Mein schmerzhaft schönes Trotzdem

Barbara Vorsamer

Mein schmerzhaft
schönes Trotzdem

Leben mit der Depression

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Barbara Vorsamer

Barbara Vorsamer, geboren 1981, ist Redakteurin im Gesellschaftsteil der ›Süddeutschen Zeitung‹. Ihre Texte wurden mehrfach für Preise nominiert und ausgezeichnet. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und wohnt in München. Seit vielen Jahren leidet sie an Depressionen. Mittlerweile wei sie, wie man weiterlebt mit der Depression. Trotz der Depression. Und obwohl es ihr immer mal wieder so mies geht, dass sie sich gar nicht vorstellen kann, jemals wieder irgendetwas zu tun.

Über das Buch

Barbara Vorsamer weiß, wie es sich anfühlt, wenn morgens ein Elefant auf ihrer Brust sitzt. Dann reicht ihre Kraft nicht einmal, um sich im Bett umzudrehen. Dann nimmt das Gefühl der Wertlosigkeit überhand und irgendwann bleibt als Ausweg nur noch die Einweisung in die geschlossene Psychiatrie. Es war ein schmerzhafter Prozess, es brauchte Therapien und Klinikaufenthalte, bis Barbara Vorsamer lernte, Gefühle nicht länger zu unterdrücken, sondern sie in ihrer Ambiguität zuzulassen. Eindringlich schreibt sie über das Versinken in tiefdunkler Depression, über Schmerzen und Trauer. Es sind persönliche Fragen, die weit über das Private hinausweisen. Denn wir müssen auch als Gesellschaft öfter darüber sprechen, wie es uns geht.

Impressum

Deutsche Erstausgabe 2022

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

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eBook-Herstellung: Fotosatz Amann, Memmingen (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-44075-2 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-29005-0

ISBN (epub) 9783423440752

Ohne dich gäbe es dieses Buch nicht.

Ohne dich gäbe es die Autorin dieses Buchs nicht, denn ohne dich wäre ich eine andere.

Dieses Buch handelt von Depressionen und beschreibt auch immer wieder Suizidgedanken. In Kapitel III geht es um eine Fehlgeburt und um den Tod und in Kapitel IV um Essstörungen.

Solltest du dieses Buch lesen, weil du selbst betroffen bist, sei bitte achtsam. Wenn es dir schlecht geht, kontaktiere bitte umgehend deine Ärztin, deinen Therapeuten oder die Telefonseelsorge (http://www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhältst du Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.

 

Geschlechtergerechte Sprache:

Die meisten Patienten in Psychiatrie und Psychotherapie sind weiblich, die meisten Psychotherapeuten ebenso. Mir widerstrebt es nicht nur deswegen, die männliche Form zu nutzen und damit alle zu meinen. In diesem Buch werde ich daher männliche und weibliche Form abwechselnd verwenden, mal von Ärztinnen, mal von Patienten schreiben oder umgekehrt. Es sind aber jederzeit alle Geschlechter gemeint. Geht es an einer Stelle tatsächlich nur um Frauen oder nur um Männer, werde ich es deutlich machen.

Ich wollte schon immer gerne einen Ratgeber darüber schreiben, wie man Migräne und Depressionen loswird. Oder wenigstens einen lesen.

Das Problem bei Ersterem ist, dass ich es nicht weiß. Und das Problem bei Letzterem ist, dass es die anderen auch nicht wissen. Ich habe unzählige Bücher über Schmerzen, Migräne und Depressionen gelesen und nirgends den einen Rat gefunden, mit dem endlich alles gut wurde.

Ich kämpfe seit Jahrzehnten mit Migräneanfällen, die mich mehrmals im Monat für einige Tage lahmlegen, und mit schweren Depressionen, die mich immer mal wieder heimsuchen, weswegen ich Medikamente nehme, die mal besser und mal schlechter helfen. Mal mache ich mehr und mal weniger Therapie. Die Depression ist trotzdem – zumindest als grüblerisches Grundrauschen unter der Oberfläche des Alltags – immer da. Ständiger Selbsthass, häufige Suizidgedanken und monatelange tiefe, grundlose Traurigkeit waren für mich normal. Dass andere Menschen derlei Gedanken und Gefühle nicht oder nur sehr selten kennen, war mir lange nicht klar, mit Psychotherapie oder gar Psychiatrie wollte ich nichts zu tun haben.

