Anna Frebel
Auf der Suche nach den ältesten Sternen
Fischer e-books
Anna Frebel studierte Physik in Freiburg, promovierte am Mount Stromlo Observatory in Canberra, Australien, und ist nach einem Fellowship in Harvard seit kurzem Professorin für Astronomie am renommierten MIT in Boston. Die junge deutsche Wissenschaftlerin entdeckte im Jahr 2005 HE 1327-2326, den ältesten bisher bekannten Stern, und gilt als Shooting-Star der männlich dominierten Welt der Astrophysiker. Sie veröffentlicht in den wichtigsten Fachjournalen, u.a. in »Nature«, und ist mit zahlreichen Preisen und Ehrungen ausgezeichnet worden.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
Covergestaltung: R.M.E., Roland Eschlbeck und Rosemarie Kreuzer
Coverabbildung: © Robert Llewellyn/Corbis
© 2012 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401328-2
»Homogen« meint, dass die gleichen Beobachtungen an unterschiedlichen Stellen im Universum zu erwarten sind. Der Teil des Universums, der beobachtet wird, liefert also ein repräsentatives Ergebnis. »Isotropie« bedeutet, dass die gleichen Beobachtungen für alle Blickrichtungen zu erwarten sind. Die gleichen physikalischen Gesetze sind überall gültig.
Wenn Atomkerne mit Neutronen hoher Dichte beschossen werden, können sie Neutronen einfangen. Durch β-Zerfall wandeln sich die eingefangenen Neutronen teilweise in Protonen um. Dadurch entsteht ein Kern eines anderen Elements. Diesen Prozess nennt man auch r-Prozess (von englisch rapid = schnell). Im Gegensatz dazu verläuft der s-Prozess (von englisch slow = langsam) bei niedrigen Neutronendichten langsamer. Weitere Details werden in Kapitel 5 ausführlich beschrieben.
SIMBAD, http://cdsweb.u-strasbg.fr.
Auch sämtliche wissenschaftliche Artikel der Autorin können dort gefunden werden.
»Bernhard von Chartres sagte, wir seien gleichsam Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, um mehr und Entfernteres als diese sehen zu können – freilich nicht dank eigener scharfer Sehkraft oder Körpergröße, sondern weil die Größe der Riesen uns emporhebt.«
– Johannes von Salisbury: Metalogicon, Buch III, Kapitel 4, Zeile 46–50
In diesem Sinne widme ich mein Buch den Frauen, die vor mir gelebt, gearbeitet und die Welt verändert haben: den Wissenschaftlerinnen sowie meinen Großmüttern und meiner Mutter.
So begann meine eigene Reise
Ich wurde oft danach gefragt, warum ich mich so intensiv gerade für die Sterne und das Universum interessiere. Die Frage, warum das so ist, kann ich genauso wenig beantworten wie die, warum Blau meine Lieblingsfarbe ist: Es war einfach schon immer so.
Seit ich denken kann, übten die Sterne auf mich eine unbeschreibliche Faszination aus. Und als ich 14 Jahre alt war, beschloss ich deshalb, Astronomin zu werden. Ich wollte mehr über die Sterne erfahren, um herauszufinden, woher sie kommen und was in ihrem Inneren vorgeht. Der Weg dahin war mir natürlich noch unklar. Dennoch war es mein Traum, etwas Neues zu entdecken, etwas, das außerhalb unserer Erde im Universum existiert und noch nie zuvor bekannt gewesen ist. Auch ich wollte also herausfinden, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Dieser Wunsch gab mir einen enormen Antrieb, und so war ich überglücklich, dass ich mit 15 Jahren mehrere Praktika bei den Astronomen der Universität Basel absolvieren durfte. Dort lernte ich direkt von den Wissenschaftlern, welche Tätigkeiten den Alltag eines Astrophysikers ausmachen. Mit Hilfe der Studentenversuche zur einführenden Astronomie konnte ich dort schon viele Konzepte und theoretische Grundlagen zur Arbeit mit Sternen, Galaxien und der Kosmologie kennenlernen.
Mit diesen Kenntnissen ausgestattet, konnte ich dann auch, inzwischen 17 Jahre alt, meine fünfundfünfzigseitige Facharbeit »Auswertung von Farben-Helligkeitsdiagrammen ausgewählter Sternhaufen unter dem Gesichtspunkt der Sternentwicklung« für die Schule schreiben.
So war ich schon vor Beginn meines Physikstudiums meinem Traum, als Astronomin die Sterne und das Universum zu studieren, ein Stückchen näher gekommen. Heutzutage fliege ich mehrmals im Jahr um den Erdball zu den größten Teleskopen der Welt, um nach den ältesten Sternen zu suchen.
Um die vielen Details und die im Universum vorherrschenden chemischen und physikalischen Prozesse verstehen zu können, müssen wir uns nun auf eine kosmische Zeitreise begeben. Sie beginnt direkt mit dem Urknall und wird uns von dort aus bis in unsere Zeit führen. Wie in Abbildung 1.1 zu sehen ist, werden wir die kosmische Herkunft eines Apfels und damit auch die der Elemente kennenlernen. Dabei sind uns die ältesten Sterne aus der Zeit kurz nach dem Urknall behilflich. Sie lehren uns, dass wir Menschen alle Kinder des Kosmos sind. Denn aus Sternenstaub gemacht, tragen wir sogar kleine Mengen des Urknalls in uns.
Der US-amerikanische Astronom Carl Sagan sagte einst: »Wenn du einen Apfelkuchen von Grund auf selbstbacken möchtest, musst du zunächst das Universum erfinden.« Denn tatsächlich sind die Elemente, aus denen ein Apfel besteht, das Ergebnis eines kosmischen Herstellungsverfahrens, das Jahrmilliarden dauerte und das die Astronomen als chemische Entwicklung des Universums bezeichnen. Denn die Atome, aus denen der Apfel besteht, wurden erstmalig durch Kernfusionsprozesse in den heißen Zentren von Sternen vor sehr langer Zeit erzeugt. Mit dem Backen des Apfelkuchens verändern wir zwar die Anordnung der Atome in den verschiedenen Molekülen, aus denen der Apfel besteht, aber die Atome selbst bleiben unverändert. Um ein Atom in ein anderes zu verwandeln, fehlen uns in unseren Küchen Kernreaktoren – die gibt es nur im Universum.
Abb. 1.1: Die kosmische Herkunft eines Apfels.
Die Elemente Wasserstoff und Helium wurden direkt nach dem Urknall gebildet und liefern das stoffliche Grundgerüst des Universums. Die kosmische Kocherei weiterer Elemente begann bald danach. So wurden alle Elemente erzeugt, auf denen die Entstehung und Entwicklung von Leben und damit auch des Menschen basiert. Für Menschen und organisches Material spielt Kohlenstoff dabei die Hauptrolle. Unsere Existenz hängt also von jenen Sternen ab, die den Kohlenstoff synthetisiert haben. Dadurch sind wir Menschen so eng mit der Entwicklungsgeschichte der chemischen Elemente verbunden.
