Andrian Kreye
Aufstand der Gettos
Die Eskalation der Rassenkonflikte in Amerika
Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
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Andrian Kreye, geboren 1962 in München, lebt seit 1988 in New York. Seit 1986 Redakteur, seit 1988 USA-Korrespondent für die Zeitschrift Tempo. Autor u.a. für FAZ und Die Woche, verschiedene Dokumentarfilme über Nord- und Südamerika, (u.a. Zusammenarbeit mit Georg Stefan Troller).
Andrian Kreyes Reportagen entstanden mitten im Getto, sie berichten über das Leben der Minderheiten in Amerika – der Schwarzen, der Latinos, der Chinesen und der indianischen Ureinwohner – und fragen nach der Realität der multikulturellen Gesellschaft.
Das Fazit ist ernüchternd: den großen Schmelztiegel gibt es nicht. Je größer die Armut, desto größer der Rassismus – ob weiß, schwarz, rot oder gelb. Der Weg zu einem friedlichen Zusammenleben der ethnischen Minderheiten ist noch weit.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei KiWi Bibliothek
© 2017 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Impressum der Reprint Vorlage
ISBN (eBook) 978-3-462-41155-3
Meinen Eltern, Markus und Maxim
Ich bin weiß. Bevor ich zum ersten Mal nach New York kam, habe ich mir darüber nie wirklich Gedanken gemacht. Ich lebte in Deutschland, im Goldenen-Zeitalter-Deutschland vor dem Fall der Mauer, das homogen und geordnet war, eine Monokultur, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte, ein Hort von Sicherheit und Wohlstand, der so fad und farblos war, aber doch so angenehm und einfach. Alles war deutsch. Nur die Popkultur nicht. Die hatten die Amerikaner mitgebracht: Kino, das einem die große Welt zeigte, Bücher, die man wirklich lesen wollte, und Musik mit Seele.
Die Helden meiner Jugend waren Jazzmusiker. Charles Mingus und Miles Davis hatten mir mehr über das Leben erzählt als sämtliche deutsche Schriftsteller zusammen. Ich spielte Modern Jazz mit Oberschülern und Soul mit GIs aus der Kaserne. Nächtelang saß ich im Münchner »Domicile«, lauschte den Großen aus New York. Ich traf sie an der Bar als Fan, später als Reporter. Sonny Stitt zeigte mir den Ansatz auf dem Saxophon, Machito erklärte mir das Leben, mit Ornette Colemans Bassist haderte ich über die Frauen und mit Lester Bowie über die Politik. Die Jazzlegenden waren weise Männer, mit einem Zugang zum Leben, der mir vollkommen erschien.
Ein Deutscher war auch dabei – Gunter Hampel. In seinem Workshop Orchestra lernte ich musikalische Freiheit, von ihm selbst die Freiheit von Normen, Grenzen und Vorurteilen. Er war Ende der 60er Jahre der erste europäische Musiker gewesen, der eine Free-Jazz-Platte aufgenommen hatte. Er veröffentlichte unzählige Schallplatten auf seinem eigenen Label, pendelte zwischen Deutschland und New York, hatte mit der schwarzen Sängerin Jeanne Lee zwei Kinder und auf beiden Kontinenten Ensembles, Bands und Orchester.
Bei meiner ersten Reise nach New York wohnte ich bei Gunter in der 11. Straße. Überglücklich lebte ich für ein paar Wochen das Leben der Jazz-Bohemiens. Die East-Village-Szene war auf dem kreativen Höhepunkt. Überall gab es Galerien, Jazzclubs, Performancehallen, die Junkies waren weitergezogen, und die Yuppies hatten das Viertel noch nicht entdeckt. Mein romantisches Bild vom Schmelztiegel New York wurde an jeder Straßenecke bestätigt.
Es war auch Gunter, der mich zum ersten Mal mit ins Getto nahm, nach Bedford Stuyvesant, das Schwarzenviertel von Brooklyn. Gunter hatte einen Job mit einer klassischen Bebop-Combo, Samstagabendjazz in der »Flamingo Lounge«, einem altmodischen Club mit roten Lederbänken und einer Jukebox, die Miles-Davis- und Charlie-Parker-Singles spielte. Einer der Musiker holte uns von der U-Bahn ab. Wir sollten als Weiße nicht einfach so durch die Gegend laufen. Ich zuckte nur mit den Schultern. Mir erschien die Gegend freundlich. Die Straßen wurden von ehemaligen Bürgerhäusern gesäumt, auf dem Gehsteig saßen Familien auf Klappstühlen in der Sommerhitze, und daß vor dem Club auf einem Pappschild »Waffen und Drogen verboten« stand und der Türsteher eine .45er im Schulterhalfter stecken hatte, fand ich nur aufregend. Ich war im Getto angekommen.
Gunter spielte mit der Band Standards auf dem Vibraphon, wir tranken Bier und Whisky und plauderten mit dem Wirt. Später wollte ich Kaffee. Der Türsteher schickte mich in die Burgerbude um die Ecke. Die Tür war verschlossen, um unerwünschte Kundschaft fernzuhalten. Der Kellner wollte mich gerade hereinlassen, als wütendes Gebrüll vom Tresen kam. Eine Gruppe schwarzer Halbstarker saß da und rief »Keine Weißen, keine Weißen«. Erstaunt lief ich zurück zum Club. Gunter fand die Geschichte nicht so lustig. Das hätte böse ins Auge gehen können, erklärte er mir. Doch es sollte noch dauern, bis ich mir meine Utopie vom Schmelztiegel New York endgültig aus dem Kopf schlug.
1988 zog ich ganz nach New York. Ich war Reporter für Tempo und das F.A. Z.-Magazin. Ich wollte in den Straßen wohnen, die ich nur aus dem Kino kannte, mit den Menschen sprechen, die ich nur aus Büchern kannte, und vor allem wollte ich die Energie erleben, die es in Amerika überall zu geben schien. Hip Hop hatte es mir angetan, die rohe Kraft der Gettojungs, die für mich pure Energie war, bevor mir das Getto zeigte, daß die sympathische Hipness der Jazzer dem Nihilismus der Crack-Generation Platz gemacht hatte.
