Friderika Karlsson stapfte keuchend die Treppe hinauf und ihre Gelenke knacksten bei jedem Schritt. So war das halt mit dem Alter.
„Benni, mein Süßer, komm zu Frauchen“, lockte sie den Hund, der hechelnd Stufe für Stufe erklomm.
Sie stieß die Tür zum Schlafzimmer auf, knipste die Nachttischlampe an und schlug die Bettdecke zurück. Nachdem sie sich entkleidet hatte, streifte sie sich das geblümte Nachthemd über. Benni stand schon neben dem Bett und wedelte erwartungsvoll mit seiner Rute. Jetzt sah er wie ein kleines Schweinchen aus und ihr schlechtes Gewissen meldete sich augenblicklich zu Wort, weil sie ihn zu sehr verhätschelte.
Tja, und wie dankte dieser Schlawiner es ihr? Indem er sich auf beiden Ohren taub stellte.
Aber was soll’s, sie legte keinen Wert auf eine gute Erziehung ihres Vierbeiners. Schließlich hatte sie ihr Leben lang Schülern etwas beibringen müssen und genug war genug. Friderika hatte nie den Drang verspürt, zu heiraten und eigene Kinder in die Welt zu setzen. Der Beruf einer Lehrerin hatte sie ausgefüllt und nach Feierabend war sie lieber für sich gewesen. Außerdem hatte sie viel zu oft miterleben müssen, wie Familien auseinanderbrachen oder Kinder im Elternhaus drangsaliert wurden. Nein, so war es das Beste. Benni, ihr dicklicher Chihuahua-Rüde, versüßte ihr das Leben. Was wollte sie mehr.
Sie kuschelte sich in die Kissen und deckte Benni liebevoll zu, der neben ihr auf dem Kopfkissen lag. Dann zog sie die Schublade ihres Nachtschränkchens auf und griff nach einem Kriminalroman. Ja, sie liebte es, sich zu gruseln, und ganz besonders jetzt, wo die Nächte wieder länger wurden.
Vertieft in die schaurige Lektüre wurde sie durch ein Poltern im Erdgeschoss aufgeschreckt.
„Hast du das gehört, Benni?“, fragte sie ängstlich in die Stille hinein.
Der Rüde kämpfte sich unter der Bettdecke hervor, lief zum Fußende und knurrte leise.
„Himmel, was machen wir denn nun?“
Ihre Hand zitterte leicht, als sie das Buch weglegte und sich aufrichtete.
„Hm, Benni, was meinst du? Habe ich vielleicht vergessen, die Hintertür abzuschließen?“
Im Flur knarrte eine Diele und Friderika zog die Bettdecke bis zur Nasenspitze. Jetzt konnte sie die Tatsache nicht mehr leugnen, dass eine fremde Person in ihr Haus eingedrungen war. Wiederum, wenn ein Wildtier an der Klinke hochgesprungen war, weil sie doch vergessen hatte, die Hintertür abzuschlie…
Schluss jetzt, sie redete sich die Welt wieder schön. Wenn jemand im Haus war, dann musste sie sich Gewissheit verschaffen und wohl oder übel nach unten gehen. Punkt.
Mit einem Ächzen erhob sie sich, schlüpfte in die Pantoffeln und zog sich den flauschigen Morgenmantel über. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und legte den Zeigefinger auf ihre Lippen.
„Pst, mein Kleiner. Keinen Mucks, ich bin gleich wieder bei dir.“
Mit klopfendem Herzen drückte sie die Klinke herunter und lauschte angestrengt. Doch kein Laut war zu hören. Wahrscheinlich hatte sie sich die Geräusche nur eingebildet, wie so vieles in letzter Zeit. Die Fußspuren auf den Beeten, die offene Schuppentür, die fehlende Post im Briefkasten.
Jetzt sei kein Hasenfuß Friderika, ermahnte sie sich und schaltete das Flurlicht ein. Sie raffte ihren Morgenmantel zusammen und stieg die Stufen, die leise unter ihrem Gewicht knarrten, nach unten. Im Erdgeschoss durchstreifte sie ängstlich die Räume und zu ihrer großen Erleichterung befand sich niemand im Haus.
