Padraig ist Monsterjäger. Gemeinsam ziehen er und sein Vater regelmäßig los, um Schottland vor gehörnten, geflügelten und vor allem hungrigen Kreaturen zu beschützen. Als eine Jagd schief geht, verschwindet Padraigs Vater.

Brandon ist Monsterfan. Auf seinem Blog »Creepy Chronicles« schreibt er voller Leidenschaft über gruselige Biester. Doch dann wird ein Mädchen aus seinem Ort vermisst und ein junger Monsterjäger rettet ihn vor einem sogenannten Angstzehrer.

Die beiden schließen sich zusammen, um das Mädchen zu finden – und den Schlüssel, der Padraig zu seinem Vater führen könnte …

Ein spannendes Abenteuer mit Humor, Action und Gänsehautgarantie!

Sergio Dudli. Creepy Chronicles. Bloß nicht den Kopf verlieren!

Mit Illustrationen
von Falk »Zapf« Holzapfel

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1
Padraig

Der Friedhof

Warum musste es auf Monsterjagd immer regnen? Echt jetzt, das nervte! Gut, ich komme aus Schottland, schon klar. All die Touristen würden sagen, dass dieses triste Wetter zu unserer Kultur gehört. So wie das Monster von Loch Ness – zumindest hat es das, bis wir es getötet haben. Aber davon weiß zum Glück keiner.

»Du blickst ja noch düsterer drein als dein Großvater, nachdem er das linke Auge verloren hatte.« Ein tiefes Lachen erklang aus dem Schatten einer Kapuze und übertönte das Prasseln des Regens.

»Dieses Wetter geht mir gegen den Strich«, antwortete ich gereizt und öffnete ein Tor, das in eine von Moos überzogene Steinmauer eingelassen war. Grasbüschel drückten sich durch die Ritzen. Mit einem leisen Quietschen schwang das Gitter zur Seite.

»Regen und Wind sorgen erst für die richtige Stimmung auf der Jagd!«, behauptete die Kapuzengestalt und blieb vor dem Tor stehen.

Ich zuckte mit den Schultern. »Mag schon sein.«

Aus dem Halbschatten der Kapuze musterte mich ein schmales Gesicht: dunkle Augenringe, kantige Wangen, buschiger Schnurrbart. Dad fuhr voll auf den Staubfänger ab. Dabei waren die Dinger seit dem letzten Jahrhundert nicht mehr angesagt. Es sah aus, als wäre ein toter Hamster zwischen seiner Oberlippe und der leicht gekrümmten Nase eingeklemmt. Kein Wunder, dass ihm dieses Prachtexemplar spöttische Spitznamen einbrachte. Meine Favoriten waren »der Höllenbalken« und »die Oberlippe des Todes«. Zugegeben, einer dieser Namen ging auf meine Kappe …

»Ist was?«, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen, als Dad auch nach zehn Sekunden noch vor mir stand, statt durch das Tor zu treten.

»Nervös, Padraig O’Sullivan?«

»Nein«, antwortete ich entschlossen. »Sieht gemütlich aus, die Gegend hier. Ich kann mir keinen besseren Ort für ein Vater-Sohn-Wochenende vorstellen.«

Dad legte mir eine Hand auf die Schulter. »Schön, dass du noch zum Scherzen aufgelegt bist. Du weißt ja, Ang–«

»Angst ist unser größter Feind«, unterbrach ich ihn und winkte ab. »Ich weiß, Regel Nummer eins.«

Der Höllenbalken mochte Regeln. Keine Angst hier, die richtigen Waffen da. Aber hey, noch sahen wir die feuchte Erde, die so ziemlich ganz Schottland bedeckte, nicht von unten. An den Regeln musste also was dran sein.

Dad musterte mich prüfend. Als wollte er mich durchleuchten und sich vergewissern, dass nicht doch irgendwo ein Funken Angst schlummerte.

»Dann gehen wir«, sagte er schließlich. Offenbar hatte sein Padraig-Angst-Sensor nicht ausgeschlagen.

Jenseits des schmiedeeisernen Tores lag der alte Friedhof von Little Worrington. Nebelschwaden waberten wie von einer unsichtbaren Hand gezogen über die von Unkraut überwucherte Wiese und die Grabsteine. Auf einer Anhöhe thronte eine heruntergekommene Kapelle, unweit davon ragten die knorrigen Äste einer Eiche in den Abendhimmel.

Wir stapften durch den aufgeweichten Boden, vorbei an den windschiefen Grabsteinen, die im Lauf der Zeit so dunkel geworden waren, dass keiner der eingemeißelten Namen mehr zu entziffern war. Was keine Rolle spielte, da die Toten viel zu lange unter der Erde lagen und sich ohnehin niemand mehr an sie oder ihre Namen erinnern konnte.

»Was wohl mit der Eiche geschehen ist?«, fragte Dad.

Ich stellte den Kragen meines Trenchcoats hoch, während mir die Regentropfen wie kleine Peitschenhiebe ins Gesicht klatschten. Durch die aufziehende Dunkelheit stierte ich zu dem Baum. Kein einziges Blatt hing an den wirren Ästen. Das Merkwürdigste war, dass die Eiche aus zwei ineinander verschlungenen Stämmen bestand. Erst kurz vor der Baumkrone wuchsen sie zusammen.

Ich zuckte ratlos mit den Achseln. »Passt dieses tote Ding nicht irgendwie zu einem Friedhof?«

»Stimmt«, bestätigte Dad einsilbig. Je näher die Jagd rückte, desto wortkarger wurde er. Ansonsten konnte die Oberlippe des Todes ganz gesprächig sein.

Da es nach Sonnenuntergang schnell dunkel wurde, knipste ich die Taschenlampe an. Der Lichtkegel zerriss die sich anbahnende Nacht. Nach einem kurzen Fußmarsch standen wir vor der Tür des steinernen Gotteshauses.

»Hast du alles bereit?« Dad senkte die Stimme. »Für den Ernstfall.«

Ich überprüfte meinen Waffengurt, der sich unter dem Trenchcoat diagonal über meinen Oberkörper zog.

Feuer des Prometheus?

Check.

Weihwasser?

Sicher verkorkt.

Eisenkette?

Schwer wie immer.