Es war wieder an einem Samstagabend, vor dem »Red Parrot«, einem Nachtclub auf der 57. Straße, gleich beim West Side Highway. Ein Junge, höchstens 18, ging ganz langsam um die Halle herum, zog eine 9-Millimeter-Pistole aus dem Hosenbund und schoß in den Hintereingang. Viermal. Sein Gesicht blieb dabei ganz ruhig. Dann steckte er die Pistole wieder in den Hosenbund, ging drei Schritte zurück, drehte sich wie ein Baseballspieler eine halbe Drehung nach rechts und rannte in kurzen Sätzen davon. Keiner traute sich, ihm nachzulaufen.
Drinnen brach die Menge nach den Schüssen in Panik aus. Schreien, Brüllen, Kreischen, neben der Tanzfläche lag ein Mädchen, hielt sich den Oberschenkel, auf dem sich ein tiefroter Fleck ausbreitete. Gut zweitausend Gäste waren an diesem Abend im »Red Parrot«, die jetzt in dicken Trauben auf die Straße liefen und jeden umrannten, der im Weg stand. Ich selbst lag hinter einem Auto in Deckung. Immer wenn ich über die Kühlerhaube linsen wollte, um das Geschehen zu verfolgen, zog mich ein Bursche wieder herunter. »Bleib hier, Mann, die sind verrückt!« herrschte er mich an. »Scheiße. Warum muß es immer so enden. Jetzt paß auf, was die Cops machen.«
New Yorker Polizisten wissen, wie man einen wirkungsvollen Auftritt inszeniert. Kein aufgeregtes Fernsehcopgetue, kein »Freeze!«-Schreien und Reifenquietschen. Das einzig Dramatische an ihrem Auftritt sind die Sirenen und Streifenwagen. Kaum sind sie ausgestiegen, schlurfen sie mißmutig über die Straße, eine Hand nachlässig am Pistolenhalfter. Die meisten New Yorker Cops sind Weiße aus der Vorstadt. Sie hassen ihren Job in der Innenstadt, und sie hassen ihn besonders, wenn sich die Schwarzen wieder einmal gegenseitig über den Haufen geschossen haben. »O.K., was ist hier los«, raunzen sie, als ob sie der Welt einen Gefallen tun, wenn sie jetzt gleich ein paar Jungs an die Wand stellen, sie herumschubsen und, wenn sie frech werden, in den vergitterten Bus packen. Das schafft Autorität.
Fünf Streifenwagen hielten vor dem »Red Parrot«. Mißmutig verteilten sich die Cops über die Szenerie. Ein paar fingen an, mit ihren Schlagstöcken in den Trümmern der Clubeinrichtung zu stochern, andere versuchten, ein paar Jungs im Gangsterlook zu verhören, die sie – Gesicht zur Wand, Hände an die Mauer – an der Hallenseite aufgereiht hatten. »Sie werden nichts herausbekommen, und bei der nächsten Schießerei werden sie den Club einfach zumachen«, sagte mein Begleiter und schnaubte verächtlich durch die Nase. »So geht das immer.«
Die Cops fingen an, ein paar Jungs in Handschellen zu legen. Sie waren frustriert, weil sie wirklich nichts herausbekamen, und ließen ihre schlechte Laune an jedem aus, der ihnen in die Quere kam. So eine Verhaftung ist äußerst unangenehm. Vor allem, wenn man kein Weißer ist. Die Anwälte brauchen oft drei bis vier Tage, um ihre Schützlinge in dem überlasteten, chaotischen Gefängnissystem von New York zu finden, und selbst, wenn die Anklage später fallengelassen wird, setzen die Haftrichter die Kautionen für junge Schwarze und Latinos meist doppelt so hoch an wie für Weiße. Ich schnappte mir mit dem Burschen, der mich hinter das Auto gezogen hatte, ein Taxi, und wir fuhren ins Village. In die heile Welt der Boheme.
Der Bursche hieß Charles und war Betriebswirtschaftsstudent an der New York University. Gut sah er aus. Kragenloses Jackett, Seidenhemd, Hornbrille – New Jack Style. Er teilte sich mit zwei Freunden eine Wohnung im Village. Aufgewachsen war er allerdings in Harlem. Er sprach sehr distanziert vom Getto. Von den Harlem Gangs, die Mitte der 80er Jahre plötzlich aufhörten zu prügeln und anfingen zu schießen, von den rassistischen Cops, den verzweifelten Bürgern, von den Baptistenpredigern und den Black Muslim, die versuchten, den Verfall aufzuhalten, und von den Gangstern, die die Oberhand behielten. Von alten Schulfreunden, die eine Kugel erwischt hatten, und von alten Schulfreunden, die auf die Uni gegangen waren. »Wenn du im Getto wohnst, lebst du wie an der Frontier, der Zivilisationsgrenze im Wilden Westen. Da draußen gelten andere Gesetze«, sagte er. »Das ist ein immerwährender Kampf ums Überleben, um Boden und Macht. Deswegen mußt du dich entscheiden, auf welcher Seite du kämpfst. Wie ein Cowboy.«
Ich habe Charles noch ein paarmal wiedergesehen. Wir wollten eigentlich nach Harlem, nach Brooklyn, in die Bronx. Er wollte mir die historischen Plätze der schwarzen Kultur zeigen und die Kriegsschauplätze im Getto. Er hatte mir die 125. Straße versprochen, das Apollo Theater, die Baptistenkirchen und Jazzclubs, die Crackhäuser, die Gangturfs und die afrozentrischen Agitatoren. Aber das war ihm plötzlich peinlich. Seine afrozentrischen Freunde hatten kein Verständnis für neugierige Weiße, und seine Studentenfreunde interessierte das alles nicht. Deswegen spielten wir lieber Billard, tranken Bier und vergaßen das alles. Ich habe sie dann ohne ihn getroffen. Die alten Herren von Harlem, die Fanatiker aus Brooklyn, die Drogenkrüppel und Dealer.