Doch die Depression fragt nicht nach Erlaubnis, genauso

Falls du betroffen bist und falls dein Gehirn wie meines funktioniert, hast du gerade gedacht: Und dann kommt es irgendwann wieder, das bringt doch alles gar nichts.

Ja und nein. Ja, falls du chronische Depressionen hast, kann es schon sein, dass sie irgendwann wiederkommen. Nein, das bedeutet nicht, dass eine Behandlung nichts bringt. Auch bei körperlichen Krankheiten wie einem Bänderriss oder einer Lungenentzündung gibt es nach dem Ende der Behandlung keine Garantie, dass man sich im Jahr darauf nicht wieder etwas reißt oder ein Bakterium einfängt. Diese Erwartung, von den Ärzten nicht nur von den akuten Beschwerden befreit, sondern für immer geheilt zu werden, gibt es meiner Meinung nach nur in der Psychiatrie.

2018 schrieb ich zum ersten Mal über meine Depressionen. Nach der Veröffentlichung bekam ich Hunderte Nachrichten von Leserinnen und Lesern, die mir berichteten, wie viel Mut ihnen der Text gemacht habe. Dann, zwei Jahre später, mitten in der Corona-Pandemie, rutschte ich selbst wieder in eine depressive Phase und las meine

Ich weiß, wie man weiterlebt. Mit chronischen Schmerzen, mit der Depression, trotzdem, und selbst wenn es mir so beschissen geht, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, jemals wieder irgendetwas zu tun. Ja, in solchen Momenten kann ich mir nicht einmal vorstellen, irgendetwas tun zu wollen, und diese Momente gibt es nach wie vor.

Mein Leben heute ist ein einziges, riesengroßes Trotzdem, und manchmal habe ich das Gefühl, eine andere Sorte Leben gibt es auch gar nicht, zumindest nicht für mich. Dieses Buch handelt vom Aufstehen, obwohl man keine Lust hat, genauso wie vom Liegenbleiben, weil es manchmal nicht anders geht. Es handelt davon, dass es vielleicht gar nicht das Ziel sein muss, die eine Methode, den einen Arzt und das eine Medikament zu finden, das alle Schmerzen wegbläst, um dann, endlich, so richtig mit dem Leben zu beginnen. Es geht darum, dass man auch und gerade als psychisch Kranke und Schmerzpatientin leben darf und – dazu komme ich am Ende dieses Buches – leben muss.

Ich beschreibe meinen Weg durch den Dschungel der Gefühle, der körperlichen und der seelischen, es geht um Zusammenhänge zwischen Körper, Geist und Seele, aber auch darum, dass es manchmal keinen gibt und sich einen einzureden niemanden weiterbringt. Es geht darum, über Schmerzen und Gefühle zu reden, und darum, dass das manchmal gar nicht hilft. Und dann wieder darum, warum es trotzdem guttut, es zu machen. Ich habe keine Lösung. Aber ich weiß inzwischen, dass die verzweifelte Suche

In den vergangenen Jahren habe ich als Journalistin immer wieder über Gefühle geschrieben, über meine Depressionen, über schmerzliche Erfahrungen und darüber, was die Corona-Pandemie emotional mit vielen Menschen gemacht hat. Mein Ziel war das nie. Meine berufliche Laufbahn begann am Newsdesk der ›Süddeutschen Zeitung‹, mein Wunsch war, eine ernstzunehmende Politikjournalistin zu werden. Ich legte meinen Fokus auf die US-Politik und machte viele, viele Nachtschichten, in denen ich die schier endlose Primary-Saison 2008, den Zweikampf zwischen Barack Obama und Hillary Clinton, begleitete. Den Höhepunkt, die Wahl Obamas zum US-Präsidenten, erlebte ich dann aber in der Psychiatrie. Ich hatte mich überfordert. Oder vielleicht andersherum, vielleicht hatte ich so viel gearbeitet, um nicht zu spüren, wie es mir wirklich ging. Zu diesem Unterschied kommen wir noch.

Damals war ich wohl das, was die Emotionswissenschaftlerin Carlotta Welding als gefühlsblind bezeichnet. Ich konnte meine Gefühle nur sehr schlecht spüren, und was ich spürte, konnte ich oft nicht einordnen. Vollends an meine Grenzen kam ich beim Ausdrücken von Gefühlen. Außer Weinen hatte ich da nichts drauf, und deswegen weinte ich viel. Ob ich wirklich traurig war oder vielmehr depressiv oder gleich ganz was anderes, wütend vielleicht? Wie sich das alles vermischen kann und wie man aus diesem Kuddelmuddel wieder herauskommt, wird noch Thema sein.

