dem du mir erzählt hast, von früher, aus deiner Kindheit, wie hieß sie noch? Molly?»

«Mae.» Gabe spricht den Namen absichtlich undeutlich aus. Es ist einfach zu erbärmlich, dass Natasha selbst damit recht hat.

«Genau. Die. Der einzige Mensch, den du je geliebt hast, ist ein Geist, ein Mensch, den du vermutlich nie wiedersehen wirst. Und bis du diese Liebe entweder wahr werden

Er legt unter dem Tisch beide Hände in den Schoß. «So genau wollte ich es eigentlich gar nicht wissen. Außerdem sieht man es sofort. Du hast einen Riesenbauch.»

Sie seufzt. «Du bist ein Arsch.»

«Du hast mit einem der Ärzte aus dem Krankenhaus gevögelt, in dem du arbeitest. Tut mir leid, wenn ich etwas bitter rüberkomme.» Sie hat eine Weile mit dem Arzt zusammengelebt, nachdem sie die Affäre angefangen hat, die sie Gabe wie eine Herausforderung vor die Füße gelegt hat. Kämpf um mich, hat ihr Blick ihn aufgefordert. Gabe hat es nicht getan. Wer konnte schon mit einem bekannten Kinderherzspezialisten mithalten? Sie ist Anästhesistin – der Arzt und sie sind ein gutes Team. Dabei weiß er, er hätte tatsächlich mithalten können. Natasha hat ihn geliebt. Sie hat ihm ein Geschenk gemacht, das er sinnlos vergeudet hat, und jetzt gibt es nichts mehr zu sagen.

Er starrt auf den Tisch, bis sie endlich sagt: «Also, hier sind die Papiere.» Sie schiebt den Ordner über den Tisch, zusammen mit einem dunkelblauen Montblanc-Füller. Er hat sofort vor Augen, wie der bekannte

«Wie besprochen geht jeder mit dem aus der Ehe raus, was er auch eingebracht hat. Ein klarer Schnitt.»

Er nimmt den Füller. Er unterschreibt. Es fühlt sich überhaupt nicht wie ein klarer Schnitt an. Aber es fühlt sich wie ein Ende an, und darin liegt eine gewisse Erleichterung. Enden erleichtern Gabe immer.

«Es geht dir doch gut, oder? Arbeitest du noch immer frei? Ich habe eine deiner Zeichnungen in der Times gesehen.»

«Hier. Fertig.» Er winkt dem Kellner nach der Rechnung, dann fällt ihm ein, dass sie gar nichts bestellt haben. Er nimmt sein Wasserglas und leert es. Das ist nicht das, was er braucht. Er steht auf.

«Gabe, bitte geh noch nicht. Du kannst doch nicht für den Rest deines Lebens vor allem fortlaufen. Wir sollten …»

«Auf Wiedersehen, Natasha.»

Er läuft nicht, er geht, also hat sie damit schon mal nicht recht. Er kauft auf dem Weg zu seiner neuen Wohnung eine Flasche Wild-Turkey-Whiskey und nimmt schon im Aufzug einen Schluck, dann lässt er sich mit der Flasche auf die Matratze im Flur fallen, die Matratze, die er ganz allein drei Etagen durch das Treppenhaus heraufgezerrt hat, obwohl Freunde ihm ihre Hilfe beim Umzug angeboten haben. Er kann sich etwas Besseres leisten als

Da hast du dir ja ein schönes Leben zurechtgeschnitzt, Gabriel Broadbent.

Lilly wartet, horcht, zählt Georges Atemzüge, zählt die Abstände zwischen ihnen. Er schläft. Sie setzt sich auf, wartet erneut, sucht in der Dunkelheit mit den Füßen nach ihren Pantoffeln, schlüpft hinein, steht auf und ertastet ihren Morgenmantel an der Stelle, wo sie ihn abgelegt hat – er liegt auf dem Stuhl vor dem Schminktisch. Sie hält einen Moment inne. Früher saß sie jeden Morgen hier und trug ihr Make-up auf, bevor sie sich an die Arbeit machte. Wenn man ein Hotel führt, muss man immer vorzeigbar aussehen. Man kann nicht einfach in Pantoffeln und einem Morgenmantel herumlaufen und das Haar wirr vom Kopf abstehen lassen.

