INHALT

EINLEITUNG

POLITISCHES DENKEN IN ALTEN ZEITEN

800 v.Chr.–30 n.Chr.

Wenn Ihr das Gute wirklich wollt, so wird Euer Volk gut werden

Konfuzius

Die Kriegskunst ist von entscheidender Bedeutung für den Staat

Sunzi

Pläne für das Land sollten nur mit den Gebildeten geteilt werden

Mozi

Wenn nicht die Philosophen zu Königen werden, wird es mit dem Elend der Städte kein Ende haben

Platon

Der Mensch ist von Natur aus ein soziales, politisches Wesen

Aristoteles

Ein einzelnes Rad bewegt sich nicht

Chanakya

Wenn schlechte Minister sicher und profitabel leben, ist das der Anfang vom Ende

Han Feizi

Und die Regierung wird zum Spielball

Cicero

MITTELALTERLICHE POLITIK

30–1515

Was sind Reiche ohne Gerechtigkeit – wenn nicht große Räuberbanden?

Augustinus von Hippo

Vorgeschrieben ist euch der Kampf, obwohl er euch zuwider ist

Mohammed

Das Volk will die Herrschaft der Tugendhaften nicht

Al-Farabi

Kein freier Mann soll gefangen genommen werden, außer es gibt ein rechtmäßiges Urteil

Barone des Königs Johann

Ein gerechter Krieg wird um eine gerechte Sache geführt

Thomas von Aquin

Politisch leben bedeutet, in Übereinstimmung mit guten Gesetzen zu leben

Aegidius Romanus

Die Kirche sollte es Christus gleichtun und ihre weltliche Macht aufgeben

Marsilius von Padua

Die Regierung verhindert Unrecht – es sei denn, sie begeht es selbst

Ibn Khaldun

Ein kluger Herrscher kann und darf sein Wort nicht halten

Niccolò Machiavelli

RATIONALITÄT UND AUFKLÄRUNG

1515–1770

Am Anfang gehörte alles allen

Francisco de Vitoria

Souveränität ist die absolute und dauerhafte Macht über ein Gemeinwesen

Jean Bodin

Das Naturrecht ist die Grundlage des menschlichen Rechts

Francisco Suárez

Politik ist die Kunst, Menschen zusammenzubringen

Johannes Althusius

Freiheit ist die Macht, die wir über uns selbst haben

Hugo Grotius

Der Mensch lebt im Kriegszustand

Thomas Hobbes

Der Zweck des Gesetzes besteht darin, die Freiheit zu erhalten und zu erweitern

John Locke

Wenn Legislative und Exekutive in der gleichen Institution vereint sind, kann es keine Freiheit geben

Montesquieu

Unabhängige Unternehmer sind gute Bürger

Benjamin Franklin

REVOLUTIONÄRE GEDANKEN

1770–1848

Auf seine Freiheit verzichten heißt auf sein Menschsein verzichten

Jean-Jacques Rousseau

Kein allgemein gültiger Grundsatz der Gesetzgebung kann auf der Glückseligkeit beruhen

Immanuel Kant

Die Leidenschaften von Einzelpersonen sollten unterdrückt werden

Edmund Burke

Eigentumsrechte sind besonders heikel

Thomas Paine

Alle Menschen sind gleich erschaffen

Thomas Jefferson

Jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich

Johann Gottfried Herder

Die Regierung hat die Wahl zwischen mehreren Übeln

Jeremy Bentham

Die Menschen haben ein Recht, Waffen zu besitzen und zu tragen

James Madison

Die ehrbaren Frauen sind es, die besonders unterdrückt werden

Mary Wollstonecraft

Der Sklave hält die Eigenexistenz für etwas Äußerliches

G.W.F. Hegel

Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln

Carl von Clausewitz

Eine gebildete und kluge Regierung erkennt den Entwicklungsbedarf in der Gesellschaft

José María Luis Mora

Ein Staat, der sich zu weit ausdehnt, geht unter

Simón Bolívar

Die Abschaffung der Sklaverei und die Union lassen sich nicht vereinbaren

John C. Calhoun

Angriffe gegen »die Familie« sind Symptom des sozialen Chaos

Auguste Comte

DER AUFSTIEG DER MASSEN

1848–1910

Sozialismus ist ein neues System der Leibeigenschaft

Alexis de Tocqueville

Sag nicht »ich«, sondern »wir«

Giuseppe Mazzini

Dass so wenige wagen exzentrisch zu sein, ist die größte Gefahr unserer Zeit

John Stuart Mill

Kein Mensch ist gut genug, einen anderen Menschen ohne dessen Zustimmung zu regieren

Abraham Lincoln

Eigentum ist Diebstahl

Pierre-Joseph Proudhon

Ein privilegierter Mensch ist ein Mensch mit verdorbenem Geist und Herz

Michail Bakunin

Die beste Regierung ist die, die nicht regiert

Henri David Thoreau

Der Kommunismus ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte

Karl Marx

Der Mann, der die Republik ausrief, wurde zum Mörder der Freiheit

Alexander Herzen

Wir müssen nach einer zentralen Achse für unser Land suchen

Ito Hirobumi

Der Wille zur Macht

Friedrich Nietzsche

Der Mythos ist das einzig Wichtige

Georges Sorel

Wir müssen die Arbeiter so nehmen, wie sie sind

Eduard Bernstein

Die Verachtung unseres gewaltigen Nachbarn stellt die größte Gefahr für Lateinamerika dar

José Martí

Um Erfolg zu haben, muss man etwas wagen

Pjotr Kropotkin

Entweder werden Frauen getötet oder sie erhalten das Wahlrecht

Emmeline Pankhurst

Die Existenz einer jüdischen Nation zu bestreiten, ist lächerlich

Theodor Herzl

Nichts wird eine Nation retten, deren Arbeiter verelendet sind

Beatrice Webb

Die Sozialgesetze in Amerika sind schändlich unzureichend

Jane Addams

Land den Bauern!