Nun ausgerechnet als Gefühlsblinde ein Buch über psychische Krankheiten und Gefühle zu schreiben, mag daher im ersten Moment anmaßend wirken. Vielleicht bin ich aber gerade deswegen genau die Richtige.

Wer Dinge auf natürliche Weise immer schon richtig gemacht hat, kann oft anderen nicht beschreiben, wie es geht. Ein Beispiel: Mein Mann spielt sehr gut Badminton und Tennis, ich überhaupt nicht. Ganz am Anfang unserer Beziehung sind wir mal mit ein paar Schlägern in den Park gegangen, nur zum Spaß. Ich scheiterte direkt daran, das Ding korrekt zu halten. Er machte es mir vor, ich machte es nach, allerdings falsch, er sagte mir das und dann kamen wir nicht mehr weiter. Da er den Schlag intuitiv schon sein ganzes Leben lang richtig ausgeführt hatte, konnte er mir nicht erklären, wie man denn nun genau einen Tennisschläger in die Hand nimmt.

Tennisspielen ist zum Glück nicht überlebenswichtig, man kommt wunderbar durchs Leben, ohne jemals einen Schläger zu halten. Ohne Gefühle aber kommen wir nicht durch, will wahrscheinlich auch keiner. Ich habe erst spät und auf sehr schmerzhafte, langwierige Weise und mithilfe mehrerer Klinikaufenthalte und Therapien gelernt, Gefühle anzunehmen, zuzulassen – und dann doch nicht unbedingt danach zu handeln, denn darum geht es nicht immer. Wichtig ist stattdessen, den Emotionen den Raum zu geben, den sie brauchen, und es auszuhalten, wenn sie

Meine Depression und ich

Meine Depression sitzt mitten auf der Brust, da, wo Kinder das Herz hinmalen, wo es aber eigentlich nicht ist. 2009 habe ich noch keine Kinder, aber ich habe einen Elefanten. Er sitzt auf mir.

Schon morgens, wenn ich aufwache, ist er da, lange vor dem Weckerklingeln. Aufstehen kann ich nicht, der Elefant ist sehr schwer, außerdem muss ich noch nicht aufstehen. Ich habe Zeit, im Dunkeln zu liegen, den Schmerz genau zu spüren und darüber nachzudenken, wie schwierig alles ist, wie sinnlos das Leben ist und wie wertlos ich selbst bin. Ich bewege mich nicht, meine Kraft reicht nicht einmal dafür, mich auf die andere Seite zu drehen. Wenn der Wecker klingelt, bin ich schon zwei Stunden wach (oder drei oder vier), aber ich stehe nicht auf. Ich finde Gründe, warum ich Zeit habe. Erst vorgestern Haare gewaschen, geht schon noch. Frühstück? Eh keinen Hunger. Was anziehen? Aber was? Hilfe, eine Entscheidung. Entscheidungen sind am schlimmsten, nichts ist schwieriger für mich, wenn ich gerade in einer tiefen Depression stecke. Manchmal überfordert mich die Entscheidung für eine Hose dermaßen, dass ich mich krankmelde und den ganzen Tag über den Tod nachdenke. Öfter schaffe ich es in letzter Minute, doch

Wenn ich Menschen erzähle, dass ich Depressionen habe, fragen mich viele, seit wann. Ich könnte darauf antworten: erste Diagnose 2005, zum ersten Mal Medikamente genommen und zu einer Therapeutin gegangen 2006. Ich könnte aber auch sagen: schon immer. Das Gefühl, wertlos zu sein und nicht mehr leben zu wollen, kenne ich bereits aus meiner Kindheit. Ich war ein ruhiges, melancholisches Kind, das sich selbst nicht besonders gernhatte. Ich hielt mich wesentlich lieber in Narnia, Nangijala oder Burg Möwenfels auf, träumte mich in die Welten von C. S. Lewis, Astrid Lindgren und Enid Blyton. Ich fand es schöner da als in der Realität, so schön, dass ich meiner Mutter irgendwann verkündete, auf ein Internat zu wollen. Sie antwortete mir, dass ich dort alles essen müsse – auch Brokkoli und Bohnen. Damit war die Idee gestorben. Ich las also weiter, und wenn ich das nicht tat, tagträumte ich mich in die Welten des Buches, das mich gerade beschäftigte.