Zu Beginn merkte sie nicht, dass sie Dinge vergaß. Meistens Namen. George trug schon seit Jahrzehnten immer einen Zettel in der Hemdtasche, weil er sich die Namen der Gäste in der Hochsaison nicht alle merken konnte. Das Inn war dann voller Fremder und alter Freunde. Sie versuchte, sich ihren eigenen Spickzettel zu schreiben, aber das klappte nur einen Monat lang. Dann fing es an, dass

Als sie einmal «Everett!» rief, gab es Ärger. Kein Rückenstreicheln in jener Nacht. George stand auf und wanderte allein durchs Haus. Am nächsten Tag beim Frühstück erwähnte er den Vorfall nicht. «Ich vergesse ständig seinen Namen, bis ich schlafe», wollte sie ihm erklären. Aber sie wusste, wohin das führen würde. George wollte das Hotel verkaufen und in eine Eigentumswohnung ziehen. In einen Kasten neben dem Fluss, in den keine ihrer Erinnerungen passte. Lilly durfte das Inn niemals verlassen. Das hat sie Virginia versprochen. Und davor Everett.

Hat sie es ihnen versprochen? Wem hat sie es versprochen?

Sie tastet sich die Wand entlang. Nicht stolpern und fallen und sich die Hüfte brechen, sonst stecken sie dich doch in diese verdammte Wohnung, oder noch schlimmer, in eine betreute Wohnanlage, wo irgendwelche Leute dich zu Tode betreuen. Die Dunkelheit bedeutet Gefahr, aber sie kann es nicht riskieren, das Licht anzuschalten und George zu wecken. Er würde wissen wollen, warum sie aufgestanden ist. Sie müsste sagen, dass sie nicht schlafen kann und ein Glas warme Milch trinken will, und dann würde sie sich Milch wärmen und sie trinken müssen, nur um im Anschluss die ganze Nacht aufs Klo zu rennen.

Die Stufen. Das Mondlicht im Fenster am Fuß der

Sie schlurft über den abgewetzten Teppich, und jetzt erinnert sie sich wenigstens wieder daran, wo die Fallen lauern: Hier hat sich der Fußboden ein wenig nach oben gewölbt, dort ist eine Diele locker und steht ein wenig hoch, eine Tretmine für alte Zehen. Dann vergisst sie, wohin sie möchte, und biegt beinahe in die Küche ab, weil warme Milch der letzte Gedanke war, an den sie sich erinnern kann. Nein: ihr Schreibtisch, ihr Kasten. Wohnung? Nicht die Sorte Kasten. Die Kiste, die Tommy dir gemacht hat, bevor er in den Krieg zog. Tommy, dein großer Bruder. Tommy, der Flieger war, ein Flyboy, der dir davon schrieb, wie sehr er die Bucht vermisste und wie wichtig Heimat und Stabilität sind und dass man an einem Ort bleiben sollte, solange man kann. Und deshalb hast du genau das für sie alle getan: Tommy, Everett, Virginia und jetzt Mae, deine Enkelin, die einzige, die du noch nicht verloren hast.

«Mae», sagt sie, weil das ein Name ist, den sie nicht vergessen darf, denn wenn sie ihn vergisst, ist sie geliefert.

Im Licht der Lampe öffnet sie ihren Rollschreibtisch. Und da ist die Kiste, genau, wo sie sie hingestellt hat. In letzter Zeit ist sie jedes Mal so erleichtert, wenn sie die Dinge dort wiederfindet, wo sie sie hingestellt hat – und so frustriert, wenn sie dort nicht sind, oder schlimmer, wenn sie vergisst, wonach sie überhaupt gesucht hat.