Sun Yat-sen

Das Individuum ist ein einzelnes Rad in einem sich endlos bewegenden Mechanismus

Max Weber

DER KAMPF DER IDEOLOGIEN

1910–1945

Gewaltlosigkeit ist der erste Artikel meines Glaubens

Mahatma Gandhi

Politik beginnt dort, wo die Massen sind

Wladimir Iljitsch Lenin

Der Generalstreik resultiert aus den sozialen Bedingungen und ist historisch unvermeidlich

Rosa Luxemburg

Ein Beschwichtiger ist jemand, der ein Krokodil füttert und hofft, erst am Ende selbst gefressen zu werden

Winston Churchill

Das faschistische Konzept des Staates ist allumfassend

Giovanni Gentile

Den reichen Bauern muss die Existenzgrundlage entzogen werden

Josef Stalin

Wenn das Ziel die Mittel rechtfertigt – was rechtfertigt das Ziel?

Leo Trotzki

Wir werden die Mexikaner durch Bürgschaften für den Bauern und den Geschäftsmann vereinen

Emiliano Zapata

Krieg ist ein unlauteres Geschäft

Smedley D. Butler

Souveränität wird nicht verliehen – sie wird errungen

Mustafa Kemal Atatürk

Europa besitzt keinen Moralkodex

José Ortega y Gasset

Wir sind 400 Millionen Menschen, die nach Freiheit rufen

Marcus Garvey

Solange Indien sich nicht vom britischen Reich trennt, kann es nicht frei sein

Manabendra Nath Roy

Souverän ist, wer über die Ausnahme entscheidet

Carl Schmitt

Kommunismus ist so schlecht wie Imperialismus

Jomo Kenyatta

Der Staat muss als Erzieher betrachtet werden

Antonio Gramsci

Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen

Mao Zedong

POLITIK NACH DEN WELTKRIEGEN

1945 BIS HEUTE

Das Hauptübel ist ein grenzenloser Staat

Friedrich von Hayek

Parlamentarismus und Rationalismus gehören nicht demselben System an

Michael Oakeshott

Ziel des islamischen Dschihad ist es, die Herrschaft eines unislamischen Systems zu eliminieren

Abul Ala Maududi

Es gibt nichts, das einem Menschen die Freiheit raubt – außer andere Menschen

Ayn Rand

Jede bekannte und erwiesene Tatsache kann geleugnet werden

Hannah Arendt

Was ist eine Frau?

Simone de Beauvoir

Kein natürliches Objekt ist nur eine Ressource

Arne Næss

Wir sind nicht gegen Weiße, wir sind gegen die Vorherrschaft der Weißen

Nelson Mandela

Nur Unentschlossene glauben, Politik sei ein Ort der Zusammenarbeit

Gianfranco Miglio

Zu Beginn des Kampfes tendieren die Unterdrückten dazu, Unterdrücker zu werden

Paulo Freire

Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen

John Rawls

Kolonialismus ist Gewalt im Naturzustand

Frantz Fanon

Wahl oder Waffe

Malcolm X

Man muss dem König den Kopf abschlagen

Michel Foucault

Befreier gibt es nicht. Das Volk befreit sich selbst

Che Guevara

Alle müssen dafür sorgen, dass die Reichen glücklich sind

Noam Chomsky

Nichts auf dieser Welt ist gefährlicher als aufrichtige Ignoranz

Martin Luther King

Perestroika vereint Sozialismus mit Demokratie

Michail Gorbatschow

Die Intellektuellen bekämpften fälschlicherweise den Islam

Ali Schariati

Die Abscheulichkeit des Krieges bringt uns dazu, jede Zurückhaltung aufzugeben

Michael Walzer

Kein Staat außer dem Minimalstaat kann gerechtfertigt werden

Robert Nozick

Kein Gesetz im Islam ruft zur Missachtung der Rechte der Frauen auf

Shirin Ebadi

Selbstmordattentate sind vor allem eine Reaktion auf fremde Besatzung

Robert Pape

WEITERE POLITISCHE DENKER

GLOSSAR

DANK

EINLEITUNG

Wenn jeder stets haben könnte, was er (oder sie) will, gäbe es keine Politik. Was auch immer »Politik« genau bedeuten mag – und darunter kann man vieles verstehen, wie dieses Buch zeigt –, es ist klar, dass wir nie all das bekommen, was wir wollen. Stattdessen müssen wir miteinander wetteifern, Kompromisse eingehen und manchmal um Dinge kämpfen. Dabei entwickeln wir besondere Sprachen, um unsere Ansprüche zu verdeutlichen und zu rechtfertigen, um andere herauszufordern und ihnen zu widersprechen. Das kann eine Sprache der Interessen sein, ob von Einzelnen oder Gruppen, eine Sprache der Werte, in der es um Rechte und Freiheiten oder gerechte Anteile und Gerechtigkeit geht. Zentral für die Politik war auf jeden Fall von Anfang an die Entwicklung politischer Ideen, die uns helfen, Ansprüche zu äußern und Interessen zu verteidigen.

»Man muss also die politischen Gemeinschaften auf die edlen Handlungen hin einrichten und nicht bloß zum Beisammenleben.«

Aristoteles

Politik lässt sich aber nicht darauf reduzieren, wer was wo wann und wie bekommt. Vielmehr ist sie teilweise Reaktion auf die Herausforderungen des täglichen Lebens und Ausdruck der Erkenntnis, dass kollektives Handeln häufig besser ist als individuelles Handeln. Eine andere Tradition des politischen Denkens geht auf den griechischen Philosophen Aristoteles zurück, der sagte, in der Politik gehe es nicht nur darum, materielle Bedürfnisse zu befriedigen. Denn mit dem Entstehen komplexer Gesellschaften stellten sich verschiedenste Fragen: Wer soll regieren? Welche Macht sollen politische Herrscher haben und wie stehen diese zu anderen Autoritäten, beispielsweise der Familie oder der Kirche?