Sie rüttelte an den Türen, die nach draußen führten. Doch diese waren fest verschlossen. Beruhigt tappte Friderika wieder nach oben. Benni lag auf dem Teppich vor dem Bett und musterte sie aufmerksam mit seinen rehbraunen Augen.
„Ist ja schon gut, mein Süßer. Das war nur falscher Alarm.“
Sie setzte Benni wieder aufs Kopfkissen und kroch unter die noch warme Bettdecke. Den Krimi legte sie zurück in die Schublade, für heute hatte sie definitiv genug. Mit einem wohligen Seufzen löschte sie das Licht und kuschelte sich an Benni, der bereits leise neben ihr schnarchte.
Was war das?
Friderika saß aufrecht im Bett und rieb sich verschlafen die Augen.
Pling!
Warf da jemand Steinchen ans Fenster?
Ihre Hand tastete blind nach der Brille, die sie sich hastig aufsetzte. Barfuß schlich sie zum Fenster und schob die Gardine beiseite. Sie konnte nicht genau erkennen, ob sich jemand hinter dem knorrigen Apfelbaum verbarg und reckte ihren Hals.
„Ach Benni, was machen wir denn nun?“, wisperte sie. „Vielleicht ist es das Beste, wenn ich meine Schwester anrufe.“
Sie umrundete das Bett, stieß sich den kleinen Zeh und fluchte. Warum? Warum ausgerechnet heute?
Verärgert lief sie nach unten und drückte im Wohnzimmer auf den Lichtschalter. Sie war gerade auf dem Weg zur Ladestation des Telefons, als jemand an die Hintertür klopfte.
Benni rannte kläffend in die Küche und sie folgte ihm mit einem unguten Gefühl.
„Hallo, wer ist denn da?“, rief sie durch die geschlossene Tür.
Benni kratzte mit der Pfote am Holz des Rahmens und knurrte.
„Brauchen Sie Hilfe?“
Friderikas Fragen blieben unbeantwortet und sie tippte hastig die Telefonnummer ihrer Schwester ein. Ein Schrei löste sich von ihren Lippen, als sie hörte, wie die fremde Person die Tür mit Fußtritten attackierte.
„Das geht aber wirklich zu weit! Hören Sie sofort mit diesen Spielchen auf oder ich rufe die Polizei.“
Plötzlich klirrte Glas und Friderika ließ vor Schreck das Telefon fallen. Ein größerer Stein hatte die Scheibe durchschlagen und landete direkt vor ihren Füßen. Jetzt reichte es aber! Zornig drehte sie den Schlüssel herum, riss schwungvoll die Hintertür auf und stapfte in den Garten. Benni nutzte die Gunst der Stunde und verschwand kläffend in der Dunkelheit.
„Benni, komm sofort zurück“, rief sie erschrocken, doch sie stieß wie üblich auf taube Ohren. Nur Sekunden später vernahm sie ein durchdringendes Jaulen und ging schluchzend in die Knie.
„Bitte nicht meinen Benni“, wimmerte sie, „bitte nicht ihn.“
Die jähe Stille traf sie wie ein Faustschlag. Sie ahnte, was mit ihrem geliebten Begleiter geschehen war und machte auf dem Absatz kehrt. Sie musste sich schnellstens in Sicherheit bringen und bereute inzwischen, dass sie so kopflos nach draußen gestürmt war.
Ihr Fuß berührte schon die Stufen, die zur Küche führten, als sie kraftvoll nach hinten gerissen wurde. Sie strauchelte und ging mit einem erstickten Schrei zu Boden. Verstört betrachtete sie ihr blutiges Knie. Erst Sekunden später schaute sie auf.
„Was machst du denn hier?“, rief sie erstaunt.
„Zeit für die Abrechnung“, antwortete er.
„Ich verstehe nicht ganz …“, stammelte sie. „Was hast du meinem Benni angetan?“
„Um den kannst du dich später kümmern.“
Die Eiseskälte in seiner Stimme jagte ihr ein Schauer über den Rücken.
„Was ist, willst du die ganze Nacht auf dem Boden hocken?“
„Könntest du mir bitte deine Hand reichen“, bat sie leise und er half ihr tatsächlich beim Aufstehen.
