Arthur Schopenhauer
Aphorismen zur Lebensweisheit
Fischer e-books
Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Philosophen Lexikon.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2010
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ISBN 978-3-10-401190-5
Die Natur hat, in ihren Tagen, seltsame Käuze hervorgebracht. Einige, die stets aus ihren Äugelein vergnügt hervorgucken und, wie Papageien über einen Dudelsackspieler lachen, und andere von so sauertöpfischem Ansehn, dass sie ihre Zähne nicht durch ein Lächeln bloß legen, wenn auch Nestor selbst schwüre, der Spaß sei lachenswert.
Die Natur steigert sich fortwährend, zunächst vom mechanischen und chemischen Wirken des unorganischen Reiches zum Vegetabilischen und seinem dumpfen Selbstgenuss, von da zum Tierreich, mit welchem die Intelligenz und das Bewusstsein anbricht und nun von schwachen Anfängen stufenweise immer höher steigt und endlich durch den letzten und größten Schritt bis zum Menschen sich erhebt, in dessen Intellekt also die Natur den Gipfelpunkt und das Ziel ihrer Produktionen erreicht, also das Vollendeteste und Schwierigste liefert, was sie hervorzubringen vermag. Selbst innerhalb der menschlichen Spezies aber stellt der Intellekt noch viele und merkliche Abstufungen dar und gelangt höchst selten zur obersten, der eigentlich hohen Intelligenz. Diese nun also ist im engern und strengern Sinne das schwierigste und höchste Produkt der Natur mithin das Seltenste und Werthvollste, was die Welt aufzuweisen hat. In einer solchen Intelligenz tritt das klarste Bewusstsein ein und stellt demgemäß die Welt sich deutlicher und vollständiger, als irgend wo dar. Der damit Ausgestattete besitzt demnach das Edelste und Köstlichste auf Erden und hat dem entsprechend eine Quelle von Genüssen, gegen welche alle Übrigen gering sind; so dass er von außen nichts weiter bedarf, als nur die Muße, sich dieses Besitzes ungestört zu erfreuen und seinen Diamanten auszuschleifen. – Denn alle andern, also nicht intellektuellen Genüsse sind niedrigerer Art: Sie laufen sämtlich auf Willensbewegungen hinaus, also auf Wünschen, Hoffen, Fürchten und Erreichen, gleichviel auf was es gerichtet sei, wobei es nie ohne Schmerzen abgehn kann, und zudem mit dem Erreichen, in der Regel, mehr oder weniger Enttäuschung eintritt, statt dass bei den intellektuellen Genüssen die Wahrheit immer klarer wird. Im Reiche der Intelligenz waltet kein Schmerz, sondern alles ist Erkenntnis. Alle intellektuellen Genüsse sind nun aber jedem nur vermittelst und also nach Maßgabe seiner eigenen Intelligenz zugänglich: denn tout l’esprit, qui est au monde, est inutile à celui qui n ’en a point. [Aller Geist auf der Welt hilft dem nichts, der selbst keinen hat.] Ein wirklicher jenen Vorzug begleitender Nachteil aber ist, dass, in der ganzen Natur, mit dem Grad der Intelligenz die Fähigkeit zum Schmerze sich steigert, also ebenfalls erst hier ihre höchste Stufe erreicht.
Die Vulgarität besteht im Grunde darin, dass im Bewusstsein das Wollen das Erkennen gänzlich überwiegt, womit es den Grad erreicht, dass durchaus nur zum Dienste des Willens das Erkennen eintritt, folglich wo dieser Dienst es nicht heischt, also eben keine Motive, weder große noch kleine, vorliegen, das Erkennen ganz cessirt, folglich völlige Gedankenleere eintritt. Nun ist aber erkenntnisloses Wollen das Gemeinste, was es gibt: Jeder Klotz Holz hat es und zeigt es wenigstens wenn er fällt. Daher macht jener Zustand die Vulgarität aus. In demselben bleiben bloß die Sinneswerkzeuge und die geringe, zur Apprehension ihrer Data erforderte Verstandestätigkeit aktiv, in Folge wovon der vulgäre Mensch allen Eindrücken beständig offen steht, also alles was um ihn herum vorgeht augenblicklich wahrnimmt, so dass der leiseste Ton und jeder, auch noch so geringfügige Umstand seine Aufmerksamkeit sogleich erregt, eben wie bei den Tieren. Dieser ganze Zustand wird in seinem Gesicht und ganzen Äußern sichtbar, – woraus dann das vulgäre Ansehn hervorgeht, dessen Eindruck umso widerlicher ist, wann, wie meistens, der hier das Bewusstsein allein erfüllende Wille ein niedriger, egoistischer und überhaupt schlechter ist.
Die höchsten Stände, in ihrem Glanz, in ihrer Pracht und Prunk und Herrlichkeit und Repräsentation jeder Art können sagen: Unser Glück liegt ganz außerhalb unserer Selbst: Sein Ort sind die Köpfe anderer.
Scire tuum nihil est, nisi te scire hoc sciat alter. [Wertlos ist, was du weißt, wenn nicht auch andere wissen, dass du es weißt.]
Die ritterliche Ehre ist ein Kind des Hochmuts und der Narrheit. (Die ihr entgegengesetzte Wahrheit spricht am schärfsten el principe constante aus in den Worten: »esa es la herencia de Adan« [»Dieses ist das Erbteil Adams«; aus Calderóns »Standhaftem Prinzen«]. Sehr auffallend ist es, dass dieser Superlativ alles Hochmuts sich allein und ausschließlich unter den Genossen derjenigen Religion findet, welche ihren Anhängern die äußerste Demut zur Pflicht macht; da weder frühere Zeiten noch andere Weltteile jenes Prinzip der ritterlichen Ehre kennen. Dennoch darf man dasselbe nicht der Religion zuschreiben, vielmehr dem Feudalwesen, bei welchem jeder Edele sich als einen kleinen Souverän, der keinen menschlichen Richter über sich erkannte, ansah und sich daher eine völlige Unverletzlichkeit und Heiligkeit der Person beilegen lernte, daher ihm jedes Attentat gegen dieselbe, also jeder Schlag und jedes Schimpfwort, ein todeswürdiges Verbrechen schien. Demgemäß waren das Ehrenprinzip und die Duelle ursprünglich nur Sache des Adels und in Folge davon in späteren Zeiten der Offiziere, denen sich nachher hin und wieder, wiewohl nie durchgängig, die andern höhern Stände anschlossen, um nicht weniger zu gelten. Wenn auch die Duelle aus den Ordalien hervorgegangen sind; so sind diese doch nicht der Grund, sondern die Folge und Anwendung des Ehrenprinzips: Wer keinen menschlichen Richter erkennt appelliert an den göttlichen. Die Ordalien selbst aber sind nicht dem Christentum eigen, sondern finden sich auch im Hinduismus sehr stark, zwar meistens in älterer Zeit: doch Spuren davon auch noch jetzt. –
Vingt ou trente coups de canne sur le derrière, c’est, pour ainsi dire, le pain quotidien des Chinois. C’est une correction paternelle du mandarin, laquelle n’a rien d’infamant, et qu’ils reçoivent avec action de grâces. [Zwanzig oder dreißig Schläge auf den Hintern sind sozusagen das tägliche Brot der Chinesen. Es ist eine väterliche Zurechtweisung des Mandarinen, die nichts Schimpfliches auf sich hat und die man mit Dank entgegennimmt.] – Lettres édifiantes et curieuses, édition de 1819. Vol. 11, p. 454.