Aristoteles sagt, der Mensch sei von Natur aus ein politisches Wesen, und meint damit nicht nur, dass es dem Menschen in einer komplexen Gesellschaft besser geht als in der Einsamkeit. Gemeint ist auch, dass es etwas ureigen Menschliches ist, eine Meinung zu öffentlichen Angelegenheiten zu haben. Politik ist etwas Nobles: Die Menschen legen die Regeln fest, nach denen sie leben, und zudem die Ziele, die sie gemeinsam verfolgen wollen.

Politischer Moralismus

Aristoteles glaubte nicht, dass alle Menschen an der Politik beteiligt sein sollten: In seinem System stand Frauen, Sklaven und Ausländern nicht das Recht zu, über sich und andere zu herrschen. Doch seine Idee, dass die Politik eine unverwechselbare kollektive Aktivität ist, mit der bestimmte gemeinschaftliche Zwecke verfolgt werden, findet heute noch Widerhall. Worum geht es dabei? Viele Denker haben seit der Antike unterschiedliche Ideen entwickelt, welche Ziele die Politik verfolgen sollte. Einen derartigen Ansatz nennt man politischen Moralismus.

Für die Moralisten ist das politische Leben ein Zweig der Ethik oder Moralphilosophie. Sie sind der Auffassung, die Politik solle auf wesentliche Ziele ausgerichtet sein. Politische Vereinbarungen würden getroffen, um bestimmte Dinge zu schützen – beispielsweise Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, Glück, Brüderlichkeit oder nationale Selbstbestimmung. Der radikale Moralismus liefert darüber hinaus Beschreibungen idealer politischer Gesellschaften, sogenannter Utopien, benannt nach dem Buch Utopia des englischen Staatsmannes und Philosophen Thomas Morus, das 1516 veröffentlicht wurde. Darin schildert er die ideale Nation. Die Tradition des utopischen politischen Denkens reicht zurück bis zum antiken griechischen Philosophen Platon mit seiner Politeia, und in ihr stehen moderne Denker wie Robert Nozick (Anarchie, Staat, Utopia). Manche Theoretiker finden das utopische politische Denken gefährlich, weil es in der Vergangenheit dazu gedient hat, totalitäre Gewalt zu rechtfertigen. Doch im besten Fall ist das utopische Denken Teil des Strebens nach einer besseren Gesellschaft und viele von den Denkern, die in diesem Buch erwähnt werden, rufen damit zur Einhaltung oder zum Schutz bestimmter Werte auf.

Politischer Realismus

Eine andere Tradition des politischen Denkens lehnt die Vorstellung ab, dass die Politik für moralische oder ethische Werte wie Glück oder Freiheit zuständig ist. Stattdessen, so wird argumentiert, gehe es in der Politik um Macht. Macht ist das Mittel, mit dem Ziele erreicht, Feinde geschlagen und Kompromisse aufrechterhalten werden. Ohne die Fähigkeit, Macht zu erwerben, sind Werte – wie nobel sie auch sein mögen – nutzlos.

Die Denker, die sich im Gegensatz zur Moral auf die Macht konzentrieren, werden Realisten genannt. Sie richten ihr Augenmerk auf die Machtausübung, auf Auseinandersetzungen und Kriege und sind häufig zynisch, was die menschliche Motivation angeht. Die beiden größten Theoretiker der Macht sind vielleicht der Italiener Niccolò Machiavelli und der Engländer Thomas Hobbes. Sie beide erlebten eine Zeit mit Bürgerkrieg und politischen Unruhen im 16. bzw. 17. Jahrhundert.

»Lass kluge Toren sich um Herrschaftsformen spalten, die besten sind, die wir am nützlichsten verwalten.«

Alexander Pope

Machiavelli etwa findet, dass Menschen »undankbare Lügner« sind, weder edel noch tugendhaft. Er hält politische Motive, die über die Beschäftigung mit der Macht hinausreichen, gar für gefährlich. Für Hobbes ist der gesetzlose »Naturzustand« ein Krieg aller gegen alle. Per »Sozialvertrag« mit seinen Untertanen übt der Herrscher absolute Macht aus, um die Gesellschaft vor diesem anarchischen Zustand zu bewahren. Aber die Beschäftigung mit der Macht fand nicht nur im frühen modernen Europa statt. Auch weite Teile des politischen Denkens im 20. Jahrhundert beschäftigten sich mit dem Thema Macht.

Kluge Berater

Realismus und Moralismus sind große politische Entwürfe, die dazu beitragen sollen, der Gesamtheit der politischen Erfahrungen im menschlichen Leben einen Sinn zu geben. Doch nicht alle politischen Denker bewegen sich in diesen Zusammenhängen. Neben den politischen Philosophen gibt es eine ebenso alte Tradition, die pragmatisch orientiert ist und in der immer versucht wird, das beste Ergebnis zu erzielen. Gut möglich, dass es stets Kriege geben wird und Diskussionen über die Beziehung zwischen politischen Werten wie Freiheit und Gleichheit. Aber vielleicht können wir Fortschritte beim Entwerfen von Verfassungen, bei der Umsetzung politischer Maßnahmen oder der Auswahl möglichst fähiger Beamter machen. Einige frühe politische Denker wie der chinesische Philosoph Konfuzius haben sich beispielsweise mit den Fähigkeiten und Tugenden beschäftigt, die kluge Berater ausmachen.

Das Aufkommen der Ideologie

Eine andere Art politischen Denkens wird häufig als ideologisch bezeichnet. Diese Richtung betont, dass gewisse Ideen typisch sind für bestimmte historische Epochen. Die Ursprünge des ideologischen Denkens finden sich bei den deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Karl Marx. Sie erläutern, inwiefern die Ideen verschiedener politischer Epochen voneinander abweichen, einfach weil die In-stitutionen und Gewohnheiten der Gesellschaften verschieden waren und die Gedanken hinter den Ideen sich veränderten.