Beim Sturz waren ihre Pantoffeln verloren gegangen und sie humpelte auf nackten Sohlen in die Küche. Er folgte ihr wortlos, ohne dass sie ihn dazu aufgefordert hätte. Das Telefon lag auf dem Boden und der Akku war herausgefallen, was für ein Schlamassel. Wenn sie doch nur wüsste, was er um diese Uhrzeit von ihr wollte.
„Soll ich uns einen Tee kochen?“, fragte sie vorsichtig.
„Danke für dein Angebot, aber wir haben Wichtigeres vor.“ Er stellte einen Stuhl in die Mitte des Raumes. „Setz dich“, befahl er harsch.
Verwirrt befolgte sie seine Anweisung und nahm Platz.
„Du weißt, warum ich hier bin?“
Sie schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, ich habe nicht die geringste Ahnung.“
„Dann will ich deiner Erinnerung ein wenig auf die Sprünge helfen. Du erinnerst dich doch sicherlich an mich.“
„Selbstverständlich. Warum fragst du?“
„Du hast damals so einiges mitbekommen, nicht wahr?“
„Worauf willst du hinaus?“
Sie war müde, das Knie schmerzte und die Sorge um ihren geliebten Benni brachte sie fast um. Er sollte endlich Tacheles reden und wieder von hier verschwinden.
„Du weißt doch ganz genau, worum es geht.“ Er verzog spöttisch seine Mundwinkel.
„Ich möchte nicht, dass du so vertraut mit mir umgehst“, ermahnte sie ihn.
„Selbst in dieser Situation kannst du das Klugscheißern nicht lassen“, raunzte er. „Du sitzt also immer noch auf deinem hohen Ross, aber das sollten wir schnellstens ändern.“
Er verschwand kurz zur Hintertür hinaus. Das wäre ihre Chance gewesen, aufzuspringen und die Tür hinter ihm zu verschließen, aber stattdessen verharrte sie in einer Art Starre. Sie war geschockt und entsetzt über sein dreistes Verhalten und nahm sich vor, ihn direkt am nächsten Tag anzuzeigen.
Mit einem Pilotenkoffer aus feinem schwarzem Leder kehrte er zurück und stellte diesen auf den Tisch. Es klickte leise, als er die Schnallen öffnete und ein Seil herausholte.
„Willst du mich etwa fesseln?“, fragte sie kopfschüttelnd.
„Ganz genau.“
„Du bist verrückt geworden“, zischte sie zornig und riss ihren Arm frei, den er hinter ihrem Rücken fesseln wollte. „Allmählich reicht mir deine Unverfrorenheit.“
Der Faustschlag traf sie völlig unvorbereitet. Ihr Nasenbein knackte und die Zahnprothese fiel ihr in den Schoss. Um Gottes willen, war er jetzt total übergeschnappt? Sie blickte in sein entschlossenes Gesicht und ihr wurde bewusst, dass das kein Spiel mehr war.
„Arme hinter den Rücken“, befahl er und sie gehorchte.
Es war eine unglaublich schmerzhafte Prozedur, als er die Handgelenke mit dem Seil fixierte, und sie stöhnte leise. Anschließend band er ihre Füße an den Stuhlbeinen fest, nun war sie ihm endgültig hilflos ausgeliefert.
„Ich frage dich jetzt ein allerletztes Mal, ob du mir etwas zu sagen hast. Wenn ja, dann möchte ich, dass du deine Schuld eingestehst und einen Abschiedsbrief verfasst.“
„Ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst“, antwortete sie unter Tränen.
„Ach nein?“ Er neigte skeptisch seinen Kopf. „Da bin ich aber anderer Meinung.“
Verstört beobachtete sie, wie er ein OP-Besteck auf dem Tisch ausbreitete, das man auch in Krankenhäusern benutzte. Zusätzlich legte er noch einen Nadelhalter, eine Schere, ein Päckchen Nahtmaterial und zwei chirurgische gebogene Nähnadeln dazu.
„Was willst du damit?“, stammelte sie entsetzt.
„Du hättest es damals beenden können, mit nur einem einzigen Wort. Aber du hast genau wie alle anderen das Schweigen bevorzugt. Ein Menschenleben wurde zerstört, weil ihr absichtlich weggeschaut habt.“
Erst jetzt begriff sie, was er von ihr wollte. „Wir können doch über alles reden“, wimmerte sie.