Nicht nur sie. Auch die mexikanischen Revolverhelden, die chinesischen Einwanderer und Mafiosi, die Mohawk Rebellen und die Nazis vom Ku-Klux-Klan. Ich habe mit Popstars und Politikern gesprochen, mit Anwälten, Künstlern und Boxern, mit Gangstern und Bürgern, mit jedem Menschen, der sich Gedanken darüber gemacht hat, ob das Experiment Amerika funktioniert. Doch vor allem wollte ich die Realität der multikulturellen Gesellschaft vor Ort erleben. Ich bin in die Gettos gefahren, die Armenviertel wie Harlem und East Los Angeles, in die die unerwünschten Minderheiten von Grundstücksmaklern und Stadtpolitikern abgeschoben wurden, in die Reservate, in die die Ureinwohner Amerikas von den weißen Eroberern gepfercht wurden, und in die freiwilligen Gettos, Enklaven wie Chinatown oder die Wohnwagensiedlungen der weißen Unterschichten, deren Einwohner vom Rest der Welt nichts wissen wollen.
Ich habe versucht, neutral zu bleiben, der objektive Journalist, der europäische Beobachter, der von draußen kommt. Das ist mir nicht immer gelungen.
Als erstes habe ich meine »Alle-Menschen-werden-Brüder« – Utopien über Bord geworfen. Niemand will sich verbrüdern. Nur die Gebildeten, die Wohlhabenden und Bohemiens leisten sich den Luxus, integrierte Gesellschaft, harmonisch multikulturelles Zusammenleben zu spielen. Sobald mehr als eine Gruppe, mehr als eine Kultur oder Rasse in einem Gebiet leben, gibt es Verständigungsschwierigkeiten, Vorurteile, Konflikte.
Ich begann, Reportagen über die Gettos zu schreiben, über Minderheiten und ihre Kulturen. Ich war überrascht, wie oft ich bei meinen Recherchen auf offene Gewalt stieß. Diese Ausbrüche waren für mich ein Symptom für die ungelösten Probleme, die auftauchen, wenn ganze Gruppen vom Rest der Gesellschaft ausgeschlossen sind.
Selbst die Mitglieder der Minderheiten, die das Getto längst hinter sich gelassen haben, werden tagtäglich mit diesen Problemen konfrontiert. Charles zum Beispiel gehört zu denen, die gelernt haben, auf beiden Seiten mitzuspielen. Er weiß um seine schwarzen Wurzeln Bescheid, und er kennt die Regeln, mit denen man in der Welt der Weißen Karriere macht. Charles gehört zum Mittelstand. Trotzdem hält in New York kein Taxi für ihn, stellt ihn in Los Angeles die Polizei ohne Grund an die Wand, muß er doppelt so hart kämpfen, um sich beruflich durchzusetzen. Charles heißt auch nicht nur Charles. Ich bin ihm andauernd begegnet, als Ralph, Lisa, Mark, Yolanda oder James. Charles ist Schwarzer, Latino, Chinese oder Indianer. Wir waren Freunde, trotzdem hatten wir Probleme. Vor allem, wenn wir darüber sprachen, wie oft die Klischees von der Gewalttätigkeit im Getto von der Wirklichkeit bestätigt werden. Charles wollte mir nicht glauben, daß Rassismus für mich als Wohlstandskind aus Mitteleuropa eine theoretische Größe ist, die ich nur aus Geschichtsbüchern kenne. Meistens haben wir dann einfach noch ein Bier bestellt.
Eines wurde mir sofort klar: Rassismus hat immer mit Armut und Dummheit zu tun. Wer jemals der plumpen Rhetorik eines Rassisten zugehört hat, weiß, wie beschränkt die Argumente und die vordergründige Logik sind. Solch durchschaubare Polemik wirkt nur bei Menschen ohne Perspektive. Beim »White Trash« zum Beispiel, beim Bodensatz der weißen Unterschicht, aus dem sich die Mitglieder des Ku-Klux-Klan rekrutieren. In den 30er Jahren, als der Klan nicht nur gegen Schwarze und Juden vorging, sondern auch gegen Katholiken, warnte ein Klanführer in North Manchester, Indiana, seine Zuhörer: »Der Papst könnte morgen schon mit dem Zug nach Norden kommen! Seid gewarnt!« Am nächsten Morgen sammelte sich ein tausend Mann starker Lynchmob, der zum Bahnhof zog, um den Papst aufzuknüpfen. Der einzige Fahrgast, ein Korsetthändler, mußte die Menge eine halbe Stunde lang beschwatzen, bevor sie ihm glaubten, daß er nicht der Papst sei.
Viele Black Muslim von der Nation of Islam wiederum nehmen den Mythos vom »weißen Teufel« wörtlich, den der Sektengründer Elijah Muhammad bis zu seinem Tode Mitte der siebziger Jahre gepredigt hat. Demnach sind die Weißen nur das Produkt eines fehlgeschlagenen Genexperiments, das vor über sechstausend Jahren auf einer Insel vor Afrika stattfand, und beherrschen seitdem die Erde mit bösen Zauberkräften, die sie vor allem dazu benutzen, die Schwarzen zu zerstören. Ein schwarzer Oberschüler erklärte einem verdutzten Reporter vor kurzem: »Die weißen Teufel von Washington haben den Plan, bis zur Jahrtausendwende einhundert Milliarden Schwarze zu vernichten.«
Wie die Gettos entstehen, wie die Menschen dort denken, wie die Dynamik der multikulturellen Gesellschaft funktioniert und warum es in Amerika nur Aufstände gibt, nie Revolutionen, das erfuhr ich erst im Laufe der Zeit. Fünf Jahre lang habe ich in Amerika gearbeitet, bevor ich genügend Material für dieses Buch zusammenhatte. Dann stand Los Angeles in Flammen. Viele der Probleme, auf die ich in meinen Reportagen gestoßen war, explodierten hier im verheerendsten Aufstand seit Jahrzehnten.