Mit der Erforschung der diversen chemischen und physikalischen Prozesse, die an dieser Entwicklung beteiligt sind, können sich Astronomen tatsächlich Stück für Stück dem annähern, was das Universum als Ganzes ausmacht. Abbildung 1.A im Farbbildteil zeigt eine Zusammenfassung dieser Entwicklung. Aber beginnen wir die Geschichte von vorne.
Abb. 1.A
Begriffe wie Raum und Zeit, Temperatur oder Dichte benutzen wir heutzutage oft, ohne weiter darüber nachzudenken, ob es auch ein »Vor« dem Raum oder »Vor« der Zeit gab. Unser physikalisches Verständnis für das Universum beginnt nämlich erst winzige Sekundenbruchteile nach dem Urknall, den man sich als Beginn von Raum und Zeit vorstellen kann. Was wirklich am Anfang des Universums stand, ist und bleibt ein Rätsel. Der Begriff »Urknall« benennt somit diesen eigentlich unbeschreiblichen Anfangszustand.
Wir wissen aber, dass die ersten Minuten nach dem Urknall extrem heiß waren und das Universum lediglich aus einer dichten Suppe aus den verschiedensten kleinsten Teilchen bestand. In den folgenden Minuten bildeten sich daraus Protonen, Neutronen und Elektronen, die Bausteine der Atome. Das Universum dehnte sich nun rapide aus und kühlte dabei schnell ab. An chemischen Elementen existierte bisher nur Wasserstoff (Ordnungszahl 1), genauer gesagt existierten nur Wasserstoffkerne, eben die Protonen. Als die Temperatur nach zwei bis drei Minuten auf eine Milliarde Grad gesunken war, entstanden die ersten gegenüber Wassertoff schwereren Atomkerne wie z.B. Deuterium. Deuterium wird auch »schwerer Wasserstoff« genannt, denn es besteht aus einem Proton und einem Neutron und hat somit die gleiche Ladungszahl wie Wasserstoff, nämlich 1.
Aus Deuterium konnten dann die ersten Heliumkerne (Ordnungszahl 2) gebildet werden, die aus zwei Protonen und zwei Neutronen bestehen. Schon in den ersten zwei Minuten war bei den noch höheren Temperaturen Helium direkt aus vier Protonen gebildet worden. Allerdings war es zu dieser Zeit so heiß, dass diese Heliumkerne immer sofort wieder durch die ebenfalls vorhandenen hochenergetischen Gammastrahlen zerschlagen wurden. Erst der Umweg über die Deuteriumkerne bei den kühleren Temperaturen von etwa einer Milliarde Grad führte dann schließlich zur Bildung großer Mengen von Helium.
Durch die Zusammenstöße von mehreren Heliumkernen bildete sich als das drittschwerste Element noch eine ganz, ganz winzige Menge an Lithium (Ordnungszahl 3). Das Universum bestand also zu jener Zeit aus diesen drei Elementen: Wasserstoff, Helium und Lithium. Rund 75% der Gesamtmasse bestand dabei aus Wasserstoff und ca. 25% aus Helium. Der Lithium-Massenanteil lag nur bei 0,000000002%. Wenn man zum Vergleich diese Massenverteilung in Anzahlen von Wasserstoff- und Heliumatomen ausdrückt, gibt es 92% Wasserstoffatome und nur ca. 8% Heliumatome, da Helium viermal schwerer als Wasserstoff ist. Lithium ist wiederum nur als ein winziger Bruchteil vertreten.
Schon drei Minuten nach dem Urknall war die erste Phase der Elementsynthese abgeschlossen. Das Universum war nun schon zu weit abgekühlt, um weiterhin nukleare Fusion mit Wasserstoff und Helium betreiben zu können. Um später Leben im Universum und somit auch den Menschen hervorbringen zu können, reichten die in den wenigen Minuten nach dem Urknall entstandenen chemischen Elemente Wasserstoff, Helium und Lithium jedoch nicht aus. Die hierzu notwendigen Elemente wie Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Eisen sowie alle anderen Elemente des Periodensystems fehlten noch. Diese wurden erst nach und nach in Sternen synthetisiert. Nur dort konnten aus den vorhandenen leichten Elementen wie Wasserstoff und Helium schwerere erzeugt werden. Denn nur im Inneren von Sternen ist es heiß genug, um alle weiteren Elemente des chemischen Periodensystems zu synthetisieren.
Damit diese Sterne und auch die Galaxien überhaupt entstehen konnten, mussten sich aus den ersten, elektronenlosen und nackten Atomkernen sowie den frei im Universum herumschwirrenden Elektronen erst einmal vollständige und elektrisch neutrale Atome bilden. Für lange Zeit nach dem Urknall sind Atomkerne, Elektronen und Photonen, also die Lichtteilchen, wild durcheinandergerast. Diese Teilchen- und Strahlensuppe war somit ziemlich undurchsichtig, etwa so, wie wenn man durch das Gewimmel der Wassertröpfchen bei strömendem Regen oder Nebel die andere Seite der Straße nicht mehr sehen kann. Denn die Energie und die Richtung der Photonen werden immer wieder durch freie Elektronen verändert. Man sagt auch, sie werden gestreut.
Etwa 380 000 Jahre nach dem Urknall war das Universum in seiner Größe nun so weit angewachsen und dabei auf 2700 Grad Celsius abgekühlt, dass es zu einer grundlegenden Veränderung kam. Die Atomkerne und die Elektronen bewegten sich nun so langsam, dass die positiv geladenen Atomkerne die negativ geladenen Elektronen einfangen und dauerhaft an sich binden konnten. Die seit dem Urknall umherfliegenden Photonen hatten somit viel weniger Möglichkeiten, von Elektronen gestreut zu werden. Das bedeutete die endgültige Trennung von Materie und Strahlung, das bis dahin undurchsichtige Universum wurde dadurch erstmals durchsichtig.
Die Photonen wurden somit endlich aus dem Labyrinth der Elektronen befreit und konnten ungestört über weite Distanzen fliegen. Das tun sie auch heute noch. Die Photonen aus dem frühen Universum fliegen nach wie vor – sie werden die kosmische Hintergrundstrahlung genannt. Sie ist so etwas wie das schwache Restglimmen des Urknalls von vor fast 14 Milliarden Jahren, die letzte Glut eines gigantischen kosmischen Feuerwerks.
Seitdem das Universum durchsichtig wurde, ist es auch 1100 Mal größer geworden. Da die Energiedichte der kosmischen Hintergrundstrahlung mit zunehmendem Volumen des Universums abnimmt, ist die Temperatur der Hintergrundstrahlung, die heute bei uns ankommt, aber nicht mehr 2700 Grad C heiß, sondern inzwischen nur noch –270 Grad C. Das entspricht ungefähr 2,7 Grad Kelvin. Das Universum hat sich also ausgehend vom Urknall bis heute dem absoluten Temperaturnullpunkt bei 0 Grad Kelvin oder –273 Grad C schon sehr weit angenähert. Mit einer weiteren Ausdehnung des Universums wird in sehr ferner Zukunft der absolute Temperaturnullpunkt irgendwann erreicht werden.