Die erste Erinnerung an Gefühle, über die ich aus heutiger Sicht sagen würde: »Normal war das nicht«, ist von 1997. Da war ich 16, fuhr mit dem Fahrrad an den S-Bahn-Gleisen entlang und stellte mir vor, wie es wäre, mich umzubringen. Aus demselben Jahr stammt eine Erinnerung

Depressionen und andere psychische Krankheiten lassen sich nicht bekämpfen oder verhindern, indem man besser auf seine Gefühle hört, achtsamer mit sich selbst ist und all dieser Mindfulness-Kram, der seit einigen Jahren als die Lösung für alles verkauft wird. Eine Krankheit, auch eine psychische, lässt man am besten von einem dafür zuständigen Facharzt behandeln. Bitte nimm dich da ernst und betreibe keine Selbsttherapie unter der Bettdecke durch die Lektüre von Sachbüchern, deren Autorinnen lediglich geisteswissenschaftlich ausgebildet sind. Ich sage dir hier nicht, wie du dich am besten behandeln lässt. Ich sage dir nur, dass du dich behandeln lassen solltest –

Depressionen und Gefühle hängen dennoch eng zusammen, man verwechselt die Krankheit leicht mit Trauer, Angst und Selbstzweifeln, zudem hat man selten nur das eine oder nur das andere. Sondern meistens beides. Und während man sich die Krankheit nicht wegmeditieren/wegdenken/wegorganisieren kann, ist es bei unangenehmen Gefühlen durchaus möglich, sie ohne Tabletten und Therapie zu überleben. Und andersherum lässt sich eine depressive Phase viel leichter und schneller behandeln, wenn man den negativen Gefühlen, die einen gleichzeitig beschäftigen, den Raum gibt, den sie brauchen.

Ein konkretes Beispiel: Ich schreibe dieses Kapitel mitten in der Corona-Pandemie und einige Monate, nachdem ich erneut eine depressive Phase hatte. Diesmal eine vergleichsweise kurze, und das, obwohl so vieles gleichzeitig scheiße war. Es war (und ist) Corona-Krise, wir haben anstrengende Monate mit Homeoffice und Homeschooling und Kurzarbeit und Lockdown und Zukunftsangst hinter und vor uns. Meine Tochter hatte eine extrem schwierige Phase, die sich später als ein nicht erkanntes ADHS herausstellen sollte, mein Sohn hatte einen Infekt nach dem anderen. Aber für all das war Raum. Ich sprach mit vielen Freundinnen, in der Arbeit wussten alle bis hinauf zur Chefredaktion Bescheid, ich holte mir schnell Hilfe bei meiner Therapeutin und meiner Psychiaterin. Nach ein paar Monaten war es wieder vorbei – also die depressive Phase. Corona und all das andere leider nicht, weswegen es mir auch ohne die Depression nicht gut ging. Psychische Gesundheit ist aber nicht dasselbe wie völliges

Ich hätte bis vor wenigen Jahren von mir behauptet, eigentlich nie wütend zu sein. Wenn sich negative Emotionen Bahn brachen, dann war ich traurig oder ängstlich. Als Kind und in der Schule galt ich als »Heulsuse«, manche würden sagen, ich hätte »wegen jedem Scheiß« geweint. In meiner ersten depressiven Phase, die ich als solche wahrnahm, weinte ich quasi ununterbrochen. Letztlich bestand meine Gefühlspalette also aus 50 Shades of Traurigkeit. Auf der anderen Seite ging das Blau bis ins Schwarze, wie eine dunkle Wolke, die alle Schattierungen überdeckte. Bunt wurde es aber nie, zu anderen Gefühlen hatte ich wenig Zugang. Als ich zum ersten Mal in einer psychiatrischen Klinik war, bekam ich von einem Therapeuten den Auftrag, ein Bild über all meine Gefühle zu malen. Er erhielt ein Blatt zurück, auf das ich nichts gemalt, sondern in bunten Farben Worte geschrieben hatte: ängstlich, mutig, schüchtern, fröhlich, reizbar, entspannt. »Das sind keine Gefühle, Frau Vorsamer«, sagte er einigermaßen entsetzt. »Das sind Eigenschaften.«

 

Was also sind Gefühle überhaupt?