Platon und Aristoteles sahen in der Demokratie beispielsweise ein gefährliches und korruptes System, während die meisten Menschen in der modernen Welt sie als bestmögliche Staatsform betrachten. Ebenso galt die Sklaverei einst als natürlich, obwohl sie unzählige Menschen ihrer Rechte beraubte, und bis ins 20. Jahrhundert hinein galten die meisten Frauen nicht als Staatsbürger.

Dies wirft die Frage auf, was dazu führt, dass manche Ideen an Bedeutung gewinnen (beispielsweise die Gleichberechtigung), während andere an Bedeutung verlieren (etwa die Sklaverei oder das Gottesgnadentum der Könige). Marx erklärt die historischen Veränderungen damit, dass Klasseninteressen die großen »Ismen« der Ideologien entstehen ließen, vom Kommunismus und Sozialismus (der Arbeiterschaft) bis zum Konservatismus und Faschismus (der Kapitalisten). Doch viele jüngere politische Ideen sind innerhalb des Liberalismus, des Konservatismus, des Sozialismus oder des Nationalismus entstanden.

»Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.«

Karl Marx

Das ideologische politische Denken wurde durchaus kritisch betrachtet. Wenn Ideen lediglich der Reflex eines historischen Prozesses sind, so die Kritiker, haben die Individuen, die diesen Prozess durchlaufen, eine im Wesentlichen passive Rolle. Rationales Abwägen und Argumentieren sind dann von sehr begrenztem Wert und die ideologische Auseinandersetzung ähnelt dem Wettbewerb zwischen Fußballmannschaften. Leidenschaft, nicht Vernunft spielt bei der Unterstützung der eigenen Mannschaft eine wichtige Rolle, letztendlich geht es ums Gewinnen. Daraus ergibt sich die Sorge, dass ideologische Politik zu den schlimmsten Exzessen des Realismus führen kann, bei denen der Zweck brutale oder ungerechte Mittel heiligt. Ideologische Politik könnte unter diesen Voraussetzungen zu einem Grabenkrieg zwischen rivalisierenden und unvereinbaren Einstellungen führen.

Marx sah als Lösung für politische Konflikte den revolutionären Triumph der Arbeiterklasse und die technologische Überwindung von Mängeln. Dieser Ansatz war aus Sicht des 20. Jahrhunderts allzu optimistisch: Veränderungen durch Revolutionen haben häufig dazu geführt, dass eine Tyrannei durch eine andere ersetzt wurde. Aus diesem Blickwinkel sind der Marxismus und andere Ideologien lediglich die jüngsten Formen eines unrealistischen utopischen Moralismus.

Die umstrittene Zukunft

Hegel zufolge sind politische Ideen Abstraktionen aus dem politischen Leben einer Gesellschaft, eines Staates, einer Kultur oder einer politischen Bewegung. Um diese Ideen zu verstehen, muss man ihre Geschichte und Entwicklung untersuchen. Dabei geht es immer um die Frage, wie wir dahin gelangt sind, wo wir heute stehen. Schlechterdings unmöglich ist es, einen Blick in die Zukunft zu werfen, um zu erkennen, wohin die Entwicklung führt.

In der römischen Mythologie galt die Eule der Minerva als Symbol der Weisheit. Hegel erklärte, die Eule fliege erst in der Abenddämmerung. Damit meinte er, dass wir die Dinge nur im Nachhinein verstehen können. So warnte Hegel davor, zu optimistisch in die Zukunft zu blicken. Und er warnte davor zu glauben, der moderne Staat markiere das Ende der Geschichte – obwohl er dies selbst behauptet hatte. Es ist leicht, unser Zeitalter als das fortschrittlichste und rationalste überhaupt zu sehen; schließlich glauben wir an die Demokratie, die Menschenrechte, freie Märkte und konstitutionelle Regierungen. Dieses Buch zeigt, dass das keinesfalls einfache Vorstellungen sind und dass sie nicht von allen Gesellschaften und Völkern geteilt werden.

In den letzten 80 Jahren sind neue Nationalstaaten entstanden als Ergebnis des schwindenden Imperialismus und der Entkolonisierung. Bundesstaaten wie Jugoslawien und die Tschechoslowakei sind zerbrochen, genau wie die ehemalige UdSSR. Der Wunsch nach nationaler Unabhängigkeit ist stark, schaut man nach Quebec, Katalonien, Kurdistan oder Kaschmir. Völker ringen darum, während manche Staaten komplizierte Bündnisse eingegangen sind. In den letzten drei Jahrzehnten ist so die Europäische Union entstanden, deren politische Integration nach innen wie nach außen immer weiter vorangetrieben wird.

Um die Gegenwart zu begreifen, müssen wir die unterschiedlichen politischen Ideen und Theorien verstehen, die es in unserer Geschichte gegeben hat. Denn aus ihnen hat sich der aktuelle Zustand entwickelt. Gleichzeitig soll uns die Vergangenheit Warnung sein, allzu großes Vertrauen in unsere politischen Werte zu setzen. Immer wieder hat sich gezeigt, dass die Anforderungen, wie das kollektive Leben einer Gemeinschaft zu organisieren und zu regieren ist, sich in einer Weise verändern können, die sich nicht voraussagen lässt. Wenn neue Möglichkeiten der Machtausübung entstehen, entwickeln sich auch neue Vorstellungen in Bezug auf Kontrolle und Verantwortung, so entstehen neue politische Ideen und Theorien. Politik betrifft uns alle. Das heißt: Wir alle sollten uns an den Diskussionen beteiligen.

»Politik ist eine ernste Angelegenheit. Sie sollte nicht den Politikern überlassen bleiben.«

Charles de Gaulle

POLITISCHES DENKEN IN ALTEN ZEITEN

800 V.CHR.–30 N.CHR.

UM 770 V. CHR.

In China beginnt die Zeit der Frühlings- und Herbstannalen; die »Hundert Schulen des Denkens« entstehen.

600–500 V. CHR.

Konfuzius plädiert für ein Regierungssystem, das auf traditionellen Werten beruht und von einer Gelehrtenklasse verwaltet wird.

UM 510 V. CHR.

Die Römische Republik wird gegründet.