Ich habe den Hauptteil des Buches in fünf Kapitel unterteilt, weil jede der fünf großen Gruppen einen eigenen Platz in der amerikanischen Gesellschaft hat. Die Schwarzen haben die stärkste eigene Kultur entwickelt, die Latinos haben am meisten mit dem Zwiespalt zwischen Assimilation und dominanten Wurzeln zu kämpfen, die Chinesen haben sich von Anfang an geweigert, sich an die amerikanische Kultur anzugleichen, und die Indianer bekamen von Anfang an nicht die kleinste Chance dazu. Die Weißen nehmen in diesem Buch eine Sonderstellung ein. Ich habe nicht die schweigende Mehrheit beschrieben, sondern mich auf die extremen Gruppen konzentriert, die auf die multikulturelle Gesellschaft mit Paranoia reagieren, die sich als Minderheit und Opfer der anderen Gruppen sehen, die ihrer Meinung nach immer stärker werden. Lösungen habe ich keine gefunden, nur Probleme. Ich bin Reporter, nicht Politiker.
Mark Craig – Symbol für den Aufstand von Los Angeles
Als vor dem Polizeipräsidium von Los Angeles die ersten Flammen aus dem Wachhäuschen züngeln, überkommt es Mark Craig wie ein Rausch. Die Schlachtreihen der Einsatzpolizisten in ihren gepanzerten Uniformen, die versuchen, das Parker Center Polizeipräsidium zu schützen, ihre Schrotflinten und Schlagstöcke, die sie hinter den Plastikschilden bereithalten, das Knattern der Hubschrauber, das Heulen der Sirenen, das heisere Bellen der Megaphone, das Gebrüll der Demonstranten, die unerträgliche Spannung, das Gefühl der unmittelbaren Gefahr – alles verwischt in einem Sog, der ihn in die Menge zieht, ihn mitreißt, in die geballte Wut einer ganzen Stadt. »Burn, baby, burn«, schreit einer, den Slogan der Schwarzenaufstände der 60er Jahre. Ein anderer schwingt ein brennendes Sternenbanner über seinem Kopf. Die Menge skandiert den Schlachtruf: »No justice, no peace!« Vor fünf Stunden haben die Geschworenen im Gerichtssaal von Simi Valley vier weiße Polizisten freigesprochen, die den Schwarzen Rodney King halbtot geprügelt hatten. Seit einem Jahr flimmerte die Videoaufnahme eines Amateurs über die Fernsehschirme der ganzen Welt. 56 Knüppelhiebe auf einen Wehrlosen, und trotzdem viermal Freispruch? Es gibt kein Halten mehr. Los Angeles brennt.
Mark Craig preßt die Arme an den Körper, ballt die Fäuste und stößt einen Schrei aus. Die ganze Wut bricht aus ihm heraus. 23 Jahre ist er alt. Afroamerikaner, kein Gettokid, sondern ein Bürgersohn aus der Vorstadt. College-Student und Golfkriegs-Veteran, und doch erfüllt ihn die gleiche Wut wie die Gettobewohner und Gangs, die vor ein paar Stunden begonnen haben, die Schwarzenviertel South Central, Compton und Watts in Schutt und Asche zu legen.
Die Menge bestürmt das Wachhäuschen auf dem Parkplatz. Langsam kippt es auf die Seite, balanciert für einen Moment auf der Kante, wie ein Volltrunkener, der innehält, bevor er endgültig den Stand verliert. Mark springt an die Einfahrtseite, drückt, schiebt, brüllt. Mit einem dumpfen Schlag prallt das Häuschen auf den Asphalt. Ein paar Demonstranten klettern hinauf, schwingen die Fäuste. »No justice, no peace!« Nicht nur Schwarze, Weiße, Latinos, Asiaten.
Mark steht ganz vorne auf dem Häuschen. Für ein paar Sekunden richten sich die Kameras auf ihn. Ein schmaler Bursche. Auf seinem übergroßen T-Shirt prangt ein weißes Peace-Zeichen, wie ein vorwurfsvoller Gruß an die gescheiterte Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre. Auf dem Kopf eine Baseballkappe, verkehrt herum nach Art der schwarzen Gangs. Dann schlagen die Flammen aus den Fensterhöhlen, die Demonstranten springen ab. Meterhoch lodert das Feuer in den Nachthimmel. Die Hitze wird unerträglich, treibt die Menge zurück, die einen Kreis um das Wachhäuschen bildet.
Sie stehen um die brennenden Trümmer wie um einen Scheiterhaufen, haben die Fäuste in die Luft gestreckt. Immer wieder der Schlachtruf: »No justice, no peace!« als ob sie über ein Mantra meditieren. Mark steht in der ersten Reihe. Als er in die Flammen schaut, erfaßt ihn ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit, eine siegesgewisse Aufregung und Unruhe, wie bei den Footballspielen damals in der High-School, wenn sie kurz vor dem Spiel einen Scheiterhaufen anzündeten, um mit dem Feuer ihren Kampfgeist anzuheizen.
Die Polizei hat inzwischen einen Gürtel um die Demonstranten gebildet. Längst hat der Einsatzleiter den Versuch aufgegeben, die Masse in den Griff zu kriegen. Vorhin haben gut einhundert Demonstranten versucht, das Hauptgebäude zu stürmen. Mark hat es mit ein paar anderen bis zum Eingang geschafft, hat sogar einen Türgriff abgerissen. Aber da war die Polizei noch zu stark. Jetzt hat sich das Blatt gewendet. Die Menge ist zum wildgewordenen Mob angeschwollen. Um den Schaden zu begrenzen, versucht der Einsatzleiter, die Menge in eine Richtung zu drängen. Mark bricht mit einer Gruppe durch den Kordon. Sie laufen eine Straße entlang, die von Zierbäumen und Blumenbeeten gesäumt wird. Regierungsviertel. Links haben ein paar Demonstranten die Gitter von Geschäften aufgebrochen. Plünderer packen mit beiden Armen so viel, wie sie nur greifen können. Ein Restaurant steht in Flammen. Das schrille Läuten der Alarmanlagen übertönt sogar die Sirenen. Mark und seine Jungs biegen nach rechts.