Der eigentliche Grund, aus welchem die Regierungen scheinbar sich beeifern, das Duell zu unterdrücken und, während dies offenbar, zumal auf Universitäten, sehr leicht wäre, sich stellen, als wolle es ihnen nur nicht gelingen, scheint mir folgender zu sein: Der Staat ist nicht im Stande, die Dienste seiner Offiziere und Zivilbeamten mit Gelde zum Vollen zu bezahlen; daher lässt er die andere Hälfte ihres Lohnes in der Ehre bestehn, welche repräsentiert wird durch Titel, Uniformen und Orden. Um nun diese ideale Vergütung ihrer Dienste in hohem Kurse zu erhalten, muss das Ehrgefühl auf alle Weise genährt, geschärft, allenfalls etwas überspannt werden: Da aber zu diesem Zweck die bürgerliche Ehre nicht ausreicht, schon weil man sie mit jedem teilt; so wird die ritterliche Ehre zu Hilfe genommen und besagterweise aufrecht erhalten. In England, als wo Militär- und Zivil-Besoldungen sehr viel höher stehn, als auf dem Kontinent, ist die besagte Aushilfe nicht nötig: Daher eben ist daselbst, zumal in diesen letzten zwanzig Jahren, das Duell fast ganz ausgerottet, kommt jetzt höchst selten vor, und wird dann als eine Narrheit verlacht; gewiss hat die große Anti-duelling-society, welche eine Menge Lords, Admiräle und Generäle zu ihren Mitgliedern zählt, hiezu viel beigetragen, und der Moloch muss sich ohne seine Opfer behelfen.
Demnach ist es ein schlechtes Kompliment, wenn man, wie heutzutage Mode ist, Werke dadurch zu ehren vermeint, dass man sie Taten tituliert: Denn Werke sind wesentlich höherer Art. Eine Tat ist immer nur eine Handlung auf Motiv, mithin ein Einzelnes, Vorübergehendes, und ist ein dem allgemeinen und ursprünglichen Element der Welt, dem Willen, Angehöriges. Ein großes oder schönes Werk hingegen ist ein Bleibendes, weil von allgemeiner Bedeutung, und ist der Intelligenz entsprossen, der schuldlosen, reinen, dieser Willenswelt wie ein Duft entsteigenden.
Ein Vorteil des Ruhmes der Taten ist, dass er in der Regel sogleich eintritt, mit einer starken Explosion, oft so stark, dass sie in ganz Europa gehört wird; während der Ruhm der Werke langsam und allmählich eintritt, erst leise, dann immer lauter, und oft erst nach hundert Jahren seine ganze Stärke erreicht: Dann aber bleibt er, weil die Werke bleiben, bisweilen Jahrtausende hindurch. Jener andere hingegen wird, nachdem die erste Explosion vorüber ist, allmählich schwächer, Wenigeren bekannt und immer Wenigeren, bis er zuletzt nur noch in der Historie ein gespensterhaftes Dasein führt.
Da unser größtes Vergnügen darin besteht, bewundert zu werden, die Bewunderer aber, selbst wo alle Ursache wäre, sich ungern dazu herbeilassen; so ist der Glücklichste der, welcher, gleichviel wie, es dahin gebracht hat, sich selbst aufrichtig zu bewundern. Nur müssen die andern ihn nicht irre machen.
Wie unser Leib in die Gewänder, so ist unser Geist in Lügen verhüllt. Unser Reden, Tun, unser ganzes Wesen, ist lügenhaft: Und erst durch diese Hülle hindurch kann man bisweilen unsere wahre Gesinnung erraten, wie durch die Gewänder hindurch die Gestalt des Leibes.
Bekanntlich werden Übel dadurch erleichtert, dass man sie gemeinschaftlich erträgt: Zu diesen scheinen die Leute die Langeweile zu zählen; daher sie sich zusammensetzen, um sich gemeinschaftlich zu langweilen. Wie die Liebe zum Leben im Grunde nur Furcht vor dem Tode ist, so ist auch der Geselligkeitstrieb der Menschen im Grunde kein direkter, beruht nämlich nicht auf Liebe zur Gesellschaft, sondern auf Furcht vor der Einsamkeit, indem es nicht sowohl die holdselige Gegenwart der andern ist, die gesucht, als vielmehr die Öde und Beklommenheit des Alleinseins, nebst der Monotonie des eigenen Bewusstseins, die geflohen wird; welcher zu entgehn man daher auch mit schlechter Gesellschaft vorlieb nimmt, imgleichen das Lästige und den Zwang, den eine jede notwendig mit sich bringt, sich gefallen lässt. – Hat hingegen der Widerwille gegen dieses alles gesiegt und ist, in Folge davon, die Gewohnheit der Einsamkeit und die Abhärtung gegen ihren unmittelbaren Eindruck eingetreten, so dass sie die oben bezeichneten Wirkungen nicht mehr hervorbringt; dann kann man mit größter Behaglichkeit immerfort allein sein, ohne sich nach Gesellschaft zu sehnen; eben weil das Bedürfnis derselben kein direktes ist, und man andererseits sich jetzt an die wohltätigen Eigenschaften der Einsamkeit gewöhnt hat.
Im selben Sinne sagt Saadi, im Gulistan (S. die Übers. v. Graf, p. 65): »Seit dieser Zeit haben wir von der Gesellschaft Abschied genommen und uns den Weg der Absonderung vorgenommen: Denn die Sicherheit wohnt in der Einsamkeit.«
Der Neid der Menschen zeigt an, wie unglücklich sie sich fühlen; ihre beständige Aufmerksamkeit auf fremdes Tun und Lassen, wie sehr sie sich langweilen.