Salzkugeln?

Bereit zum großen Wurf.

Dolch?

Schärfer als … Lassen wir das.

»Alles da«, bestätigte ich. »Ohne die richtigen Waffen bist du tot – oder zumindest ein zufälliges Körperteil los, nicht wahr?«

Dad nickte. »Regel Nummer zwei. Dann hoffen wir mal, dass der Pfarrer zu Hause ist.«

Ich griff nach dem verrosteten Türklopfer, der aus dem Maul eines eisernen Löwen hing, und hämmerte dreimal gegen das morsche Holz.

»Ich komme, ich komme«, erklang eine gebrechliche Stimme aus dem Innern der Kapelle.

Ein Schlüssel wurde gedreht, ein Riegel aufgeschoben. Die Tür öffnete sich knarrend und ein kleiner Mann mit Laterne kam zum Vorschein. Er war vielleicht siebzig Jahre alt und trug einen schwarzen Talar, der ihm zwei Nummern zu groß war. Auf seiner Hakennase saß eine rundliche Nickelbrille, deren Gläser dick wie Lupen waren und das Licht der Flammen reflektierten. Auf der fast kahlen, von Flecken überzogenen Kopfhaut stritten sich ein paar weiße Haare um den besten Platz.

»Sie sind bestimmt James O’Sullivan, richtig?«, fragte der Pfarrer mit heiserer Stimme. Aus dem Ärmel schob sich ein dünnes Ärmchen hervor. Die unnatürlich vergrößerten Augen musterten uns wie ein wachsamer Uhu.

»So ist es«, bestätigte Dad. »Ich bin James O’Sullivan.« Er überragte den Greis um drei Köpfe und schüttelte ihm kräftig die Hand. »Sie müssen Pfarrer Connelly sein, richtig?«

»Der bin ich«, japste der Alte. Dad zermalmte seine Hand fast zu Staub. »Sie sind ein Geschenk des Himmels! Sie müssen mir helfen! Es ist grauenhaft!«

»Sie sprechen von den Toten?«, hakte ich nach.

Der Pfarrer wandte sich erschrocken zu mir, als hätte er mich zuvor gar nicht wahrgenommen. Er testete die Beweglichkeit der zerquetschten Finger, richtete seine Brille und legte den Kopf schief. »Bist d–«, er räusperte sich, »ich meine, sind Sie nicht noch zu jung für diesen Beruf?«

»Glauben Sie mir, Pfarrer Connelly«, fuhr Dad dazwischen, »wenn ich Ihnen sage, dass mein Kollege unverzichtbar für die Arbeit unserer Organisation ist.«

Mit »unserer Organisation« meinte er die Behörde für eigenartige Angelegenheiten und superobskure Tierkreaturen, kurz BEAST. Früher waren wir als Exorzisten bekannt, aber da gab es irgendwann Streit mit den religiösen Eiferern. Heute nennen sich die meisten von uns BEAST-Agenten. Der Begriff Exorzisten war ohnehin irreführend, da wir keine Dämonen austreiben, sondern die Menschheit seit Jahrhunderten vor Monstern und Kreaturen der Nacht beschützen. Das läuft natürlich alles im Verborgenen ab, damit niemand Panik schiebt.

Im Kampf gegen die Monster nutzen BEAST-Agenten fünf Waffen: Feuer, Eisen, Salz, Weihwasser und Sigillen. Letzteres sind magische Symbole. Kampfsigillen ritzen wir in unsere Waffen. Mein Dolch ist mit der Sigille der Erstarrung versehen. Steckt die Klinge in einem Wesen der Nacht, kann es sich nicht mehr bewegen. Schutzsigillen wiederum sind Bannkreise und dieser ganze Kram.

Tja, und damit jagen wir Monster. Keine Vampire, Werwölfe und andere Fantasiegestalten, sondern echte Ausgeburten der Hölle! Vor wenigen Tagen hatten Dad und ich in einem einsam gelegenen Bergdorf in den Cairngorms einen Schwarzen Augenhorter getötet. Dieses Wesen sieht aus wie eine XXL-Fledermaus mit pechschwarzer Haut und riesigen gelben Augen. Was so ein Augenhorter tut? Nun, er schneidet verirrten Wanderern mit seinen löffelartigen Krallen die Augen raus. Das funktioniert wie diese Dinger in den Eisdielen, mit denen die Kugeln geformt werden. Ihre Schätze hortet die Kreatur in hohlen Baumstämmen oder Astlöchern.

Als der Augenhorter tagsüber in seinem Versteck schlief, haben wir ihn ausgeräuchert. Mit Feuer hat er’s nicht so, unser Glupschauge. Der hat vielleicht geschrien, als die Flammen nach ihm züngelten. Puff!, und er war nur noch ein mickriges Staubhäufchen.

Diese Nacht waren wir in Little Worrington im Einsatz, einem unscheinbaren Kaff ein paar Kilometer außerhalb von Inverness. In den letzten Monaten gab es in der Gegend mehrere Vermisstenfälle. Die Menschen im Ort erzählten sich alte Schauermärchen über ein Monster, das im angrenzenden Wald umherschlich. Was sie nicht wussten: Diese Kreatur hatte ein Agent vor vielen Jahrzehnten erledigt. Das ist alles bei BEAST notiert und archiviert. Ach ja, was würden wir nur ohne Mrs Love-Wobbley tun? Die ältere Dame mit einer Vorliebe für Strickjacken war das Herz des BEAST-Archivs.

Aber zurück zum Pfarrer.

»Bitte vergeben Sie mir meine Voreingenommenheit, mein Sohn.« Mr Connelly legte die Hände ineinander und lehnte sich mit dem Oberkörper nach vorne. »Dabei pflege ich stets zu sagen, dass das Alter nichts über die Fähigkeiten eines Menschen aussagt. Schließlich wissen wir nie, welche Gaben uns der Herr mit auf den Weg gibt.«

Der Pfarrer lächelte mich an. Ich erwischte mich dabei, wie ich sein gelbstichiges Gebiss anstarrte. Hatte ein Lächeln seinen Namen überhaupt verdient, wenn es aus mehr Lücken als Zähnen bestand?

