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Inhalt

Für alle, die es betrifft

Vorwort

Vorwort

von Peter T. Sawicki

Es wäre sicher für alle besser, wenn das Buch, das Sie gerade in den Händen halten, im Originaltitel »Good Pharma« hieße. Besser für die Patienten, besser für die Gesundheitssysteme und auch besser für die Mitarbeiter der pharmazeutischen Industrie, die viel arbeiten, eigentlich Gutes wollen und unter dem schlechten Image ihrer Branche leiden. Aber das Buch heißt in der englischen Ausgabe zu Recht »Bad Pharma« – leider. Und das ist notwendig, damit wir irgendwann – vielleicht – eine Änderung der Missstände erleben. Es ist eines der besten Bücher zu dem Thema der letzten Jahrzehnte, in denen sich – wiederum »leider« – nicht viel auf diesem Gebiet geändert hat. Und auch die Etablierung neuer positiver Strukturen im deutschen System, zum Beispiel des Institutes für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), vermochte hier keine Änderung herbeizuführen. Trotz der vielen Reformen im Gesundheitssektor: Es ist alles im Kern, wie es immer war, auch wenn man uns weismachen will, dass die Missstände überwunden und nun Geschichte sind. Man muss sich dabei den Autor Ben Goldacre als einen konstruktiven Pharmafreund vorstellen, der den langfristigen Bestand dieser Industrie und die zukünftige Entwicklung und Vermarktung nützlicher Medikamente im Auge hat; und dies geht nur mit ehrlicher, schonungsloser Kritik an derzeitigen Missständen und einem grundlegenden weltweiten Umbau dieses Sektors. Das Buch behandelt die richtigen Themen pointiert und wissenschaftlich korrekt; und dies mit guten Beispielen und so allgemeinverständlich, dass jeder, der sich mit dem Thema wirklich auseinandersetzen will, einen profunden und breiten Einblick erhält und damit selbst Experte werden kann. Zugegeben: Das Buch ist nicht kurz. Aber keine Seite, keine Zeile ist überflüssig: Das Thema ist umfangreich und komplex. Der Autor: ein junger, sympathischer und zu Recht empörter Arzt und Journalist, engagiert und überzeugt davon, dass eine bessere Medizin erreichbar ist – wenn wir es nur wirklich wollen.

Und wir sollten es wollen, denn von selbst wird sich nichts ändern, so wie sich in den letzten Jahrzehnten nichts Wesentliches auf diesem Gebiet geändert hat. Daher betrifft es uns alle – und es wird uns weiter betreffen. Und es gibt keine gesetzliche oder private Versicherung dagegen. Ob reich oder arm: Das Risiko, mit schlechten Medikamenten behandelt zu werden, ist für alle gleich.

Das Buch wird mit Sicherheit mediale Empörung auslösen. Vielleicht wird diese auch schnell wieder verpuffen. Vielleicht wird man in zwei, drei Jahren nach Erscheinen des Buches sagen: »Na ja, das ist ja Vergangenheit, Geschichte – so ist es nicht mehr, die Zeiten haben sich geändert.« Auch dann, wenn sich nichts zum Besseren geändert haben wird.

Warum gehen wir nach einem kurzen Erschrecken über die hier dargestellten Fälle und Zusammenhänge schon bald wieder zur Tagesordnung über? Warum hält der ansonsten gut informierte »Wutbürger« in diesem Fall so still? Warum tut die Politik nichts? Warum empören wir uns nicht dauerhaft, bis wir die hier beschriebenen unwidersprochenen und auf der Hand liegenden Fehler korrigiert haben? Warum zwingen uns einerseits die Gesetze, uns anzuschnallen, nicht passiv zu rauchen und beim Mofafahren einen Helm zu tragen – und warum kümmern sie sich andererseits so wenig um unsere Sicherheit, wenn wir Medikamente einnehmen? Ist es das Ausmaß der potenziellen Schädlichkeit? Wohl eher nicht. Ohne Helmpflicht für Mofafahrer, ohne Gurtpflicht und beim Aufenthalt in verrauchten Kneipen werden deutlich weniger Menschenleben gefährdet als durch unsichere Medikamente. Also wie kommt es, dass wir diesen behebbaren Missstand nicht ändern? Warum ist die Qualität der Arzneimittel kein Wahlkampfthema?

Betrachten wir die möglichen Ursachen dafür aus verschiedenen Blickwinkeln.

 

Die Pharmaindustrie: Sind die Verantwortlichen in den Pharmafirmen bösartig? Wollen sie wirklich Ärzte beeinflussen, Studienergebnisse manipulieren, den Nutzen übertreiben, aber Nebenwirkungen verschweigen und so den Patienten schaden? Dies kann ich nicht glauben. Es sind normale, engagierte Menschen wie wir alle, die aber durch die Umstände gezwungen werden, so zu handeln, wie sie handeln. Dadurch, dass manche es nicht aushalten und kündigen, ändert sich nichts: Ihr Platz wird durch neue Mitarbeiter ersetzt, die ganz genauso handeln müssen – denn die Umstände ändern sich nicht. Pharmafirmen müssen sich in unserem Wirtschaftssystem so verhalten, weil sie keine karitativen oder staatlichen Einrichtungen sind, sondern Aktiengesellschaften, die primär den Anteilseignern, die den Wert der Aktien mehren wollen, verpflichtet sind.

Sie müssen aber durchaus geltende Gesetze beachten. Die vorhandenen Gesetze belohnen aber solche Firmen nicht, die versuchen, sich einer verantwortungsbewussten Ethik im Sinne der Patienten und der Beitragszahler zu verpflichten – im Gegenteil: Die »Guten« stehen häufig wirtschaftlich im Abseits, sind benachteiligt und werden von den reicheren »Schlechten« übernommen – und alle guten Vorsätze verpuffen. »Good Pharma« werden zu wollen, bietet auf dem Arzneimittelmarkt keinerlei Vorteile. Hier müsste der Gesetzgeber zumindest für Chancengleichheit im Wettbewerb zwischen »good« und »bad« Pharma sorgen.

Und auch die Forderung an die Pharmaindustrie nach Objektivität ist in der Realität nicht erfüllbar. Die Arzneimittelhersteller sind sui generis parteiisch, müssen es sein und werden es auch bleiben. Und selbst wenn es nicht um Geld, Gewinn und um Milliarden-Investitionen ginge, könnte die Pharmaindustrie nicht objektiv sein: Denn ihrem Produkt gegenüber nimmt sie eine parteiische, quasi parental-beschützende Haltung ein. Zunächst erschaffen ihre Wissenschaftler eine Substanz oder finden sie zumindest in einem Universitätslabor, untersuchen sie weiter, knüpfen Hoffnungen für eine Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten oder gar eine Heilung an das neue Präparat. Sie arbeiten an und mit der Substanz jahre- und manchmal jahrzehntelang. Sie entwickeln eine Bindung, Sympathie, manchmal sogar eine Art Liebe für das neue Medikament – und der Tatsache, dass ihre Schöpfung Nachteile und Makel haben kann, begegnen sie daher mit Unverständnis, wirkungsvollen Verdrängungsmechanismen oder gar heller Empörung.