Diese Hintergrundstrahlung wurde 1964 von den amerikanischen Radioastronomen Arno Penzias und Robert Wilson nach diversen Vorhersagen tatsächlich zufällig entdeckt. Die beiden Wissenschaftler erhielten 1978 den Nobelpreis für ihre Arbeiten. 2006 folgte ein weiterer Nobelpreis für die amerikanischen Astrophysiker George Smoot und John Mather. Mit Hilfe des Weltraumsatelliten COBE (»Cosmic Microwave Background Explorer«) hatten sie mit ihrem Team die ersten präzisen Messungen der kosmischen Hintergrundstrahlung vorgenommen und so deren räumliche Struktur und Ausdehnung bestimmen können. Diese und weitere Messungen durch den Wilkinson Microwave Anisotropy Probe (WMAP)-Satelliten, der in Abbildung 1.B im Farbbildteil gezeigt ist, sind eine großartige Bestätigung dafür, dass das Universum eine extrem heiße Phase auf kleinstem Raum durchgemacht hat – also den Urknall.
Abb. 1.B
Schon in der 380 000 Jahre nach dem Urknall entstandenen kosmischen Hintergrundstrahlung konnten Smoot und Mather erste Anzeichen einer ganz leichten Klumpung der Materie im Universum nachweisen. Sie sind die »Kondensationskeime« aller späteren kosmischen Strukturen, also letztendlich auch der Sterne.
Aber erst einige hundert Millionen Jahre nach dem Urknall war es dann so weit, dass sich der Charakter des Universums wieder vollständig veränderte. Das »dunkle« Zeitalter, das bestanden hatte, seit die Atomkerne die Elektronen eingefangen hatten, ging nun zu Ende. Aus den immer stärker verklumpenden riesigen Gaswolken bildeten sich die ersten Sterne des Universums, die nur aus dem Wasserstoff, Helium und Lithium bestanden, die aus der ursprünglichen, primordialen Urknallsuppe hervorgegangen waren. Diese Sterne erhellten das Universum zum allerersten Mal. Das von ihnen ausgehende UV-Licht führte zur Ionisierung der neutralen Atome in den interstellaren Gaswolken. Die Elektronen wurden dabei durch die intensive Bestrahlung des jungen Sternenlichts aus ihren Atomen herausgeschlagen. So veränderte die Existenz der ersten Sterne die Entstehungsbedingungen für weitere neue Sterne. Die Sternentstehung konnte dadurch effizienter vorangetrieben werden. So entstanden immer mehr Sterne, die sich in riesigen Sternenwolken, den Galaxien, organisierten.
In ihrem heißen Inneren synthetisierten diese Sterne dabei alle chemischen Elemente, die schwerer als Wasserstoff und Helium sind. Diese Elementproduktion führte wiederum zu größeren Veränderungen im Universum. Unzählige Sterne reicherten in ihren Galaxien ihre Materie mit immer größeren Mengen der Elemente an. Nach einigen Milliarden Jahren reichten diese Mengen aus, dass sich in der Galaxie, die wir Milchstraße nennen, unsere Sonne und ihre Planeten bilden konnten. Denn unser Planet Erde besteht zu einem erheblichen Teil aus Eisen und anderen Elementen, die aber erst in Sternen geschaffen werden mussten.
Jetzt, nach 13,7 Milliarden Jahren kosmischer Entwicklung, steht der Massenanteil der Elemente von Lithium bis Uran bei ca. 4%. Vor 4,5 Milliarden Jahren, als die Sonne geboren wurde, waren es noch weniger als 2%. Denn bis auf das wenige Lithium ist dieses gesamte Material in Sternen produziert worden. Sterne, insbesondere die ältesten, sind deshalb der Schlüssel zum Verständnis dafür, wie sich die heutige chemische Vielfalt des Kosmos im Laufe der Zeit im Detail entwickelt hat.
Nun waren die Voraussetzungen für die Existenz des Menschen gegeben. Er besteht zum größten Teil aus ganz normalem Wasser, nämlich H2O. Wasser setzt sich aus in Sternen erzeugtem Sauerstoff und Wasserstoff aus dem Urknall zusammen. Da ein Sauerstoffatom ca. 16 Mal so schwer ist wie ein Wasserstoffatom, ist das Verhältnis der Masse von Wasserstoff zu Sauerstoff in einem Wassermolekül 1:8. Da unser Körpergewicht zu ca. 65% aus Wasser besteht, heißt das, dass wir zu 8% (also einem Zwölftel) aus Wasserstoff bestehen. Voilà: Wir sind selbst ein Teil des Urknalls in dem Sinne, dass der Wasserstoff in uns aus den ersten Minuten nach dem Urknall stammt. Jemand, der 75 kg wiegt, trägt also ca. 6 kg »Urknall«-Wasserstoff mit sich herum. Bei Babys ist der Wassergehalt sogar noch höher: fast 90%. Ein 3,5 kg schweres Baby enthält somit 370 Gramm (11%) »Urknall«-Wasserstoff, was dem Gewicht einer vollen Getränkedose entspricht. Und wie in Abbildung 1.2 gesehen werden kann, konsumieren wir diese und weitere Elemente jedes Mal, wenn wir z.B. Limonade trinken.
Abb. 1.2: Urknall-Limonade – ein kosmischer Verkaufsschlager! Zutaten: Wasser, Zucker und Zitronensäure, bestehend aus Wasserstoff, Kohlenstoff und Sauerstoff sowie einigen Spuren von Kalzium, Eisen, Magnesium, Phosphor, Kalium und Zink. Herkunft: Urknall (Wasserstoff), Rote Riesensterne (Kohlenstoff) und Supernovaexplosionen massereicher Sterne (Sauerstoff und schwerere Elemente).
Die chemischen Elemente, die die Moleküle aufbauen, aus denen wir bestehen, sind also ungleich älter als die wenigen Jahre, die seit unserer Geburt vergangen sind. Im Falle von Wasserstoff sind es fast 14 Milliarden Jahre, bei den anderen Elementen sind es mindestens 5 Milliarden Jahre. Wie nähern sich Astronomen dieser kosmischen Vergangenheit nun an?
Genauso wie die Archäologen nach Überresten von früheren Kulturen und Zeitaltern suchen, beschäftigt sich die Stellare Archäologie anhand von Sternen mit der Frühzeit des Kosmos. Aber man gräbt nicht in Staub und Dreck bei sengender Sonne irgendwo in der Wüste, sondern man sucht am Himmel Nacht für Nacht nach uralten Sternen aus der Zeit kurz nach dem Urknall. Grundlage dafür ist eine Himmelsdurchmusterung, die der Auswahl eines Grabungsplatzes entspricht. In einer Himmelsdurchmusterung sind alle Objekte, die mit Hilfe eines bestimmten Teleskops in einer bestimmten Himmelsregion sichtbar sind, mit Positionen, Helligkeiten und eventuell weiteren Eigenschaften wie Farben aufgelistet.