Die Kiste ist aus Zedernholz und duftet immer noch – jemand hat unten ungeschickt Blüten hineingeschnitzt. Lilly öffnet sie. Fotos, Briefe, getrocknete Blumen, die

Die Uhr tickt. Das Wort ist nur deshalb wichtig, weil sie sich nicht daran erinnern kann.

Sie musste einen speziellen Stoff auftreiben, um diese Kleider zu nähen, und dann musste sie sie um die Mitte ein wenig auslassen, was niemand wissen durfte, nicht einmal ihr Ehemann, noch nicht.

Draußen vor dem Fenster liegt der Fluss erstarrt und still, aber es ist eine Stille, die sie hören kann.

Wie heißt das Wort noch?

Aussteuer. Es hieß Brautaussteuer.

Erleichterung durchströmt sie. Erneut greift sie in die Kiste und holt ein Bündel Briefe hervor, die von einem mürben Gummiband zusammengehalten werden. Sie erkennt seine Handschrift: Es sind Everetts Briefe vom Schiff. Sie liest Worte wie «wunderschön» und «liebe dich wahnsinnig, von ganzem Herzen» und «träume von deinen Küssen, jede Nacht». Ihre Wangen werden ganz warm. Ihre alten Wangen, die jetzt aussehen wie Krepppapier, können immer noch erröten wie die Wangen eines jungen Mädchens. Sie muss lächeln. Das ist der Grund, aus dem sie immer wieder gern in dieser Kiste herumstöbert: weil alles darin ihre Erinnerungen weckt. «Hallo, Everett», sagt sie in die

Ein Rascheln. Jemand steht in der Tür.

«Liebling», sagt sie zu ihrem Ehemann, diesmal zu George, aber es hat die falsche Wirkung. Sie hat ihn verletzt, das sieht sie in seinem Blick, und die Angst davor, was sie damit ausgelöst haben könnte, lässt sie vergessen, was und wo und warum und … «Oh.»

Sie hebt ein Foto auf und hält es sich dicht vors Gesicht. Wer sind diese Mädchen, so jung, mit diesen albernen Frisuren? Wer ist dieser gutaussehende Mann, an den sich das albernste Mädchen von ihnen gehängt hat?

Das bist du. Du und Vivian und Everett. George hat das Foto gemacht. Lilly lässt das Foto wieder fallen und klatscht in die Hände. Wie wunderbar, dass sie sich daran erinnern kann!

Aber da steht jemand im Zimmer. Jemand, der böse auf sie ist. Sie starrt ihn an, blinzelt verständnislos. Ein böser alter Mann steht im Zimmer – George.

«Tut mir leid.» Die Worte kommen automatisch aus ihr heraus.

«Was tut dir leid?», fragt er mit seiner heiseren, gebrochenen Stimme. «Tut es dir leid, dass du mich heiraten und all die Jahre mit mir leben musstest, statt den Mann zu heiraten, den du wirklich wolltest?»

«Ich wollte dich heiraten!»

Aussteuer. Brautaussteuer. Die Niagara-Fälle. Das Gefühl, gerettet zu sein, schuldbewusste Dankbarkeit und doch auch so viel Liebe und Hoffnung und George. Sich an ihm festhalten, als wäre er ein Rettungsboot. Ein Ballen Seide, den deine Mutter dir geschenkt hat. Sie hat ihn seit

«Hörst du mir überhaupt zu?»

«Ich kann ihn nicht vergessen! Ich kann seinen Namen nicht vergessen, verstehst du das nicht? Er war der Vater meines Kindes!»

Warte. Nein.

Nicht die richtigen Worte. Das war ein Geheimnis, oder nicht wirklich ein Geheimnis, aber etwas, worüber sie nicht … das war ein Versprechen, oder war es …

George ist fort. Sie hört seine schweren Schritte auf der Treppe und erinnert sich wieder. Sie hat das Falsche gesagt. Sie hat ein Geheimnis ausgeplaudert.