Ist die Zulassung erst einmal erreicht, knallen Champagnerkorken. Man feiert die neue Substanz wie ein Kind, das nach vielen Mühen endlich das Abitur geschafft hat. Dieses Ergebnis ihrer langfristigen Bemühungen können die Erzeuger doch gar nicht kritisch, objektiv und neutral betrachten, was aber für den Schutz der Patienten notwendig wäre. Und trotzdem sollen aufgrund unserer Gesetze die Hersteller-Eltern die Bewertungen für ihr Medikamenten-Kind schreiben. Das kann nicht gut gehen. So wenig wie wenn echte Eltern die Klassenarbeiten ihrer Kinder benoten würden. Diese Aufgabe muss von unabhängiger Seite durchgeführt werden, denn es geht hier nicht primär um das »Produkt-Kind«, sondern darum, was dieses Produkt mit den Patienten macht, die es verwenden. Es geht hier um die Sicherheit der Kranken und nicht um den Umsatz der Hersteller.

Die Bewertung von Arzneimitteln erfolgt heutzutage nach wissenschaftlichen Kriterien, die bestimmten Regeln unterliegen und eine möglichst objektive und patientenorientierte Beschreibung der Vor- und Nachteile von Medikamenten ermöglichen sollen. Diese Bewertungsmethode nennen wir seit einiger Zeit »evidenzbasierte Medizin«, und es ist sicherlich derzeit die beste Art und Weise, zu belastbaren Erkenntnissen im Gesundheitswesen zu gelangen. Leider ist aber die Methode der evidenzbasierten Medizin sehr verzerrungsanfällig. Einem geschickten Manipulator ist sie meist hoffnungslos ausgeliefert. Wenn man nur will und sich nicht allzu dumm anstellt, kann man die Studienergebnisse erhalten, die man sich wünscht.

Diese Methode wurde nicht gemacht für Hersteller, wurde nicht gemacht für jemanden, der sie vor allem benutzen will, um ein Produkt zu verkaufen. Sie setzt die Objektivität und die Unabhängigkeit derjenigen Wissenschaftler voraus, die die Studien planen und auswerten, und diese Voraussetzungen werden Mitarbeiter von Pharmafirmen nie erfüllen können. Grundlage der Wissenschaft ist die Falsifikation und die Skepsis. Als guter Wissenschaftler versucht man in Studien auf mehreren Wegen zu belegen, dass die eigene Hypothese nicht zutrifft. Und erst wenn dies nicht gelingt, nimmt man vorsichtig an, dass die Hypothese vielleicht stimmen könnte. Diesen Grundzugang zu wissenschaftlichen Studien haben die Wissenschaftler der Pharmaindustrie nicht: Sie wollen nicht falsifizieren, sie sind nicht skeptisch. Im Gegenteil: Sie wollen »positive« Ergebnisse ihrer Forschung, sie wollen zeigen, dass ihr Produkt gut wirkt und unschädlich ist. Und meist ist ihnen ihre eigene verzerrende Grundhaltung gar nicht bewusst, weswegen sie empört auf Vorwürfe der mangelhaften Objektivität reagieren. Aus diesen Gründen sind ihre Studienergebnisse schon a priori unsicher.

Man muss wissen: Früher war die Durchführung von Studien nicht Aufgabe der Pharmaindustrie. Erst seit dem Contergan-Skandal und den darauf folgenden Arzneimittelgesetzen wurden die Hersteller quasi vom Gesetzgeber »gezwungen«, wissenschaftliche Studien vor der Zulassung ihrer Medikamente durchzuführen. Nun – 50 Jahre später – wissen wir: Dies war und ist nicht der optimale Weg zu einer besseren Arzneimittelversorgung.

Pharmafirmen betrachten die Studiendaten als ihr Eigentum. Die Ergebnisse ihrer Investitionen gehören ihnen ja – warum dann nicht auch die Ergebnisse von Studien, die sie finanziert haben? Hier stoßen zwei Interessen aufeinander. Der Gesetzgeber müsste in diesem Konflikt festlegen, ob das Recht auf Besitz von Daten, die ein Ergebnis von umfangreichen Investitionen sind, tatsächlich höher zu bewerten ist als das Recht auf allgemeine Information bei der Behandlung von Krankheiten.

 

Die Politik: Leider existiert weltweit kein Gesetz, das die Pharmafirmen verpflichtet, alle ihnen bekannten bzw. von ihnen finanzierten Studien der letzten Jahrzehnte zu publizieren. Diese Offenlegungspflicht wird augenscheinlich nicht als notwendig erachtet, obwohl zigfach belegt wurde, dass Ärzte, da ihnen vorhandenes Wissen vorenthalten worden war, Millionen von Patienten schwer geschadet haben. Aber Politiker glauben einfach nicht, dass durch das Verschweigen von Studienergebnissen Patienten gefährdet oder sogar wesentlich geschädigt werden.

Vielleicht liegt das daran, dass die Opfer des systematischen »Nichtwissens« häufig nicht eindeutig zu identifizieren sind. Wir wissen zwar, dass das vom Markt genommene Schmerzmittel Vioxx Herzinfarkte verursacht hat – und dass man es hätte früher wissen und viele Tausende Menschen durch ein früheres Verbot hätte retten können. (Ein behördliches Verbot ist übrigens nie tatsächlich ergangen: Die Pharmafirma hat das Präparat aus Furcht vor Regressforderungen selbst vom Markt genommen.) Aber es lässt sich in solchen Fällen nicht sicher feststellen, welche Menschen durch das Mittel einen Schaden erlitten haben. Herzinfarkte treten auch ohne die Einnahme von Vioxx auf, und hundertprozentig sicher, dass dieses Präparat in einem bestimmten Fall ursächlich dafür verantwortlich war, kann man nicht sein. Wenn von 100 Menschen, die ein bestimmtes Mittel einnehmen, 20 an einem Herzinfarkt versterben und ohne dieses Präparat es nur 10 Menschen sind, dann wissen wir zwar, dass dieses Medikament in 10 Prozent der Fälle zu tödlichen Herzinfarkten führt – wir wissen aber nicht, welcher individuelle Kranke von den 20 Betroffenen auch ohne das Medikament an Herzinfarkt gestorben wäre und welcher durch das Medikament. Das Risiko steigt halt nur um das Doppelte, aber wo es individuell zuschlägt, wissen wir nicht.