»Kein Problem«, entgegnete ich freundlich. »Ich bin Skepsis aufgrund meines jungen Alters gewohnt.«

Das Lächeln des Pfarrers (nennen wir es einfach mal so) erlosch, seine Angst kehrte zurück. »Darf ich Sie bitten, sich den Tatort dieser Grausamkeit anzuschauen?« Er trat zur Seite und wies mit einer einladenden Geste in den kargen Raum hinter sich.

Dad nickte ihm freundlich zu. »Vielen Dank. Komm, Padraig.«

Kaum trat ich über die Schwelle, schlug mir ein modriger Geruch entgegen. Eine Mischung aus Verwesung und feuchtem Stein kitzelte unangenehm in der Nase.

»Wir haben leider keinen Strom«, gestand Pfarrer Connelly.

Und keine Duftbäumchen, fügte ich gedanklich hinzu.

»Seit Little Worrington vor fünfzig Jahren eine neue Kirche mitten im Stadtkern erbaut hat, zerfällt dieses Gebäude mit jedem Tag ein Stück mehr.« Der Alte seufzte verbittert.

Im Inneren der Kapelle sorgten Kerzen für schummriges Licht. Das Wachs tropfte an den angelaufenen Leuchtern herab und hinterließ warzenartige Knubbel. Die eckigen Fenster lagen wie Schießscharten im dicken Gestein. Das Holz der Sitzbänke war vergammelt und von Käfern zerfressen. Am Boden des Altars lag ein umgestürztes Taufbecken.

»Wo sind die Leichen, die Sie gemeldet haben?«, fragte Dad. Seine Worte hallten gespenstisch von den Wänden.

Ich nahm einen tiefen Atemzug und zog eine angewiderte Grimasse. »Anhand des Geruchs liegt hier irgendwo eine halbe Armee.«

Pfarrer Connelly hob die Laterne vor sein Gesicht. Das Zucken der Öllampe warf nervöse Schatten auf seine blasse Haut. »Die Toten sind im Keller. Folgen Sie mir.«

Wir schritten hinter dem Pfarrer durch die Sitzreihen. Er führte uns zu einer Holztür hinter dem entzweigebrochenen Taufbecken.

»Darf ich Ihnen kurz die Laterne geben, mein Sohn?«, fragte der Pfarrer.

»Klar.« Ich nickte und nahm sie ihm ab. Zum Glück lächelte er mich nicht an.

Mit zittrigen Händen klaubte Connelly einen Ring aus Eisen hervor. Die daran befestigten Schlüssel klimperten wie eine metallische Rassel. Trotz der Kälte in dem Gemäuer bildeten sich feine Schweißperlen auf der Stirn des Alten.

Der erste Schlüssel passte nicht. Der zweite und dritte ebenfalls nicht. »Ah, da haben wir ihn ja«, stellte der Pfarrer erleichtert fest, als der vierte ins Schloss glitt. »Sie müssen entschuldigen«, bat er, »aber die Sache schlägt mir auf den Magen – und die Nerven.«

»Verständlich«, kommentierte Dad knapp.

Der Pfarrer drückte die Klinke. Mit einem lang gezogenen Knarzen wie in einem schlechten Horrorfilm schwang die Tür auf. Sofort verstärkte sich der Gestank. Mr Connelly trat zu mir und griff nach der Laterne.

»Vielen Dank.«

»Kein Ding«, sagte ich und trat an ihm vorbei. Hinter der Tür schloss sich ein schmaler Gang an. Nach wenigen Stufen verlor sich eine steinerne Treppe in der Finsternis. Außer ein paar Spinnweben, die sich in den Ecken des Ganges ausbreiteten und in der Zugluft tanzten, erkannte ich nichts.

Der Höllenbalken erschien neben mir im Türrahmen. »Die Toten befinden sich da unten?«

Die Schweißperlen auf der Stirn des Pfarrers glitzerten. Sein Gesicht war kreidebleich, die Altersflecken schienen gewachsen und mehr geworden zu sein. »Ja, ich habe sie heute Morgen bei einem Kontrollrundgang entdeckt«, keuchte er. Ein Hustenanfall durchfuhr den gebrechlichen Körper. »Einen Moment«, bat er heiser. Mr Connelly griff in die Seitentasche des Talars und zückte ein Stofftuch, das er sich vor den Mund hielt.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Dad.

Als Antwort kam ein würgender Huster. Tränen füllten die Uhu-Augen hinter den lupenartigen Brillengläsern.

Dad und ich tauschten vielsagende Blicke aus.

»Vielleicht vertreten Sie sich die Beine an der frischen Luft. Sie werden uns da unten ohnehin nicht helfen können«, schlug Dad vor.

Kommentarlos reichte ihm der Pfarrer die Laterne. Er wandte sich ab und huschte hustend und würgend zur Eingangstür.

»Was war denn mit dem los?« Ich schüttelte den Kopf. Ein letztes Würgen drang zu uns herüber, dann fiel die schwere Tür ins Schloss und sperrte sämtliche Geräusche aus. »Der hat bestimmt schon den einen oder anderen bleichen Kollegen bestattet. Der Anblick von Toten sollte ihm eigentlich vertraut sein.«

Dad leuchtete mit der Laterne in den Gang. »Genau das ist es, was mich beunruhigt. Die Leichen da unten müssen ihn ziemlich schockiert haben.«

»Es war leichtsinnig, ihn hier zu treffen.« Ich blickte durch die Kapelle zur Eingangstür. »Bestimmt hat ihn das Monster nur verschont, weil außer Haut und Knochen nicht viel an ihm dran ist.«

Dad zog ein Buch aus der Innentasche des Mantels. Risse zogen sich wie unverheilte Wunden über den zerfledderten Buchrücken. Eine Ecke war schwarz verfärbt, als wäre Tinte darübergelaufen. Auf der Vorderseite prangte eine Sigille, die es nichtmenschlichen Geschöpfen unmöglich machte, das Buch zu öffnen. In dem Schinken hatte Dad alles notiert, was er über die Jagd wusste. Neben wichtigen Informationen wie Vorkommen, Nahrung, Jagdverhalten und besonderen Fähigkeiten hatte er zu jedem Monster eine Zeichnung angefertigt. Wir nannten es das Bestiarium.