Sie stützt den Kopf in die Hände und starrt auf den Schreibtisch, betrachtet das Foto einer jungen Frau, die sie nicht mehr kennt, und eines Mannes, den sie nicht vergessen will – nicht, weil sie ihn immer noch liebt, sondern weil sie ihn braucht, um sich an sich selbst erinnern zu können. «Es tut mir leid», flüstert sie. Aber dafür ist es jetzt zu spät.

«Wie lange kannten Sie Peter Greaves?»

«Ungefähr ein Jahr.» Nächste Woche ein Jahr.

Die beiden Polizisten, ein Mann und eine Frau, notieren sich etwas. «Sie haben zusammen gearbeitet, waren aber trotzdem ein Paar?»

«Wir waren verlobt.» Sie erinnert sich nur zu gut an den Augenblick vor sechs Monaten, als Peter ihr den Ring gab. Sie hatte das Gefühl, dass alles in ihrem Leben plötzlich zusammenpasste – oder vielmehr, dass ihr Leben sich weitete, damit noch mehr hineinpassen konnte. Sie waren in Paris, ganz oben im Riesenrad in den Tuilerien. Auf dem Weg nach unten sagte er: «Es ist wie Fliegen, oder, Baby?»

Mit Peter fühlte sich alles spontan an, sogar der Antrag. Komm, wir nehmen die Fähre nach Staten Island und essen dort zu Mittag. Wir machen eine Hubschraubertour. Lass uns nach Chicago fliegen, nur zum Abendessen. Ich will dich hier lieben, genau hier und jetzt. Keiner kann uns sehen. Baby, lass uns heiraten.

Sie greift in ihre Tasche und berührt den Diamantring. Niemand hat sie vorher je «Baby» genannt. Zuerst mochte sie es nicht einmal.

«Ja. Es geht schon wieder.»

«Hatten Sie einen Grund zu der Annahme, dass mit WindSpan Turbinen etwas nicht stimmte?»

«Ja. Nein. Nicht wirklich. Ich meine …» Sie zieht die Hand aus ihrer Tasche und wischt sich die schweißnassen Hände an den Jeans ab. Ich muss mir unbedingt einen Anwalt nehmen. Warum habe ich das Angebot abgelehnt? Sie atmet tief durch und fährt fort: «Ich hatte da so ein Gefühl, glaube ich. Aber ich … ich hatte zu viel Angst, Peter darauf anzusprechen.»

«Angst? Warum? Hatten Sie Angst, dass er Ihnen etwas antun könnte?»

Sie schüttelt den Kopf. «Wohl eher Angst, dass er mich verlassen würde.» Sie sagt das mit einer Stimme, die schon in ihren eigenen Ohren viel zu kindlich klingt. «Ich hatte Angst, dass er wütend wird oder traurig. Weil es mir sehr wichtig war, ihn … ihn glücklich zu machen. Ihn besser zu machen, zu einem besseren Menschen.»

Die beiden Beamten wechseln einen Blick. «Hat er Ihnen etwas hinterlassen, irgendeine Botschaft oder Notiz vielleicht?»

Sie spürt ihre Beine nicht mehr. Vielleicht hat sie gerade eine Panikattacke. Bitte vernichte diesen Brief. «Nein. Nichts.»

«Und er hat Sie auch nicht gebeten, ihn irgendwo zu treffen?»

Sie kann nicht sprechen. Wenn sie es doch tut, wird sie in tausend Stücke zerspringen.

«Jetzt hören Sie mir mal zu.» Die Polizistin beugt sich vor. Die Feindseligkeit in ihrem Ton überrascht Mae. Sie

Mae weicht vor ihr zurück und verschränkt schützend die Arme vor der Brust. «Okay. Ich werde reden. Ich rede ja schon. Ich … es tut mir leid.»