„Zu spät, dein Schicksal ist besiegelt.“
Friderika bäumte sich auf, zerrte an den Fesseln und schrie.
„Niemand wird dich hören, und das ist auch gut so.“
„Ich hätte nie geglaubt, dass so viel kriminelle Energie in dir steckt“, keuchte sie.
Sie spuckte ihm vor die Füße und er schlug erneut zu.
„Wage es ja nicht, so über mich zu urteilen. Ich wollte sie retten, wollte sie beschützen, aber das war nicht genug. Du hättest ihr Leben retten und ihren Tod verhindern können, mit nur einem einzigen Wort.“
Beschämt schlug sie die Augen nieder, er hatte Recht. Wenn sie das Rad der Zeit zurückdrehen könnte, dann würde sie es jetzt tun. Es war nicht gut gewesen, alles zu verschweigen und unter den Teppich zu kehren, um einen Skandal zu vertuschen. Aber sie hatten doch nur das Beste gewollt …
„Halte deinen Kopf gerade“, forderte er sie auf.
Erschrocken blickte sie auf und sah, dass er sich bereits die OP-Handschuhe übergestreift und den Faden eingefädelt hatte.
„Was willst du tun?“, stammelte sie und spürte, wie ihr etwas Warmes an den Beinen herunterlief. Sie hatte sich tatsächlich vor Angst in die Hosen gemacht.
„Tz, tz, tz …“, er schüttelte angewidert seinen Kopf. „Das hätte ich jetzt aber nicht erwartet.“
„Das ist doch irre!“, schrie sie und zerrte an den Fesseln, während er ihr ein käfigartiges Ding über den Kopf stülpte und die Stellschrauben festzog.
„Mund auf!“, befahl er in einem rüden Ton, doch sie kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. „Ich werde dich kein zweites Mal bitten“, drohte er und griff nach einem Skalpell.
Widerstandlos öffnete sie ihren Mund und er legte ein Blatt auf ihre Zunge. Es kitzelte unangenehm am Gaumen und sie musste würgen.
„Wage es ja nicht …“, drohte er erneut.
Friderika ahnte, was sie nun erwartete und bäumte sich ein letztes Mal auf, um sich zu befreien. Der Stuhl wackelte bedrohlich, als sie das Körpergewicht verlagerte, und kippte schließlich nach hinten. Sie schlug mit dem Hinterkopf auf die Dielen und glitt sofort in eine erlösende Bewusstlosigkeit.
Blinzelnd öffnete sie die Augen. Der Schmerz war überwältigend und sie wollte schreien, doch das war nicht mehr möglich. Die Schläfen pochten und sie spürte, wie einzelne Blutstropfen von ihren Lippen perlten, sich am Kinn zu kleinen Rinnsalen sammelten und auf den Morgenmantel tropften. Er hatte sie während ihrer Bewusstlosigkeit wieder aufgerichtet und in aller Seelenruhe die Lippen zugenäht.
Mit schreckgeweiteten Augen sah sie ihn an und begriff, dass sie diese Nacht nicht überleben würde. Seine zufriedene Miene sprach Bände und die Plastiktüte in seinen Händen knisterte. Vielleicht war es besser so. Sie wollte nur noch, dass es aufhörte, fühlte sich beschmutzt durch die Erinnerung, die er wachgerufen hatte. All die Jahre war es ihr möglich gewesen, die Erlebnisse von damals erfolgreich zu verdrängen, aber nun hatte die Vergangenheit sie wieder eingeholt.
„Bringen wir es hinter uns“, sagte er und zog die Tüte langsam über ihren Kopf.
Friderika ließ es ohne Gegenwehr geschehen. Sie musste immerzu an Benni denken und bedauerte, dass er wegen ihr hatte leiden müssen. Aber für das Rad der Zeit war es nun zu spät.
Er setzte sich mit verschränkten Armen an den Küchentisch, um ihr beim Sterben zuzusehen. Friderikas Atem wurde hektisch, sie keuchte und rang verzweifelt nach Luft, doch sie konnte sich die Plastiktüte nicht herunterreißen. Nur wenige Augenblicke später sank ihr Kopf auf die Brust. Es war vorbei.