UM 470–391 V. CHR.

Der chinesische Philosoph Mozi schlägt eine rein meritokratische Klasse von Ministern und Beratern vor, ausgewählt nach Tugend und Befähigung.

600 V. CHR.

Der chinesische General Sunzi schreibt seine Abhandlung Die Kunst des Krieges für König Helü von Wu.

594 V. CHR.

Solon schafft eine Verfassung für Athen und ebnet damit den Weg für einen demokratischen Stadtstaat.

476–221 V. CHR.

Zur Zeit der »streitenden Reiche« kämpfen die sieben größten chinesischen Staaten um die Vorherrschaft.

UM 460 V. CHR.

Die Sophisten in Griechenland, darunter Protagoras, meinen, politische Gerechtigkeit beruhe auf menschlichen Werten und sei nicht naturgegeben.

399 V. CHR.

Sokrates stellt wiederholt die athenische Politik und Gesellschaft infrage – und wird zum Tode verurteilt.

372–289 V. CHR.

Menzius verbreitet das konfuzianische Gedankengut in China.

335–323 V. CHR.

In seiner Schrift Politik beschreibt Aristoteles verschiedene Staatsformen; die Politie (eine Mischung aus Oligarchie und Demokratie) hält er für die zweckmäßigste.

200 V. CHR.

Die Han-Dynastie erklärt den Konfuzianismus zur offiziellen chinesischen Philosophie.

UM 380–360 V. CHR.

In Der Staat plädiert Platon für die Herrschaft von »Philosophenkönigen«, die so weise sind, dass sie erkennen können, was ein gutes Leben ausmacht.

UM 370–283 V. CHR.

Chanakyas Rat an Chandragupta Maurya trägt zur Gründung des Maurya-Reiches in Indien bei.

300 V. CHR.

In dem Bestreben, China zu vereinigen, werden die autoritären Vorstellungen von Shang Yang und Han Feizi als Lehre des Legalismus übernommen.

54–51 V. CHR.

Cicero schreibt De re publica (Über das Gemeinwesen) in Anlehnung an Platons Der Staat. Dabei plädiert er für eine demokratischere Regierungsform.

Die Anfänge des politischen Denkens lassen sich ins alte China und in die griechische Antike zurückverfolgen. In beiden Kulturen gab es Denker, die die Welt infrage stellten und sie auf eine Art analysierten, die wir heute Philosophie nennen. Ab rund 600 v. Chr. rückte die Frage in den Mittelpunkt, wie eine Gesellschaft zu organisieren ist. Zunächst wird sie als Teil der Moralphilosophie oder Ethik betrachtet. Die Philosophen untersuchten, wie eine Gesellschaft strukturiert sein sollte, um nicht nur das Glück und die Sicherheit der Menschen zu garantieren, sondern ihnen ein »gutes Leben« zu ermöglichen.

Politisches Denken in China

Ab rund 770 v. Chr. erlebte China eine Phase des Wohlergehens, die als »Zeit der Frühlings- und Herbstannalen« in die Geschichte einging. Verschiedene Dynastien regierten friedlich über getrennte Staaten. Gelehrsamkeit stand hoch im Kurs; die »Hundert Schulen« der klassischen chinesischen Philosophie entstanden. Der einflussreichste Vertreter war Konfuzius. Er plädierte für die Aufrechterhaltung traditioneller chinesischer Werte in einem Staat, der von einem tugendhaften Herrscher, unterstützt von Beratern, geführt werden sollte.

Diese Idee haben Mozi und Menzius weiterentwickelt, um Korruption und despotischer Herrschaft vorzubeugen. Doch als die zwischenstaatlichen Konflikte zunahmen und im 3. Jahrhundert v. Chr. die Zeit der »streitenden Reiche« anbrach, kämpften die Beteiligten um die Vorherrschaft in einem vereinten China. In dieser Atmosphäre plädierten Denker wie Han Feizi und die legalistische Schule für Disziplin als leitendes Staatsprinzip; der Militärführer Sunzi übertrug Kriegsstrategien auf die Außen- und Innenpolitik. Dieses autoritäre politische Denken brachte dem neuen Reich Stabilität, das später zu einer Form des Konfuzianismus zurückkehrte.

Griechische Demokratie

Etwa gleichzeitig erblühte die griechische Kultur. Wie China war Griechenland keine geeinte Nation, sondern eine Ansammlung von Stadtstaaten mit unterschiedlichen Regierungsformen – meist Monarchie oder Aristokratie. In Athen bestand jedoch eine Art Demokratie nach einer Verfassung des Staatsmannes Solon von 594 v. Chr. Die Stadt wurde zum kulturellen Zentrum Griechenlands, hier entstand intellektueller Freiraum, in dem Philosophen über den idealen Staat spekulieren konnten. Platon zum Beispiel plädierte für die Herrschaft einer Elite von »Philosophenkönigen«, während sein Schüler Aristoteles die verschiedenen möglichen Regierungsformen miteinander verglich. Gemeinsam legten diese Denker den Grundstein für die westliche politische Philosophie.

Mit Aristoteles endete dann das »goldene Zeitalter« der klassischen griechischen Philosophie: Alexander der Große unternahm eine Reihe von Feldzügen, um sein Reich von Mazedonien nach Nordafrika und quer durch Asien bis zum Himalaja auszudehnen. Doch in Indien stieß er auf organisierten Widerstand.

Der indische Subkontinent bestand aus verschiedenen unabhängigen Staaten, doch der innovative politische Theoretiker Chanakya trug dazu bei, dass ein einheitliches Reich unter der Herrschaft seines Protegés Chandragupta Maurya entstand. Chanakya war pragmatisch in seinem politischen Denken: Er trat für strenge Disziplin ein mit dem Ziel, die Existenz des Staates wirtschaftlich und materiell zu sichern, es ging weniger um Moral und Wohlergehen des Volkes. Sein Realismus half, das Maurya-Reich vor Angriffen zu schützen: Der Großteil Indiens wurde von einer Stelle aus regiert, dies hatte mehr als 100 Jahre Bestand.