An der nächsten Ecke flüstert ein Fernsehreporter seinen Bericht ins Mikrophon. Er traut sich nicht, sein Licht anzuschalten, duckt sich ängstlich, als die Gruppe an ihm vorbeiläuft. Ein paar Meter weiter treffen sie auf eine Gruppe, die einen Streifenwagen des Los Angeles Police Department (LAPD) auf die Seite kippt. Aus dem Motor schlagen Flammen, der Wagen schwankt, droht wieder auf seine Räder zu fallen. Mark und seine Gruppe helfen, den schwarzweißen Chevy umzuwerfen. Mark steigt auf den Unterboden, stößt einen Triumphschrei aus. Wieder spürt er dieses zufriedene Gefühl, etwas kaputtgeschlagen zu haben, das alles repräsentiert, auf das er einen Haß hat. Mit einem Satz springt er auf den Bürgersteig, rennt mit der Menge Richtung Downtown. Kurz darauf hallen Schüsse – die Munition der Streifenwagen explodiert.
Weiter geht es, immer weiter. Am Rathaus vorbei, am Verlagsgebäude der Los Angeles Times. Mit lautem Bersten zersplittern Glastüren und Fensterscheiben. Beißender Brandgeruch liegt in der Luft. Die Gruppe ist jetzt wieder auf ein paar hundert angeschwollen. Wann immer sie in eine Polizeisperre laufen, biegen sie ab. Die Polizeitruppen dirigieren sie auf den Broadway, eine schäbige Einkaufsstraße mit Discountgeschäften und Kinopalästen, die spanischsprachige Filme zeigen. Sofort verteilt sich die Menge in kleine Gruppen, die beginnen, die Gatter der Geschäfte aufzubrechen. Als erstes ist ein Messergeschäft dran. Mit lautem Johlen hängen sich die Burschen in einer Traube an den Rolladen aus Stahl. Es knirscht und ächzt, und bevor Mark zur Seite springen kann, ist der Laden aus dem Rahmen gerissen. Mit seinem ganzen Gewicht stürzt das Ungetüm auf Mark. So laut er kann, brüllt er los. Die Menge hält inne. Fast hätten sie Mark unter dem Stahlladen totgetrampelt. Drei Burschen ziehen ihn heraus, dann stürmt die Menge über die Trümmer ins Geschäft.
Am Nachmittag dieses 29. April hatte alles noch wie ein ganz normaler Rassenaufstand ausgesehen. Schwarze randalierten in den Gettos, steckten ein paar Häuser an, plünderten Geschäfte. Über den Schwarzenvierteln South Central, Compton und Watts schwärmten Pressehubschrauber im Tiefflug aus. »An der Kreuzung Florence und Normandie scheint sich eine Menge zusammenzurotten«, berichtete einer der Reporter. Die Kamera zeigte dazu Schwarze, die wie bösartige Ameisen über die Gettostraßen wuselten. Ein paar stürmten Tom’s Liquor, ein Schnapsgeschäft an der Nordoststrecke der Kreuzung. Davor ging das erste Auto in Flammen auf. Ein anderer Hubschrauber fand ein paar Blocks weiter ein zweites Feuer. Immer mehr Gebäude fingen Feuer. Selbst als eine Fernsehkamera aus der Luft mitfilmte, wie Mitglieder der Eight Tray Gangster Crips an der Kreuzung Florence und Normandie den weißen Lastwagenfahrer Reginald Denny aus seinem Führerhaus ziehen, ihn halbtot prügeln, ihm, als er versucht, sich aus seiner Blutlache aufzurichten, einen großen, runden Gegenstand auf seinen Kopf schmettern und mit einer Schrotflinte neben ihn in den Boden schießen, scheint noch alles in Ordnung. Die Schwarzen schlagen brav in ihrer eigenen Gegend um sich, so wie die Jahre vorher in Detroit, Washington und Miami. Erst als die Menge Schwarzer, Weißer, Latinos und Asiaten vor dem Polizeihauptquartier das Wachhäuschen in Brand steckt, weiß Amerika, daß es diesmal um mehr geht. Vor dem Parker Center wird der Rassenkrawall zum Aufstand der Massen.
Drei Tage und Nächte dauert der Aufstand. Bürgermeister Bradley erklärt am zweiten Tag den Ausnahmezustand, verhängt von Sonnenunter- bis Sonnenaufgang eine Ausgangssperre über die Stadt. Ohne großen Erfolg. Die Aufständischen kümmern sich nicht um Ausgangssperren. Sie ziehen nach Norden in die weißen Viertel, nach Hollywood und Beverly Hills, brennen Einkaufszentren nieder, plündern Geschäfte und liefern sich Schießereien. Von der Polizei ist nichts zu sehen.
In anderen Städten ähnliche Bilder – wütende Mengen in San Francisco, Seattle, Las Vegas, Tampa und Boston stecken Geschäftsviertel in Brand, plündern, prügeln, wüten.
Doch nirgends eskaliert die Gewalt wie in Los Angeles. Ein Gangbanger namens »Psycho« hält einem Captain der Feuerwehr eine Kalaschnikow an den Kopf. Ein anderer Feuerwehrmann wird von einer 9-mm-Kugel niedergestreckt. Die Polizei weigert sich daraufhin, die Löscharbeiten zu beschützen. Die Feuerwehrzüge ziehen sich zurück.
Am späten Nachmittag trudeln in den Nachrichtenredaktionen die ersten Meldungen von Toten ein. Louis Watson, schwarz, 18 Jahre, an der Ecke Vernon und Vermont erschossen. Dwight Taylor, schwarz, 42 Jahre, am Martin Luther King Boulevard erschossen. Edward Travens, weiß, 15 Jahre, in San Fernando Valley erschossen. Patrick Bettan, ein weißer Security Guard, in einem koreanischen Supermarkt erschossen. Das Lichtermeer von Los Angeles sieht in dieser Nacht aus, als wäre ein Bombenangriff niedergegangen.