Der Schlaf ist ein Stück Tod, welches wir anticipando borgen und dafür das durch einen Tag erschöpfte Leben wieder erhalten und erneuern. Le sommeil est un emprunt fait à la mort [Der Schlaf ist ein erborgtes Stück Tod]. Der Schlaf borgt vom Tode zur Aufrechterhaltung des Lebens. Oder: Er ist der einstweilige Zins des Todes, welcher selbst die Kapitalabzahlung ist. Diese wird umso später eingefordert, je reichlichere Zinsen und je regelmäßiger sie gezahlt werden.
Bei manchem ist es am klügsten zu denken: »Ändern werde ich ihn nicht; also will ich ihn benutzen.«
Wenn in den Menschen, wie sie meistenteils sind, das Gute das Schlechte überwöge; so wäre es geratener, sich auf ihre Gerechtigkeit, Billigkeit, Dankbarkeit, Treue, Liebe oder Mitleid zu verlassen, als auf ihre Furcht: Weil es aber mit ihnen umgekehrt steht; so ist das Umgekehrte geratener.
Den Willen, kann man sagen hat der Mensch sich selbst gegeben: Denn der ist er selbst: Aber der Intellekt ist eine Ausstattung, die er vom Himmel erhalten hat, – d.h. vom ewigen, geheimnisvollen Schicksal und dessen Notwendigkeit, deren bloßes Werkzeug seine Mutter war.
Zum Vorwärtskommen in der Welt sind Freundschaften und Kameraderien bei Weitem das Hauptmittel. Nun aber große Fähigkeiten machen allemal stolz und dadurch wenig geeignet, denen zu schmeicheln, die nur geringe haben, ja, vor denen man deshalb die großen verhehlen und verleugnen soll. Entgegengesetzt wirkt das Bewusstsein nur geringer Fähigkeiten: Es verträgt sich vortrefflich mit der Demut, Leutseligkeit, Gefälligkeit und Respekt vor dem Schlechten, verschafft also Freunde und Gönner.
Das Gesagte gilt nicht bloß vom Staatsdienst, sondern auch von den Ehrenstellen, Würden, ja, dem Ruhm in der gelehrten Welt; so dass z.B. in den Akademien die liebe Mediokrität stets oben auf ist, Leute von Verdienst spät oder nie hineinkommen, und so bei allem.
Der Zufall hat bei allen menschlichen Dingen so großen Spielraum, dass wenn wir einer von ferne drohenden Gefahr gleich durch Aufopferungen vorzubeugen suchen, diese Gefahr oft durch einen unvorhergesehenen Stand, den die Dinge annehmen, verschwindet, und jetzt nicht nur die gebrachten Opfer verloren sind, sondern die durch sie herbeigeführte Veränderung nunmehr, beim veränderten Stande der Dinge, gerade ein Nachteil ist. Wir müssen daher in unseren Vorkehrungen nicht zu weit in die Zukunft greifen, sondern auch auf den Zufall rechnen und mancher Gefahr kühn entgegen sein, hoffend, dass sie, wie so manche schwarze Gewitterwolke, vorüberzieht.
So viele Anfälle von Freude und Gram habe ich schon empfunden, dass ich nie mehr vom ersten Anblicke des Anlasses zu einem von Beiden sogleich mich weibisch hinreißen lasse.
Im Alter versteht man besser die Unglücksfälle zu verhüten; in der Jugend, sie zu ertragen.
[Variante:] Im Alten Testament wird (Psalm 90, 10) die menschliche Lebensdauer auf 70 und, wenn es hoch kommt, 80 Jahre gesetzt, und, was mehr auf sich hat, Herodot (I, 32 und III, 22) sagt das selbe. Es ist aber doch falsch und ist bloß das Resultat einer rohen und oberflächlichen Auffassung der täglichen Erfahrung. Denn, wenn die natürliche Lebensdauer 70–80 Jahre wäre; so müssten die Leute zwischen 70 und 80 Jahren vor Alter sterben: Dies aber ist gar nicht der Fall: Sie sterben, wie die jüngeren, an Krankheiten; die Krankheit aber ist wesentlich eine Abnormität: Also ist dies nicht das natürliche Ende. Erst zwischen 90 und 100 Jahren sterben die Menschen, dann aber in der Regel, vor Alter, ohne Krankheit, ohne Todeskampf, ohne Röcheln, ohne Zuckung, bisweilen ohne zu erblassen; welches die Euthanasie heißt. Daher hat auch hier der Upanischad Recht, als welcher die natürliche Lebensdauer auf 100 Jahre setzt.
Denn, wenn man auch noch so lange lebt, hat man doch nie mehr inne, als die unteilbare Gegenwart: Die Erinnerung aber verliert täglich mehr durch Vergessenheit, als sie durch den Zuwachs gewinnt.
Die circa 60 seitdem noch hinzu entdeckten Planetoiden sind eine Neuerung, von der ich nichts wissen will. Ich mache es daher mit ihnen, wie mit mir die Philosophieprofessoren: Ich ignoriere sie; weil sie nicht in meinen Kram passen.
Viel’ Alte scheinen schon den Toten gleich:
WieBlei schwer, zähe, ungelenk und bleich.
Le bonheur n’est pas chose aisée: il est très difficile de le trouver en nous, et impossible de le trouver ailleurs.
[Das Glück ist keine leichte Sache: Es ist sehr schwer, es in uns selbst, und unmöglich, es anderswo zu finden.]
Chamfort.
Ich nehme den Begriff der Lebensweisheit hier gänzlich im immanenten Sinne, nämlich in dem der Kunst, das Leben möglichst angenehm und glücklich durchzuführen, die Anleitung zu welcher auch Eudämonologie genannt werden könnte: Sie wäre demnach die Anweisung zu einem glücklichen Dasein. Dieses nun wieder ließe sich allenfalls definieren als ein solches, welches, rein objektiv betrachtet, oder vielmehr (da es hier auf ein subjektives Urteil ankommt) bei kalter und reiflicher Überlegung, dem Nichtsein entschieden vorzuziehn wäre. Aus diesem Begriffe desselben folgt, dass wir daran hingen, seiner selbst wegen, nicht aber bloß aus Furcht vor dem Tode; und hieraus wieder, dass wir es von endloser Dauer sehn möchten. Ob nun das menschliche Leben dem Begriff eines solchen Daseins entspreche, oder auch nur entsprechen könne, ist eine Frage, welche bekanntlich meine Philosophie verneint; während die Eudämonologie die Bejahung derselben voraussetzt. Diese nämlich beruht eben auf dem angeborenen Irrtum, dessen Rüge das 49. Kapitel im 2. Bande meines Hauptwerks eröffnet. Um eine solche dennoch ausarbeiten zu können, habe ich daher gänzlich abgehn müssen von dem höheren, metaphysisch-ethischen Standpunkte, zu welchem meine eigentliche Philosophie hinleitet. Folglich beruht die ganze hier zu gebende Auseinandersetzung gewissermaßen auf einer Akkommodation, sofern sie nämlich auf dem gewöhnlichen, empirischen Standpunkte bleibt und dessen Irrtum festhält. Demnach kann auch ihr Wert nur ein bedingter sein, da selbst das Wort Eudämonologie nur ein Euphemismus ist. – Ferner macht auch dieselbe keinen Anspruch auf Vollständigkeit; teils weil das Thema unerschöpflich ist; teils weil ich sonst das von andern bereits Gesagte hätte wiederholen müssen.