Der Aufstieg Roms

In der Zwischenzeit begann in Europa der Aufstieg einer anderen Macht. Nach dem Sturz einer tyrannischen Monarchie wurde 510 v. Chr. die Römische Republik gegründet. Ähnlich wie in Athen handelte es sich um eine repräsentative Demokratie. Die Regierung unter der Führung von zwei Konsuln wurde jährlich von den Bürgern gewählt; ihr stand ein Gremium von Senatoren beratend zur Seite. Die Römische Republik wurde immer mächtiger und übernahm Provinzen fast überall auf dem europäischen Festland. Im 1. Jahrhundert v. Chr. kam es zum Bürgerkrieg, mehrere Parteien stritten um die Macht. 48 v. Chr. setzte sich Julius Cäsar durch und wurde zum Kaiser. Rom befand sich damit erneut unter monarchischer Herrschaft. In den folgenden 500 Jahren beherrschte das neue Römische Reich den Großteil Europas.

WENN IHR DAS GUTE WIRKLICH WOLLT, SO WIRD EUER VOLK GUT WERDEN

KONFUZIUS (551–479 V.CHR.)

IM KONTEXT

IDEENLEHRE

Konfuzianismus

SCHWERPUNKT

Paternalistisch

FRÜHER

1054 v. Chr. Während der chinesischen Zhou-Dynastie werden politische Entscheidungen durch das Mandat des Himmels gerechtfertigt.

8. Jh. v. Chr. Die Zeit der Frühlings- und Herbstannalen beginnt; die »Hundert Schulen des Denkens« entstehen.

SPÄTER

5. Jh. v. Chr. Mozi schlägt eine Alternative zur möglichen Vetternwirtschaft des Konfuzianismus vor.

4. Jh. v. Chr. Der Philosoph Mencius verbreitet die Ideen des Konfuzius.

3. Jh. v. Chr. Die autoritären Prinzipien des Legalismus prägen die Regierung.

Kong Fu Zi (»Meister Kong«), der später im Westen als Konfuzius bekannt wurde, lebte an einem Wendepunkt in der politischen Geschichte Chinas, zur Zeit der Frühlings- und Herbstannalen: 300 Jahre lang hatten Wohlstand und Stabilität geherrscht, Kunst, Literatur und Philosophie geblüht. Damals entstanden die »Hundert Schulen des Denkens«, in denen zahlreiche Ideen frei diskutiert wurden. Eine neue Klasse von Gelehrten bildete sich heraus, die überwiegend als Berater an den Höfen adliger Familien lebten.

Die neuen Ideen dieser Gelehrten erschütterten die chinesische Gesellschaft. Neu war auch, dass diese aufgrund ihrer Verdienste ernannt wurden, nicht wegen ihrer familiären Verbindungen. Damit wurden sie zu einer Herausforderung für die angestammten Herrscher, die zuvor nach einem »Mandat des Himmels« regiert hatten. Es kam zu Konflikten: Verschiedene Herrscher wetteiferten um die Macht in China. In dieser Zeit der »streitenden Reiche« wurde immer deutlicher, dass eine starke Regierung vonnöten war.

Der Ehrenmann

Wie die meisten gebildeten jungen Männer der Mittelklasse verfolgte Konfuzius eine Karriere als Verwaltungsbeamter. Dabei entwickelte er bestimmte Vorstellungen, wie ein Land regiert werden sollte. Die Beziehungen zwischen dem Herrscher und seinen Ministern sowie dem Herrscher und seinen Untertanen kannte er aus erster Hand. Er wusste genau, wie heikel die politische Situation war. Daher machte er sich daran, ein Rahmenwerk zu formulieren, das die Herrscher in die Lage versetzen würde, auf der Grundlage eines eigenen Systems der Moralphilosophie gerecht zu regieren.

Konfuzius’ Standpunkt war fest in der chinesischen Tradition verankert; im Kern ging es ihm um Loyalität, Pflicht und Respekt. Diese Werte verkörperte der junzi oder Ehrenmann: Sein Verhalten sollte den anderen als Beispiel dienen. Konfuzius hielt die menschliche Natur nicht für perfekt, aber er glaubte, sie könne durch das Vorbild aufrichtiger Tugend verändert werden – genau wie die Gesellschaft insgesamt durch das Vorbild einer gerechten und wohlwollenden Regierung.

Die Vorstellung der Gegenseitigkeit – dass ein gerechter und großzügiger Umgang eine ebensolche Reaktion hervorruft – ist ein Grundpfeiler der konfuzianischen Moralphilosophie. Damit eine Gesellschaft gut ist, muss ihr Herrscher die Tugenden verkörpern, die er bei seinen Untertanen sehen möchte. Die Menschen ihrerseits werden durch Loyalität und Respekt inspiriert, diese Tugenden zu leben.

In der Sammlung seiner Lehren und Sprüche, bekannt als Analekten, rät Konfuzius: »Wenn Eure Hoheit das Gute wünscht, so wird das Volk gut. Das Wesen des Herrschers ist der Wind, das Wesen der Geringen ist das Gras. Das Gras, wenn der Wind darüber hinfährt, muss sich beugen.« Um diese Idee umzusetzen, musste jedoch eine neue Gesellschaftsstruktur etabliert werden: In ihr sollte die neue meritokratische Klasse der Verwaltungsbeamten ihren festen Platz bekommen, während die traditionelle Herrschaft der adligen Familien weiterhin respektiert werden würde. Bei seinem Vorschlag, wie dies zu erreichen sei, verließ sich Konfuzius erneut auf traditionelle Werte. Er wollte die Gesellschaft umgestalten und sich dabei an den Beziehungen innerhalb der Familie orientieren. Für Konfuzius waren die Güte des Herrschers und die Loyalität seiner Untertanen wie ein Abbild des liebenden Vaters und seines gehorsamen Sohnes.

Konfuzius glaubte, ein weiser und gerechter Herrscher habe einen wohltuenden Effekt auf seine Untertanen.

