So still ruht der See

So still ruht der See

Bergström & Viklund

Elin Svensson

Ana Dee

Inhalt

Anmerkung

Protagonisten

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Epilog

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Impressum

Anmerkung

Auf das in Schweden übliche Duzen wurde zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.

Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Protagonisten

  • Linnea Bergström – Journalistin, Östersund
  • Henning Marlind – Linnea Bergströms Freund
  • Karin Holm – Freundin,
  • Nils und Signe Holm – leibliche Kinder von Karin Holm
  • Kian Bensson – Chef der örtlichen Zeitung
  • Erik Viklund – Kriminalhauptkommissar
  • Greta Nordin – Assistentin
  • Lasse Bengtsson – junger Kollege
  • Sven Bergman – Gerichtsmediziner
  • Tom Björk – Computerspezialist
  • Jördis Tomas – Polizeipsychologin
  • Lennard Olfasson – ehemaliger Chef der Polizeibehörde
  • Ida Lundqvist – erstes Todesopfer
  • Solveig Lundqvist – Tochter von Ida
  • Friderika Karlsson – Lehrerin
  • Johan Ekström – Pensionär
  • Ava Theorin – Mutter von Ella
  • Ella Theorin – Zeugin
  • Hedda Marklund – Nachbarin von Ava Theorin
  • Vera Larsson – Psychologin
  • Ivar Hermanson – Arzt

Prolog

Einige Jahre zuvor …


Obwohl es ein herrlicher Samstagnachmittag war, brütete er über seinen Büchern, um sich auf die nächste Mathematikarbeit vorzubereiten. Die Herbstsonne stand tief und ein kühler Ostwind zupfte die letzten bunt gefärbten Blätter von den Bäumen.

Ihn zog es nach draußen zum See, aber seine Mutter hatte darauf bestanden, mindestens zwei Stunden am Stück zu lernen. Nur wozu? Er kapierte es sowieso nicht. Die mathematischen Formeln hüpften bereits vor seinen Augen auf und ab, es hatte einfach keinen Zweck. Er schielte immer wieder zur Uhr, während seine Mutter am Spülbecken mit dem Geschirr klapperte.

„Du kannst jetzt aufhören“, sagte sie genervt. Ihr war nicht entgangen, wie zappelig er am Küchentisch saß. „Geh rüber zur Scheune und frag deinen Vater, ob du ihm helfen kannst.“

„Okay …“, antwortete er, raffte hastig seine Hefte und Bücher zusammen und stopfte sie in die Schultasche.

Im Flur schlüpfte er in seine Stiefel, riss die Jacke vom Haken und rannte über den Hof. Er schob das knarrende Scheunentor auf und trat ein. Sein Vater reparierte gerade den Häcksler, der zum Ende der Erntesaison seinen Geist aufgegeben hatte.

„Ich soll dich fragen, ob ich dir helfen kann.“

Er schaute seinen Vater erwartungsvoll an und hoffte, dass dieser ihm die Erlaubnis erteilen würde, zum See zu gehen. Doch das tat er nicht.

„Im Moment nicht. Aber nachher kannst du auf mein Kommando den Häcksler einschalten.“

Enttäuscht und gelangweilt zugleich, setzte er sich auf das Gatter. Seine dünnen Beine baumelten herunter und er schaute durch die verschmutzte Fensterscheibe auf die umliegenden Felder. Er wäre jetzt so gern da draußen, um das schöne Wetter zu genießen und sich mit Lovisa zu verabreden. Aber daraus wurde leider nichts, und das bedauerte er sehr. Sobald die Herbststürme über das Land fegen würden, wäre es damit ganz vorbei.

Sein Vater fluchte lautstark und riss ihn aus seinen Gedanken. Mit seinem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn und hinterließ dabei einen schmierigen Streifen.

„Papa, du hast da einen Fleck im Gesicht.“

„Was soll’s, ich springe nachher sowieso unter die Dusche. Außerdem bin ich so gut wie fertig und es wird Zeit für einen ersten Probelauf.“

Sein Vater kletterte ins Führerhaus, legte den Schalter um und betrachtete zufrieden den Häcksler, dessen Motor wieder wie ein Kätzchen schnurrte.

„Na also, wer sagt’s denn. Ich werde die Zahnräder noch ein wenig nachspannen, dann sollte es klappen. Klettere du schon mal in die Kabine, um den Motor zu starten“, forderte sein Vater ihn auf.

Ohne zu murren, befolgte er die Anweisung und setzte sich auf das zerschlissene Kunstleder des Fahrersitzes. Von dem erhöhten Standpunkt aus sah er seinem Vater zu, der geübt mit dem Schraubenschlüssel hantierte.

„So, du kannst jetzt loslegen“, rief dieser ihm zu.

Erneut tuckerte der Motor, doch sein Vater schien noch nicht hundertprozentig überzeugt zu sein.

„Mach den Motor wieder aus, irgendetwas klemmt hier noch“, brummte er und klopfte mit dem Schraubenschlüssel auf das Blech. Endlich schien er die Stelle gefunden zu haben und hockte sich vor das Schneidwerk.