Vielleicht rührt von dieser Unsicherheit her das relative Desinteresse der Politik. Im Fall von Contergan konnte man ganz klar das Medikament für die Schädigung der Kinder in jedem einzelnen Fall verantwortlich machen. Die unter Contergan aufgetretenen Missbildungen kamen ja sonst nicht vor, und daher war es sicher, dass nur dieses Medikament als Verursacher infrage kam. Auch in anderen Fällen, wie zum Beispiel bei den Ausbrüchen der vermeidbaren Infektionen mit dem Keim EHEC (Enterohämorrhagische Escherichia coli), kam es zeitlich konzentriert zu auffälligen Erkrankungen mit schweren Schäden an Nieren und Gehirn. Solche zeitlich konzentrierten katastrophalen Krankheitsausbrüche, spektakuläre Missbildungen oder Todesfälle bewirken eine viel stärkere öffentliche Empörung und nachfolgende gesetzliche Regelungen als Krankheiten und Todesfälle, die sich über längere Zeiträume erstrecken und nicht so ungewöhnlich sind.

Und dies vollzieht sich völlig unabhängig davon, wie groß die tatsächliche Zahl der Leidtragenden ist. Eine ganz nüchterne Statistik als Beispiel: Wenn im Laufe eines Jahres unter dem Medikament A von 1000 behandelten Patienten alle zwölf Tage ein Mensch stirbt, dann sind das ungefähr 30 unnötige anonyme Todesfälle pro 1000 behandelte Patienten pro Jahr – anonym deshalb, da wir nicht genau wissen, wer gestorben ist, weil er das Medikament A genommen hat, und wer ohnehin gestorben wäre, und weil beide Ereignisse über einen längeren Zeitraum verteilt sind und sich so der normalen Alltagswahrnehmung entziehen. Daher regen wir uns über diesen Missstand nicht so sehr auf – auch nicht einmal dann, wenn eine Million Menschen das Medikament A genommen haben und dies folglich zu 30 000 vermeidbaren Todesfällen in einem Jahr geführt hat. Wären diese Menschen innerhalb eines einzigen Tages nach Einnahme des Medikaments plötzlich gestorben, müsste mindestens der Gesundheitsminister zurücktreten. Wenn aber die Todesfälle über ein Jahr »verdünnt« werden, dann merken wir es nicht. Die Öffentlichkeit und damit nachfolgend der Gesetzgeber reagieren weniger auf statistische Größen und mehr auf spektakuläre und medial gut darstellbare, zeitlich begrenzte Katastrophen.

Vielleicht nehmen Politiker auch wissenschaftliche Studien und Statistiken nicht wirklich ernst. Wie häufig habe ich von ihnen den überaus dummen Satz gehört: »Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.« Also wenn augenscheinlich ohnehin alles gefälscht ist, braucht man ja im Grunde gar keine Studien zu lesen: ein billiger Vorwand für Faulheit und eine Pseudo-Begründung für Beliebigkeit in der Medizin. Wissenschaft ist kein politischer Denkstil. Politiker verstehen wissenschaftliche Studien meist nicht, daher sind sie ihnen verdächtig. Und ohnehin nehmen sie sich meist auch nicht die Zeit, sie zu lesen. Darüber hinaus schränken zuverlässige Studienergebnisse das Wirkungsfeld der Politik ein. Wenn etwas aufgrund mehrerer guter Studien sehr sicher feststeht, wenn die ermittelten Fakten das eine und nicht das andere Handeln notwendig machen, dann kann man nicht mehr so gut verhandeln und Kompromisse anstreben. Dann ist die politische Aktionsfreiheit eingeschränkt – und wer lässt sich schon gern einschränken? Wenn man zum Beispiel sicher belegen würde, dass regelmäßige Massagen die Depressivität alter Menschen wirkungsvoller als Antidepressiva reduzieren, müssten die Kosten für Massagen von den Krankenkassen ja erstattet werden, was zu einer wesentlichen Kostensteigerung bei gleichzeitigem Umsatzeinbruch für die pharmazeutische Industrie, die die Antidepressiva produziert, führen würde. Vielleicht ist dies einer der Gründe, warum die Politik – und damit der Gesetzgeber – sich so wenig auf wissenschaftliche Daten verlassen möchte und vor allem in nur so geringem Umfang Studien unterstützt, die Nutzen und Schaden von medizinischen Interventionen beschreiben. Und so werden leider viele für die Patienten wesentliche Studien nicht finanziert und damit nicht durchgeführt.

Informationen über Medikamente für Patienten und Ärzte stammen meist aus sogenannten Zulassungsstudien. Solche Studien, die die Pharmaindustrie durchführt, sind meist als sogenannte Nichtunterlegenheitsstudien konzipiert, was bedeutet, dass sie den Zulassungsbehörden zeigen sollen, dass das neue Präparat nicht schlechter wirkt als ein bereits zugelassenes Mittel. Es handelt sich um Studien, die sehr oft in einer künstlichen Umgebung mit besonderen Ärzten und ausgesuchten Patienten geplant und durchgeführt werden. Diese Bedingungen entsprechen nicht denen der täglichen medizinischen Praxis – auf diese Weise lassen sich die positiven Effekte des Medikamentes aber besser darstellen und negative Effekte können gleichzeitig minimiert werden. Das heißt: In vielen Fällen besitzen wir gar keine sicheren Informationen über Nutzen und Schaden von Medikamenten und meist überhaupt keine Informationen darüber, ob diese Medikamente sich in der alltäglichen Anwendung in Arztpraxen und Kreiskrankenhäusern bewähren oder nicht.

Diese Nichtunterlegenheitsstudien mögen für die Juristen der Zulassungsbehörden interessant sein – für die Patienten und ihre Ärzte bringen sie wenig: Sie wollen ja wissen, ob das neue und teurere Mittel besser ist als das, was sie bisher verwendet haben – aber diese Frage wird in den meisten Zulassungsstudien gar nicht untersucht. Nur wenn ein neues Medikament besondere Vorteile verspricht, macht es überhaupt Sinn, es anzuwenden, denn neue, gerade zugelassene Mittel haben immer den Nachteil, dass man nur wenig über sie weiß und nur über geringe Erfahrungen verfügt: Wir wissen gar nicht genau, ob sich im Alltagseinsatz nicht möglicherweise bislang unbekannte und schwerwiegende Nachteile zeigen werden. Von der Aussage, dass ein neues Medikament zugelassen ist und dass es in Untersuchungen unter künstlichen Bedingungen gezeigt hat, dass es nicht viel schlechter ist als das, was wir bereits hatten, haben wir als Betroffene also so gut wie nichts.