Am nächsten Tag erklärt Präsident Bush im Fernsehen: »Ich werde alles in meiner Macht Stehende unternehmen, um diesen Wahnsinn zu stoppen.« Wenige Stunden später marschiert das erste Kontingent der National Guard in South Central ein. Voll ausgerüstete Truppen mit Stahlhelmen, kugelsicheren Westen und automatischen M-16-Gewehren. An den wichtigsten Kreuzungen gehen Panzerwagen in Stellung. Einheiten der US-Army errichten Maschinengewehrnester. Ledernacken verteidigen Lebensmittelmärkte und Schnapsläden. 5.000 Polizeibeamte, 1.000 County Sheriffs, 950 County Marshals, 2.323 Offiziere der Higway Patrol, 1.769 Armeesoldaten, 1.544 Ledernacken und 9.975 National-Guard-Soldaten – eine Armee von über 21.000 Mann rückt an. Der Großteil der Truppen besetzt den südlichen Teil der Stadt. Die Schwarzenviertel von South Central, Compton und Watts.
Die L.A. Riots sind der größte zivile Aufstand in der Nachkriegsgeschichte der USA. 58 Menschen sterben, 2.383 werden verletzt, über fünfeinhalbtausend Gebäude werden zerstört, davon 17 Regierungsgebäude, mehrere tausend Geschäfte werden geplündert, zertrümmert, niedergebrannt, von denen die meisten Koreanern gehören, 12.545 Menschen werden festgenommen. Die Nachrichtensprecher der Fernsehsender sprechen von »Verbrechern, Gangstern, Plünderern, die eine Tragödie für ihre kriminellen Handlungen ausnutzen«, von »Elementen, vor denen die Gesellschaft geschützt werden muß« und vom »schwarzen Zorn in South Central«. Es dauert Tage, bis die liberalen Medien reagieren können und die Geschichte von der »schwarzen Intifada« erzählen, vom Aufstand der »Sprach- und Wehrlosen der Gesellschaft«, vom »ersten multikulturellen Aufruhr«, vom Kampf der Minderheiten gegeneinander, der Schwarzen gegen die Koreaner und Latinos, aller gemeinsam gegen die Polizei. Eine Antwort auf die Frage »warum?« findet niemand. Keine zehn Meilen weiter, in der Vorstadt, war der Aufstand ein unwirkliches Fernsehspektakel, ein Science-fiction-Film, der rund um die Uhr im Fernsehen lief. Kaum einer der weißen Vorstädter ist je in seinem Leben in South Central oder Watts gewesen. Selbst die Schwarzen, die hier in den mittelständischen Außenbezirken wohnen, kennen die Gettos höchstens von seltenen Besuchen bei Freunden und Verwandten. Eine halbe Autostunde von der Kreuzung Florence und Normandie entfernt klingt der Name South Central so exotisch wie Liberia oder Sudan.
Auch für Mark Craig war der Aufstand, als er am späten Abend des 29. April wieder in seine Wohnung in einem Apartmentkomplex in Monrovia zurückkehrte, wie ein Abenteuer in einer anderen Welt. Mit ein paar Freunden saß er im Wohnzimmer. Sie kauerten auf der beigefarbenen Polstergarnitur, schalteten durch die lokalen Fernsehprogramme und diskutierten bis spät in die Nacht. Ab und zu unterbrachen sie ihren Redeschwall und johlten. Fast alle Nachrichtensendungen zeigten Bilder von Mark, wie er mithilft, das Wachhäuschen umzustürzen, wie er auf die brennenden Trümmer klettert und im Feuerschein die Faust in die Luft reckt. Mark starrt ungläubig auf den Fernseher. Die Bilder scheinen weit entfernt, wie aus einem Film. Doch sie ließen ihn nicht mehr los. Am nächsten Tag fand er sein Foto in allen Zeitungen. Am Montag nach dem Aufstand kürte ihn das Nachrichtenmagazin Newsweek endgültig zur Symbolfigur. »Fire and Fury« stand in riesigen Lettern auf dem Titelbild. Daneben Mark – er ruft etwas, den rechten Arm ausgestreckt wie ein Feldherr, der seine Truppen in den Kampf schickt. Hinter ihm am Boden das Wachhäuschen, aus dem meterhohe Flammen schlagen. Mark Craig war berühmt. Zumindest seine Fotos. Die Geschichte hinter den Bildern vom zornigen jungen Schwarzen mit dem Peace-T-Shirt kennt kein Mensch. Dabei sagt sie mehr über die Riots, als Zahlen und Statistiken.
Über die Freeways 110 und 210 ist es von Los Angeles eine halbe Stunde bis nach Monrovia. Eine Fahrt durch die Hügellandschaft von Pasadena. Erst kurz vor Monrovia werden die Palmen und Gärten weniger, nehmen die Industriekomplexe und Fast-food-Restaurants am Rand der Autobahn zu. Hier beginnt Suburbia. Zwei Kreuzungen von der Ausfahrt Monrovia entfernt wohnt Mark in der Monterey Street. Die Straße endet in einer Schleife. Rechts Einfamilienhäuser mit geräumigen Gärten, links ein verschachtelter Apartmentkomplex mit hellgrauer Holzverschalung. Ein betonierter Weg führt durch manikürte Rasenflächen und Blumenbeete zu den Eingängen. Eines der oberen Apartments teilt sich Mark mit seinem Freund Steve Mency.