Verbreitet ist der Ansatz des Anthropologen Paul Ekman, der sechs Basisemotionen definierte: Freude, Traurigkeit, Überraschung, Wut, Ekel, Angst. Unter anderem auf dieser Basis entwickelte der Emotionsforscher Klaus Scherer sein Emotionsrad, in dem er Empfindungen nach Stärke unterscheidet (Genervtheit – Gereiztheit – Empörung – Ärger – Wut) und aus der Mischung mehrerer Basisemotionen

Ich stelle mir Gefühle gerne wie Farben vor. Davon gibt es unendlich viele, doch alle lassen sich aus den Primärfarben Rot, Blau und Gelb mischen. Ein reiches, gesundes Gefühlsleben wäre dann wie ein Regenbogen, in dem jede Farbe ihren Platz hat, jede Mischung, jede Schattierung. Eine Depression ist in diesem Bild aber keine Farbe, sondern die dicke Wolke, die sich drüberschiebt, bis alles schwarz aussieht.

Hört sich recht klar an. Stecke ich aber mittendrin in der Empfindung, dann ist es oft nicht ganz so leicht, zu erkennen, ob das gerade eine dunkle Farbe ist – oder ob die Depression wieder alles Licht geschluckt hat.

 

2011 war alles dunkel. Und das, obwohl ich doch vor Kurzem Mutter geworden war und die Welt von mir erwartete, mein Leben rosa zu sehen. Stattdessen saß ich nun auf der Krisenstation im Bezirkskrankenhaus Haar, der örtlichen Psychiatrie. Ohne mein Kind.

Eigentlich wollte ich nicht hierbleiben. Ich war nur nach Haar gekommen, um mich über die Mutter-Kind-Klinik zu informieren. Es ging mir schon seit einer Weile nicht mehr gut. Ich weinte viel, und wenn ich nicht weinte, dann nur, weil mir selbst dafür die Kraft fehlte. Mein Kind war da gerade ein halbes Jahr alt, seit der Entbindung hatte ich fast 30 Kilo abgenommen. Ich konnte nichts mehr essen, war nicht mehr in der Lage, irgendetwas herunterzuschlucken. Wenn ich doch etwas schluckte, musste ich mich ein paar Minuten später übergeben.

Da ich bereits zuvor Antidepressiva genommen hatte und in einer psychiatrischen Klinik gewesen war, fühlte ich mich von all den Ärztinnen und Ärzten, die das in meiner Akte sahen, nicht ernst genommen. Wenn sie mich mit besorgter Stimme fragten: »Wie geht es Ihnen, Frau Vorsamer?«, hörte ich: »Sie waren schon mal psychisch krank, ich glaube Ihnen kein Wort.« Ich selbst wollte einfach nicht sehen, dass es tatsächlich wieder »was Psychisches« war.

Welche Farbe hatten wir da, ein Dunkelgrau, gemischt aus Überforderung, Stress, Schmerzen? Oder eine schwarze Wolke, die sich über die Farben des Lebens geschoben hatte? Oder vielleicht sogar beides, ein dunkles Grau und darüber ein Schatten? Ich weigerte mich damals, die Wolke zu sehen, und erklärte mir das Dunkel anders. Drei Jahre nach meinem ersten Klinikaufenthalt wollte ich den ganzen Psychokram als abgeschlossenes Kapitel ins Archiv meines Lebens schieben, als etwas, das war, aber nicht mehr ist. In meiner Wahrnehmung waren drei Jahre gerade noch kurz genug, um es als Episode bezeichnen zu können, als Ausnahme, keinesfalls als etwas, das zu mir und meiner Persönlichkeit dazugehört. Außerdem war alles seitdem spitzenmäßig gelaufen. Ich war immer noch happy in

Ich surfte so entschlossen auf dieser »Alles ist so super«-Welle, dass ich jegliche Ängste, Zweifel, Ambivalenzen, die mit der Schwangerschaft einhergingen, abblockte. Außerdem war ich komplett ahnungslos. Mit 29 Jahren war ich in meinem akademischen Umfeld vergleichsweise jung, um ein Kind zu bekommen, in meinem Freundeskreis hatte niemand welche. Ich war zudem so schnell schwanger geworden, dass ich noch gar nicht richtig angefangen hatte, mich zu informieren. Dass es so etwas wie das Wochenbett gibt und was das eigentlich ist, wurde mir daher erst im fünften Monat klar, als meine Therapiegruppe mit mir meine Babypause klären wollte. Ich war verwirrt, hatte ich doch geplant, direkt nach der Geburt wieder zu den Sitzungen zu erscheinen, dann eben mit der Babyschale unterm Arm. »Meinst du, du kriegst dein Kind im Vorbeigehen?«, fragte mich ein Mitpatient.