Nun beginnt die mühsame Arbeit, den jeweiligen riesigen Katalog von Sterneinträgen mit Hilfe von Computeralgorithmen durchzuarbeiten. Damit beginnen sozusagen die Ausgrabungen. Abbildung 1.3 deutet diese Herangehensweise an. Irgendwann stößt man dabei auf möglicherweise interessante Objekte, die aber erst einmal zur Seite gelegt werden, um sie dann in einem nächsten Arbeitsschritt genauer unter die Lupe zu nehmen. Dazu werden dann nur kleine bis mittelgroße Teleskope mit Spiegeldurchmessern von 2 bis 4 Metern benötigt.
Das Spiel wiederholt sich nun: Die meisten Sterne sind nicht interessant genug für weitere Beobachtungen. Nur die besten, vielversprechendsten Objekte werden ein zweites Mal, dann aber mit den größten Teleskopen der Welt beobachtet. Und auch dann braucht man noch ein Quäntchen Glück. Nur wenige solcher Objekte stellen sich letztendlich als wirklich wichtige Beiträge für den Fortschritt der Wissenschaft heraus. Aber genau diese uralten Sterne am Himmel auszugraben ist das Ziel.
Abb. 1.3: Das »Ausgraben« der alten Sterne. Es werden große Himmelsdurchmusterungen benötigt, um einige dieser seltenen Objekte finden zu können.
Heute gibt es umfassende Durchmusterungen der Milchstraße, die Astronomen mit vielen Sterndaten versorgen und helfen, die lange Entwicklungsgeschichte des Universums fast bis zum Anfang zurückzuverfolgen. Abbildung 1.C im Farbbildteil zeigt die Andromeda-Galaxie, unsere etwas größere Schwester-Galaxie, als ein Beispiel dafür, wie die Milchstraße von weitem betrachtet aussehen könnte. Jede neue Erkenntnis zum Aufbau und der Entwicklung der Milchstraße führt unweigerlich zu einem umfassenderen Verständnis von anderen Galaxien wie z.B. Andromeda.
Abb. 1.C
Das Ziel der Astronomen ist dabei, alte Sterne zur Beantwortung einer ganzen Reihe von fundamentalen Fragen heranzuziehen, in ähnlicher Weise wie Archäologen die Siedlungsreste von Steinzeitmenschen ausgraben, um zu rekonstruieren, wie diese Menschen und in welcher Umgebung sie lebten. Genauso versucht die Stellare Archäologie mit konkreten Beobachtungsdaten die Eigenschaften der ersten gigantischen Supernova-Explosionen zu rekonstruieren, die wie riesige Fontänen die neu synthetisierten Elemente in ihre Umgebung sprühten. Welche Elemente wurden dabei produziert und in welchen Mengen? Erschließen sich daraus die Bedingungen für die frühe Stern- und Galaxienentwicklung?
Als Stellare Archäologen untersuchen wir vornehmlich die chemische Zusammensetzung der ältesten Sterne in der Milchstraße. Dieses Konzept ist in Abbildung 1.4 dargestellt. Es bedeutet, dass wir mit Hilfe dieser gemessenen Elementhäufigkeiten der Sterne die Entstehungsgeschichte der chemischen Elemente fast bis kurz nach dem Urknall rekonstruieren können. Dies ermöglicht uns, in die frühesten Epochen unserer Heimatgalaxie zu blicken sowie spezielle Aussagen über die Entstehung von Sternen und auch Galaxien im frühen Universum zu machen.
Abb. 1.4: Die Aufgabe eines Stellaren Archäologen: Bestimmung der chemischen Zusammensetzung alter Sterne. Dafür ist Feinarbeit und Geduld gefragt.
Die Himmelsdurchmusterungen des letzten Jahrzehnts, mit denen wir die alten Sterne systematisch aufspüren, sind zwar noch nicht ganz ausgereizt, doch neue Projekte versprechen noch mehr: Im Arbeitsgebiet der Stellaren Archäologie herrscht eine regelrechte Aufbruchstimmung. Seit 2012 bringt die australische SkyMapper-Durchmusterung riesige Datenmengen hervor. Diese großangelegten Beobachtungen des südlichen Himmels werden zu unzähligen Entdeckungen alter Sterne im äußeren Teilbereich der Milchstraße, dem sogenannten Halo, führen. Es wird erwartet, dass neue Zwerggalaxien entdeckt und riesige, langgezogene Ströme von Sternen, die sich oft über große Teile des Himmels ziehen, ausfindig gemacht werden. Abbildung 1.D im Farbbildteil zeigt das »Field of Streams« (»Gebiet der Ströme«) mit verschiedenen Sternströmen in der nördlichen Hemisphäre, die sich um die Milchstraße herum winden. Viele der neu entdeckten nur schwach leuchtenden Zwerggalaxien sind ebenfalls eingezeichnet. Mit Hilfe aller gesammelten Daten können wir bald noch besser die chemischen und dynamischen Prozesse erforschen, die zur Entstehung von Sternen und Galaxien wie dem Milchstraßensystem geführt haben.
Abb. 1.D
Ein anderer, komplementärer Ansatz zur Erforschung der Frühgeschichte des Universums mit den galaktischen Uralt-Sternen ist die Beobachtung extrem weit entfernter Galaxien und Gaswolken. Dieser Ansatz ist weit verbreitet und vielen bekannt, da z.B. das Hubble-Weltraumteleskop seit 1990 immer wieder spektakuläre Bilder von den am weitesten entfernten Galaxien geliefert hat. Das Hubble-Weltraumteleskop ist in Abbildung 1.B im Farbbildteil zu sehen sowie einige der mit ihm gemachten beeindruckenden Aufnahmen.
Abb. 1.B
Diese extrem weit entfernten Objekte sendeten ihr Licht als junge Galaxien in den Frühstadien des Universums aus. Aufgrund der endlichen Lichtgeschwindigkeit war ihr Licht für Milliarden von Jahren zu uns unterwegs. Diese Methode bietet eine direkte Möglichkeit, in die Vergangenheit zu schauen. So wissen wir, dass es ca. 700 Millionen Jahre nach dem Urknall bereits Sterne gab. Allerdings kann auf diesem Wege im Gegensatz zur Stellaren Archäologie nur bedingt detailliertes Wissen über die chemische Zusammensetzung der frühesten Sterne nach dem Urknall und die Entstehung der chemischen Elemente in ihrem Inneren gewonnen werden.
Bevor wir uns der chemischen Entwicklung, den ältesten Sternen und der Geschichte unserer Milchstraße weiter widmen, werden wir aber erst einmal einen Blick auf den historischen Ablauf der Erforschung von Sternen, deren Leuchtkraft und der Elementsynthese werfen.