Konfuzius glaubte, dass es fünf solche »elementaren Beziehungen« gibt: Herrscher – Untertan, Vater – Sohn, Ehemann – Ehefrau, älterer Bruder – jüngerer Bruder und Freund – Freund. Innerhalb dieser Beziehungen geht es nicht nur um den Rang der jeweiligen Personen in Bezug auf Generation, Alter und Geschlecht, sondern auch darum, dass es auf beiden Seiten Pflichten gibt. Die Verantwortung des Überlegenen gegenüber dem Unterlegenen ist genauso wichtig wie die des Jüngeren gegenüber dem Älteren. Die familiären Beziehungen übertrug Konfuzius auf die Gesellschaft als Ganzes, die dadurch ihren Zusammenhalt erhält: Die wechselseitigen Rechte und Pflichten sorgen für eine Atmosphäre der Loyalität und des Respekts unter den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten.

Die ererbte Herrschaft rechtfertigen

An der Spitze der konfuzianischen Hierarchie stand der Herrscher, der diesen Status ohne jeden Zweifel ererbt hatte. In dieser Hinsicht war das konfuzianische Denken konservativ. Die Familie galt als Modell für die Beziehungen innerhalb der Gesellschaft, der traditionelle Respekt gegenüber den Eltern wurde entsprechend dem Thronerben entgegengebracht. Die Position des Herrschers war allerdings nicht unanfechtbar, ein ungerechter oder unkluger Herrscher verdiente es, dass man ihm Widerstand entgegensetzte oder ihn sogar absetzte.

In Bezug auf die nächste Gesellschaftsschicht war Konfuzius besonders innovativ. Er wollte eine Klasse von Gelehrten etablieren, die als Minister, Berater oder Verwalter fungieren sollten. Aufgrund ihrer Mittlerposition zwischen Herrscher und Untertanen hatten sie die Pflicht, beiden Seiten gegenüber loyal zu sein; damit trugen sie viel Verantwortung. Für diese Aufgabe kamen also nur sehr fähige Kandidaten infrage. Wer ein öffentliches Amt bekleidete, musste höchsten moralischen Ansprüchen genügen; er musste ein junzi sein. Im konfuzianischen System wurden die Minister vom Herrscher ernannt. Daher hing viel davon ab, wie es um den Charakter des Staatsoberhaupts selbst bestellt war. Konfuzius sagte: »Die Kunst des Regierens besteht darin, die richtigen Menschen zu bekommen. Man erhält sie über den Charakter des Herrschers. Dieser Charakter muss kultiviert werden, indem er dem Weg der Pflicht folgt. Dass er dem Weg der Pflicht folgt, erreicht man, indem er die Güte zu schätzen lernt.«

»Die rechte Regierung besteht darin, dass die Herrscher Herrscher, die Minister Minister, die Väter Väter und die Söhne Söhne sind.«

Konfuzius

Die Rolle der Beamten war vorrangig beratend. Minister mussten sich nicht nur in Bezug auf die Verwaltung und die Struktur der chinesischen Gesellschaft gut auskennen, sondern auch über Geschichte, Politik und Diplomatie Bescheid wissen. Das war nötig, um dem Herrscher bei Allianzen und Kriegen mit Nachbarstaaten zur Seite stehen zu können. Zudem hatte die neue Gesellschaftsklasse die Aufgabe, den Herrscher am Despotentum zu hindern. Zwar waren die Beamten ihrem Vorgesetzten gegenüber loyal, doch gleichzeitig verhielten sie sich wohlwollend gegenüber den Untertanen. Sie mussten wie der Herrscher durch ihr Beispiel führen und sowohl das Staatsoberhaupt als auch die Untertanen durch ihre Tugend beflügeln.

Die Bedeutung des Rituals

Viele Teile der Schriften des Konfuzius lesen sich wie ein Handbuch der Etikette oder des Protokolls. Sie gehen auf das angemessene Verhalten eines junzi in den verschiedensten Situationen ein. Betont wird, dass es sich bei den beschriebenen Ritualen nicht um Leerformeln handelt, vielmehr haben sie einen tieferen Sinn. So war es wichtig, dass die daran Beteiligten sich aufrichtig verhielten, um die Bedeutung der Rituale zu verdeutlichen. Staatsbeamte etwa mussten ihre Pflichten tugendhaft erfüllen und sollten dabei auch gesehen werden. Konfuzius legte großen Wert auf Zeremonien. Sie signalisierten, welche Positionen eine Person innerhalb einer Gesellschaft einnahm.

Zeremonien und Rituale erlaubten es den Staatsbeamten, Ergebenheit (nach oben) und Rücksichtnahme (nach unten) zum Ausdruck zu bringen. Doch Konfuzius zufolge sollte es in allen Gesellschaftsgruppen Rituale geben: vom formalen Zeremoniell bei Hofe bis zur täglichen sozialen Interaktion, bei der die Beteiligten sorgfältig ihre Rollen einhielten. Nur so konnte die Idee der Führung durch Vorbild Erfolg haben. Für Konfuzius zählten dabei Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit zu den wichtigsten Tugenden, Treue war ebenfalls von Bedeutung.

Viele der Rituale und Zeremonien entstammten religiösen Riten, aber dieser Aspekt stand nicht im Vordergrund. Die Ethik des Konfuzius beruhte nicht auf religiösen Überzeugungen. Er ging einfach davon aus, dass die Religion einen festen Platz in der Gesellschaft hat. Tatsächlich bezog er sich in seinen Schriften selten auf die Götter. Allenfalls äußerte er die Hoffnung, dass die Gesellschaft in Übereinstimmung mit dem Mandat des Himmels organisiert und regiert werden könne – was dazu beitragen würde, die Staaten, die um die Macht kämpften, zu vereinen. Obwohl Konfuzius an die Vererbung der Herrschaft glaubte, sah er keine Notwendigkeit, sie als göttliches Recht hinzunehmen.