Nun, das dachte ich. Nicht nur mit den körperlichen Veränderungen des Mutterseins beschäftigte ich mich wenig, auch was es persönlich, mental, psychisch mit mir machen würde, fragte ich mich nicht. Ich war mir schon als Kind sicher gewesen, später mal Kinder zu wollen, hatte daran nie Zweifel. Jetzt bekam ich eins, das war Grund zur Freude, basta.

Es muss auch nicht jede werdende Mutter ewig darüber nachdenken, bei manchen Frauen fallen mit dem Kinderkriegen Puzzleteile ineinander, die stets zusammengehört

Über diese Haltung schreibt die US-Autorin Kim Brooks im Buch ›Small Animals‹: »Kinder sind keine Projekte. Zwischen Eltern und Kindern geht es nicht um Leistung, sondern um Beziehung.« Ehrgeizige und vernunftgesteuerte Mütter treffen also nun auf kleine Wesen, die sich null für all die klugen Gedanken und großen Leistungen interessieren und nur gehalten werden wollen. Getragen, genährt, beruhigt, bespiegelt. Puh.

Ich hielt das kaum aus und schaltete in den Aktionsmodus. Nur wenige Wochen nach der Geburt rannte ich zum Hebammentreff, meldete mich für diverse Krabbelkurse an, wo ich mir rasch Frauen mit Babys im gleichen Alter als Freundinnen suchte. Fortan war ich nur noch

Nun war es nicht so, dass wir unsere Kinderwagen nur über rosa Wolken geschoben hätten, natürlich jammerten und heulten wir uns gegenseitig voll. Unsere Babys schliefen nicht, tranken nicht, spuckten viel, zahnten, lagen irgendwie komisch, und wir waren deswegen besorgt und gestresst und unausgeschlafen und fix und fertig. Ganz normal. Dass man nicht mit strahlendem Teint, Größe 36 und stets voller Selbstvertrauen und bester Laune aus dem Kreißsaal springt, hat sich inzwischen herumgesprochen, junge Mütter dürfen weinen. Was sie nicht dürfen oder was zumindest ich mir nicht erlaubte, war, zu zweifeln. So unbedingt, wie ich hatte Mutter werden wollen, war es jetzt absolut verboten, diese Entscheidung rückblickend infrage zu stellen. Zumal da ja nun ein Kind war, das bei mir bleiben würde, egal wie sehr ich diese Motherhood nun regretten würde.

Die Regretting-Motherhood-Debatte war 2011 noch ein paar Jahre entfernt, und zu erklären, dass ich meine Mutterschaft tatsächlich bereue: so weit würde ich auch heute nicht gehen. Doch ziemlich viel von dem, was Frauen zu sein haben und tun müssen und wie sie sich fühlen sollen, wenn sie Mütter werden, gefällt mir nicht. Mareice

 

Die Reise und der Umzug. Zwei Dinge, in die ich mich in diesem Sommer hineinmanövrierte und die ich besser gelassen hätte, allein schon, weil so emotional wackelige

Die Oberärztin der Mutter-Kind-Klinik erkannte es sofort. Sie hatte zwar keinen Platz mehr frei, wollte mich aber keinesfalls wieder nach Hause fahren lassen. Kleidung sollte mein Mann bringen, die Oma das Baby mitnehmen, sie organisierte mir ein Bett in der Krisenstation.

Auf der Krisenstation blieb ich ein paar Tage, dann kam ich mit meinem Baby in die Mutter-Kind-Klinik. Meine Depressionen und das ständige Hin und Her zwischen Papa, Oma und Klinik schienen ihm nichts auszumachen. Magdalena ließ sich abstillen, akzeptierte klaglos Flasche und Brei und blieb ohne Probleme in der Kinderbetreuung der Klinik. Nebenbei lernte sie sitzen, krabbeln und durchschlafen. Sie war ein Bilderbuchbaby, und ich war die unfähigste Mutter der Welt. Ich wollte nicht mehr leben, nicht einmal für mein Kind, und jedes Mal, wenn ich das sagte, gaben mir die Krankenschwestern ein

Die Ärzte suchten nach einer Langfristmedikation für mich. Es waren Tabletten darunter, die meinen Kiefer lähmten, bei anderen wurde mir schwindelig, oder ich musste mich übergeben. Zwischendurch machte ich wieder einen Ausflug auf »die Krise«, weil meine Todessehnsucht und ich an den S-Bahn-Gleisen spazieren waren. Wenn die so etwas mitbekommen in der Psychiatrie, machen sie gleich wieder die Tür zu. Die ohne Klinke.

Erkenntnis: In der Depression sollte man keine weitreichenden Entscheidungen treffen.