»Weißt du, womit wir es zu tun haben?« Dad schlug das Buch auf wie ein Lehrer vor einem Diktat. Er blätterte durch die vergilbten Seiten.

Ich grinste ihn selbstsicher an. »Wir befinden uns auf einem Friedhof, im Keller türmt sich ein Leichenberg und das Monster hat Appetit auf Menschenfleisch. Und dann ist da der Gestank. Offenbar verschlingt das Wesen die Toten nicht auf der Stelle, sondern teilt sich die Nahrung ein.«

»Und das bedeutet?«

»Ganz einfach.« Ich strich mir ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Wir haben es mit einem Friedhofsschlurfer zu tun. Ein Nachtjäger und Einzelgänger, der sich von Menschenfleisch ernährt. Wie es der Name schon sagt, lieben die Schlurfer Friedhöfe. Das ist für sie, als würden sie in einem Kühlschrank leben, der automatisch aufgefüllt wird. Wahrscheinlich hat unser Exemplar alle Beerdigten aufgefressen. Und als kein Nachschub mehr kam, weil es einen neuen Friedhof gibt, stieg er auf Menschen-Sushi um.«

Dad hob die Augenbraue – bestimmt die Reaktion auf meinen Sushi-Vergleich. »Weißt du, wie man ihn tötet?«

Okay, ich hatte keinen blassen Schimmer. Aber zum Glück war ich ein Meister des Ratens. »Feuer?«

»Tut ihm weh, tötet ihn aber nicht.«

»Weihwasser?«

»Ätzt sich in seine Haut, tötet ihn aber nicht.«

»Dolch ins Herz?«

»Das Herz eines Schlurfers ist härter als jede Klinge.«

»Dolch in den Kopf?«

»Padraig!« Ein genervter Unterton schwang in Dads Stimme mit. »Denk an die alten Geschichten.«

»Kopf abschlagen!«

Soeben war es mir eingefallen. Dad hatte mir als Kind immer von den Abenteuern eines jungen BEAST-Agenten erzählt, der überall auf der Welt die gruseligsten Monster tötete. Einmal untersuchte der Junge bei Tageslicht einen Friedhof und entdeckte einen schlafenden Schlurfer. Er kehrte mit einem selbst gebastelten Beil zurück, das aus einem Ast und einem Stein bestand, und enthauptete den Leichenfresser kurzerhand. Dank dieser Geschichten hatte ich früh gelernt, wie wir Monster töteten.

Dad schüttelte den Kopf und reichte mir wortlos das aufgeschlagene Bestiarium.

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»Enthaupten«, las ich. »Wie ich gesagt habe!«

Dad seufzte und strich sich über den Schnauzer. Das tat er oft. Zum Nachdenken, aus Langeweile oder, wie in diesem Fall, um seinen Unmut anzudeuten.

»Wie du geraten hast«, korrigierte er mich. »Und das auch noch sehr schlecht.«

Ich verkniff mir eine spitze Bemerkung. Sonst würde er mich bloß daran erinnern, dass wir stets wissen mussten, womit wir es zu tun hatten. Regel Nummer soundso.

»Hast du dein Schwert dabei?«, fragte ich stattdessen.

»Natürlich.« Dad drehte sich um. Auf seinem Rücken zeichnete sich eine längliche Form unter dem Mantel ab. Sie reichte von der Schulter bis knapp über die Hüfte.

»Könnte auch ein dritter Arm sein, der da wächst.«

»Das gäbe Ärger mit Farchie.«

»Oh ja.«

Dad trat auf mich zu und sah mich eindringlich an. Sein Schnurrbart war so nahe an meinem Gesicht, dass ich jedes einzelne Haar erkennen konnte. Einige waren ergraut. Mein alter Herr wurde langsam, nun ja, alt.

»Jagen wir?«, fragte er mit tiefer Stimme.

Ich grinste und ballte die Fäuste. »Lass uns dem Viech zeigen, was die O’Sullivans auf dem Kasten haben!«

»Gut«, sagte Dad. Seine Mundwinkel zuckten kurz nach oben. Beinahe hätte es für ein Lächeln gereicht. Aber eben nur beinahe. Ohne ein weiteres Wort schob er sich unter dem Türrahmen durch.

Ich warf einen letzten Blick über die Schulter. Der matt beleuchtete Innenraum der Kapelle gähnte mich traurig an. Dann folgte ich Dad in die Tiefe.

Die Treppe war so schmal, dass unsere Schultern fast die Wände berührten. Die Kälte in dem Schlund verwandelte meinen Atem in kleine Wolken. Während wir dem Gestank mit jeder Stufe näher kamen, breitete sich eine ungute Vorahnung in mir aus.

»Dad«, begann ich zögernd. »Wenn nur der Pfarrer die Tür oben mit dem Schlüssel öffnen kann, wie kamen dann die Opfer in den Keller?«

»Das finden wir hoffentlich gleich heraus«, meinte er und wies auf eine angelaufene Eisentür am Treppenende.

»Warum ist da eine Eisentür?«, fragte ich überrascht. Der Gestank hier unten war so stark, dass ich die aufsteigende Übelkeit nur schwer unterdrücken konnte.

Dad erreichte die letzte Stufe und fuhr mit der Hand über die Tür. »In solchen Kapellen wurden früher Reichtümer und Schätze aufbewahrt. Die mussten gut gesichert werden.« Er drehte sich um, stellte die Laterne auf den Treppenabsatz und streifte den Mantel ab. Darunter kam an einem Riemen das Schwert zum Vorschein, dessen Klinge mit zahlreichen Symbolen verziert war. Das glatte Metall glänzte im Schein der Laterne. Am Gurt um die Hüfte trug Dad die weiteren Waffen: Eisenkette, Weihwasser, Salzkugeln, Feuer.

»Bist du bereit, Padraig?«

Ich nickte.

Dad trat zur Eisentür, eine Hand griffbereit am Schwert, und drückte die Klinke.

Jeder meiner Muskeln spannte sich an. Ich schlug den Mantel beiseite und umklammerte den Dolch.

Dad rüttelte an der Klinke. »Verschlossen.«

»Verdammt«, fluchte ich und schlug mir die Handfläche auf die Stirn. »Pfarrer Connelly hat den Schlüsselbund!«

»Klassiker«, meinte Dad trocken.