„Alles klar, Papa?“

„Ja, ich hab’s gleich …“

Er beobachtete seinen Vater, dessen Arme jetzt komplett im Schneidwerk steckten. Ein total irrer Gedanke schoss ihm durch den Kopf und bevor er sich der Konsequenzen überhaupt bewusst werden konnte, startete er den Motor. Zuerst hakte das Schneidwerk, doch dann setzte es sich langsam in Bewegung.

„Hör sofort auf!“, brüllte sein Vater entsetzt.

Doch er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und sprang mit einem Satz aus dem Führerhaus. Mit gesenktem Kopf stürmte er in Vaters Richtung und rammte ihn.

„Ich hasse dich, du Scheusal!“, kreischte er und in seinen Augen funkelte der Zorn.

Sein Vater strauchelte für einen kurzen Moment, verlor die Balance und kippte vornüber. Der reparierte Häcksler verrichtete ganze Arbeit. Blut spritzte in alle Richtungen und das Geräusch glich einem widerlichen Knacken und Knirschen.

Die Schreie seines Vaters waren ohrenbetäubend, während er selbst lauthals um Hilfe schrie.

Kapitel 1

Linnea Bergström zog die Jacke fester um ihre Schultern. Heute Nacht hatte es den ersten Bodenfrost gegeben und die Natur bereitete sich auf den bevorstehenden Winter vor. Der würzige Geruch von Herbst lag in der Luft und das Laub raschelte unter ihren Füßen.

„Schön ist es hier“, sagte sie und blieb stehen, um hinaus aufs Wasser zu schauen.

„Hast du je bereut, in Östersund geblieben zu sein?“, fragte Henning Marlind.

Linn lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Sie hatte den Job bei der örtlichen Zeitung angenommen und wohnte noch immer bei Karin. Während der Trauerphase war sie ihrer Freundin eine große Stütze gewesen, doch allmählich spürte sie, dass es Zeit für etwas Eigenes wurde.

„Nein, kein bisschen“, antwortete sie. „Du weißt doch, wie froh ich bin, dass wir uns über den Weg gelaufen sind.“

Henning beugte sich zu ihr herunter und hauchte einen Kuss auf ihre Wange.

„Genau das wollte ich hören.“

Er griff nach ihrer Hand und sie schlenderten am Ufer des Storsjön entlang. Ein Trio aufgescheuchter Enten erhob sich aus dem Schilf in die Lüfte und beschwerte sich lautstark über die Ruhestörung.

„Ich muss dir allerdings etwas beichten.“ Er warf ihr einen verschmitzten Seitenblick zu.

„Ach ja?“ Linn war stehengeblieben und musterte ihn. Es war jedenfalls nichts Ernstes, denn in seinen blaugrünen Augen tanzten helle Fünkchen.

„Du erinnerst dich doch sicher noch daran, wie wir uns kennengelernt haben?“

„Als ob ich das je vergessen würde. Schließlich hast du meine Lieblingsbluse mit einem Becher Kaffee ruiniert, als du mich versehentlich angerempelt hast“, antwortete Linn mit gespielter Entrüstung.

„Nun ja, es war reine Absicht.“ Er lächelte schüchtern.

„Tatsächlich?“ Sie lupfte fragend die Brauen. „Dann bekomme ich einhundertfünfzig Kronen von dir, damit ich mir eine neue Bluse kaufen kann.“

„Ist nicht dein Ernst?“

„Und ob“, lachte sie.

„Mir ist bewusst, dass es nicht gerade sehr einfallsreich war. Aber ich bin auch nicht Casanova und dachte mir, jetzt oder nie …“

„Ich bin froh über deine verrückte Idee und bereue keine Sekunde, mit dir zusammen zu sein.“

Sie strich mit einer zärtlichen Geste die dunklen Locken aus seiner Stirn. Henning war das genaue Gegenteil von Björn, ihrem Ex. Groß, maskulin und mindestens genauso verliebt wie sie. Er besaß eine kleine Softwarefirma mit fünfzehn Angestellten und stand mit beiden Beinen im Leben. Ja, sie konnte es nicht leugnen - Henning erdete sie.

„Was hältst du davon, wenn wir das nächste Wochenende in den Bergen verbringen?“, schlug Henning vor und sah sie erwartungsvoll an. „Ein Freund von mir hat dort eine urige Blockhütte mit einem großen Kamin und einem weichen Elchfell davor.“

„So romantisch das auch klingen mag, aber momentan fühlte ich mich noch nicht stark genug, um in die Berge zu fahren.“

„Wie dumm von mir, das habe ich völlig außer Acht gelassen. Dann bleiben wir einfach hier und verbringen das gesamte Wochenende im Bett.“

Seine kräftigen Hände umfassten ihre Taille, während er sich zu ihr herunterbeugte. Linn erwiderte seinen leidenschaftlichen Kuss und war überrascht, wie gut ihr das Zusammensein mit Henning tat. Keine Vorwürfe, wenn es im Büro mal wieder länger dauerte, kein Klammern, wenn es um die Beziehung ging. Dennoch löste sie sich behutsam aus der Umarmung.