Als in ähnlicher Absicht, wie gegenwärtige Aphorismen, abgefasst, ist mir nur das sehr lesenswerte Buch des Cardanus de utilitate ex adversis capienda erinnerlich, durch welches man also das hier Gegebene vervollständigen kann. Zwar hat auch Aristoteles dem 5. Kapitel des 1. Buches seiner Rhetorik eine kurze Eudämonologie eingeflochten: Sie ist jedoch sehr nüchtern ausgefallen. Benutzt habe ich diese Vorgänger nicht; da Kompilieren nicht meine Sache ist; und umso weniger, als durch dasselbe die Einheit der Ansicht verloren geht, welche die Seele der Werke dieser Art ist. – Im Allgemeinen freilich haben die Weisen aller Zeiten immer das Selbe gesagt, und die Toren, d.h. die unermessliche Majorität aller Zeiten, haben immer das Selbe, nämlich das Gegenteil getan: Und so wird es denn auch ferner bleiben. Darum sagt Voltaire: nous laisserons ce monde-ci aussi sot et aussi méchant que nous l’avons trouvé en y arrivant.
Aristoteles hat (Eth. Nicom. I,8) die Güter des menschlichen Lebens in drei Klassen geteilt, – die äußeren, die der Seele und die des Leibes. Hievon nun nichts, als die Dreizahl beibehaltend sage ich, dass was den Unterschied im Lose der Sterblichen begründet sich auf drei Grundbestimmungen zurückführen lässt. Sie sind:
1) Was einer ist: also, die Persönlichkeit, im weitesten Sinne. Sonach ist hierunter Gesundheit, Kraft, Schönheit, Temperament, moralischer Charakter, Intelligenz und Ausbildung derselben begriffen.
2) Was einer hat: also Eigentum und Besitz in jeglichem Sinne.
3) Was einer vorstellt: Unter diesem Ausdruck wird bekanntlich verstanden, was er in der Vorstellung anderer ist, also eigentlich wie er von ihnen vorgestellt wird. Es besteht demnach in ihrer Meinung von ihm, und zerfällt in Ehre, Rang und Ruhm.
Die unter der ersten Rubrik zu betrachtenden Unterschiede sind solche, welche die Natur selbst zwischen Menschen gesetzt hat; woraus sich schon abnehmen lässt, dass der Einfluss derselben auf ihr Glück, oder Unglück, viel wesentlicher und durchgreifender sein werde, als was die bloß aus menschlichen Bestimmungen hervorgehenden, unter den zwei folgenden Rubriken angegebenen Verschiedenheiten herbeiführen. Zu den echten persönlichen Vorzügen, dem großen Geiste, oder großen Herzen, verhalten sich alle Vorzüge des Ranges, der Geburt, selbst der königlichen, des Reichtums u.dgl. wie die Theater-Könige zu den wirklichen. Schon Metrodorus, der erste Schüler Epikurs, hat ein Kapitel überschrieben: περι του μειζονα εὶναι την παῤ ἡμας αἰτιαν προς εὐδαιμονιαν της ἐχ των πραγματων (Majorem esse causam ad felicitatem eam, quae est ex nobis, eâ, quae ex rebus oritur. – Vgl. Clemens Alex. Strom. II, 21, p. 362 der Würzburger Ausgabe der opp. polem). Und allerdings ist für das Wohlsein des Menschen, ja, für die ganze Weise seines Daseins, die Hauptsache offenbar das, was in ihm selbst besteht, oder vorgeht. Hier nämlich liegt unmittelbar sein inneres Behagen, oder Unbehagen, als welches zunächst das Resultat seines Empfindens, Wollens und Denkens ist; während alles außerhalb Gelegene doch nur mittelbar darauf Einfluss hat. Daher affizieren die selben äußern Vorgänge, oder Verhältnisse, jeden ganz anders, und bei gleicher Umgebung lebt doch jeder in einer andern Welt. Denn nur mit seinen eigenen Vorstellungen, Gefühlen und Willensbewegungen hat er es unmittelbar zu tun: Die Außendinge haben nur, sofern sie diese veranlassen, Einfluss auf ihn. Die Welt, in der jeder lebt, hängt zunächst ab von seiner Auffassung derselben, richtet sich daher nach der Verschiedenheit der Köpfe: Dieser gemäß wird sie arm, schal und flach, oder reich, interessant und bedeutungsvoll ausfallen. Während z.B. mancher den andern beneidet um die interessanten Begebenheiten, die ihm in seinem Leben aufgestoßen sind, sollte er ihn vielmehr um die Auffassungsgabe beneiden, welche jenen Begebenheiten die Bedeutsamkeit verlieh, die sie in seiner Beschreibung haben: Denn dieselbe Begebenheit, welche in einem geistreichen Kopfe sich so interessant darstellt, würde, von einem flachen Alltagskopf aufgefasst, auch nur eine schale Szene aus der Alltagswelt sein. Im höchsten Grade zeigt sich dies bei manchen Gedichten Goethes und Byrons, denen offenbar reale Vorgänge zum Grunde liegen: Ein törichter Leser ist im Stande dabei den Dichter um die allerliebste Begebenheit zu beneiden, statt um die mächtige Phantasie, welche aus einem ziemlich alltäglichen Vorfall etwas so Großes und Schönes zu machen fähig war. Desgleichen sieht der Melancholikus