»Der Edle regiert die Menschen nach ihrem Charakter, wie es zweckmäßig ist, und sobald sie sich vom Falschen abwenden, hört er damit auf.«

Konfuzius

Dieser Gedanke und das Klassensystem, das auf Verdiensten beruhte und nicht auf Vererbung, sind die radikalsten Ideen im konfuzianischen System. Generell sprach sich Konfuzius für eine Hierarchie aus, die durch strenge Benimmregeln und Protokollvorschriften geregelt wurde. Jeder sollte wissen, wo in der Gesellschaft er stand. Dies bedeutet nicht, dass es keine sozialen Auf- und Abstiegsmöglichkeiten gab. Wer die Fähigkeiten (und einen guten Charakter) besaß, konnte ohne Rücksicht auf den familiären Hintergrund über alle Ränge bis in die höchsten Ebenen der Regierung gelangen. Und wer eine Machtposition innehatte, konnte sie verlieren, wenn er nicht die entsprechenden Qualitäten bewies, egal wie angesehen seine Familie war. Dieses Prinzip bezog sich sogar auf den Herrscher selbst. Konfuzius betrachtete den Anschlag auf ein despotisches Staatsoberhaupt als das notwendige Entfernen eines Tyrannen und nicht als Mord an einem legitimen Herrscher. Er meinte, durch diese Flexibilität ergäbe sich echter Respekt und politischer Konsens – die notwendige Basis für eine starke und stabile Regierung.

Schauspieler vollziehen in der Provinz Shandong (China) ein konfuzianisches Ritual. Ihre strenge Tradition vermittelt den Zuschauern heute den Eindruck respektvoller Zurückhaltung.

Verbrechen und Strafe

Die Prinzipien der konfuzianischen Moralphilosophie erstreckten sich auch auf die Bereiche Recht und Strafen. Zuvor hatte das Rechtssystem auf religiösen Verhaltensvorschriften beruht, aber Konfuzius wollte die von Gott gegebenen Gesetze durch einen am Menschen orientierten Ansatz ersetzen. Wie bei seiner Sozialstruktur plädierte er für ein System, das auf Gegenseitigkeit beruhte: Wirst du mit Respekt behandelt, handelst du selbst auch mit Respekt. Seine Version der goldenen Regel war als Verneinung formuliert: »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andren zu.« Damit standen nicht mehr die begangenen Taten im Blickfeld, sondern es ging darum, schlechtes Verhalten zu vermeiden. Und dies ließe sich am besten durch das richtige Vorbild erreichen, was Konfuzius so ausdrückte: »Wenn du einen weisen Mann triffst, so versuche, ihm nachzueifern. Wenn du einen törichten Mann triffst, so prüfe dich selbst in deinem Innern.«

Das Gemälde aus der Song-Dynastie zeigt, wie der chinesische Kaiser bei den Prüfungen der Beamten den Vorsitz führt. Derartige Prüfungen wurden zu Konfuzius’ Lebzeiten eingeführt und beruhten auf seinen Vorstellungen.

»Wer Kraft seines Wesens herrscht, gleicht dem Nordstern. Der verweilt an seinem Ort und alle Sterne umkreisen ihn.«

Konfuzius

Konfuzius wollte Verbrechen nicht mit strengen Gesetzen oder harten Strafen bekämpfen. Er hielt es für den besseren Weg, das Gefühl der Scham zu wecken. Mag sein, dass die Menschen nicht kriminell werden, wenn sie durch Gesetze geführt oder durch Strafen gehindert werden. Aber sie entwickeln kein Gefühl für Richtig und Falsch. Werden sie hingegen durch ein Vorbild geführt und durch Respekt gehindert, dann schämen sie sich für ihr Fehlverhalten und lernen, wirklich gut zu sein, so seine Idee.

Unpopuläre Ideen

In der Philosophie des Konfuzius verbinden sich Vorstellungen von der angeborenen Güte und Geselligkeit des Menschen mit den starren Strukturen der traditionellen chinesischen Gesellschaft. Angesichts seiner Position als Berater bei Hofe überrascht es auch nicht, dass Konfuzius der neuen meritokratischen Klasse der Gelehrten einen wichtigen Platz einräumte. Doch die Angehörigen der herrschenden Familien fühlten sich durch die Macht, die Minister und Berater erhalten sollten, bedroht. Die Beamten hätten vielleicht gern mehr Kontrolle ausgeübt, glaubten aber nicht daran, dass das Volk sich durch ein Vorbild regieren lasse. Und sie wollten nicht ihr Recht aufgeben, Macht durch Gesetze und Strafen auszuüben. Die Ideen des Konfuzius wurden also mit Misstrauen betrachtet und zu seinen Lebzeiten nicht umgesetzt.

Als offizielle chinesische Staatsphilosophie erfüllte der Konfuzianismus auch religiöse Funktionen. Im ganzen Land entstanden konfuzianische Tempel wie dieser in Nanjing.

Auch spätere Denker hatten allerlei daran auszusetzen. Mozi, ein chinesischer Philosoph, der kurz nach Konfuzius’ Tod geboren wurde, stimmte zwar mit dessen modernen Vorstellungen der Meritokratie und der Führung durch ein Vorbild überein, aber er glaubte, die Orientierung an Familienbeziehungen würde zu Vetternwirtschaft führen. Und militärisch geprägte Denker wie Sunzi hatten wenig Zeit für Moralphilosophie – sie näherten sich der Frage des Regierens von der praktischen Seite und zogen ein autoritäres System vor, um die Verteidigung des Staates sicherzustellen. Dennoch wurden in den beiden Jahrhunderten nach Konfuzius’ Tod immer mehr Elemente seiner Lehre in die chinesische Gesellschaft aufgenommen. Unter Mengzi (372–289 v. Chr.) gewannen sie im 4. Jahrhundert v. Chr. sogar eine gewisse Popularität.

»Was man weiß, als Wissen gelten lassen, was man nicht weiß, als Nichtwissen gelten lassen: das ist Wissen.«

Konfuzius

Die Staatsphilosophie