 

Die Zulassungsbehörden: Erst wenn sie grünes Licht geben, können Arzneimittel verordnet und verkauft werden. Damit übernehmen die Zulassungsbehörden auch eine Verantwortung dafür, dass das Medikament im Wesentlichen mehr nutzt als schadet, oder zumindest dafür, dass die erhoffte Wirkung höher bewertet wird als mögliche Risiken. Werden nach der Zulassung Informationen bekannt, die dieses positive Urteil der Zulassungsbehörden infrage stellen, geraten sie automatisch in den Verdacht, falsch entschieden zu haben. Vor allem dann, wenn angenommen werden kann, dass man dies bei einer kritischen Prüfung schon hätte früher wissen können. Oder dass zumindest weitere ergänzende Studien vor der Zulassung notwendig gewesen wären. Weitere Studien bedeuten aber einen finanziellen Verlust für den Hersteller, denn die Patentzeit verrinnt, und jede weitere Studie kostet Zeit und mindert so Umsatz und Gewinn. Daher auch der Druck auf die Zulassungsbehörden, neue Medikamente möglichst schnell zuzulassen.

Vielleicht ist dies auch einer der Gründe, warum sich Zulassungsbehörden so schwertun, objektive – also herstellerunabhängige – Untersuchungen von neuen Arzneimitteln zu fordern. Fürchten sie vielleicht, dass ihre Zulassungsentscheidungen zu häufig infrage gestellt werden? Bei aufkommenden Verdachtsmomenten gegen ein Arzneimittel fordern die Zulassungsbehörden gemäß ihren Regeln den Hersteller auf, neue Belege für die Sicherheit des Arzneimittels beizubringen. Dies ist so ähnlich, als ob der Richter den Angeklagten mit einer ergänzenden Spurensicherung am Tatort beauftragen würde. Natürlich fallen die so gesammelten Belege günstiger für das Präparat aus, als wenn sie von einer unabhängigen Stelle kommen würden.

Aber auch wenn ganz klar ist, dass Arzneimittel wirkungslos sind, werden sie von den Zulassungsbehörden nicht immer vom Markt genommen. Zum Beispiel im Fall von Reboxetin (Handelsname z. B. Edronax®), einem Medikament, das zur Behandlung von Depressionen zugelassen wurde. Es befindet sich immer noch auf dem Markt und wird verordnet, obwohl bereits vor Jahren klar und unwidersprochen von unabhängigen Wissenschaftlern belegt wurde, dass das Präparat bei Depressionen nicht anders wirkt als ein Placebo. Vielleicht erscheint dieser Sachverhalt manchen Verantwortlichen als nicht so dramatisch: Ein Placebo kann ja keinen Schaden anrichten. Doch dieses Denken ist falsch: Wenn man einem Kranken ein Placebo statt eines effektiven Medikamentes verschreibt, kann er durchaus schweren Schaden erleiden. Zwar hat Reboxetin keine gefährlichen giftigen Wirkungen, aber Schaden entsteht hier durch Unterlassung: dadurch, dass die Ärzte das Präparat, das nicht anders wirkt als eine Zuckerpille, depressiven Menschen verordnen anstelle eines bei Depression nachweislich wirksamen Medikamentes. Eine zusätzliche Rolle mag auch die Angst der Zulassungsbehörden vor Transparenz spielen und vor der damit verbundenen Möglichkeit der Überprüfung ihrer Entscheidungen durch unabhängige Wissenschaftler. Eine solche Überprüfung würde in etlichen Fällen entscheidende und gefährliche Wissenslücken in den Zulassungsunterlagen, unzureichende Nachforschungen, herstellerfreundliche Entscheidungen und generell eine Entzauberung der zuständigen Behörden offenbaren und gegebenenfalls Reformen nach sich ziehen, die die Existenz der Behörde zumindest in der jetzigen Struktur infrage stellen.

Wenn Behörden die Zulassung eines Arzneimittels versagen, haben sie durchaus Angst vor möglichen Folgen: zum Beispiel vor rechtlichen oder politischen Schritten der mächtigen Hersteller. Hier wären Gesetze erforderlich, die die Zulassungsbehörden zwingen, nicht primär die Interessen der Pharmafirmen, sondern die der Kranken zu berücksichtigen. Zum Beispiel bestünde eine Möglichkeit darin, andere Zulassungsverfahren zu wählen, je nachdem, ob es sich bei dem neuen Präparat um eine Behandlungsmöglichkeit handelt, die der Medizin neue Wege in hoffnungslosen Fällen eröffnet – oder ob es bloß eine weitere Behandlungsmöglichkeit ist, eine Erweiterung von Optionen bei einer ohnehin gut behandelbaren Erkrankung. Im ersten Fall müsste die Zulassung schneller und gegebenenfalls weniger stringent erfolgen – und im zweiten würde man durchaus sehr belastbare und umfangreichere Daten zur Wirksamkeit und Sicherheit benötigen. Ein solches Vorgehen würde die Pharmaindustrie auch anspornen, bei ihren Entwicklungen mehr auf echten Fortschritt zu setzen und weniger auf Nachahmungen bereits vorhandener Wirkstoffe. Das Parlament der Europäischen Union könnte die Europäische Zulassungsbehörde durchaus zwingen, mehr im Sinne der Patienten und der Solidarsysteme zu agieren; es tut dies aber leider nicht.

 

Es muss sich etwas ändern. Wir brauchen eine bessere pharmazeutische Industrie, zu der wir mehr Vertrauen haben, und auch bessere Zulassungsbehörden und gesetzliche Regelungen. Ohne dieses Vertrauen wird es keine bessere Medizin geben. Die folgenden 400 Seiten sind ein wohlbegründeter Appell, endlich etwas im Sinne und zum Wohl aller zu ändern, denn von selbst ist in der Vergangenheit nicht viel passiert und wird auch zukünftig nicht passieren.

Einleitung

Einleitung

Die Medizin liegt in Trümmern. Wenn Patienten und Öffentlichkeit erst begriffen haben, was ihnen angetan wird – mit Wissen von Ärzten, Forschern und Behörden –, werden sie aus der Haut fahren, da bin ich mir sicher. Urteilen können darüber nur Sie.

Wir gehen davon aus, dass Medizin auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und den Ergebnissen ordentlicher Studien basiert. In Wahrheit sind viele dieser Studien mangelhaft. Wir gehen davon aus, dass Ärzte die Forschungsergebnisse kennen. In Wahrheit halten die Pharmakonzerne etliche Erkenntnisse unter Verschluss. Wir gehen davon aus, dass Ärzte gute Fortbildungen absolvieren. In Wahrheit wird ein Großteil ihrer Weiterbildung von der Pharmaindustrie finanziert. Wir gehen davon aus, dass die Regulierungsbehörden nur wirksame Arzneimittel zulassen. In Wahrheit genehmigen sie auch miserable Präparate, deren zum Teil fatale Nebenwirkungen Ärzten und Patienten verschwiegen werden.