„Hey, nicht so stürmisch“, lachte sie und schaute sich suchend um. „Ich fühle mich irgendwie beobachtet.“

„Wirklich?“ Auch Henning ließ seinen Blick übers Schilf schweifen. „Hier ist keine Menschenseele.“

„Es ist nur so ein diffuses Gefühl, das ich nicht genau beschreiben kann. Wahrscheinlich bin ich noch zu empfindlich. Lass uns lieber umkehren.“

„Schade, es ist so ein wunderschöner Herbsttag“, seufzte er.

Hand in Hand liefen sie den Weg zurück.

„Riechst du das auch?“ Linn war stehengeblieben und rümpfte die Nase.

„Das wird nur der Schlick in der Uferzone sein. Der sondert seine unangenehmen Düfte immer zu dieser Jahreszeit ab.“

„Ich finde, das riecht eher wie ein verwestes Tier.“ Sie schüttelte sich angewidert. „Wie ein großes verwestes Tier.“

„Was soll’s, wir sind schon auf dem Rückweg“, sagte Henning.

„Könntest du trotzdem einmal nachsehen?“, bat Linn.

„Du wirst ja vorher sowieso keine Ruhe geben.“

„Wie gut du mich inzwischen kennst.“

Henning zwinkerte ihr zu und bahnte sich einen Weg durch das Schilf. Seine Schritte verursachten ein schmatzendes Geräusch und er fluchte leise, als er spürte, wie das brackige Wasser in seine Schuhe drang.

„Kannst du schon etwas erkennen?“, fragte sie ungeduldig.

„Nein, aber dem Geruch nach zu urteilen muss es sich um einen Elch oder etwas ähnlich Großes handeln.“

Henning war inzwischen ganz im Schilf verschwunden und Linn trat nervös von einem Bein auf das andere. Sie fühlte sich unwohl, obwohl es nicht den geringsten Anlass dafür gab.

„Ich glaube, ich bin ganz nah dran“, meldete sich Henning unvermittelt.

„Nun sag schon, was ist es?“

Sein entsetzter Schrei zerriss die Stille und für Linn gab es kein Halten mehr. Sie rannte blindlings drauflos und hatte Henning nach nur wenigen Metern erreicht. Knöcheltief stand sie neben ihm im Schlamm und presste die Hände auf den Mund, um den Würgereiz zu unterdrücken.

„Um Himmels willen, wir müssen sofort die Polizei informieren“, stammelte er und zog sein Handy aus der Manteltasche, während Linn um Fassung rang und sich fragte, warum das Schicksal sie schon wieder auserkoren hatte.

Kapitel 2

Linnea Bergström – nicht schon wieder diese Journalistin, dachte Erik Viklund genervt, als er das Absperrband hochhob, um sich ein Bild vom Fundort zu machen.

Mit Unbehagen dachte er an seinen letzten Fall zurück, wo sie ihm ständig in die Quere gekommen war. Der brisante Fall, bei dem ein fanatischer Täter Touristinnen entführt hatte, war ihm noch gut im Gedächtnis. Und nicht nur, weil Linnea Bergström ihre Finger mit im Spiel gehabt hatte. Er wusste, dass er über den Dingen stehen sollte, doch das war gar nicht so leicht.

Mit seinen hellen Turnschuhen, die innerhalb weniger Sekunden völlig durchnässt waren, stakste er durch den schlammigen Untergrund.

„So ein Mist“, schimpfte er, „die waren verdammt teuer gewesen.“

Greta Nordin, die immer ein paar Gummistiefel neben ihrem Schreibtisch stehen hatte, verzog spöttisch die Mundwinkel.

„Du lernst es wohl nie“, sagte sie tadelnd und folgte ihm.

„Hej Sven, schon fertig mit deinem Kram?“, fragte er den Gerichtsmediziner, der gerade seine Köfferchen wieder zusammenpackte.

„Ja, die Erstuntersuchung vor Ort ist abgeschlossen. Der unbekleidete weibliche Leichnam lag circa fünf Tage lang im Wasser, da existieren kaum noch verwertbare Spuren.“

„Na wunderbar. Was kannst du mir über die Frau sagen?“

„Die Tote ist Ende sechzig, Anfang siebzig, trägt einen Witwenring …“

„Was ist mit ihren Lippen passiert?“, unterbrach Greta ihn und deutete auf den Mund.

„Zugenäht. Aber vielleicht solltest du mich erst einmal ausreden lassen.“

Greta war eine Spur blasser geworden. „Wer kommt denn auf so eine abstruse Idee?“

„Dafür seid ihr zuständig, wenn ich mich nicht irre.“

Ein Grinsen huschte über Sven Bergmans Gesicht, der eine Schwäche für Greta hatte.

„Gibt es noch etwas, das wir wissen sollten?“, mischte sich Erik wieder ein.

„Nicht viel. Keine Abwehrspuren am Körper und sie scheint erstickt worden zu sein.“

„Auf welche Weise?“, hakte Erik nach.

„Mit großer Wahrscheinlichkeit hat ihr der Täter eine Plastiktüte über den Kopf gezogen. Zum Todeszeitpunkt war die Dame gefesselt, denn die Handgelenke und Knöchel weisen Abschürfungen auf.“

Erik betrachtete nachdenklich die Tote zu seinen Füßen. Welkes, aufgedunsenes Fleisch, das sich bläulich verfärbt hatte. Körperbehaarung war kaum noch vorhanden, die großen Brüste hingen schlaff zur Seite. Die Augäpfel waren anscheinend einem tierischen Aasfresser zum Opfer gefallen. Alles in allem ein trauriger Anblick.