eine Trauerspielszene, wo der Sanguinikus nur einen interessanten Konflikt und der Phlegmatikus etwas Unbedeutendes vor sich hat. Dies alles beruht darauf, dass jede Wirklichkeit, d.h. jede erfüllte Gegenwart, aus zwei Hälften besteht, dem Subjekt und dem Objekt, wiewohl in so notwendiger und enger Verbindung, wie Oxygen und Hydrogen im Wasser. Bei völlig gleicher objektiver Hälfte, aber verschiedener subjektiver, ist daher, so gut wie im umgekehrten Fall, die gegenwärtige Wirklichkeit eine ganz andere: die schönste und beste objektive Hälfte bei stumpfer, schlechter subjektiver, gibt doch nur eine schlechte Wirklichkeit und Gegenwart; gleich einer schönen Gegend in schlechtem Wetter, oder im Reflex einer schlechten Camera obscura. Oder planer zu reden: Jeder steckt in seinem Bewusstsein, wie in seiner Haut, und lebt unmittelbar nur in demselben: Daher ist ihm von außen nicht sehr zu helfen. Auf der Bühne spielt einer den Fürsten, ein anderer den Rat, ein dritter den Diener, oder den Soldaten, oder den General u.s.f. Aber diese Unterschiede sind bloß im Äußern vorhanden: Im Innern, als Kern einer solchen Erscheinung, steckt bei Allen das Selbe: ein armer Komödiant, mit seiner Plage und Not. Im Leben ist es auch so: Die Unterschiede des Ranges und Reichtums geben Jedem seine Rolle zu spielen; aber keineswegs entspricht dieser eine innere Verschiedenheit des Glücks und Behagens; sondern auch hier steckt in Jedem der selbe arme Tropf, mit seiner Not und Plage, die wohl dem Stoffe nach bei jedem eine andere ist, aber der Form, d.h. dem eigentlichen Wesen nach, so ziemlich bei allen die selbe; wenn auch mit Unterschieden des Grades, die sich aber keineswegs nach Stand und Reichtum, d.h. nach der Rolle richten. Weil nämlich alles, was für den Menschen da ist und vorgeht, unmittelbar immer nur in seinem Bewusstsein da ist und für dieses vorgeht; so ist offenbar die Beschaffenheit des Bewusstseins selbst das zunächst Wesentliche, und auf dieselbe kommt, in den meisten Fällen, mehr an, als auf die Gestalten, die darin sich darstellen. Alle Pracht und Genüsse, abgespiegelt im dumpfen Bewusstsein eines Tropfs, sind sehr arm, gegen das Bewusstsein des Cervantes, als er in einem unbequemen Gefängnisse den Don Quijote schrieb. – Die objektive Hälfte der Gegenwart und Wirklichkeit steht in der Hand des Schicksals und ist demnach veränderlich: Die subjektive sind wir selbst; daher sie im Wesentlichen unveränderlich ist. Demgemäß trägt das Leben jedes Menschen, trotz aller Abwechslung von außen, durchgängig den selben Charakter und ist einer Reihe Variationen auf ein Thema zu vergleichen. Aus seiner Individualität kann keiner heraus. Und wie das Tier, unter allen Verhältnissen, in die man es setzt, auf den engen Kreis beschränkt bleibt, den die Natur seinem Wesen unwiderruflich gezogen hat, weshalb z.B. unsere Bestrebungen, ein geliebtes Tier zu beglücken, eben wegen jener Grenzen seines Wesens und Bewusstseins, stets innerhalb enger Schranken sich halten müssen; – so ist es auch mit dem Menschen: Durch seine Individualität ist das Maß seines möglichen Glückes zum Voraus bestimmt. Besonders haben die Schranken seiner Geisteskräfte seine Fähigkeit für erhöhten Genuss ein für alle Mal festgestellt. Sind sie eng, so werden alle Bemühungen von außen, alles was Menschen, alles was das Glück für ihn tut, nicht vermögen, ihn über das Maß des gewöhnlichen, halb tierischen Menschenglücks und Behagens hinaus zu führen: Auf Sinnengenuss, trauliches und heiteres Familienleben, niedrige Geselligkeit und vulgären Zeitvertreib bleibt er angewiesen: Sogar die Bildung vermag im Ganzen, zur Erweiterung jenes Kreises, nicht gar viel, wenngleich etwas. Denn die höchsten, die mannigfaltigsten und die anhaltendesten Genüsse sind die geistigen; wie sehr auch wir, in der Jugend, uns darüber täuschen mögen; diese aber hängen hauptsächlich von der angeborenen Kraft ab. Hieraus also ist klar, wie sehr unser Glück abhängt von Dem, was wir sind, von unsrer Individualität; während man meistens nur unser Schicksal, nur das, was wir haben, oder was wir vorstellen, in Anschlag bringt. das Schicksal aber kann sich bessern: Zudem wird man, bei innerm Reichtum, von ihm nicht viel verlangen: Hingegen ein Tropf bleibt ein Tropf, ein stumpfer Klotz ein stumpfer Klotz, bis an sein Ende, und wäre er im Paradiese und von Huris umgeben. Deshalb sagt Goethe:
Volk und Knecht und Überwinder,
Sie gestehn, zu jeder Zeit,
Höchstes Glück der Erdenkinder
Sei nur die Persönlichkeit.