Seit Jahrtausenden blicken die Menschen nachts in den Himmel, um die unzählig vielen Lichtpünktchen zu bewundern. Jedes dieser kleinen Lichter ist ein Stern aus unserer Milchstraße. Aufgrund ihrer enormen Leuchtkraft strahlen alle diese galaktischen Sonnen viele Lichtjahre weit – sie sind quasi die »Straßenlaternen« unserer Galaxie. Friedlich und etwas geheimnisvoll erscheinen sie einem am Nachthimmel und ermöglichen uns, die Weiten des Kosmos zu erahnen. Denn auch in anderen, weit entfernten Galaxien gibt es unzählige Sterne. Sie lassen ihre Heimatgalaxie hell erstrahlen – wie ein entferntes, bei Nacht beleuchtetes Fußballfeld. Bei der Beobachtung von Galaxien führen uns also die darin befindlichen Sterne noch viel weiter hinaus in die scheinbar unendlichen Weiten des Weltalls.
Aber wie kommt es eigentlich dazu, dass Sterne so kräftig und auch so lange über Milliarden Jahre hinweg strahlen können? Was passiert genau im Inneren der Sonne, dass sie uns jeden Tag aufs Neue Licht schenken kann, welches für uns Menschen und für unsere Evolution auf der Erde doch so ungeheuer wichtig ist?
Die Antwort auf diese so fundamentale Frage ist erstaunlicherweise erst seit ca. 75 Jahren bekannt. Wir wissen also erst seit kurzem, was in der Sonne und somit in allen anderen Sternen wirklich vor sich geht. Der Weg zu dieser Erkenntnis war wie so oft in der Wissenschaft von vielen kleineren und größeren Entdeckungen geprägt, die sich über viele Jahre hinweg Mosaiksteinchen für Mosaiksteinchen zu einem großen Bild zusammenfügten. Wenn man heute auf diese Zeit zurückblickt, ist es wirklich faszinierend, wie Schritt für Schritt die physikalischen Grundlagen über Sterne erforscht, erarbeitet, belegt und manchmal auch widerlegt wurden. Es muss eine spannende Zeit in der Physik gewesen sein, in der so viele, heute selbstverständliche Konzepte der Naturwissenschaften entwickelt werden konnten.
Wir werden jetzt also »Mäuschen spielen« und uns in den Schreibstuben, Laboratorien und Observatorien verschiedener Physiker, Mathematiker und Astronomen des frühen neunzehnten Jahrhunderts verstecken und ihnen bei ihren Entdeckungen zuschauen. Denn zu dieser Zeit wurden die ersten wichtigen theoretischen Hintergründe erkannt, die halfen herauszufinden, warum die Sonne denn nun Tag für Tag Licht und Wärme spendet.
Der lange Weg zur Lösung des Rätsels der Energiequelle der Sonne begann Anfang des 19. Jahrhundert mit Joseph Fraunhofer. Der deutsche Optiker entwickelte verschiedene optische Instrumente wie feingeschliffene Linsen, Prismen und auch Teleskope, um auf diese Weise systematische, spektroskopische Untersuchungen des Lichts durchführen zu können. Wie schon der Brite Isaac Newton um 1730 herausgefunden hatte, kann man das Farbgemisch, etwa das des Sonnenlichts, auffächern, wenn man es durch ein Prisma schickt. Auf einem Schirm hinter dem Prisma sieht man dann die im Licht enthaltenen Spektralfarben, das sogenannte Spektrum. Im Falle des Sonnenlichts also Rot, Orange, Gelb, Grün, Türkis und Blau. Ein Regenbogen ist ein natürliches Spektrum, bei dem die Regentropfen als Prisma wirken. Physikalisch entspricht den verschiedenen Farbeindrücken des Auges eine bestimmte Wellenlänge des Lichtes. So hat rotes Licht z.B. eine größere Wellenlänge als blaues Licht.
Um Licht mit einzelnen, ganz bestimmten Farben künstlich zu erzeugen, experimentierte der junge Fraunhofer mit verschiedenen Lichtquellen wie z.B. Feuer und 1814 auch mit Sonnenlicht. Dabei erkannte er, dass das Sonnenspektrum mit unzähligen stärkeren und schwächeren dunklen Linien »verziert« ist. Sie teilen das farbige Spektrum scheinbar in viele kleine Abschnitte auf, so als ob das Licht bei diesen Wellenlängen von irgendetwas »weggestohlen« würde. Abbildung 2.1 veranschaulicht solche Spektren. Er begann, diese vertikalen Linien und deren Wellenlängen akribisch zu katalogisieren, wobei er die am stärksten ausgeprägten Linien von A bis K durchbuchstabierte und schwächere Linien mit weiteren Kleinbuchstaben bezeichnete. Insgesamt identifizierte er auf diese Weise über 500 solcher Spektrallinien. Dank verbesserter Instrumente wissen wir heutzutage von vielen Tausenden dieser Linien im Sonnenspektrum.
Auch anderen Wissenschaftlern vor Fraunhofer, wie z.B. dem englischen Chemiker William Wollaston 1802, waren schon einige dieser dunklen Streifen im Spektrum des Sonnenlichts aufgefallen. Allerdings wurde zu jener Zeit solchen Beobachtungen noch keinerlei Beachtung geschenkt. Erst Fraunhofer erkannte, dass diese Linien eine Eigenschaft des Sonnenlichts darstellen, da er genau die gleichen Signaturen in den Spektren von Wolken, dem Mond oder von Planeten gefunden hatte. Da diese Objekte nicht selbständig leuchten und nur das Sonnenlicht reflektieren, musste es sich also um eine Charakteristik des Sonnenlichts handeln. Doch noch wusste niemand genau, wie diese Linien zu erklären sind. Die auch heute noch als »Fraunhofer’sche Linien« bezeichneten dunklen Streifen im Sonnenspektrum waren eine der fundamentalsten Entdeckungen der Naturwissenschaft.
Man kann sich diese Linien wie einen Barcode auf einer Kekspackung vorstellen. Auf engstem Raum ist eine erstaunliche Menge von Informationen verpackt, die an der Kasse entschlüsselt werden kann. Ein Sternspektrum gleicht nun diesem Keks-Barcode, und die Astronomen möchten natürlich alle Informationen, die in einem Spektrum verschlüsselt sind, vollständig entschlüsseln. Durch die Analyse seines Lichts, sozusagen also durch die Entschlüsselung seines spektralen Barcodes, kann sehr viel über einen Stern und seine Natur herausgefunden werden. Deswegen ist die Spektroskopie ein Hauptarbeitsgebiet in der Astronomie. Auch meine Arbeit zur chemischen Zusammensetzung von alten Sternen basiert auf spektroskopischen Beobachtungen.