In seiner Laufbahn als Polizeibeamter war ihm so etwas noch nie untergekommen und sobald sein Blick wieder die zugenähten Lippen streifte, spürte er Übelkeit aufsteigen.

„Habt ihr etwas Verwertbares im Uferbereich gefunden?“, wandte er sich an die Kriminaltechniker.

„Nur das Übliche – Zigarettenstummel, ein angeschwemmtes Plastikfeuerzeug und zwei leere Bierdosen. Wir vermuten, dass die Tote mit einem Boot abgeladen wurde.“

„Wie kommst du darauf?“, hakte er nach.

„Wir haben nur die frischen Fußspuren des Pärchens gefunden.“

Linnea Bergström, fuhr es Erik durch den Kopf. Sie wartete mit ihrem Begleiter in einem der Streifenwagen. Blieb zu hoffen, dass sie ihm nicht wieder dazwischenfunkte.

Erik schlüpfte unter dem Absperrband hindurch und ließ den Fundort der Leiche hinter sich.

„Hallo, Frau Bergström“, begrüßte er sie, als er im Van Platz genommen hatte. Verstohlen unterzog er ihren gut aussehenden Begleiter einer genauen Musterung. Sie hatte sich allem Anschein nach schnell getröstet, und dieser Gedanke versetzte ihm einen Stich.

„Wer von Ihnen hat die Leiche gefunden.“

„Ich“, meldete sich Henning zu Wort. „Allerdings hat sie“, er nickte Linnea Bergström zu, „zuerst den Verwesungsgeruch bemerkt. Daraufhin habe ich mir einen Weg durch das Schilf gebahnt und bin auf die tote Frau gestoßen.“

„Haben Sie den Leichnam berührt?“

„Nein, niemals.“ Henning hob abwehrend die Hände.

„Demzufolge ist nichts am Fundort verändert worden?“

„Nein“, antwortete Linn. „Wir stehen noch immer unter Schock.“

„Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Jedes noch so kleine Detail könnte von enormer Wichtigkeit sein.“

„Ich wollte es Henning gegenüber eigentlich nicht erwähnen, aber ich habe mich von Anfang an beobachtet gefühlt.“ Linn rieb sich fröstelnd die Hände. „Aber wahrscheinlich interpretiere ich auch viel zu viel hinein, nachdem, was vor ein paar Wochen geschehen ist.“

„Sie meinem sicher die Geschichte mit den entführten Frauen?“, fragte er.

Linn nickte.

„Können Sie das bestätigen?“, wandte sich Erik an Henning.

„Ich glaube, dafür fehlt mir das feine Gespür. Wir waren die ganze Zeit über allein unterwegs und sind niemandem begegnet.“

„Gut, das war es auch schon. Sie können jetzt nach Hause fahren.“

Linnea Bergström und ihr Begleiter schienen es eilig zu haben und entfernten sich rasch. Erik konnte es ihnen nicht verdenken, auch er hatte Östersund immer für ein beschauliches Städtchen gehalten. Aber so konnte man sich täuschen, und ganz besonders in Linnea Bergström.

„Guten Morgen, Sven.“

Erik streckte dem Gerichtsmediziner die Hand entgegen, während sich Lasse zögerlich dem bleichen Leichnam näherte.

„Das ging ja wirklich schnell mit der Identifizierung“, sagte Sven und erwiderte den Handschlag.

„Ja, die Tochter, Solveig Lundqvist, hat sich noch am gleichen Tag bei uns gemeldet, weil sie ihre Mutter nicht zum vereinbarten Zeitpunkt telefonisch erreichen konnte. Hier verschwinden glücklicherweise nur sehr wenige Personen. Obwohl ich sagen muss, dass es mir bei Ida Lundqvist schon ein wenig den Atem verschlagen hat“, erwiderte Erik.

„Da bin ich ganz deiner Meinung. Der Täter hat anscheinend zu viele Krimis geschaut.“ Sven richtete die Bestecke und legte den Mundschutz an. „Können wir?“, fragte er über den Rand seiner Brille.

„Ich bin bereit. Und du, Lasse?“

Sein junger Kollege nickte verhalten. Nach dem Desaster mit Vidar Falk, dem Pfarrer, hatte er sich ordentlich ins Zeug gelegt, um sein Versäumnis, die damals fehlende DNS-Probe, wiedergutzumachen.

Sven schaltete das Aufnahmegerät ein und begann mit der Untersuchung des Leichnams, die er kommentierte. Behutsam entfernte er Blätter und Algenreste aus Idas spärlicher Haarpracht, um sie zu katalogisieren, und nahm Proben von ihren Fingernägeln.

Danach kontrollierte er die Ohröffnungen und die Nasenhöhle, bevor er sich Idas Mund genauer ansah. Er fotografierte die Lippen und hüstelte.

„Hier war ein absoluter Stümper am Werk.“

Erik trat näher an den Tisch heran. Jetzt konnte er erkennen, dass die Lippen dilettantisch mit einer Naht verschlossen waren.