W. Ö. Divan.
Dass für unser Glück und unsern Genuss das Subjektive ungleich wesentlicher, als das Objektive sei, bestätigt sich in Allem: Von dem an, dass Hunger der beste Koch ist und der Greis die Göttin des Jünglings gleichgültig ansieht, bis hinauf zum Leben des Genies und des Heiligen. Besonders überwiegt die Gesundheit alle äußern Güter so sehr, dass wahrlich ein gesunder Bettler glücklicher ist, als ein kranker König. Ein aus vollkommener Gesundheit und glücklicher Organisation hervorgehendes, ruhiges und heiteres Temperament, ein klarer, lebhafter, eindringender und richtig fassender Verstand, ein gemäßigter, sanfter Wille und demnach ein gutes Gewissen, dies sind Vorzüge, die kein Rang oder Reichtum ersetzen kann. Denn was einer für sich selbst ist, was ihn in die Einsamkeit begleitet und was keiner ihm geben, oder nehmen kann, ist offenbar für ihn wesentlicher, als alles, was er besitzen, oder auch was er in den Augen anderer sein mag. Ein geistreicher Mensch hat, in gänzlicher Einsamkeit, an seinen eigenen Gedanken und Phantasien vortreffliche Unterhaltung, während von einem Stumpfen die fortwährende Abwechselung von Gesellschaften, Schauspielen, Ausfahrten und Lustbarkeiten, die marternde Langeweile nicht abzuwehren vermag. Ein guter, gemäßigter, sanfter Charakter kann unter dürftigen Umständen zufrieden sein; während ein begehrlicher, neidischer und böser es bei allem Reichtum nicht ist. Nun aber gar dem, welcher beständig den Genuss einer außerordentlichen, geistig eminenten Individualität hat, sind die meisten der allgemein angestrebten Genüsse ganz überflüssig, ja, nur störend und lästig. Daher sagt Horaz von sich:
Gemmas, marmor, ebur, Tyrrhena sigilla, tabellas,
Argentum, vestes Gaetulo murice tinctas,
Sunt qui non habeant, est qui non curat habere;
und Sokrates sagte, beim Anblick zum Verkauf ausgelegter Luxusartikel: »Wie Vieles gibt es doch, was ich nicht nötig habe.«
Für unser Lebensglück ist demnach das, was wir sind, die Persönlichkeit, durchaus das Erste und Wesentlichste; – schon weil sie beständig und unter allen Umständen wirksam ist: Zudem aber ist sie nicht, wie die Güter der zwei andern Rubriken, dem Schicksal unterworfen, und kann uns nicht entrissen werden. Ihr Wert kann insofern ein absoluter heißen, im Gegensatz des bloß relativen der beiden andern. Hieraus nun folgt, dass dem Menschen von außen viel weniger beizukommen ist, als man wohl meint. Bloß die allgewaltige Zeit übt auch hier ihr Recht: Ihr unterliegen allmählich die körperlichen und die geistigen Vorzüge: Der moralische Charakter allein bleibt auch ihr unzugänglich. In dieser Hinsicht hätten denn freilich die Güter der zwei letztern Rubriken, als welche die Zeit unmittelbar nicht raubt, von denen der Ersten einen Vorzug. Einen Zweiten könnte man darin finden, dass sie, als im Objektiven gelegen, ihrer Natur nach, erreichbar sind und Jedem wenigstens die Möglichkeit vorliegt, in ihren Besitz zu gelangen; während hingegen das Subjektive gar nicht in unsere Macht gegeben ist, sondern, jure divino eingetreten, für das ganze Leben unveränderlich fest steht; so dass hier unerbittlich der Ausspruch gilt:
Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen,
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
Goethe.
Das Einzige, was in dieser Hinsicht in unserer Macht steht, ist, dass wir die gegebene Persönlichkeit zum möglichsten Vorteile benutzen, demnach nur die ihr entsprechenden Bestrebungen verfolgen und uns um die Art von Ausbildung bemühen, die ihr gerade angemessen ist, jede andere aber meiden, folglich den Stand, die Beschäftigung, die Lebensweise wählen, welche zu ihr passen.
Ein herkulischer, mit ungewöhnlicher Muskelkraft begabter Mensch, der durch äußere Verhältnisse genötigt ist, einer sitzenden Beschäftigung, einer kleinlichen, peinlichen Handarbeit, obzuliegen, oder auch Studien und Kopfarbeiten zu treiben, die ganz anderartige, bei ihm zurückstehende Kräfte erfordern, folglich gerade die bei ihm ausgezeichneten Kräfte unbenutzt zu lassen, der wird sich zeitlebens unglücklich fühlen; noch mehr aber der, bei dem die intellektuellen Kräfte sehr überwiegend sind, und der sie unentwickelt und ungenutzt lassen muss, um ein gemeines Geschäft zu treiben, das ihrer nicht bedarf, oder gar körperliche Arbeit, zu der seine Kraft nicht recht ausreicht. Jedoch ist hier, zumal in der Jugend, die Klippe der Präsumtion zu vermeiden, dass man sich nicht ein Übermaß von Kräften zuschreibe, welches man nicht hat.
Aus dem entschiedenen Übergewicht unsrer ersten Rubrik über die beiden andern geht aber auch hervor, dass es weiser ist, auf Erhaltung seiner Gesundheit und auf Ausbildung seiner Fähigkeiten, als auf Erwerbung von Reichtum hinzuarbeiten; was jedoch nicht dahin missdeutet werden darf, dass man den Erwerb des Nötigen und Angemessenen vernachlässigen sollte. Aber eigentlicher Reichtum, d.h. großer Überfluss, vermag wenig zu unserm Glück; daher viele Reiche sich unglücklich fühlen; weil sie ohne eigentliche Geistesbildung, ohne Kenntnisse und deshalb ohne irgend ein objektives Interesse, welches sie zu geistiger Beschäftigung befähigen könnte, sind. Denn was der Reichtum über die Befriedigung der wirklichen und natürlichen Bedürfnisse hinaus noch leisten kann, ist von geringem Einfluss auf unser eigentliches Wohlbehagen: Vielmehr wird dieses gestört durch die vielen und unvermeidlichen Sorgen, welche die Erhaltung eines großen Besitzes herbeiführt. Dennoch aber sind die Menschen tausend Mal mehr bemüht, sich Reichtum, als Geistesbildung zu erwerben; während doch ganz gewiss was man ist, viel mehr zu unserm Glücke beiträgt, als was man hat. Gar manchen daher sehn wir, in rastloser Geschäftigkeit, emsig wie die Ameise, vom Morgen bis zum Abend bemüht, den schon vorhandenen Reichtum zu vermehren. Über den engen Gesichtskreis des Bereichs der Mittel hiezu hinaus kennt er nichts: Sein Geist ist leer, daher für alles andere unempfänglich. Die höchsten Genüsse, die geistigen, sind ihm unzugänglich: Durch die flüchtigen, sinnlichen, wenig Zeit, aber viel Geld kostenden, die er zwischendurch sich erlaubt, sucht er vergeblich jene andern zu ersetzen. Am Ende seines Lebens hat er dann, als Resultat desselben, wenn das Glück gut war, wirklich einen recht großen Haufen Geld vor sich, welchen noch zu vermehren, oder aber durchzubringen, er jetzt seinen Erben überlässt. Ein solcher, wiewohl mit gar ernsthafter und wichtiger Miene durchgeführter Lebenslauf ist daher ebenso töricht, wie mancher andere, der geradezu die Schellenkappe zum Symbol hatte.
Also was einer an sich selber hat ist zu seinem Lebensglücke das Wesentlichste. Bloß weil dieses, in der Regel, so gar wenig ist, fühlen die meisten von denen, welche über den Kampf mit der Not hinaus sind, sich im Grunde ebenso unglücklich, wie die, welche sich noch darin herumschlagen. Die Leere ihres Innern, das Fade ihres Bewusstseins, die Armut ihres Geistes treibt sie zur Gesellschaft, die nun aber aus eben solchen besteht; weil similis simili gaudet. Da wird dann gemeinschaftlich Jagd gemacht auf Kurzweil und Unterhaltung, die sie zunächst in sinnlichen Genüssen, in Vergnügungen jeder Art und endlich in Ausschweifungen suchen. Die Quelle der heillosen Verschwendung, mittelst welcher so mancher, reich ins Leben tretende Familiensohn, sein großes Erbteil, in oft unglaublich kurzer Zeit, durchbringt, ist wirklich keine andere, als nur die Langeweile, welche aus der eben geschilderten Armut und Leere des Geistes entspringt. So ein Jüngling war äußerlich reich, aber innerlich arm in die Welt geschickt und strebte nun vergeblich, durch den äußern Reichtum den innern zu ersetzen, indem er alles von außen empfangen wollte, – den Greisen analog, welche sich durch die Ausdünstung junger Mädchen zu stärken suchen. Dadurch führte denn am Ende die innere Armut auch noch die äußere herbei.