Ich werde Ihnen auf der nächsten Seite in einem Absatz schildern, wie die Medizin funktioniert. Was Sie da zu lesen bekommen, wird Ihnen so absurd vorkommen, so aberwitzig und haarsträubend, dass Sie es wahrscheinlich zunächst als maßlos übertrieben abtun werden. Aber wie wir noch sehen werden, bröckelt das Gebäude der Medizin, weil die Befunde, auf denen wir unsere Entscheidungen gründen, systematisch verfälscht werden. Und das ist keine Lappalie. Denn Ärzte und Patienten treffen auf der Grundlage abstrakter Daten Entscheidungen für die wirkliche Welt aus Fleisch und Blut. Falsche Entscheidungen können Leid, Schmerz und Tod zur Folge haben.

Dieses Buch kommt ohne schwarz-weiß gezeichnete Bösewichte und Verschwörungstheorien aus. Weder halten die Pharmakonzerne mit der ultimativen Heilung von Krebs hinter dem Berg, noch bringen sie uns mit ihren Impfstoffen um. Hinter solchen Räuberpistolen verbirgt sich bestenfalls eine dichterische Wahrheit: Aus Brocken, die wir aufschnappen, schließen wir intuitiv, dass in der Medizin etwas nicht stimmt, aber kaum einer von uns, Ärztinnen und Ärzte eingeschlossen, kann genau festmachen, was es ist.

Die Problematik entzieht sich der Kontrolle durch die Öffentlichkeit, weil sie zu komplex ist, als dass sie sich kurz und knapp oder auch nur in 3000 Wörtern erklären ließe. Deshalb hat die Politik bislang auch die wenigsten Problempunkte gelöst, und deshalb halten Sie ein über 400 Seiten starkes Buch in den Händen. Da uns diejenigen, denen wir die Lösung der Probleme anvertraut haben, im Stich lassen, müssen wir das selbst in die Hand nehmen, und dafür gilt es zunächst, die Sachlage zu erfassen. In diesem Buch finden Sie alles, was Sie dazu brauchen.

Und nun die Behauptungen, die ich im Folgenden gewissenhaft belegen werde:

Arzneimittel werden von denen getestet, die sie herstellen. Das geschieht in dürftig angelegten klinischen Studien mit einer empörend kleinen Zahl nicht repräsentativer Patienten und mit absichtlich unzulänglichen Analyseverfahren, die dazu angetan sind, den Nutzen der jeweiligen Behandlung aufzubauschen und, wenig überraschend, für den Hersteller tendenziell günstige Ergebnisse zu erbringen. Bei ungünstigen Ergebnissen ist der Konzern berechtigt, diese den Ärzten und Patienten vorzuenthalten, sodass immer nur ein Zerrbild der wahren Wirkung eines Arzneimittels an die Öffentlichkeit gelangt. Die Regulierungsbehörden haben Einblick in die meisten Studiendaten, allerdings nur die vor der Zulassung eines Medikamentes, und auch diese Daten werden nicht an Ärzte oder Patienten oder auch nur an andere staatliche Stellen weitergereicht. Die verfälschten Nachweise werden anschließend verfälschend kommuniziert und in die Praxis umgesetzt. In den 40 Jahren Berufspraxis nach dem Medizinstudium erfahren die Ärzte durch Mundpropaganda, von Pharmareferenten, Kollegen oder aus Zeitschriften, welche Behandlungen gut sind. Manch ein Kollege steht allerdings insgeheim auf der Honorarliste eines Pharmakonzerns. Dasselbe gilt für Zeitschriften und Selbsthilfegruppen. Und wissenschaftliche Arbeiten, von denen man gemeinhin Objektivität erwartet, werden oft unter der Hand von Mitarbeitern der Pharmakonzerne konzipiert und verfasst, ohne dass dies offengelegt würde. Manchmal ist eine wissenschaftliche Zeitschrift vollständig im Besitz eines Pharmaunternehmens. Abgesehen davon haben wir bei vielen der wichtigsten Krankheiten keinen Schimmer, welches die beste Therapie ist, weil kein finanzielles Interesse an der Durchführung einer klinischen Studie besteht. Diese Probleme sind allesamt virulent, obwohl es von vielen heißt, sie seien mittlerweile gelöst. Das Gegenteil ist der Fall: Weil man so tun kann, als sei doch alles in bester Ordnung, hat sich die Situation noch zugespitzt.

Das ist ein dicker Brocken, und die Details sind noch grauenhafter als auf den ersten Blick erkennbar. Einige der Einzelbeispiele lassen ernsthafte Zweifel an der Integrität der Beteiligten aufkommen, andere machen wütend und wieder andere einfach nur traurig. Aber in diesem Buch geht es durchaus nicht nur um schlechte Menschen, denn in einem verqueren System können auch gute Menschen anderen großen Schaden zufügen, ohne dass sie es überhaupt merken. Die gängigen Vorschriften – für Firmen, Ärzte und Forscher – setzen die falschen Anreize, und es dürfte leichter sein, die kaputten Systeme zu reparieren, als die Gier aus der Welt zu schaffen.

Es wird heißen, dieses Buch sei ein Angriff auf die Pharmaindustrie, und das stimmt natürlich auch. Aber die Kritik hat durchaus ihre Grenzen. Die meisten Menschen, die in dieser Branche arbeiten, haben vermutlich ein gutes Herz, und eine Medizin ohne Medikamente ist schließlich undenkbar. Arzneimittelhersteller in aller Welt haben in den vergangenen 50 Jahren mit fantastischen Innovationen unzählige Leben gerettet. Das gibt ihnen aber nicht das Recht, Daten zu unterschlagen, Ärzte in die Irre zu führen und Patienten zu schädigen.

Wenn ein Wissenschaftler oder ein Arzt heute zugibt, dass er für die Pharmaindustrie arbeitet, wirkt er meist ein wenig verlegen. Ich möchte dazu beitragen, dass Ärzte und Wissenschaftler bei der Optimierung von Behandlungen und der Heilung von Patienten vertrauensvoll mit der Pharmabranche zusammenarbeiten können. Dafür aber müssen einige, zum Teil längst überfällige Reformen durchgeführt werden.