„Post mortem?“, fragte er.

„Bedauerlicherweise nein. Er hat die Lippen der Frau noch vor ihrem Ableben verschlossen.“

„Verdammt schmerzhafte Angelegenheit.“

„Du sagst es.“

Sven widmete seine gesamte Aufmerksamkeit wieder dem Körper von Ida Lundqvist. Vorsichtig trennte er die Naht zwischen den Lippen auf und leuchtete in die Mundhöhle. Mit einer Pinzette entfernte er die Reste eines Birkenblattes, das auf Idas Zunge gelegen hatte. Anschließend überprüfte er den Mundgeruch, konnte aber nichts Auffälliges feststellen.

„Sie ist erstickt worden, daran gibt es nicht den geringsten Zweifel“, bestätigte Sven das Ergebnis seiner Untersuchung.

„Und wie kommt das Blatt in ihren Rachen?“

„Der Täter muss es absichtlich dort platziert haben. Viel Spaß beim Rätselraten.“

„Na, vielen Dank auch“, antwortete Erik. Der Fall nahm immer groteskere Züge an.

Anschließend öffnete Sven mit einer kleinen Fräse die Schädeldecke. Erik hörte, wie Lasse würgte.

„Wenn du es nicht mehr aushältst, dann geh nach draußen.“

Sein junger Kollege zögerte.

„Jetzt zier dich nicht so, es wird nicht besser“, brummte Erik.

Lasse befolgte seine Anweisung und verließ den Raum.

„Er ist zum ersten Mal dabei“, fügte Erik entschuldigend hinzu.

„Die sind mir allemal lieber als die ganz Abgebrühten“, antwortete Sven. „Wenn du deine Emotionen verdrängst, bist du als Ermittler nur noch halb so gut.“

„Auch wieder wahr.“

Sven beschäftigte sich jetzt mit dem Brustkorb der Toten. Bevor er diesen öffnete, machte er routinemäßig eine kleine Pneumothoraxprobe. Dann öffnete er mit dem Skalpell den Brustkorb und weitete ihn mit Klemmen, um die einzelnen Organe entnehmen und wiegen zu können.

Erik schob seine Hände in die Hosentaschen und wartete geduldig das Ende der Obduktion ab.

„Und, wie schaut’s aus? Neue Erkenntnisse?“, fragte er Sven, der gerade seine Handschuhe abstreifte und in den dafür vorgesehenen Behälter warf.

„Etwaige Verletzungen sind durch den Transport der Leiche entstanden und ich bleibe dabei, dass er sie mit einer Plastiktüte erstickt hat. Auffällig sind Abdrücke an Schultern und im Schläfenbereich. Als hätte er den Kopf in eine Art Schraubzwinge geklemmt, um den Mund verschließen zu können.“

„Ich hatte mich schon gefragt, wie er das bewerkstelligt haben könnte.“

„Es war jedenfalls keine Tat im Affekt, der Täter ist sehr geplant vorgegangen.“

„Ob er sie wohl bestrafen wollte?“, sinnierte Erik. „Das sieht mir sehr nach symbolischer Rache aus.“

„Genau das waren auch meine ersten Gedanken. Wollen wir hoffen, dass der Typ keinen Feldzug startet.“

„Du sagst es, Sven. Schick mir den Bericht, sobald er fertig ist.“

„Was sollte ich auch sonst damit machen?“, erwiderte Sven kopfschüttelnd.

„Schon klar.“

Erik verabschiedete sich und lief nach draußen, wo Lasse bereits ungeduldig auf ihn wartete.

„Und?“

„Nichts Neues, wir müssen erst den vollständigen Obduktionsbericht abwarten. Vielleicht hat einer der Nachbarn von Ida Lundqvist etwas bemerkt.“

„Mir scheint, als ob der Täter noch eine Rechnung offen gehabt hätte. Außerdem würde ich meinen Gehaltscheck verwetten, dass er aus der Gegend stammt.“

„Guter Punkt, Lasse.“

Kapitel 3

Friderika Karlsson stapfte keuchend die Treppe hinauf und ihre Gelenke knacksten bei jedem Schritt. So war das halt mit dem Alter.

„Benni, mein Süßer, komm zu Frauchen“, lockte sie den Hund, der hechelnd Stufe für Stufe erklomm.

Sie stieß die Tür zum Schlafzimmer auf, knipste die Nachttischlampe an und schlug die Bettdecke zurück. Nachdem sie sich entkleidet hatte, streifte sie sich das geblümte Nachthemd über. Benni stand schon neben dem Bett und wedelte erwartungsvoll mit seiner Rute. Jetzt sah er wie ein kleines Schweinchen aus und ihr schlechtes Gewissen meldete sich augenblicklich zu Wort, weil sie ihn zu sehr verhätschelte.

Tja, und wie dankte dieser Schlawiner es ihr? Indem er sich auf beiden Ohren taub stellte.