Die Wichtigkeit der beiden andern Rubriken der Güter des menschlichen Lebens brauche ich nicht hervorzuheben. Denn der Wert des Besitzes ist heutzutage so allgemein anerkannt, dass er keiner Empfehlung bedarf. Sogar hat die dritte Rubrik, gegen die zweite, eine sehr ätherische Beschaffenheit; da sie bloß in der Meinung anderer besteht. Jedoch nach Ehre, d.h. gutem Namen, hat jeder zu streben, nach Rang schon nur die, welche dem Staate dienen, und nach Ruhm gar nur äußerst Wenige. Indessen wird die Ehre als ein unschätzbares Gut angesehn, und der Ruhm als das Köstlichste, was der Mensch erlangen kann, das goldene Fließ der Auserwählten, hingegen den Rang werden nur Toren dem Besitze vorziehn. Die zweite und dritte Rubrik stehn übrigens in so genannter Wechselwirkung; sofern das habes, habeberis des Petronius seine Richtigkeit hat und, umgekehrt, die günstige Meinung anderer, in allen ihren Formen, oft zum Besitze verhilft.
Dass dieses zu seinem Glücke viel mehr beiträgt, als was er hat, oder was er vorstellt, haben wir bereits im Allgemeinen erkannt. Immer kommt es darauf an, was einer sei und demnach an sich selber habe: Denn seine Individualität begleitet ihn stets und überall, und von ihr ist alles tingiert, was er erlebt. In allem und bei allem genießt er zunächst nur sich selbst: Dies gilt schon von den physischen; wie viel mehr von den geistigen Genüssen. Daher ist das Englische to enjoy one’s self ein sehr treffender Ausdruck, mit welchem man z.B. sagt he enjoys himself at Paris, also nicht, »er genießt Paris«, sondern »er genießt sich in Paris«. – Ist nun aber die Individualität von schlechter Beschaffenheit; so sind alle Genüsse wie köstliche Weine in einem mit Galle tingierten Munde. Demnach kommt, im Guten wie im Schlimmen, schwere Unglücksfälle bei Seite gesetzt, weniger darauf an, was einem im Leben begegnet und widerfährt, als darauf, wie er es empfindet, also auf die Art und den Grad seiner Empfänglichkeit in jeder Hinsicht. Was einer in sich ist und an sich selber hat, kurz die Persönlichkeit und deren Wert, ist das alleinige Unmittelbare zu seinem Glück und Wohlsein. Alles andere ist mittelbar; daher auch dessen Wirkung vereitelt werden kann, aber die der Persönlichkeit nie. Darum eben ist der auf persönliche Vorzüge gerichtete Neid der unversöhnlichste, wie er auch der am sorgfältigsten verhehlte ist. Ferner ist allein die Beschaffenheit des Bewusstseins das Bleibende und Beharrende, und die Individualität wirkt fortdauernd, anhaltend, mehr oder minder in jedem Augenblick: Alles andere hingegen wirkt immer nur zuzeiten, gelegentlich, vorübergehend, und ist zudem auch noch selbst dem Wechsel und Wandel unterworfen: Daher sagt Aristoteles: ἡ γαρ ϕυσις βεβαια οὐ τα χρηματα (nam natura perennis est, non opes). Eth. Eud. VII, 2. Hierauf beruht es, dass wir ein ganz und gar von außen auf uns gekommenes Unglück mit mehr Fassung ertragen, als ein selbstverschuldetes: Denn das Schicksal kann sich ändern; aber die eigene Beschaffenheit nimmer. Demnach also sind die subjektiven Güter, wie ein edler Charakter, ein fähiger Kopf, ein glückliches Temperament, ein heiterer Sinn und ein wohlbeschaffener, völlig gesunder Leib, also überhaupt mens sana in corpore sano (Juvenal. Sat. X, 356), zu unserm Glücke die ersten und wichtigsten; weshalb wir auf die Beförderung und Erhaltung derselben viel mehr bedacht sein sollten, als auf den Besitz äußerer Güter und äußerer Ehre.
Was nun aber, von jenen allen, uns am unmittelbarsten beglückt, ist die Heiterkeit des Sinnes: Denn diese gute Eigenschaft belohnt sich augenblicklich selbst. Wer eben fröhlich ist hat allemal Ursach es zu sein: Nämlich eben diese, dass er es ist. Nichts kann so sehr, wie diese Eigenschaft, jedes andere Gut vollkommen ersetzen; während sie selbst durch nichts zu ersetzen ist. Einer sei jung, schön, reich und geehrt; so fragt sich, wenn man sein Glück beurteilen will, ob er dabei heiter sei: Ist er hingegen heiter; so ist es einerlei, ob er jung oder alt, gerade oder pucklich, arm oder reich sei; er ist glücklich. In früher Jugend machte ich ein Mal ein altes Buch auf, und da stand: »wer viel lacht ist glücklich, und wer viel weint ist unglücklich«, – eine sehr einfältige Bemerkung, die ich aber, wegen ihrer einfachen Wahrheit doch nicht habe vergessen können, so sehr sie auch der Superlativ eines truism’s ist. Dieserwegen also sollen wir der Heiterkeit, wann immer sie sich einstellt, Tür und Tor öffnen: Denn sie kommt nie zur unrechten Zeit; statt dass wir oft Bedenken tragen, ihr Eingang zu gestatten, indem wir erst wissen wollen, ob wir denn auch wohl in jeder Hinsicht Ursach haben, zufrieden zu sein; oder auch, weil wir fürchten, in unsern ernsthaften Überlegungen und wichtigen Sorgen dadurch gestört zu werden: Allein was wir durch diese bessern ist sehr ungewiss; hingegen ist Heiterkeit unmittelbarer Gewinn. Sie allein ist gleichsam die bare Münze des Glückes und nicht, wie alles Andere, bloß der Bankzettel, weil nur sie unmittelbar in der Gegenwart beglückt; weshalb sie das höchste Gut ist für Wesen, deren Wirklichkeit die Form einer unteilbaren Gegenwart zwischen zwei unendlichen Zeiten hat. Demnach sollten wir die Erwerbung und Beförderung dieses Gutes jedem andern Trachten vorsetzen. Nun ist gewiss, dass zur Heiterkeit nichts weniger