»Ich hole die Schlüssel«, sagte ich und fragte mich, warum es keine Denk-an-den-Schlüssel-Regel gab.

Dad zögerte. Obwohl ich mittlerweile alt genug und ein fähiger BEAST-Agent war, ließ er mich ungern allein. »Okay«, raunte er. »Aber beeile dich!«

»Versprochen.«

Ich sprintete die Treppe hoch, sprang über das entzweite Taufbecken, huschte durch die Sitzbänke und öffnete die Tür. Die Nacht war mittlerweile vollständig über die Welt hereingebrochen. Nur die Silhouette der zweistämmigen Eiche war in der Dunkelheit auszumachen. Irgendwo in der Nähe krächzte ein Vogel, der sich über den anhaltenden Regen beschwerte. Immerhin stank es nicht nach verwesenden Leichen.

»Pfarrer Connelly?«, rief ich in die schwarze Welt. »Wir benötigen die Schlüssel, um die Bunkertür zu Ihrem geheimen Schatzkammerverlies zu öffnen.«

Keine Antwort.

»War ein Scherz«, warf ich schnell hinterher und horchte angestrengt. »Hallo?«

Alles blieb ruhig.

Ich kramte meine Taschenlampe aus dem Mantel hervor und ließ das Licht über die Wiese gleiten. »Fußspuren«, murmelte ich. Vor mir zeichneten sich tiefe Abdrücke im aufgeweichten Boden ab. Sie führten über die Wiese und verloren sich außerhalb des Lichtkegels.

Ein Blitz zuckte durch den Himmel und befreite die Umgebung für einen Wimpernschlag aus der Finsternis.

Mir gefror das Blut in den Adern.

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2
Padraig

Unter der Eiche

Die Dunkelheit umschloss den Friedhof wieder mit finsteren Klauen – und mit ihm die Gestalt, die neben der zweistämmigen Eiche stand. Vor Schreck war mir die Lampe aus der Hand geglitten und mit einem leisen Pflotsch im Schlamm stecken geblieben. Ich kannte den kahlen Schädel, der für den Bruchteil einer Sekunde im Blitzlicht erschienen war.

»Pfarrer Connelly«, rief ich erleichtert und hob die Lampe auf. Langsam beruhigte sich mein Puls. »Sie haben mir vielleicht einen Schrecken eingejagt.« Ich wischte den Schlamm notdürftig ab und trat auf den vielarmigen Baum zu. Ich kniff die Augen zusammen. Der Pfarrer war nicht mehr zu sehen. Dafür fühlte ich mich … beobachtet.

»Sie haben vergessen, uns die Schlüssel für die Kellertür zu geben«, rief ich Richtung Eiche.

Keine Antwort.

Ich watete durch die matschige Wiese. Bei jedem Schritt versank ich mit einem leisen Fluch knöcheltief im Schlamm. Noch immer reichte der Schein der Taschenlampe nicht bis zur Eiche. Der Wind ließ die Blätter der umliegenden Bäume einen rauschenden Kanon anstimmen. Das gespenstische Wispern begleitete mich, während der Lichtkegel über die bemoosten Grabsteine wanderte.

»Ach, da sind Sie ja«, stellte ich leicht genervt fest, als das Licht über den schwarzen Talar glitt und das Uhu-Gesicht von Pfarrer Connelly aus der Nacht schälte. Der Greis stand wie festgefroren vor dem Spalt, der sich zwischen den beiden Stämmen der Eiche auftat. Seine Augen waren vor lauter Regentropfen auf den Brillengläsern nicht zu erkennen.

Ich zog den Fuß aus einem weiteren Schlammloch. »Hat Ihnen der Gestank in der Kapelle die Sprache verschlagen?«

Der Pfarrer drehte sich wortlos um. Er trat auf die Eiche zu und verharrte unter den zusammengewachsenen Stämmen. Es sah aus, als würde er mitten im Schlund eines schlafenden Riesen stehen.

»Alles in Ordnung mit Ihnen?«

Stumm hob der Pfarrer die gebrechliche Hand und winkte mich zu sich.

Ein ungutes Gefühl breitete sich in mir aus. Was war nur mit dem Alten los? Gerade als ich ihn das fragen wollte, vernahm ich hinter mir ein Rascheln. Mit gezücktem Dolch wirbelte ich herum, bereit zum Angriff. Doch da war nichts außer einem zerbrochenen Grabstein, der einsam aus der feuchten Erde ragte.

»Es tut mir leid«, entschuldigte ich mich. »Ich dachte, ich hätte was gehört.« Hastig steckte ich den Dolch ein. Hoffentlich war dem Pfarrer beim Anblick der Waffe nicht das Herz in die Hose gerutscht. »Haben Sie das auch gehö–«

Ich verstummte.

Pfarrer Connelly war verschwunden.

»Ähm«, machte ich unsicher und leuchtete die Stelle rund um die Eiche ab. »Hallo?«

Der Spalt zwischen den Baumstämmen tat sich auf wie das Tor zu einer anderen Welt. Meine Nackenhaare stellten sich auf und das ungute Gefühl legte sich über mich. Die verwachsenen Baumstämme waren verfault und schwarz wie Kohle. Ich trat näher und fuhr über das Holz. Es fühlte sich rau an – und tot.

Als ich in dem Spalt stand, breitete sich eine Gänsehaut auf meinen Unterarmen aus. »Was haben wir denn da?«

Zwischen den Stämmen tat sich ein Loch im Boden auf. Es stierte mich an wie ein totes Auge und sog mich förmlich hinein. Ich trat an die Kante, ging in die Knie und leuchtete in den Schlund. Da hatte tatsächlich jemand eine Höhle unter der Eiche ausgehoben!

»Pfarrer Connelly? Sind Sie da unten?«

Die unterirdische Kammer war so groß wie unser Wohnzimmer und drei Meter tief in die Erde gegraben. Einen Sprung konnte ich nicht riskieren, ohne mich zu verletzen. Ich ließ den Lichtkegel über den festgetretenen Boden wandern – bis er in der hintersten Ecke ein zusammengekauertes Bündel offenbarte.

»Pfarrer Connelly!«

Ich erkannte den Talar sofort. Unweit davon reflektierte ein kleiner Gegenstand das Licht – die Brille!