Aber was soll’s, sie legte keinen Wert auf eine gute Erziehung ihres Vierbeiners. Schließlich hatte sie ihr Leben lang Schülern etwas beibringen müssen und genug war genug. Friderika hatte nie den Drang verspürt, zu heiraten und eigene Kinder in die Welt zu setzen. Der Beruf einer Lehrerin hatte sie ausgefüllt und nach Feierabend war sie lieber für sich gewesen. Außerdem hatte sie viel zu oft miterleben müssen, wie Familien auseinanderbrachen oder Kinder im Elternhaus drangsaliert wurden. Nein, so war es das Beste. Benni, ihr dicklicher Chihuahua-Rüde, versüßte ihr das Leben. Was wollte sie mehr.

Sie kuschelte sich in die Kissen und deckte Benni liebevoll zu, der neben ihr auf dem Kopfkissen lag. Dann zog sie die Schublade ihres Nachtschränkchens auf und griff nach einem Kriminalroman. Ja, sie liebte es, sich zu gruseln, und ganz besonders jetzt, wo die Nächte wieder länger wurden.

Vertieft in die schaurige Lektüre wurde sie durch ein Poltern im Erdgeschoss aufgeschreckt.

„Hast du das gehört, Benni?“, fragte sie ängstlich in die Stille hinein.

Der Rüde kämpfte sich unter der Bettdecke hervor, lief zum Fußende und knurrte leise.

„Himmel, was machen wir denn nun?“

Ihre Hand zitterte leicht, als sie das Buch weglegte und sich aufrichtete.

„Hm, Benni, was meinst du? Habe ich vielleicht vergessen, die Hintertür abzuschließen?“

Im Flur knarrte eine Diele und Friderika zog die Bettdecke bis zur Nasenspitze. Jetzt konnte sie die Tatsache nicht mehr leugnen, dass eine fremde Person in ihr Haus eingedrungen war. Wiederum, wenn ein Wildtier an der Klinke hochgesprungen war, weil sie doch vergessen hatte, die Hintertür abzuschlie…

Schluss jetzt, sie redete sich die Welt wieder schön. Wenn jemand im Haus war, dann musste sie sich Gewissheit verschaffen und wohl oder übel nach unten gehen. Punkt.

Mit einem Ächzen erhob sie sich, schlüpfte in die Pantoffeln und zog sich den flauschigen Morgenmantel über. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und legte den Zeigefinger auf ihre Lippen.

„Pst, mein Kleiner. Keinen Mucks, ich bin gleich wieder bei dir.“

Mit klopfendem Herzen drückte sie die Klinke herunter und lauschte angestrengt. Doch kein Laut war zu hören. Wahrscheinlich hatte sie sich die Geräusche nur eingebildet, wie so vieles in letzter Zeit. Die Fußspuren auf den Beeten, die offene Schuppentür, die fehlende Post im Briefkasten.

Jetzt sei kein Hasenfuß Friderika, ermahnte sie sich und schaltete das Flurlicht ein. Sie raffte ihren Morgenmantel zusammen und stieg die Stufen, die leise unter ihrem Gewicht knarrten, nach unten. Im Erdgeschoss durchstreifte sie ängstlich die Räume und zu ihrer großen Erleichterung befand sich niemand im Haus.

Sie rüttelte an den Türen, die nach draußen führten. Doch diese waren fest verschlossen. Beruhigt tappte Friderika wieder nach oben. Benni lag auf dem Teppich vor dem Bett und musterte sie aufmerksam mit seinen rehbraunen Augen.

„Ist ja schon gut, mein Süßer. Das war nur falscher Alarm.“

Sie setzte Benni wieder aufs Kopfkissen und kroch unter die noch warme Bettdecke. Den Krimi legte sie zurück in die Schublade, für heute hatte sie definitiv genug. Mit einem wohligen Seufzen löschte sie das Licht und kuschelte sich an Benni, der bereits leise neben ihr schnarchte.

Was war das?

Friderika saß aufrecht im Bett und rieb sich verschlafen die Augen.

Pling!

Warf da jemand Steinchen ans Fenster?

Ihre Hand tastete blind nach der Brille, die sie sich hastig aufsetzte. Barfuß schlich sie zum Fenster und schob die Gardine beiseite. Sie konnte nicht genau erkennen, ob sich jemand hinter dem knorrigen Apfelbaum verbarg und reckte ihren Hals.

„Ach Benni, was machen wir denn nun?“, wisperte sie. „Vielleicht ist es das Beste, wenn ich meine Schwester anrufe.“

Sie umrundete das Bett, stieß sich den kleinen Zeh und fluchte. Warum? Warum ausgerechnet heute?

Verärgert lief sie nach unten und drückte im Wohnzimmer auf den Lichtschalter. Sie war gerade auf dem Weg zur Ladestation des Telefons, als jemand an die Hintertür klopfte.

Benni rannte kläffend in die Küche und sie folgte ihm mit einem unguten Gefühl.

„Hallo, wer ist denn da?“, rief sie durch die geschlossene Tür.

Benni kratzte mit der Pfote am Holz des Rahmens und knurrte.

„Brauchen Sie Hilfe?“

Friderikas Fragen blieben unbeantwortet und sie tippte hastig die Telefonnummer ihrer Schwester ein. Ein Schrei löste sich von ihren Lippen, als sie hörte, wie die fremde Person die Tür mit Fußtritten attackierte.