beiträgt, als Reichtum, und nichts mehr, als Gesundheit: In den niedrigen, arbeitenden, zumal das Land bestellenden Klassen, sind die heitern und zufriedenen Gesichter; in den reichen und vornehmen die verdrießlichen zu Hause. Folglich sollten wir vor allem bestrebt sein, uns den hohen Grad vollkommener Gesundheit zu erhalten, als dessen Blüte die Heiterkeit sich einstellt. Die Mittel hiezu sind bekanntlich Vermeidung aller Exzesse und Ausschweifungen, aller heftigen und unangenehmen Gemütsbewegungen, auch aller zu großen oder zu anhaltenden Geistesanstrengung, täglich zwei Stunden rascher Bewegung in freier Luft, viel kaltes Baden und ähnliche diätetische Maßregeln. Ohne tägliche gehörige Bewegung kann man nicht gesund bleiben: Alle Lebensprozesse erfordern, um gehörig vollzogen zu werden, Bewegung sowohl der Teile, darin sie vorgehn, als des Ganzen. Daher sagt Aristoteles mit Recht: δ βιος ὐν τη κινησει ἐστι. Das Leben besteht in der Bewegung und hat sein Wesen in ihr. Im ganzen Innern des Organismus herrscht unaufhörliche, rasche Bewegung: Das Herz, in seiner komplizierten doppelten Systole und Diastole, schlägt heftig und unermüdlich; mit 28 seiner Schläge hat es die gesamte Blutmasse durch den ganzen großen und kleinen Kreislauf hindurch getrieben; die Lunge pumpt ohne Unterlass wie eine Dampfmaschine; die Gedärme winden sich stets im motus peristalticus; alle Drüsen saugen und sezernieren beständig, selbst das Gehirn hat eine doppelte Bewegung mit jedem Pulsschlag und jedem Atemzug. Wenn nun hiebei, wie es bei der ganz und gar sitzenden Lebensweise unzähliger Menschen der Fall ist, die äußere Bewegung so gut wie ganz fehlt; so entsteht ein schreiendes und verderbliches Mißverhältnis zwischen der äußern Ruhe und dem innern Tumult. Denn sogar will die beständige innere Bewegung durch die äußere etwas unterstützt sein: Jenes Mißverhältnis aber wird dem analog, wenn, in Folge irgend eines Affekts, es in unserm Innern kocht, wir aber nach außen nichts davon sehn lassen dürfen. Sogar die Bäume bedürfen, um zu gedeihen, der Bewegung durch den Wind. Dabei gilt eine Regel, die sich am kürzesten lateinisch ausdrücken lässt: omnis motus, quo celerior, eo magis motus. – Wie sehr unser Glück von der Heiterkeit der Stimmung und diese vom Gesundheitszustande abhängt, lehrt die Vergleichung des Eindrucks, den die nämlichen äußeren Verhältnisse, oder Vorfälle, am gesunden und rüstigen Tage auf uns machen, mit dem, welchen sie hervorbringen, wann Kränklichkeit uns verdrießlich und ängstlich gestimmt hat. Nicht was die Dinge objektiv und wirklich sind, sondern was sie für uns, in unsrer Auffassung, sind, macht uns glücklich oder unglücklich: Dies eben besagt Epiktets ταρασσει τους ἀνϑρωπους οὐ τα πραγματα, ἀλλα τα περι των πραγματων δογματα (commovent homines non res, sed de rebus opiniones). Überhaupt aber beruhen 9/10 unsers Glückes allein auf der Gesundheit. Mit ihr wird alles eine Quelle des Genusses: Hingegen ist ohne sie kein äußeres Gut, welcher Art es auch sei, genießbar, und selbst die übrigen subjektiven Güter, die Eigenschaften des Geistes, Gemütes, Temperaments, werden durch Kränklichkeit herabgestimmt und sehr verkümmert. Demnach geschieht es nicht ohne Grund, dass man, vor allen Dingen, sich gegenseitig nach dem Gesundheitszustande befragt und einander sich wohl zu befinden wünscht: Denn wirklich ist dieses bei Weitem die Hauptsache zum menschlichen Glück. Hieraus aber folgt, dass die größte aller Torheiten ist, seine Gesundheit aufzuopfern, für was es auch sei, für Erwerb, für Beförderung, für Gelehrsamkeit, für Ruhm, geschweige für Wollust und flüchtige Genüsse: Vielmehr soll man ihr alles nachsetzen.
So viel nun aber auch zu der, für unser Glück so wesentlichen Heiterkeit die Gesundheit beiträgt, so hängt jene doch nicht von dieser allein ab: Denn auch bei vollkommener Gesundheit kann ein melancholisches Temperament und eine vorherrschend trübe Stimmung bestehn. Der letzte Grund davon liegt ohne Zweifel in der ursprünglichen und daher unabänderlichen Beschaffenheit des Organismus, und zwar zumeist in dem mehr oder minder normalen Verhältnis der Sensibilität zur Irritabilität und Reproduktionskraft. Abnormes Übergewicht der Sensibilität wird Ungleichheit der Stimmung, periodische übermäßige Heiterkeit und vorwaltende Melancholie herbeiführen. Weil nun auch das Genie durch ein Übermaß der Nervenkraft, also der Sensibilität, bedingt ist; so hat Aristoteles ganz richtig bemerkt, dass alle ausgezeichnete und überlegene Menschen melancholisch seien: παντές δσοι περιττοι γεγονασιν ἀνδρες, ἠ κατα ϕιλοσοϕιαν, ἠ πολιτικην, ἠ ποιησιν, ἠ τεχνας, αινονται μελαγχολικοι ὀντες (Probl. 30, 1). Ohne Zweifel ist dieses die Stelle, welche Cicero im Auge hatte, bei seinem oft angeführten Bericht: Aristoteles ait, omnes ingeniosos melancholicos esse (Tusc. I, 33). – Die hier in Betrachtung genommene, angeborene, große Verschiedenheit der Grund-Stimmung überhaupt aber hat Shakespeare sehr artig geschildert:
Nature has fram’d strange fellows in her time:
Some that will evermore peep through their eyes,
And laugh, like parrots, at a bag-piper;
And others of such vinegar aspect,
That they’ll not show their teeth in way of smile,
Though Nestor swear the jest be laughable.[1]
Merch. of Ven. Sc. I.
Eben dieser Unterschied ist es, den Plato