Mit pochendem Herz erhob ich mich und blickte über den Friedhof. Die Kapelle ragte als dunkler Schatten vor dem wolkenverhangenen Himmel hervor. Ich überlegte, ob ich Dad holen sollte. Aber das hätte zu lange gedauert. Hektisch zog ich den Trenchcoat aus und verknotete ihn mit meinem Schal. Das Seil band ich um eine dicke Wurzel, die aus dem Boden ragte, und warf es in das Loch.

»Dann wollen wir mal«, sprach ich mir Mut zu und setzte mich an den Rand der Öffnung.

Langsam seilte ich mich ab. Als ich festen Boden unter den Füßen spürte, ließ ich das Seil los und hastete zum Pfarrer. Er lag regungslos auf der harten Erde. Ich griff nach seiner Schulter.

»Pfarrer Connelly, sind Sie –«

Ein Schrei entfuhr mir.

Das Gesicht des alten Mannes war kaum noch als solches zu erkennen. Die Haut war schwarz und verfault. Nur einzelne Fetzen hafteten noch am Schädel. Anstelle der Augen blickte ich in leere Höhlen, aus denen sich getrocknetes Blut über die eingefallenen Wangen ausbreitete. Der Mund zwar zu einem stummen Schrei aufgerissen, die Lippen aufgeplatzt und von eitrigen Blasen überzogen. Ausgefranste Bisswunden übersäten die Leiche, als wäre sie einem blutrünstigen Weißen Hai in die Fänge gekommen.

Ich taumelte zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Schweiß schoss aus jeder meiner Poren, ich bekam kaum Luft. Der Schock ließ meine Arme und Beine schwer wie Blei werden. Langsam sank ich auf die Knie. Mit offenem Mund starrte ich auf die Leiche des Pfarrers.

Der Schreck steckte so tief in meinen Knochen, dass ich den heranschleichenden Schatten nicht bemerkte. Er trat aus einem Tunnel, der hinter herabhängenden Wurzeln verborgen lag. Ein verräterisches Klacken ließ mich aufhorchen. Wie vom Blitz getroffen schoss ich hoch und griff instinktiv nach einem Fläschchen an meinem Gurt. Darin loderte eine blaustichige Flamme, die wie von Geisterhand im Glas schwebte. Mit voller Wucht schleuderte ich es in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und warf mich flach auf den Boden.

Der Schatten war verdammt schnell. Mit einem Sprung wich er aus und rollte hinter einen Steinfelsen – gerade noch rechtzeitig. Das Glas zerschellte klirrend an der Wand neben dem Vorhang aus Wurzeln.

Einen Wimperschlag später verwandelte ein Feuerball die Höhle in ein glühendes Inferno. Flammen züngelten gierig wie eine tausendköpfige Schlange über die Decke. Schützend hielt ich die Hände über dem Kopf zusammen. Die Hitze brannte auf meiner Haut und ließ die Luft flimmern. Doch so schnell, wie sich das Feuer ausgebreitet hatte, erlosch es auch wieder.

Ich erhob mich hustend, wischte mir den Ruß von der Stirn und sog die rauchgeschwängerte Luft ein. Die Stelle, an der das Fläschchen zerbrochen war, stand in Flammen.

Ein bösartiges Lachen erfüllte die Höhle und vermischte sich mit dem Knistern des Feuers.

»Sieh an, ein Monstertöter«, erklang eine tiefe Stimme wie das Brummen eines Motors. Hinter dem Stein richtete sich ein hageres Wesen auf. Ein kahler, von bleicher Haut überzogener Schädel erschien im Flammenschein. Einzelne Haarsträhnen hingen wie Spinnweben in ein zerfleddertes Gesicht. Pupillenlose Augen stierten mich ausdruckslos an. Auf dem Oberkörper breiteten sich schwarze Flecken und grünliche Abszesse aus, unter der fauligen Haut traten pulsierende Adern hervor. Die Glieder des Wesens waren unnatürlich lang und dürr wie abgenagte Knochen.

»Friedhofsschlurfer«, zischte ich und zückte den Dolch. »Was hast du mit dem Pfarrer gemacht?«

Die Kreatur richtete sich auf. Der Schlurfer war über zweieinhalb Meter groß, ging leicht gebückt und sah aus wie eine wandelnde Leiche. Seine Pferdefüße klackten bei jedem Schritt. Dieses Geräusch hatte ich gehört, als das Wesen die Höhle betreten hatte.

»Der Narr hat das Nest entdeckt«, raunte das Monster und nickte zum Leichnam. Der Schlurfer legte den Kopf schief und strich sich mit seinen knochigen Fingern die Haarfäden aus dem eingefallenen Gesicht. »Wir haben es zu spät bemerkt.«

»Wir?«, wiederholte ich.

»Ich und meine drei Brüder«, lachte der Leichenfresser gackernd. Er scharrte mit den Hufen, ein dickflüssiger Speichelfaden tropfte aus seinem Mund. »Wir wussten, dass sie Monstertöter schicken würden. Wir hätten fliehen können, aber wir sind geblieben, um euch zu töten.«

»Ein beliebter Anfängerfehler.« Ich hielt den Dolch vor mein Gesicht. »Ihr wärt besser zurück in das Loch gekrochen, aus dem ihr gekommen seid.«

Auf ein unhörbares Kommando setzten wir uns in Bewegung und gingen langsam im Kreis. Die milchigen Augen des Friedhofsschlurfers starrten mich an – soweit das ohne Pupillen eben möglich war.

»Dummes Menschenkind«, höhnte das Wesen. Es schlug gegen die Wand. Erdkrümel rieselten von der Decke. Trotz ihrer mageren Erscheinung waren Schlurfer stärker als jeder Mensch. »Hüte deine vorlaute Zunge, Menschenkind, sonst reiße ich sie dir bei lebendigem Leib heraus!« Er bleckte die spitzen Zähne, die wie Speere aus dem Kiefer ragten. »Ihr seid uns in die Falle gegangen, ohne es auch nur zu erahnen!«

Ich biss mir auf die Zunge und dachte an das Bestiarium. Was stand da noch mal über diese Bestien? Leichenfresser, Pferdefüße, selten Gestaltwandler – Gestaltwandler! Es fiel mir wie Schuppen von den Augen.