„Das geht aber wirklich zu weit! Hören Sie sofort mit diesen Spielchen auf oder ich rufe die Polizei.“

Plötzlich klirrte Glas und Friderika ließ vor Schreck das Telefon fallen. Ein größerer Stein hatte die Scheibe durchschlagen und landete direkt vor ihren Füßen. Jetzt reichte es aber! Zornig drehte sie den Schlüssel herum, riss schwungvoll die Hintertür auf und stapfte in den Garten. Benni nutzte die Gunst der Stunde und verschwand kläffend in der Dunkelheit.

„Benni, komm sofort zurück“, rief sie erschrocken, doch sie stieß wie üblich auf taube Ohren. Nur Sekunden später vernahm sie ein durchdringendes Jaulen und ging schluchzend in die Knie.

„Bitte nicht meinen Benni“, wimmerte sie, „bitte nicht ihn.“

Die jähe Stille traf sie wie ein Faustschlag. Sie ahnte, was mit ihrem geliebten Begleiter geschehen war und machte auf dem Absatz kehrt. Sie musste sich schnellstens in Sicherheit bringen und bereute inzwischen, dass sie so kopflos nach draußen gestürmt war.

Ihr Fuß berührte schon die Stufen, die zur Küche führten, als sie kraftvoll nach hinten gerissen wurde. Sie strauchelte und ging mit einem erstickten Schrei zu Boden. Verstört betrachtete sie ihr blutiges Knie. Erst Sekunden später schaute sie auf.

„Was machst du denn hier?“, rief sie erstaunt.

„Zeit für die Abrechnung“, antwortete er.

„Ich verstehe nicht ganz …“, stammelte sie. „Was hast du meinem Benni angetan?“

„Um den kannst du dich später kümmern.“

Die Eiseskälte in seiner Stimme jagte ihr ein Schauer über den Rücken.

„Was ist, willst du die ganze Nacht auf dem Boden hocken?“

„Könntest du mir bitte deine Hand reichen“, bat sie leise und er half ihr tatsächlich beim Aufstehen.

Beim Sturz waren ihre Pantoffeln verloren gegangen und sie humpelte auf nackten Sohlen in die Küche. Er folgte ihr wortlos, ohne dass sie ihn dazu aufgefordert hätte. Das Telefon lag auf dem Boden und der Akku war herausgefallen, was für ein Schlamassel. Wenn sie doch nur wüsste, was er um diese Uhrzeit von ihr wollte.

„Soll ich uns einen Tee kochen?“, fragte sie vorsichtig.

„Danke für dein Angebot, aber wir haben Wichtigeres vor.“ Er stellte einen Stuhl in die Mitte des Raumes. „Setz dich“, befahl er harsch.

Verwirrt befolgte sie seine Anweisung und nahm Platz.

„Du weißt, warum ich hier bin?“

Sie schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, ich habe nicht die geringste Ahnung.“

„Dann will ich deiner Erinnerung ein wenig auf die Sprünge helfen. Du erinnerst dich doch sicherlich an mich.“

„Selbstverständlich. Warum fragst du?“

„Du hast damals so einiges mitbekommen, nicht wahr?“

„Worauf willst du hinaus?“

Sie war müde, das Knie schmerzte und die Sorge um ihren geliebten Benni brachte sie fast um. Er sollte endlich Tacheles reden und wieder von hier verschwinden.

„Du weißt doch ganz genau, worum es geht.“ Er verzog spöttisch seine Mundwinkel.

„Ich möchte nicht, dass du so vertraut mit mir umgehst“, ermahnte sie ihn.

„Selbst in dieser Situation kannst du das Klugscheißern nicht lassen“, raunzte er. „Du sitzt also immer noch auf deinem hohen Ross, aber das sollten wir schnellstens ändern.“

Er verschwand kurz zur Hintertür hinaus. Das wäre ihre Chance gewesen, aufzuspringen und die Tür hinter ihm zu verschließen, aber stattdessen verharrte sie in einer Art Starre. Sie war geschockt und entsetzt über sein dreistes Verhalten und nahm sich vor, ihn direkt am nächsten Tag anzuzeigen.

Mit einem Pilotenkoffer aus feinem schwarzem Leder kehrte er zurück und stellte diesen auf den Tisch. Es klickte leise, als er die Schnallen öffnete und ein Seil herausholte.

„Willst du mich etwa fesseln?“, fragte sie kopfschüttelnd.

„Ganz genau.“

„Du bist verrückt geworden“, zischte sie zornig und riss ihren Arm frei, den er hinter ihrem Rücken fesseln wollte. „Allmählich reicht mir deine Unverfrorenheit.“

Der Faustschlag traf sie völlig unvorbereitet. Ihr Nasenbein knackte und die Zahnprothese fiel ihr in den Schoss. Um Gottes willen, war er jetzt total übergeschnappt? Sie blickte in sein entschlossenes Gesicht und ihr wurde bewusst, dass das kein Spiel mehr war.

„Arme hinter den Rücken“, befahl er und sie gehorchte.

Es war eine unglaublich schmerzhafte Prozedur, als er die Handgelenke mit dem Seil fixierte, und sie stöhnte leise. Anschließend band er ihre Füße an den Stuhlbeinen fest, nun war sie ihm endgültig hilflos ausgeliefert.