Abb. 2.1: Spektren verschieden heißer Sterne. Die Fülle der dunklen Absorptionslinien hat schon Fraunhofer 1814 beobachtet. Annie Jump Cannon hat Spektren wie diese anhand ihrer Linienstärken klassifiziert, denn so werden sie am Teleskop aufgenommen. Die Spektralklassen (links) werden in Kapitel 2.3 und 7.2 beschrieben
Der Durchbruch, der schließlich zum Verständnis dieser Beobachtungen führte, sollte erst ca. 45 Jahre nach Fraunhofers Beschreibung der Spektrallinien im Sonnenspektrum gelingen. Um 1853 hatte der schwedische Physiker Anders Jonas Ångström verschiedene Theorien über das von Gasen ausgesendete Licht und deren Spektren vorgelegt. Ähnliche Arbeiten zu den spektralen Eigenschaften von Licht glühender Metalle sowie von verschiedenen Gasen wurden kurz darauf von dem Amerikaner David Alter veröffentlicht. Das neue Wissen fand langsam breitere Anerkennung, aber erst ab 1859 begann man allmählich, hinter die physikalischen Ursachen der Fraunhofer’schen Linien zu kommen.
Der deutsche Physiker Gustav Kirchhoff und der Chemiker Robert Bunsen konnten jetzt durch Laborversuche zeigen, dass einige der Fraunhofer’schen Linien bei genau den gleichen Wellenlängen auftreten wie die hellen Emissionslinien in Spektren von glühenden Metallen.
So lag der Schluss nahe, dass diejenigen Stoffe, deren Linien im Labor untersucht wurden, die gleichen waren, die auch in Sternen vorhanden sein mussten. Offenbar hatte jeder Stoff sein eigenes, unverwechselbares Muster von Spektrallinien. Diese Erkenntnis führte über die Spektroskopie zu den Entdeckungen der Elemente Cäsium (1860) und Rubidium (1861). Letztendlich konnten Kirchhoff und Bunsen daraus ableiten, dass die dunklen solaren Spektrallinien auf Absorption des Lichts durch die in der Sonnenatmosphäre vorhandenen chemischen Elemente zurückzuführen sind. Sie hatten sozusagen die »Fingerabdrücke« der Atome und damit die der einzelnen Elemente gefunden. Diese Erkenntnis war ein großartiger wissenschaftlicher Durchbruch, der Physik, Chemie und Astronomie für immer eng miteinander verknüpfte. Chemische Inhaltsanalysen von diversen Objekten sowohl auf der Erde als auch im Weltraum wurden jetzt möglich. Kirchhoff war dementsprechend auch der Erste, der die Spektren der bis dahin bekannten etwa dreißig Elemente im Detail mit dem Sonnenspektrum verglich. So fand er heraus, dass die Sonne mindestens aus Natrium, Kalzium, Magnesium, Chrom, Eisen und Nickel bestehen musste.
Kirchhoff führte zusammen mit Bunsen weitere fundamentale Arbeiten zur Spektroskopie durch. Unter anderem kombinierte er das bis dahin durch Ångström und Alter schon um 1855 gewonnene Wissen zur Strahlung von heißen Körpern und Gasen und deren Emissionsfähigkeiten mit seinen eigenen Entdeckungen und Erklärungen zur spektralen Absorption. Daraus resultierten Regeln, die auch heute noch erklären, in welchen Fällen ein kontinuierliches Spektrum oder eines mit Emissions- oder Absorptionslinien zu erwarten ist.
Ab 1863 begann der italienische Priester und Astronom Angelo Secchi, systematisch Sternspektren aufzunehmen und zu untersuchen. Ihm lag daran herauszufinden, ob die verschiedenen Sterne auch alle verschiedene Zusammensetzungen haben würden oder nicht. Damit erweiterte er die Arbeit Fraunhofers mit dem Sonnenspektrum auf die weit entfernten Sterne. Insgesamt analysierte er um die 4000 Spektren. So fand er heraus, dass sich alle Spektren aufgrund der Anzahl und Stärke ihrer Absorptionslinien, also den morphologischen Eigenschaften des Spektrums, in bestimmte Gruppen und Untergruppen einteilen lassen. Ganz speziell fand er fünf Gruppen von Spektren, die sehr häufig auftraten. So entwickelte er als Erster ein System zur Klassifikation von Sternspektren, die fünf sogenannten Secchi-Klassen.
Unter anderem erkannte er, dass breite Absorptionsbänder aufgrund von molekularem Kohlenstoff und Kohlenstoffradikalen in Sternspektren auftreten. Für diese speziellen Sterntypen führte er die Klasse der »Kohlenstoff-Sterne« ein, die bis heute beibehalten wurde. Sein gesamtes Klassifikationsschema spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in der Astronomie.
Aufgrund dieser entscheidenden Arbeiten war Secchi auch einer der ersten Astronomen, die mit Daten belegen konnten, dass die Sonne tatsächlich ein Stern genau wie alle anderen Sterne ist. Seit ca. 1860 spektroskopierten auch der reiche und an der Astronomie interessierte Engländer William Huggins und seine Frau Margaret mit dem eigenen Teleskop in London viele Sterne, Nebel und Galaxien. Sie waren die Ersten, die herausfanden, dass verschiedene kosmische Objekte unterschiedliche Spektren zeigen. Die Spektren einiger Nebel ähnelten eher den Emissionsspektren von Gasen, die Spektren von Galaxien eher denen von Sternen. Aus der Untersuchung ihrer Sternspektren schlossen sie, dass Sterne zwar oft unterschiedliche Spektren haben, sie aber alle aus den gleichen Elementen zusammengesetzt sind, nämlich aus den Elementen, aus denen auch die Sonne und die Erde bestehen. »Himmel« und »Erde« bestanden also aus der gleichen Materie – im Gegensatz zur fast zwei Jahrtausende lang für wahr gehaltenen Lehre Aristoteles’, wonach alles »oberhalb des Mondes« aus Äther bestehen sollte.
Um 1860 war auch der Engländer Norman Lockyer zunehmend von der Spektroskopie fasziniert. So konnte er selbst kosmische Objekte und deren Zusammensetzung mit seinem kleinen Teleskop von nur 16 cm Öffnung studieren. Wie auch dem Franzosen Pierre Jannsen fiel ihm 1868 eine bisher unbekannte, nicht identifizierte, relativ starke Linie im Spektrum der Sonnenkorona auf, die sich ganz in der Nähe der Fraunhofer’schen Natrium-D-Linien bei 588 nm im gelben Spektralbereich befand. Lockyer schlug dementsprechend vor, dass diese »gelbe« Linie auf ein noch unbekanntes Element in der Sonne zurückzuführen sei. Er benannte das Element nach dem griechischen Wort für Sonne (Helios) »Helium«. Auf der Erde wurde Helium, das zweitleichteste aller Elemente, erst ca. zehn Jahre später gefunden. Es ist ein schönes Beispiel dafür, wie die Sternspektroskopie die Entdeckung eines neuen Elements herbeiführte.