Deshalb und weil das, worüber ich berichte, so erschütternd ist, habe ich mich bemüht, über die reine Dokumentation der Probleme hinauszugehen. Wo es eine offensichtliche Lösung gibt, habe ich sie dargelegt. Und am Ende jedes Kapitels finden Sie Vorschläge dazu, was Sie tun können, um die Lage zu verbessern. Diese Vorschläge sind abhängig davon, was Sie sind: Ärztin oder Patient, Politikerin oder Wissenschaftler, Aufsichtsbeamter oder Pharmamitarbeiterin.

Vor allem dürfen Sie nicht aus dem Blick verlieren, dass es sich hier zwar um ein populärwissenschaftliches Buch handelt, die dokumentierten Tricks und Manipulationen aber raffiniert und sehr kompliziert sind und faszinierend und die Dimension des Desasters sich nur über die Details erschließt. Dass gute Forschung in industriellem Maßstab pervertiert wird, ist das Ergebnis eines langsamen Prozesses, einer natürlichen Evolution. Vollzogen wurde er von völlig normalen Menschen, die in einigen Fällen womöglich nicht einmal wissen, was sie angerichtet haben.

Ich möchte, dass Sie sie finden und es ihnen sagen.

Dieses Buch

Am Beginn meiner Ausführungen steht die Verteidigung meiner Kernaussage: Von der Pharmabranche finanzierte klinische Studien erbringen häufiger Resultate, die dem Arzneimittel des Geldgebers schmeicheln. Das ist mittlerweile ohne jeden Zweifel durch Forschungen nachgewiesen. In diesem Abschnitt begegnen wir auch erstmals der sogenannten systematischen Übersichtsarbeit. Eine Übersichtsarbeit erfasst unvoreingenommen alle vorhandenen Studien zu einem bestimmten Thema. Sie ist der qualitativ beste Beleg, den man anbringen kann – und wo immer eine systematische Übersichtsarbeit vorliegt, wird in diesem Buch auch darauf verwiesen. Dazu kommen einzelne Studien, die einen Eindruck davon vermitteln, wie Forschung betrieben oder Unheil angerichtet wird.

Anschließend wenden wir uns der Frage zu, wie die Pharmaindustrie die vielen positiven Studien zu ihren Arzneimitteln zuwege bringt. An unserem ersten Halt werden wir sehen, dass ungünstige Studiendaten Ärzten und Patienten schlicht vorenthalten werden können. Eine Firma hat durchaus das Recht, sieben Studien durchzuführen, aber nur zwei positive zu veröffentlichen, und das wird auch ausgiebig so betrieben. Dieses Prozedere kommt auf allen Gebieten der Naturwissenschaften und der Medizin vor: in der Grundlagenforschung im Labor, wo selektiv publizierte Ergebnisse mit falsch-positiven Befunden dem Leser wissenschaftlicher Literatur die Zeit stehlen, in der Frühphase von Studien, in der Hinweise auf die Gefährlichkeit von Arzneimitteln vertuscht werden, oder in den großen klinischen Studien, die der Information der medizinischen Praxis dienen. Weil Ärzten und Patienten so viele Studiendaten vorenthalten werden, haben wir keine klare Vorstellung davon, wie Routinebehandlungen eigentlich wirken. Die Beispiele in diesem Abschnitt reichen von Antidepressiva über Statine, Krebsmedikamente und Diätpillen bis hin zum Grippemittel Tamiflu. Aus Angst vor einer Pandemie geben Staaten in aller Welt Milliarden von Euros für die Bevorratung dieses Medikaments aus, obwohl Belege dafür, ob es die Zahl von Lungenentzündungen und die Sterblichkeit tatsächlich senkt, bis heute zurückgehalten werden.

Nun gehen wir einen Schritt zurück und schauen uns an, wo die Arzneimittel eigentlich herkommen. Wir verfolgen die Medikamentenentwicklung ab dem Moment, in dem sich jemand ein neues Molekül ausdenkt. Es folgen Laborversuche, Tierversuche, die erste Erprobung am Menschen und die Nachweise zur Wirksamkeit des Medikaments für den Patienten. Hier werden wir die eine oder andere Überraschung erleben. Hoch riskante »First-in-Man«-Tests, also die erstmalige Erprobung am Menschen, werden an Obdachlosen durchgeführt, und seit wenigen Jahren werden klinische Studien auch zunehmend globalisiert. Daraus ergeben sich tief greifende ethische Probleme, weil Studienteilnehmer in Entwicklungsländern im Zweifel nicht von den teuren neuen Arzneimitteln profitieren. Außerdem stellt sich die Frage, wie vertrauenswürdig diese Daten sind.

Anschließend betrachten wir die regulatorischen Hindernisse, die zu überwinden sind, um ein Arzneimittel auf den Markt zu bringen. Wir werden sehen, dass die Latte hier sehr niedrig liegt: Ein Medikament muss nur nachgewiesenermaßen besser sein als kein Medikament, auch wenn es bereits hochwirksame Präparate auf dem Markt gibt. Das bedeutet, dass Patienten ohne guten Grund Placebos erhalten und dass neue Arzneimittel auf den Markt kommen, die schlechter sind als die vorhandenen. Die versprochenen Folgestudien führen die Konzerne nicht durch, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Daten zu Nebenwirkungen und Wirksamkeit werden oft nicht an die Behörden weitergeleitet, während diese wiederum Ärzten und Patienten ihnen vorliegende Daten vorenthalten. Wir werden sehen, was für einen Schaden sie mit dieser Geheimniskrämerei anrichten. Je mehr Beteiligte die Augen offen halten, desto eher fallen Probleme mit Arzneimitteln auf. Folgenschwere Fehler werden daher von den Behörden oft übersehen und von Forschern ans Licht gebracht, die sich den Zugang zu den Daten erst hart erkämpfen müssen.

Anschließend unternehmen wir eine Tour durch die »schlechten Studien«. Man geht ja davon aus, dass in einer einfachen klinischen Studie eine Arznei immer ordentlich getestet wird, und wenn sie anständig durchgeführt wird, stimmt das auch. Aber über die Jahre hat sich eine Reihe von Tricks eingeschlichen, mit deren Hilfe die Forscher die Vorzüge der getesteten Mittel aufbauschen. Manches sieht auf den ersten Blick aus wie ein verzeihliches Missgeschick. Mal ehrlich: Ich bezweifle das, interessiere mich aber ohnehin mehr für die Gewieftheit dieser Tricks. Wir werden sehen, wie offensichtlich manipuliert wird und dass die Verantwortlichen, von den Ethikkommissionen bis hin zu den Fachzeitschriften, die es besser wissen müssten, den Konzernen und Forschern ihre empörenden Fälschungen durchgehen lassen.

Nach einem kurzen Abstecher zu einem Lösungsvorschlag für die Problematik schlechter Nachweise und fehlender Befunde wenden wir uns der Vermarktung von Arzneimitteln zu, auf die sich auch die meisten der bereits vorliegenden Bücher über die Pharmaindustrie konzentrieren.