Im Wohnzimmer stehen Polstergarnitur und Schrankwand, an den Wänden Farbdrucke mit den Portraits von Martin Luther King, Malcolm X und Nelson Mandela, Marks Newsweek-Cover im schwarzen Holzrahmen. Im hinteren Teil des Raumes eine Kochnische, ein Eßtisch mit Rauchglasplatte, ein Wasserspender. Die Rollos sind heruntergelassen, damit die Nachmittagssonne nicht so hereinprallt. Wir sitzen am Rauchglastisch, trinken Wasser mit Eiswürfeln. Im Fernsehen läuft eine Gameshow. »Aus New York bist du gekommen?« fragt mich Mark noch einmal. Schüchtern schaut er auf den Boden. »Das ist alles noch ganz schön viel für mich«, sagt er. »CNN war da, Ebony Magazine. Im ganzen Ort bin ich bekannt, muß Autogramme geben.« Mark seufzt. »Wenn ich mit meinem Peace-T-Shirt nach Los Angeles gehe, halten mich die Leute auf der Straße an, um mir zu gratulieren.« Nicht überall wird Mark als Held der Riots gefeiert. John Seymour, ein reaktionärer Lokalpolitiker, benutzt Marks Bild für seinen Wahlspot zur State Senate Elections. »Take back the streets from the gangs«, lautet der Slogan. Dazu sieht man, wie Mark mit erhobener Faust um das brennende Häuschen herumgeht.
Marks Lebensgeschichte ist die Geschichte eines ganz normalen Vorstadtjungen. Seine Mutter Deborah war eines von acht Kindern einer Arbeiterfamilie, die aus Texas hierherzog. Als Mark zur Welt kam, war sie gerade sechzehn. Trotzdem ging sie weiter zur Schule, bis sie mit neunzehn mit seiner Schwester schwanger wurde und das College abbrechen mußte. Marks Vater verließ die Familie, als Mark noch ein Kleinkind war. Deborah heiratete Everett Mix, einen jungen Beamten der Elektrizitätswerke. Als die Kinder älter wurden, begann sie zu arbeiten. Mit zwei Einkommen konnten sie sich bald ein geräumiges Haus mit Swimmingpool und Garten leisten. »Ich habe immer gehabt, was ich brauchte«, sagt Mark. »Ich konnte in die Schule gehen, hatte Bücher, Spielzeug, später ein Auto, und was noch viel wichtiger war, Eltern, die sich um mich gekümmert haben.« Heute verwaltet Deborah Mix eine Anlage des Chemiekonzerns Dupont. Everett Mix ist Inspektor für Verkabelungsprojekte.
Mit achtzehn schloß Mark die High-School von Monrovia ab. Um keine Zeit zwischen Oberschule und College zu verschwenden, meldete er sich freiwillig zur Marine. Er wurde der U.S.S. Warden zugeteilt, einem Kreuzer der CG-18-Klasse. Mark arbeitete als Maschinenbau-Ingenieur, zuständig für die Schiffsturbinen, die Generatoren und die Trinkwasseranlage. Ein angenehmes Leben. Die U.S.S. Warden lag in Pearl Harbor am Dock, im Kriegshafen von Hawaii. Morgens besuchte Mark die Armeeschule, um sich fürs College vorzubereiten, nachmittags arbeitete er auf dem Schiff, abends hing er in Honolulu herum. Bis der Marschbefehl kam: Persischer Golf. »Das war ein ganz schöner Schock«, erinnert er sich. »Als ich zur Armee ging, rechnete ich natürlich nicht damit, daß ich in den Krieg ziehen müßte. Ich wollte mit dem GI-Bill-Stipendium studieren, meine vier Jahre abreißen und danach aufs College.«
Am 31. Okober ging die U.S.S. Warden als erstes Schiff der alliierten Streitkräfte vor der Küste von Kuwait in Position. Die Warden war mit Boden-Luft-Raketen bestückt. Flogen die Bomber von ihren Einsätzen im Irak zurück auf ihre Flugzeugträger, mußten sie sich bei der U.S.S. Warden melden. Sollte ein Flugzeug zu viel auf dem Radarschirm des Kreuzers erscheinen, hätten sie es abgeschossen. Doch die Warden mußte während der vier Monate im Persischen Golf nicht einen einzigen Schuß abgeben. Am 17. Februar nahm sie Kurs zurück auf Hawaii und erreichte als erstes Schiff der Golfskriegstruppen einen Heimathafen.
Mark war froh, wieder zurück zu sein. Über die Siegesparaden, die Orden und Auszeichnungen konnte er sich allerdings nicht so recht freuen. »Ein bißchen war ich schon stolz. Immerhin hatten wir mitgeholfen, Kuwait zu befreien«, erinnert er sich. »Aber für mich war das nicht der wahre Grund gewesen. Sie wollten Hussein loshaben, um ihre Ölinteressen zu sichern. Und sie wollten all die neuen Waffen testen, die noch nie im Kriegseinsatz gewesen waren. Eine ganze Menge dieser Waffen funktionierte nicht, andere funktionierten aufs beste. Danach konnten sie die Fähigkeiten der einzelnen Systeme ganz genau klassifizieren. Wir waren nur die Versuchskaninchen.«
Im Juli nach dem Golfkrieg kam Mark zurück nach Monrovia. Ganz brave Träume hatte er – seinen Abschluß als Ingenieur machen, einen guten Job nicht zu weit von Monrovia finden, ein schönes Auto, heiraten, Haus kaufen, Kinder kriegen. Er schrieb sich auf dem Citrus College ein, studierte Maschinenbau. Jeden Nachmittag nach der Schule verfolgte er die Verhandlungen im Fall Rodney King im Fernsehen. »Das erste Mal, daß ich das Video sah, wie er verprügelt wurde, war auf dem Heimweg vom Persischen Golf in Hongkong«, erzählt er. »Ich war ganz schön fertig. Rodney King ist aus Altadena. Das ist zehn Minuten von Monrovia entfernt.«
Die grobkörnigen Schwarzweißbilder gingen um die Welt. King am Boden, angestrahlt von den Scheinwerfern der Streifenwagen, um ihn herum die schemenhaften Gestalten der Cops. Einer hält zwei Kabel in der Hand, die zu Kings Körper fuhren. Die Kabel gehören zum Taser Gun, einem Gerät, das zwei Pfeile abfeuert, die sich im Fleisch verankern. Über die beiden Kabel kann der Polizist nun Stromstöße von 50.000 Volt abgeben, die jeden Angreifer lähmen. Trotzdem prügeln die Cops unaufhörlich auf King ein. Er versucht sich aufzurappeln. Die Cops prügeln ihn nieder, treten auf ihn ein. Nicht nur für Mark stand fest, daß dies ein Fall von übertriebener Gewaltanwendung war.