Der Schweizer Mathematiker Johann Balmer entdeckte 1885 dann noch, dass die vier starken Absorptionslinien von Wasserstoff, dem leichtesten Element, im sichtbaren Licht sowie anschließend schwächere im ultravioletten Bereich eine zusammenhängende Serie von Linien bilden. Deren Wellenlängen lassen sich durch eine einfache mathematische Formel beschreiben. Der Schwede Johannes Rydberg entwickelte unabhängig hiervon 1888 eine allgemeinere mathematische Beschreibung, die sich auch auf andere Linienserien des Wasserstoffs im ultravioletten und infraroten Bereich anwenden lässt. Die »Balmer«-Serie des Wasserstoffs wird auch heute so genannt, und mit der Rydberg-Formel können Wellenlängen der Linien des Wasserstoffs und weiterer Elemente leicht berechnet werden. Ganz generell sind die Wasserstofflinien in vielen Sternspektren die am stärksten ausgeprägten Linien in jedem Sternspektrum, so dass diese neuen Berechnungen wesentlich zur Interpretation der Spektren beigetragen haben.
Mit dem Aufkommen dieser neuen, ungeheuren Datenmengen zur Spektroskopie von Sternen und anderer Objekte war ein sehr wichtiger Schritt getan, nicht nur in der Astronomie und den Naturwissenschaften generell, sondern auch bezüglich des damaligen Weltbildes: Die Spektroskopie ermöglichte nun, fremde, weit entfernte Objekte am Himmel und deren Zusammensetzung zu studieren. Die Lichtanalyse war auf einmal in der Lage, diese Weiten scheinbar mühelos zu überbrücken. In diesem Sinne war man in die Lage versetzt worden, sich die Sterne vom Himmel zu holen.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts benutzte man die Spektrallinien schon fleißig zu Analyse- und Klassifikationszwecken – wie sie entstehen, war aber immer noch ein Rätsel. Es gab viele Phänomene, die immer neue Fragen aufwarfen: Warum hatte jedes chemische Element sein charakteristisches Muster an Spektrallinien? Warum erschienen manche Linien scharf, andere dagegen diffus? Eine ganze Reihe von Wissenschaftlern beschäftigte sich deshalb mit der Natur der Atome. Das Ergebnis waren verschiedenste neuartige Konzepte, die letztendlich zur Quantenmechanik führten.
Der Wunsch, die Natur der großen Sterne zu erklären, welche mit Hilfe der Spektroskopie ja nun zum Greifen nahe war, führte viele zeitgenössische Wissenschaftler in die entgegengesetzte Richtung, zu den kleinen Atomen. Die Zeit schien reif, sich der Frage zu stellen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«. So wendete sich schnell das Blatt: Nach den früheren Experimentatoren wie Fraunhofer traten bald die Theoretiker in den Vordergrund. Sie erforschten nun mit Köpfchen, Stift und Papier den sich vor ihnen auftuenden Mikrokosmos. Dies sollte auch Auswirkungen auf die Erforschung des Makrokosmos, also die Astronomie, haben.
Schon um 1890 herum hatte der deutsche Physiker Max Planck sich mit den Strahlungseigenschaften eines sogenannten »schwarzen Körpers« beschäftigt. Er fand heraus, dass ein solcher idealisierter Körper eine charakteristische Energieverteilung im Spektrum aussendet. Die Energieverteilung der Strahlung eines einige tausend Grad heißen schwarzen Körpers ähnelt der Energieverteilung eines Sterns. Die Energieabstrahlung eines schwarzen Körpers hat ein Maximum, das temperaturabhängig ist. Für einen etwa 6000 Kelvin heißen schwarzen Körper liegt dieses Maximum im grünen Spektralbereich, dort, wo auch die Sonne am meisten Energie abstrahlt und das menschliche Auge am empfindlichsten ist. Um die Energieverteilung dieser Strahlung beschreiben zu können, stellte er 1900 die außerordentliche Hypothese auf, dass bei jeglicher Interaktion zwischen Strahlung und Materie Energie nur in diskreten »Portionen« ausgetauscht werden könne. Er nannte diese Portionen »Quanten«. Dabei postulierte er, dass jedes Lichtquant eine bestimmte Energie hat, die proportional zur Strahlungsfrequenz des Lichts ist. So haben z.B. hochenergetische Quanten eine hohe Frequenz und dementsprechend eine kurze Wellenlänge.
Auf der Grundlage dieser Arbeiten entwickelte Albert Einstein Plancks Ideen weiter, um zu zeigen, dass elektromagnetische Wellen auch als Teilchen mit bestimmten Energiequanten beschrieben werden können. Indem auch Einstein das Licht als Teilchen und nicht als eine Welle beschrieb, konnte er 1905 zeigen, dass die neue Theorie mit experimentellen Daten zum »photoelektrischen Effekt« übereinstimmte. Bei diesem Effekt werden von einigen Materialien Elektronen ausgesendet, aber nur, wenn das Material mit Strahlung einer materialabhängigen Mindestenergie bestrahlt wurde. Solche Elektronen werden als Photoelektronen bezeichnet.
Einsteins Erklärung war folgende: Um ein Photoelektron freizusetzen, muss es eine bestimmte Mindestenergie aufnehmen. Erst dann kann es das Atom, an das es bisher gebunden war, verlassen. Die einzelnen Lichtteilchen der einfallenden Strahlung müssen daher diese Mindestenergie mit sich tragen: Ein Elektron im Atom absorbiert ein Photon und bekommt dessen Energie übertragen. Ein Teil der absorbierten Energie, die Mindestenergie, wird dazu verwendet, das Elektron aus dem Atom zu lösen. Eine eventuelle Restenergie wird in Bewegungsenergie des Elektrons umgesetzt. Energieärmere Strahlung mit größerer Wellenlänge als die für das Material charakteristische Grenzwellenlänge vermag keine Photoelektronen freizusetzen – die Elektronen bekämen nicht genug Energie übertragen, um den Atomverband zu verlassen. Damit hängt die Energie der Photoelektronen nur von der Energie der einfallenden Strahlung und nicht von ihrer Intensität ab. Diese von Planck und Einstein gefundene Quantelung der Energie in kleinste Portionen stand im Widerspruch zur bisherigen Vorstellung, dass Energie in beliebige Portionen teilbar sei.
Diese Erklärung führte bald zu einer Revolution in der Beschreibung von Phänomenen auf subatomaren Skalen. Einstein erhielt 1921 für seine Arbeiten zum Photoeffekt den Nobelpreis für Physik. Heute sind die Anwendungen für den Photoeffekt schon ganz alltäglich geworden, z.B. in Solarzellen oder in Sensoren für Digitalkameras.
Für Einstein und seine Zeitgenossen waren die Lehren aus dem Photoeffekt jedoch vollkommen neu und umwälzend. Licht war hier nicht wie in den bisher bekannten Experimenten als Welle aufgetreten, wie es der englische Physiker James Clark Maxwell um 1861 mit seinen Maxwell’schen Gleichungen beschrieben hatte. Der Photoeffekt ließ sich vielmehr am besten verstehen, wenn man annahm, dass die zum Herauslösen eines Elektrons nötige Energie durch ein Lichtteilchen übertragen wurde. Licht erscheint uns deswegen unter bestimmten experimentellen Umständen als Welle, unter anderen jedoch als Teilchen. Man spricht von einem Welle-Teilchen-Dualismus, der unserer alltäglichen Erfahrung völlig zu widersprechen scheint. Im Jahr 1924 zeigte der französische Physiker Louis-Victor de Broglie, dass der Welle-Teilchen-Dualismus für jegliche Art von Materie gilt, dass also z.B. auch Elektronen unter gewissen Umständen als Welle erscheinen können.