Hier werden wir sehen, dass pharmazeutische Unternehmen viele Milliarden Euro im Jahr für die Beeinflussung des Verschreibungsverhaltens von Ärzten ausgeben. Es fließt sogar doppelt so viel Geld in die Vermarktung und Werbung wie in die Forschung und Entwicklung neuer Arzneimittel. Wir alle möchten, dass Ärztinnen und Ärzte Medikamente auf der Basis gültiger wissenschaftlicher Nachweise verschreiben, doch diese hohen Aufwendungen können nur einem Zweck dienen: der Verfälschung der evidenzbasierten Medizin. Da das viele Geld von den Patienten und vom Staat kommt, bezahlen wir diese Manipulation aus der eigenen Tasche. Ärzte, die 40 Jahre lang praktizieren, kommen im Anschluss an ihr Studium kaum in den Genuss einer formalen Fortbildung. Die Medizin verändert sich aber in vier Jahrzehnten grundlegend. Zwar bemühen sich die Mediziner, Schritt zu halten, doch sie werden mit Informationen geradezu bombardiert. Die Maßnahmen reichen von der Werbung, die Vorzüge und Risiken neuer Medikamente falsch darstellt, über Pharmavertreter, die vertrauliche Rezeptdaten von Patienten ausspionieren, Ärztekollegen, die klammheimlich von Pharmaunternehmen bezahlt, und »Fortbildungen«, die von der Pharmaindustrie finanziert werden, bis hin zu »unabhängigen« wissenschaftlichen Publikationen, die in Wahrheit von Mitarbeitern der Pharmakonzerne verfasst worden sind.

Schließlich werden wir uns ansehen, wie wir darauf reagieren können. Zwar kann ein gewissenhafter Arzt die Lügen, die in einer Marketingkampagne verbreitet werden, einfach ignorieren. Doch die Folgen gefälschter Befunde können jeden treffen. Die teuersten Ärzte der Welt können ihre Behandlung nur auf der Basis der Nachweise festlegen, die öffentlich verfügbar sind; da gibt es keine geheimen Schleichwege. Sind diese Nachweise aber gefälscht, werden wir alle ohne Not dem Risiko von Schmerzen, Leid und Tod ausgesetzt. Das gesamte System muss repariert werden, und um das zu erreichen, müssen wir alle an einem Strang ziehen.

Gebrauchsanleitung für dieses Buch

Um Platz und Zeit zu sparen, habe ich bewusst nicht jeden medizinischen Begriff erklärt. Das heißt nicht, dass Ihnen etwas entgeht. Wenn beispielsweise ein Symptom nicht näher erläutert oder definiert wird, ist dieses Detail für das Verständnis des beschriebenen Beispiels auch nicht wichtig. Den entsprechenden Fachbegriff habe ich dennoch stehen lassen, um Ärzten und Wissenschaftlern eine Orientierung zu geben und damit sie die Grundargumentation auf einem spezifischen Gebiet der Medizin verorten können. Akronyme und Abkürzungen werden bei der ersten Erwähnung erklärt und anschließend verwendet, weil sie auch im medizinischen Alltag üblich sind. Am Ende des Buches finden Sie ein Glossar mit allgemeinen Begriffen und Abkürzungen, für den Fall, dass Sie das Buch nicht am Stück lesen. Dort stehen aber nur Begriffe, die auch im Haupttext vorkommen.

Entsprechend habe ich die meisten klinischen Studien nicht mit vollem Namen angegeben, weil die Akronyme auch in den medizinischen Fachbüchern üblich sind: Die ISIS-Studie oder die CAST-Studie sind den meisten Ärzten und Wissenschaftlern ein Begriff. Wenn es Sie interessiert, können Sie im Internet oder in den Anmerkungen danach suchen, doch um meine Argumentation nachzuvollziehen und zu verstehen, ist das nicht nötig. Arzneimittel stellen ein anderes Problem dar, weil sie zwei Namen haben: den generischen Namen des Wirkstoffs, also die korrekte wissenschaftliche Bezeichnung des Moleküls, und den Handelsnamen, der von der Herstellerfirma auf der Verpackung und in der Werbung verwendet wird und der meist etwas griffiger ist. Ärzte und Wissenschaftler verwenden meist den wissenschaftlichen Namen, weil er eindeutig ist und etwas über die Molekülklasse aussagt, Journalisten und Patienten dagegen häufiger den Handelsnamen. Diese Trennung ist allerdings alles andere als stringent, und dass ich sie im vorliegenden Buch nicht konsequent handhabe, spiegelt nur den medizinischen Alltag wider.

Zu allen erwähnten Studien findet sich am Ende des Buches ein Literaturhinweis. Wo ich die Wahl hatte, habe ich Arbeiten in frei zugänglichen Zeitschriften ausgesucht, die kostenlos gelesen werden können. Außerdem habe ich Aufsätze angegeben, die einen guten Überblick über das jeweilige Gebiet geben, sowie lesenswerte Bücher, in denen Sie mehr über das Thema erfahren können.

Ein letztes Wort: Man muss auf diesem Gebiet gewissermaßen alles wissen, um sämtliche Wechselbeziehungen nachzuvollziehen. Ich habe mich redlich bemüht, die Themenbereiche zweckmäßig zu ordnen, aber wenn die Materie neu für Sie ist, entdecken Sie bei einer zweiten Lektüre des Buches möglicherweise neue Querverbindungen – oder regen sich noch ein bisschen mehr darüber auf. Obwohl ich kein Vorwissen vorausgesetzt habe, werden Sie trotzdem hier und da ein wenig Hirnschmalz einsetzen müssen, denn manches ist ziemlich kompliziert. Genau deshalb wird dieser Problembereich nicht hinreichend zur Kenntnis genommen, und genau deshalb will ich ihn in diesem Buch erklären. Wer den Übeltäter mit heruntergelassenen Hosen erwischen will, muss ihn schon zu Hause besuchen.

Viel Spaß!

 

Ben Goldacre

August 2012

1 Fehlende Daten

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Fehlende Daten

Sponsoren erhalten das Ergebnis, das sie wünschen

Zu Beginn müssen wir eine Sache zweifelsfrei feststellen: Studien, die von der Industrie bezahlt werden, erbringen mit größerer Wahrscheinlichkeit ein positives, günstiges Ergebnis als unabhängige Studien. Das ist unsere Kernaussage, und Sie werden hier einiges dazu lesen, denn das gehört zu den am besten dokumentierten Phänomenen im wachsenden Feld der »Forschung über Forschung«. Erleichtert wurde die Arbeit auf diesem Gebiet in den letzten Jahren, als die Regeln für die Offenlegung von Geldgebern aus der Industrie etwas klarer wurden.