„Ich frage dich jetzt ein allerletztes Mal, ob du mir etwas zu sagen hast. Wenn ja, dann möchte ich, dass du deine Schuld eingestehst und einen Abschiedsbrief verfasst.“

„Ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst“, antwortete sie unter Tränen.

„Ach nein?“ Er neigte skeptisch seinen Kopf. „Da bin ich aber anderer Meinung.“

Verstört beobachtete sie, wie er ein OP-Besteck auf dem Tisch ausbreitete, das man auch in Krankenhäusern benutzte. Zusätzlich legte er noch einen Nadelhalter, eine Schere, ein Päckchen Nahtmaterial und zwei chirurgische gebogene Nähnadeln dazu.

„Was willst du damit?“, stammelte sie entsetzt.

„Du hättest es damals beenden können, mit nur einem einzigen Wort. Aber du hast genau wie alle anderen das Schweigen bevorzugt. Ein Menschenleben wurde zerstört, weil ihr absichtlich weggeschaut habt.“

Erst jetzt begriff sie, was er von ihr wollte. „Wir können doch über alles reden“, wimmerte sie.

„Zu spät, dein Schicksal ist besiegelt.“

Friderika bäumte sich auf, zerrte an den Fesseln und schrie.

„Niemand wird dich hören, und das ist auch gut so.“

„Ich hätte nie geglaubt, dass so viel kriminelle Energie in dir steckt“, keuchte sie.

Sie spuckte ihm vor die Füße und er schlug erneut zu.

„Wage es ja nicht, so über mich zu urteilen. Ich wollte sie retten, wollte sie beschützen, aber das war nicht genug. Du hättest ihr Leben retten und ihren Tod verhindern können, mit nur einem einzigen Wort.“

Beschämt schlug sie die Augen nieder, er hatte Recht. Wenn sie das Rad der Zeit zurückdrehen könnte, dann würde sie es jetzt tun. Es war nicht gut gewesen, alles zu verschweigen und unter den Teppich zu kehren, um einen Skandal zu vertuschen. Aber sie hatten doch nur das Beste gewollt …

„Halte deinen Kopf gerade“, forderte er sie auf.

Erschrocken blickte sie auf und sah, dass er sich bereits die OP-Handschuhe übergestreift und den Faden eingefädelt hatte.

„Was willst du tun?“, stammelte sie und spürte, wie ihr etwas Warmes an den Beinen herunterlief. Sie hatte sich tatsächlich vor Angst in die Hosen gemacht.

„Tz, tz, tz …“, er schüttelte angewidert seinen Kopf. „Das hätte ich jetzt aber nicht erwartet.“

„Das ist doch irre!“, schrie sie und zerrte an den Fesseln, während er ihr ein käfigartiges Ding über den Kopf stülpte und die Stellschrauben festzog.

„Mund auf!“, befahl er in einem rüden Ton, doch sie kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. „Ich werde dich kein zweites Mal bitten“, drohte er und griff nach einem Skalpell.

Widerstandlos öffnete sie ihren Mund und er legte ein Blatt auf ihre Zunge. Es kitzelte unangenehm am Gaumen und sie musste würgen.

„Wage es ja nicht …“, drohte er erneut.

Friderika ahnte, was sie nun erwartete und bäumte sich ein letztes Mal auf, um sich zu befreien. Der Stuhl wackelte bedrohlich, als sie das Körpergewicht verlagerte, und kippte schließlich nach hinten. Sie schlug mit dem Hinterkopf auf die Dielen und glitt sofort in eine erlösende Bewusstlosigkeit.

Blinzelnd öffnete sie die Augen. Der Schmerz war überwältigend und sie wollte schreien, doch das war nicht mehr möglich. Die Schläfen pochten und sie spürte, wie einzelne Blutstropfen von ihren Lippen perlten, sich am Kinn zu kleinen Rinnsalen sammelten und auf den Morgenmantel tropften. Er hatte sie während ihrer Bewusstlosigkeit wieder aufgerichtet und in aller Seelenruhe die Lippen zugenäht.

Mit schreckgeweiteten Augen sah sie ihn an und begriff, dass sie diese Nacht nicht überleben würde. Seine zufriedene Miene sprach Bände und die Plastiktüte in seinen Händen knisterte. Vielleicht war es besser so. Sie wollte nur noch, dass es aufhörte, fühlte sich beschmutzt durch die Erinnerung, die er wachgerufen hatte. All die Jahre war es ihr möglich gewesen, die Erlebnisse von damals erfolgreich zu verdrängen, aber nun hatte die Vergangenheit sie wieder eingeholt.

„Bringen wir es hinter uns“, sagte er und zog die Tüte langsam über ihren Kopf.

Friderika ließ es ohne Gegenwehr geschehen. Sie musste immerzu an Benni denken und bedauerte, dass er wegen ihr hatte leiden müssen. Aber für das Rad der Zeit war es nun zu spät.

Er setzte sich mit verschränkten Armen an den Küchentisch, um ihr beim Sterben zuzusehen. Friderikas Atem wurde hektisch, sie keuchte und rang verzweifelt nach Luft, doch sie konnte sich die Plastiktüte nicht herunterreißen. Nur wenige Augenblicke später sank ihr Kopf auf die Brust. Es war vorbei.