»Das war nicht Pfarrer Connelly, den wir in der Kirche getroffen haben!«, presste ich hervor. »Und er war es auch nicht, der mich in dieses feuchte Loch gelockt hat. Das warst du!«

Der Schlurfer leckte sich mit der grauen Zunge genüsslich über die blassen Lippen. »In der Kapelle hätte ich mich beinahe zurückverwandelt. Ich muss ständig frisches Fleisch fressen, um mich zu verwandeln. Die Wirkung ließ schneller nach, als ich dachte.«

Deshalb war Connelly völlig überstürzt aus der Kirche gerannt!

Wut stieg in mir auf. Warum hatten wir das nicht bemerkt? Der falsche Pfarrer hatte nicht einmal gewusst, mit welchem Schlüssel er die Tür zum Keller öffnen konnte.

»Du hast den Schlüsselbund absichtlich mitgenommen, um uns zu trennen!«

Der Friedhofsschlurfer grunzte.

Ich umfasste den Griff meines Dolchs noch fester. »Wo sind deine Brüder, du elender Abschaum?«, giftete ich das Monster an.

Der Schlurfer ließ seine Fäuste mit voller Kraft gegen die Wand krachen.

»Sprich nicht so mit mir, Menschenkind!«

Die Wucht seiner Hiebe fuhr mir durch jeden einzelnen Knochen. Ich dachte an Regel Nummer eins und sperrte die aufkeimende Angst in eine kleine Kiste, tief in meinem Kopf verborgen.

Das Monster richtete sich schnaubend zu seiner vollen Größe auf. Das Feuer warf seinen Schatten als verzerrtes Ebenbild an die Höhlenwand.

»Du hast Glück«, schlug der Schlurfer einen süßlichen Ton an, »dass ich kurz vor deinem Tod nicht nachtragend bin.«

»Wo. Sind. Deine. Brüder?!«, wiederholte ich.

Der Menschenfresser nickte zum Gang, aus dem er gekommen war. »Weißt du, wohin dieser Tunnel führt?«

»Zu eurem Lieblingschinesen?«

»Zu viel Gemüse«, gurgelte der Schlurfer. »Als es auf dem Friedhof kein Fleisch mehr gab, gruben wir den Gang in den Keller. Dort konnten wir das Frischfleisch in einem kühlen Raum verstecken. Nach meiner Flucht aus der Kapelle kam ich hierher und habe ein Stück aus dem dürren Leib des Pfarrers gerissen, um mich erneut zu verwandeln. Die Schlüssel habe ich meinen Brüdern überreicht. Damit können sie –«

»Die Kellertür von innen öffnen …« Mein Herz rutschte in die Hose. »Dad!«

Erregung fuhr durch die knochigen Glieder des Monsters. Es verdrehte den Oberkörper wie ein gestrandeter Fisch und verzog das Gesicht zu einer hässlichen Fratze.

»Ich werde es genießen, dich zu töten. Eine kleine Leiche für mich, eine große für meine drei Brüder.«

Die Kiste in meinem Kopf zerbrach in ihre Einzelteile. Die freigelegte Angst durchströmte jede Zelle meines Körpers. Mit einem Monster konnte es Dad problemlos aufnehmen. Aber drei waren sein sicheres Todesurteil!

»Was ist los, dreckiges Menschenkind?«, schmatzte der Schlurfer. »Warum plötzlich so still?«

Schlagartig verwandelte sich meine Angst in lodernde Wut. Meine Finger gruben sich in den Griff des Dolchs, bis sie schmerzten. Vor der brennenden Wand stoppte ich.

»Ich werde dich töten«, sagte ich ruhig. »Und danach deinen Brüdern die Kehlen durchschneiden.«

Die glasigen Augen des Monsters verengten sich zu Schlitzen. Es reckte den Kopf in die Luft, spreizte die krallenartigen Finger und zeigte seine verfaulten Zähne.

»In dieser Höhle wird nur einer sterben – und das bist du, Menschenkind!«

Unvermittelt setzte der Friedhofsschlurfer zum Angriff an. Mit der Geschwindigkeit eines Pferds raste er auf mich zu. Ich wartete bis zur letzten Sekunde. Als ich mein Spiegelbild in den blassen Augen sah, hechtete ich zur Seite – und gab den Weg zur brennenden Wand frei.

Doch der Schlurfer durchschaute meinen Plan. Er stemmte die Hufe in den Boden, drehte seinen dürren Oberkörper blitzartig um und reckte die Klauen nach mir. Wie ein heißes Messer glitt eine Kralle durch meine Haut und ließ eine lange Fleischwunde auf meiner Wange zurück.

Ich schrie auf.

»So schwach und langsam«, fauchte das Monster. »Aber keine Sorge, Monstertöter, dein Ende wird schnell und schmerzvoll.«

Stöhnend tastete ich nach der blutenden Wunde. Als ich sie berührte, zwang mich der Schmerz fast zu Boden.

Der Schlurfer war im Blutrausch. Krämpfe der Erregung und Gier durchzuckten ihn, Speichelfäden tropften ihm aus den Mundwinkeln.

»Ich werde dich von deinem jämmerlichen Dasein erlösen!« Er bäumte sich auf und galoppierte in rasender Geschwindigkeit auf mich zu.

Mit zitternder Hand griff ich nach einer Glaskugel an dem Gürtel. Eine klare Flüssigkeit schwappte darin. Kurz bevor mich die Klauen des blutrünstigen Monsters erreichten, schmetterte ich sie dem Schlurfer ins Gesicht.

Die Kugel zerschellte zwischen seinen Augen. Der qualvolle Aufschrei flutete meine Venen mit Adrenalin. Ich drehte mich zur Seite und ließ die strauchelnde Kreatur ins Leere greifen. Ich spürte den Luftzug der Krallen dicht an meinem Gesicht. Der Friedhofsschlurfer verlor das Gleichgewicht und krachte zu Boden.

»Meine Augen!« Der Wutschrei hallte in dem unterirdischen Versteck nach. Der blanke Hass ließ die Stimme schrill und brüchig klingen.