Beginnen wir mit einer neueren Arbeit: 2010 trugen drei Wissenschaftler aus Harvard und Toronto alle Studien zu den fünf größten Medikamentengruppen – Antidepressiva, Krebsmedikamente und so weiter – zusammen und untersuchten zwei zentrale Fragen: War ihr Ergebnis positiv, und waren sie von der Industrie finanziert worden?Hinweis Man fand insgesamt über 500 Studien: 85 Prozent der von der Industrie finanzierten waren positiv, doch nur 50 Prozent der unabhängig finanzierten. Das ist ein sehr signifikanter Unterschied.

Für das Jahr 2007 sahen sich die Forscher jede veröffentlichte Studie an, die den Nutzen eines Statins untersuchte.Hinweis Statine sind cholesterinsenkende Medikamente, die das Risiko für einen Herzinfarkt senken sollen. Sie werden in großen Mengen verschrieben und spielen in diesem Buch eine wichtige Rolle. Diese Untersuchung fand insgesamt 192 Studien, die entweder ein Statin mit einem anderen verglichen oder ein Statin mit einer anderen Behandlungsmethode. Sobald die Forscher andere Faktoren untersuchten (was das bedeutet, erläutern wir später im Einzelnen), fanden sie heraus, dass die von der Industrie finanzierten Studien mit 20-fach höherer Wahrscheinlichkeit Ergebnisse zugunsten des Test-Wirkstoffs ergaben. Auch das ist wieder ein sehr großer Unterschied.

Noch eine: 2006 untersuchten Wissenschaftler über einen Zeitraum von zehn Jahren jede Studie für Psychopharmaka in vier wissenschaftlichen Zeitschriften, insgesamt 542 Studien. Die von der Industrie finanzierten ergaben in 78 Prozent der Fälle günstige Ergebnisse für das eigene Medikament, während unabhängig finanzierte Studien nur in 48 Prozent der Fälle ein positives Ergebnis brachten. Die konkurrierenden Medikamente hatten es in einem vom Hersteller finanzierten Versuch ganz schön schwer: Da lagen nur magere 28 Prozent vorn.Hinweis

Das sind bedrückende, erschreckende Ergebnisse, doch sie stammen aus einzelnen Studien. Gibt es auf einem Gebiet viele Studien, ist es immer möglich, dass ein Einzelner – wie zum Beispiel ich – sich einzelne Ergebnisse herauspickt und eine einseitige Sicht der Dinge bietet. Ich könnte im Wesentlichen genau das tun, was ich der Pharmaindustrie vorwerfe: nur von den Studien berichten, die mein Anliegen belegen, und Ihnen die anderen vorenthalten.

Um das auszuschließen, haben Wissenschaftler die systematische Übersichtsarbeit erfunden. Wir werden das bald genauer untersuchen (Seite 45), denn das ist der Kern moderner Medizin. Die systematische Übersicht ist eigentlich einfach: Anstatt die Forschungsliteratur nur durchzugehen und bewusst oder unbewusst hier und da Arbeiten herauszupicken, die die vorgefasste Meinung stützen, schaut man sich die vorhandenen wissenschaftlichen Belege systematisch an und stellt sicher, dass man alle je durchgeführten Studien so vollständig und repräsentativ wie möglich erfasst.

Systematische Übersichtsarbeiten sind sehr, sehr mühselig. 2003 wurden zufällig zwei speziell zu den uns interessierenden Fragen veröffentlicht. Man untersuchte alle je veröffentlichten Studien zu der Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen von der Pharmaindustrie finanzierten Studien und für die Industrie positiven Ergebnissen gibt. Jede hatte eine etwas andere Herangehensweise für die Auffindung von Forschungsarbeiten, und beide kamen zu dem Ergebnis, dass von der Industrie finanzierte Studien insgesamt mit etwa viermal höherer Wahrscheinlichkeit über positive Resultate berichteten.Hinweis In einer weiteren Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2007 wurden die neueren Studien aus den vier Jahren nach diesen ersten beiden Übersichtarbeiten untersucht. Die 29 neueren Arbeiten belegen alle – mit zwei Ausnahmen –, dass von der Industrie finanzierte Studien mit größerer Wahrscheinlichkeit günstige Resultate erbrachten.Hinweis

Eine letzte Studie möchte ich noch erwähnen. Dieses Muster, dass von der Industrie finanzierte Studien mit überaus großer Wahrscheinlichkeit positive Ergebnisse erbringen, besteht auch dann weiter, wenn wir uns von den veröffentlichten wissenschaftlichen Arbeiten entfernen und stattdessen Studienberichte auf wissenschaftlichen Konferenzen anschauen, wo Belege häufig erstmals präsentiert werden (wie wir noch sehen werden, erscheinen Studienergebnisse manchmal nur auf einer wissenschaftlichen Konferenz, mit nur sehr geringen Informationen über die Durchführung der Studie).

Fries und Krishnan untersuchten alle Abstracts (Kurzzusammenfassungen) wissenschaftlicher Arbeiten, die 2001 bei Meetings am American College of Rheumatology von klinischen Studien berichteten, deren Finanzierung durch die Pharmaindustrie bekannt war. Sie wollten wissen, in welchem Ausmaß Ergebnisse zugunsten des Medikaments des Sponsors ausgefallen waren. Es kommt noch eine kleine Pointe, und um die zu verstehen, müssen wir uns kurz mit den Formalien einer wissenschaftlichen Arbeit beschäftigen. Im Allgemeinen werden die Ergebnisse ausführlich dargestellt. Für jedes Ergebnis und für jeden möglichen kausalen Faktor werden die Rohdaten angegeben, aber nicht nur als reine Zahlen. Die »Bereiche« werden angegeben, vielleicht Untergruppen untersucht, statistische Tests werden durchgeführt, und jedes Detail des Ergebnisses wird in Tabellenform wiedergegeben und auch in einem Fließtext zusammengefasst. Diese ausführliche Darstellung erstreckt sich normalerweise über mehrere Seiten.

Bei Fries und Krishnan [2004] war diese Ausführlichkeit nicht notwendig. Der Abschnitt »Ergebnisse« besteht aus einem einzigen, lakonischen Satz:

RCT Hinweis (45 von 45) brachte günstige Ergebnisse für das Medikament des Sponsors.

Mit diesem extremen Ergebnis kann man sich Zeit sparen: Da jede von der Industrie finanzierte Studie ein positives Ergebnis erbrachte, muss man also nicht mehr über eine Arbeit wissen, um das Ergebnis vorhersagen zu können: Wenn sie von der Industrie finanziert wurde, konnte man mit absoluter Sicherheit ein hervorragendes Ergebnis für das Medikament vorhersagen.