1905 war in vielerlei Hinsicht ein wichtiges Jahr für die Physik. In diesem seinem »Wunderjahr« veröffentlichte Einstein sage und schreibe vier wichtige Arbeiten, die das physikalische Verständnis der Welt veränderten und enorm vorantrieben. Die Erklärung des Photoeffekts war erst der Anfang. Als nächstes kam seine Erklärung zur Brown’schen Bewegung von Atomen und Molekülen in einer Flüssigkeit.
Gleichzeitig konnte er auf diese Weise indirekt erstmals die Existenz von Atomen nachweisen. Um 1900 war die genaue Natur der Atome nämlich noch unbekannt. Weiterhin beschäftigte sich Einstein mit verschiedenen Vorgängen aus der Klassischen Mechanik, wenn sie nahe oder bei Lichtgeschwindigkeit stattfinden. Diese Arbeit wurde schnell als Spezielle Relativitätstheorie bekannt. Sie half zudem auch, die verschiedenen Ergebnisse zu den Versuchen des Äthernachweises zu verstehen. So wurde zum ersten Mal postuliert, dass die Lichtgeschwindigkeit eine konstante Größe sei.
Schließlich formulierte Einstein noch die Äquivalenz von Masse und Energie. Sie beschreibt ganz allgemein, dass die Masse eines Körpers gleichzeitig auch ein Maß für seine Energie ist. Einstein zeigte also, dass jedes Teilchen eine »Ruhe-Energie« zusätzlich zu seiner kinetischen und potentiellen Energie hat. Dementsprechend dürfen masselose Teilchen auch keine Ruheenergie besitzen. Einstein hatte so die berühmte Formel E = mc2 aus der Speziellen Relativitätstheorie abgeleitet, die in dieser Form für Materie in Ruhe gilt. »E« steht für die interne Energie eines ruhenden Körpers, die dem Produkt der Ruhe-Masse »m« mal der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum »c« zum Quadrat entspricht. Die Lichtgeschwindigkeit ist hierbei aber lediglich ein Faktor, um die physikalische Einheit einer Masse mit der einer Energie in Einklang zu bringen. Die relativistische Form sieht ein wenig komplizierter aus, da dann die relativistischen Massen und Energien berücksichtigt werden müssen.
Schon lange vorher hatte Max Planck vorhergesagt, dass ein gebundenes System weniger Masse als die Summe seiner Einzelteile haben würde, nachdem die Bindungsenergie abgegeben worden sei. Planck dachte dabei wahrscheinlich an chemische Reaktionen, bei denen aber die Bindungsenergie zu niedrig ist, um gemessen werden zu können. Chemische Reaktionen waren zu dieser Zeit oft Vorbild für die noch weniger bekannten physikalischen Prozesse. Einstein schlug dann vor, dass radioaktives Material wie z.B. Radium eventuell einen Test seiner Theorie ermöglichen könnte. Aber auch Radium strahlte nicht genügend stark für ein erfolgreiches Experiment. So gab es um 1905 noch keinerlei Möglichkeiten, Einsteins Aussage experimentell zu bestätigen. Erst mit der Entdeckung des Antiteilchens Positron konnte 1932 gezeigt werden, dass die gesamte Masse eines Materie-Antimaterie-Paares komplett in Energie umgewandelt werden kann. Die Erkenntnis der Äquivalenz von Masse und Energie hatte auch eine fundamentale Bedeutung für die Frage, warum die Sterne leuchten.
Der Däne Niels Bohr führte 1913 ein neues, ausgeklügeltes Modell zur Beschreibung des Atoms und dessen Struktur ein. Das war der nächste wichtige Schritt, um der Natur der Atome auf die Spur zu kommen, wusste man doch seit Einsteins Arbeiten von 1905 endlich, dass es Atome auch tatsächlich gab. Nach der Aufstellung der Quantentheorie des Lichts wollte Bohr vor allem das Wasserstoffatom und seine Eigenschaften verstehen. So entwickelte er ein Modell für das einfachste aller Atome, welches er später für schwerere Atome zu einem Schalen-Modell erweiterte. Dazu hatte er das um 1911 von dem englischen Physiker Ernest Rutherford vorgeschlagene Atommodell mit dem Konzept der Lichtquanten von Planck zusammengeführt. Rutherford hatte als Erster angenommen, dass ein Atom aus einem positiv geladenen Kern besteht, das von einer entsprechenden Anzahl negativ geladener Elektronen umkreist wird, um nach außen elektrisch neutral zu erscheinen. Das Elektron und seine negative Ladung waren nämlich schon seit 1897 bekannt. Allerdings führte die klassische Beschreiburg Rutherfords letztendlich zu instabilen Atomen.
Das neue Atommodell, oft auch Rutherford-Bohr-Modell genannt, beschreibt heute noch, wenn auch in vereinfachter Weise, Atome mit nur einem Elektron wie z.B. Wasserstoff. Der Erfolg lag darin, dass die seit einiger Zeit bekannten experimentellen Ergebnisse die Rydberg-Formel zur Beschreibung der Wellenlängen von Wasserstofflinien in Spektren endlich theoretisch erklären konnten. Bohrs Vorschlag war, dass negativ geladene Elektronen den positiv geladenen Atomkern wie die Planeten die Sonne umkreisen würden. Allerdings würde dabei nicht die Gravitation das System zusammenhalten, sondern die elektrostatische Kraft. Eine solche Atomkonfiguration ist in Abbildung 2.2 dargestellt. Zum ersten Mal konnte eine ganze Reihe von schon bekannten Eigenschaften von Atomen durch ein recht umfassendes Modell erklärt werden. Daraus konnte man für schwerere Atome folgern, dass aufgrund der größeren positiven Kernladung auch mehr Elektronen vorhanden sein müssten, um das Atom elektrisch neutral zu halten. Bohrs neuartige Idee war, dass jede Schale nur eine bestimmte Anzahl von Elektronen aufnehmen könne. Wenn eine Schale mit Elektronen voll wäre, müsste eine weitere Schale besetzt werden. Daraus entwickelte sich das Schalenmodell, welches viele Eigenschaften der Elemente des Periodensystems erklärte wie z.B. die zunehmende Größe der Atome von links nach rechts im Periodensystem oder die chemische Trägheit der Edelgase mit ihren komplett gefüllten äußeren Schalen. Die Anzahl der Elektronen in den äußeren Schalen der Atome sagte jetzt etwas über die spektralen und chemischen Eigenschaften des jeweiligen Elements aus.
Abb. 2.2: Das Rutherford-Bohr Modell für das Wasserstoffatom (mit Kernladungszahl Z = 1) oder für ein wasserstoffähnliches Atom mit Z >12656