Ich wischte mir den Staub vom zerschlissenen Kragenpullover. »Weihwasser, mein Freundchen. Tötet dich nicht, verätzt aber deine Haut«, zitierte ich, was Dad vor der Kellertür gesagt hatte.

Der Schlurfer erhob sich fauchend und nahm die Hände aus dem Gesicht. Dort, wo die blassen Augäpfel wie Glühbirnen aus dem Kopf traten, hatte sich das Weihwasser durch das faule Gewebe gefressen. Das Monster war erblindet.

»Was hast du mit meinen Augen getan?«

»Als BEAST-Agent hat man immer einen Plan B.« Ich warf den Dolch in die Luft und fing ihn wieder auf. »Feuer hat nicht geklappt, Weihwasser schon. Ganz einfach.«

»Armseliges Menschenkind«, schäumte das Monster und schlug wild um sich. »Ich werde dich umbringen und dir jedes Stück Fleisch vom Knochen ziehen!«

Ich hob einen Stein auf und warf ihn in hohem Bogen über den Kopf des Friedhofsschlurfers. Das Geräusch des Aufpralls ließ ihn herumfahren.

»Jetzt bist du tot!«

Es sollten seine letzten Worte sein. Ich atmete tief ein und holte zum Wurf aus. Wie in Zeitlupe glitt der hölzerne Griff des Dolchs aus meiner Hand. In drehenden Bewegungen rauschte die Klinge durch die Luft – und bohrte sich tief in den Rücken des Friedhofsschlurfers.

Ein Schrei hallte von den Wänden. Die Sigille leuchtete bläulich auf und ließ den Körper des Schlurfers wie ein einstürzendes Kartenhaus zusammenklappen.

Ich trat auf den Haufen hagerer Glieder zu, der neben der Leiche des Pfarrers lag. Wortlos zog ich die Klinge aus dem Rücken des Monsters und holte aus. Warmes Blut spritzte mir ins Gesicht. Der abgetrennte Kopf rollte vor meine Füße, den Mund zu einem letzten Schrei aufgerissen. Ich wischte mir das Blut von der Wange und blickte in die toten Augen.

»Man sieht sich in der Hölle.«

Ich versetzte dem Schädel einen Tritt. Er holperte über den Boden und zog eine Blutspur hinter sich her. Er kam erst vor dem Vorhang aus Wurzeln zu stehen, hinter dem sich der Tunnel zum Keller verbarg.

Da die Taschenlampe im Kampf kaputtgegangen war, trennte ich mit dem blutgetränkten Dolch eine Wurzel von der Decke ab und entzündete sie an der brennenden Wand. Mit der improvisierten Fackel zwängte ich mich in den Tunnel.

Der niedrige Gang fraß sich wie ein Bergstollen in die Erde. Holzbalken ragten aus dem Boden und stützten die Decke. Einige waren unter der enormen Last, die auf ihnen ruhte, eingeknickt.

Ich kam schnell voran, aber die drückende Stille schlug auf meine Stimmung. Die Angst um Dad hatte sich im Kampf um Leben und Tod kurzzeitig verflüchtigt. Jetzt nistete sich die Unsicherheit wie ein Parasit ein, der mir langsam jede Hoffnung aussaugte.

Der Tunnel verlief in einem seichten Bogen nach rechts. Viele Balken waren zerborsten. Die Luft roch abgestanden, immer wieder verfing ich mich in Spinnweben. Bald vernahm ich aus der Ferne ein Geräusch. Zuerst dachte ich, es sei Einbildung. Doch dann hörte ich einen Schrei, der mir durch alle Glieder fuhr.

Dad!

Ich vergaß alles um mich herum und hetzte durch den Tunnel. Ich stieß meine Schulter an einem Stützbalken, stolperte über eine Wurzel und knallte auf den Bauch. Der Aufprall quetschte die Luft aus meinem Brustkorb. Ich rappelte mich hoch. Die Wunde an meiner Wange schmerzte, mein Gesicht fühlte sich taub an. Ich röchelte, bekam kaum Luft. Meine Gedanken rasten, aber ich konnte keinen von ihnen fassen und zu Ende denken.

Kurz bevor der Wahn die Kontrolle über meinen Verstand gewann, endete der Tunnel an einer Backsteinmauer. Die Friedhofsschlurfer hatten einige der Steine herausgerissen und einen Durchgang geschaffen. Schwere, bis unter die Decke gestapelte Holzkisten versperrten ihn.

Ein weiterer Schrei jagte durch den Tunnel.

»Dad!«, rief ich, schleuderte die Fackel achtlos zur Seite und hämmerte gegen die Kisten. Meine Rufe gingen in dem Getöse unter, das aus dem Innern des Kellers drang. Ich warf mich mit ganzer Kraft gegen die hölzerne Wand, stemmte mich mit dem Rücken dagegen – doch die Kisten bewegten sich keinen Millimeter.

Ein Krachen ertönte. Etwas Schweres knallte mit voller Wucht gegen die Holzkisten. Irgendwo klimperte Metall, gefolgt von höhnischem, unmenschlichem Gelächter, das aus mehreren Kehlen drang.

Die Angst packte mich. Ich wollte mich erneut gegen die Kisten werfen, da stutzte ich. Ein Lichtstrahl breitete sich über den Boden aus. Ich bemerkte einen Spalt zwischen den Kisten, der zuvor nicht da gewesen war. Er war zu schmal, um hindurchzugreifen, aber ich konnte in den Keller spähen.

Ich erblickte Dad. Er kniete am Boden und sah furchtbar aus: Seine Kleidung war zerfetzt, schwarze Wunden zogen sich über seine Oberarme, ein Auge war zugeschwollen. Die Klinge seines Schwerts war abgebrochen. An seinem Gürtel fehlten das Feuer des Prometheus und das Weihwasser. Neben ihm türmte sich ein Berg von leblosen Körpern, die achtlos auf einen Haufen geworfen worden waren: die Leichen der Vermissten.

»Monstertöter, die Hölle wartet auf dich«, hörte ich die Stimme eines Schlurfers, den ich nicht sehen konnte.

»Das bezweifle ich«, erwiderte Dad mit brüchiger Stimme und rappelte sich auf. »Noch bin ich nicht tot.«

»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.« Ein Lachen erfüllte den Raum. »Wir werden dich in Stücke reißen.«