»Am 29. April kam ich wie immer von der Schule nach Hause«, fährt Mark fort. »Die Urteilsverkündung war für drei Uhr nachmittags angesetzt. Ronnie war hier und schaute mit mir die Übertragung an. Zuerst haben sie die Strafanzeigen vorgelesen. In allen Fällen ›nicht schuldig‹. Das war noch O.K., wir dachten, na gut, kriegen sie wenigstens übertriebene Gewaltanwendung. Aber als sie da auch bei allen vier Angeklagten ›nicht schuldig‹ verlasen, saßen wir wie vom Donner gerührt da. »Meine Augen füllten sich mit Tränen.« Mark stockt, sucht nach Worten. Da hatte ich dieses seltsame Gefühl im Bauch. Es war das gleiche Gefühl wie damals, als sie im Golfkrieg die ersten Raketen abfeuerten. Ein ganz mieses Gefühl. Es kam mir plötzlich so vor, als sei ich hier nichts wert, als könnte ein Schwarzer in den Vereinigten Staaten nicht zu seinem Recht kommen. Es fühlte sich genauso an wie vor zweihundert Jahren die Sklaverei. Es war irgendwie das gleiche wie in Südafrika, nur besser kaschiert. Ich glaube, alle schwarzen Männer in L.A. haben in diesem Augenblick dasselbe gefühlt. Daß du kein vollwertiger Mensch bist.«
Minuten später klingelt das Telefon. Chad und Thumbs waren dran. »Ich hab’ nur gesagt, laßt uns losfahren. Wir hatten schon oft darüber gesprochen, daß etwas passieren würde, wenn sie die Cops freisprechen.« Sie wußten nicht wohin, also fuhren sie Richtung Downtown. Wie durch Zufall endeten sie vor dem Parker Center. Die vier Jungs stiegen aus, stellten sich in die Menge der Demonstranten.
Mark sah, daß die Polizeitruppen versuchten, die Demonstranten einzukesseln. »Also sorgte ich dafür, daß sie sich verteilten. Einfachste Nahkampftaktik. Die Cops dachten ziemlich schnell, daß ich der Rädelsführer war, versuchten mich zu schnappen. Aber ich hielt mich immer weit genug von ihnen entfernt.«
Er fing an, auf die schwarzen Polizisten in den Schlachtreihen einzureden. »Ich fragte sie, wie sie sich als Schwarze fühlen, wenn dieses Urteil uns jegliches Recht auf Gerechtigkeit abgesprochen hat. Was ihnen ihre Frauen sagen, wenn sie morgens aufwachen und die Uniform anziehen. Sie durften zwar nicht mit uns reden, aber ein paar von ihnen haben geweint.«
Nur einmal zögerte Mark. Als die Demonstranten vor dem Parker Center das Sternenbanner anzündeten. »Das war ganz seltsam. Vor einem Jahr hatte ich noch für diese Flagge gekämpft, war bereit gewesen, mein Leben für dieses Land zu geben. Und plötzlich stand ich auf der anderen Seite.«
Vor seinem Militärdienst war Rassismus für Mark nie ein wirkliches Problem gewesen. »Monrovia ist ein integrierter, mittelständischer Ort«, sagt er. »Auf meine Schule gingen Schwarze, Weiße, Latinos, Asiaten. Da gab es zwar ab und zu Spannungen, aber das Problem Rassismus wurde mir nie wirklich bewußt. Erst später, in der Armee, wurde ich damit konfrontiert. Da waren die meisten Offiziere weiß, und die bevorzugten ihre weißen Untergebenen ganz deutlich.«
Als Mark von der Armee nach Monrovia zurückkam, bemerkte er plötzlich den alltäglichen Rassismus, den in Amerika auch ein bürgerlicher Junge wie er zu spüren bekommt. »In der High-School war es schon so, wenn mich eine Polizeistreife nach elf Uhr abends mit meinem Auto sah, haben sie mich rausgewinkt. Ich mußte mich mit gespreizten Beinen an den Streifenwagen stellen oder flach auf den Boden legen. Sie haben mich nach Waffen und Drogen durchsucht, mich gefragt, wo ich das Geld für meine Lautsprecher herhabe, lauter so Blödsinn. Daran hat sich nichts geändert. Wenn du irgend etwas hast, das Geld kostet, geben dir die Cops automatisch das Gefühl, daß du ein Krimineller bist.«
Mark geht zum Wasserspender, füllt unsere Gläser nach. »In L.A. kannst du dich als Schwarzer nicht einfach so frei auf der Straße bewegen.« Er sieht mein ungläubiges Gesicht. »Morgen zeig’ ich dir, was es heißt, Schwarzer in L.A. zu sein.«
Wir treffen uns am Nachmittag bei Mark. Seine Freundin Yolanda ist gekommen. Ronnie, Chad und Thumbs. Thumbs grinst. »Jetzt werden wir dir mal zeigen, was es heißt, mit kriminellen Subjekten auszugehen.« Ich gucke verdutzt, Yolanda ist eine grazile Schönheit, trägt Designerjeans und ein schwarzes Top. Ronnie trägt ein weißes Sweatshirt zur weißen Jeans, dazu eine weiße Baseballkappe mit einem afrikanischen Emblem. Chad beige Bermudashorts und ein bunt gemustertes Hemd. Ronnie eine Bundfaltenhose und ein Seidenhemd. Sie haben alle Jobs oder gehen auf die Uni, verfügen über ihre eigenen Bankkonten und Kreditkarten. Ganz normale Bürgerkinder. »Wart’s ab«, sagt Mark.
Wir fahren zum Santa Anita Fashion Park, einem teuren Einkaufszentrum in Arcadia, dem nächsten Ort in Richtung L.A. »Arcadia ist ein durchweg weißer Ort«, hat Mark mir erklärt. »Da haben wir nichts zu suchen.«