Für Cookie, der den Kampf verloren hat.
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Protagonisten
Anmerkung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
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Impressum
Auf das in Schweden übliche Duzen wurde zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.
Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Sina Andersson steckte den Schlüssel in die Jackentasche, setzte sich die Mütze auf und griff nach ihren gefütterten Handschuhen. Über Nacht waren die Temperaturen nochmals gesunken, sehr zu ihrem Ärgernis.
Sie lief zu ihrem Wagen, schwang sich hinters Steuer, um zur Bootsanlegestelle auf der gegenüberliegenden Seite von Norderö zu fahren. Durch den frisch gefallenen Schnee hatten die Reifen noch den nötigen Grip und sie kam gut voran. Immer wieder warf sie einen Blick in den Rückspiegel, aber sie war zu dieser frühen Stunde vollkommen allein unterwegs. Gut so.
Die weiße Pracht knirschte leise unter ihren Füßen, als sie ausstieg und sich dem Bootssteg näherte. Immer wieder schaute sie sich prüfend um, doch niemand folgte ihr. Sie öffnete das Vorhängeschloss des Bootshauses und trat ein. Mit geübten Handgriffen riss sie die Plane vom Deck des Bootes und legte sie auf die Planken.
Das Boot schwankte beim Einsteigen, aber das störte sie kaum. Früher war sie mit ihrem Vater oft Segeln gewesen und mit allem vertraut. Sie steckte den Zündschlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Der Motor gab nur gluckernde Geräusche von sich und Sina fluchte leise. Sie wollte die andere Insel erreicht haben, bevor jemand ihre Abwesenheit bemerkte. Erneut versuchte sie, den Motor zu starten, und der Rumpf des Motorbootes erzitterte. Gott sei Dank.
Ein Schwarm Krähen flog erschrocken auf, als sie auf den Storsjön hinausfuhr. Es war ein windstiller Tag, dennoch kroch ihr die Kälte innerhalb kürzester Zeit durch die Kleidung. Aber die Überfahrt würde nicht lange dauern. Dichte Nebelschwaden hingen über dem Wasser und schränkten die Sicht ein. Sina fuhr nicht zum ersten Mal nach Verkön hinüber und wusste, dass sich kurz vor dem Uferbereich der Nebel wieder lichten würde.
Trotzdem spürte sie einer Vorahnung gleich die Angst im Nacken. Sie war so versessen darauf, dieses Geheimnis zu lüften, dass sie sogar billigend in Kauf nahm, damit ihrer Karriere zu schaden. Aber sie war auf Dinge gestoßen, die sie nicht länger auf sich beruhen lassen konnte.
Sie drosselte die Geschwindigkeit, als sie sich dem gegenüberliegenden Ufer näherte. Am Steg vertäute sie routiniert das Boot und ging an Land. Wie ruhig es hier war. Es gab ein Hotel in der Nähe, das im Winter kaum gebucht wurde. In den Sommermonaten, während der Umbauphase, hatte hier der Wahnsinn getobt. Aber jetzt hatte diese Stille etwas Beängstigendes.
Sina straffte die Schultern und schritt zügig voran. Kleine Atemwölkchen stiegen auf und es war ziemlich anstrengend, durch den frisch gefallenen Schnee zu stapfen. Die Sommerhütte, zu der sie wollte, lag versteckt in einem Wäldchen. Während auf Norderö auch Landwirtschaft betrieben wurde, gab es auf Verkön bis auf einen kleinen Bauernhof nur Wald und Wiesen. Ein himmlisches Fleckchen, wie sie fand, nur leider mit einem düsteren Geheimnis. Wenn das Gespräch stimmte, was sie belauscht hatte. Bald würde sie mehr wissen.
Ein Bussard über ihr zog einsam seine Kreise, er war sicher auf Mäusejagd. „Viel Erfolg“, murmelte sie und bog in den Wald. Hier und da rieselte der Schnee von den Bäumen und sie fühlte sich beobachtet. Aber es gab keine frischen Spuren im Schnee, sie war definitiv allein.
Nach nur wenigen Metern hatte sie die Hütte erreicht. Sie schloss die Tür auf und stemmte sich so lange mit dem Schulterblatt kraftvoll dagegen, bis diese aufsprang. Weiße Laken verhüllten das Mobiliar und verliehen dem Wohnraum mit dem großen Kamin etwas Gespenstisches.
Sina zog die Handschuhe aus und stopfte sie in die Jackentasche. Dann klatschte sie energiegeladen in die Hände. „Auf geht’s.“
Zuerst durchsuchte sie die Schränke nach Hinweisen wie Geburts- und Sterbeurkunden, obwohl sie ahnte, dass wichtige Unterlagen in einem Sommerhaus nichts verloren hatten. Im Kirchenregister war kein Eintrag vermerkt worden, aber kein Mensch löste sich so einfach in Luft auf.
Hinter dem Wohnraum gab es einen länglichen Flur, von dem zwei Schlafkammern abgingen. In den winzigen Räumen standen jeweils zwei Betten mit einem passenden Nachtschränkchen. In ihm befanden sich mehrere Bücher und eine Bibel. Küche und Badezimmer ersparte sich Sina und kraxelte stattdessen auf den Dachboden hinauf. Hier oben war es eisig und sie streifte sich hastig die Handschuhe wieder über.
Die Puppe, die in einer Ecke saß, fiel ihr sofort auf, und deren glasige Augen schienen sie mit jedem Blick zu verfolgen. Das Rüschenkleid war zerschlissen, Staub bedeckte das struppige hellblonde Kunsthaar, dessen zwei Zöpfe starr herunterhingen. Wie aus einem Horrorfilm, dachte Sina und zog fröstelnd die Schultern hoch.
Sie widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Inventar und öffnete drei Kisten, in denen gebrauchte Kleidung lagerte. Die Kommode neben dem Schornstein war leer, ebenso der schiefe Kleiderschrank, der mittig unter dem First stand. Enttäuscht drehte sich Sina um, kletterte die Leiter wieder hinunter und schloss die Luke. Jetzt blieb nur noch der Keller übrig.
Im Wohnraum stellte sie sich ans Fenster und musterte aufmerksam die Umgebung. Sie wollte sich gerade abwenden, als ihr Blick an einer dunkel gekleideten Gestalt hängen blieb. Verdammt, wer hatte von ihrer heimlichen Aktion Wind bekommen? Dabei war sie so umsichtig bei der Schlüsselentnahme für das Motorboot vorgegangen.
Zögerlich wich sie zurück. Sollte sie sich der Person stellen? Oder lieber die Vordertür sichern?
Vielleicht handelt es sich nur um einen Urlauber, der annahm, dass sie unerlaubt in das Sommerhaus eingedrungen war. Obwohl, so unrecht hatte er damit nicht. Sina beschloss, auf Konfrontationskurs zu gehen und die Angelegenheit zu klären. Ihr würde schon eine Ausrede einfallen, wenn es darum ging, das Gemüt ihres Auftraggebers zu besänftigen.
„Hej“, rief sie, nachdem sie sich nach draußen begeben hatte. „Ich habe die Erlaubnis des Eigentümers. Sie müssen sich keine Sorgen machen.“
Ihr Gegenüber rührte sich jedoch nicht von der Stelle.
„Falls Sie noch Fragen haben, dann können Sie sich an Ludvig Stolt wenden. Er hat das Einverständnis der Familie Sjöblad.“
Schulterzuckend drehte sie sich um und ging zum Haus zurück. Von ihrer Seite aus war die Situation geklärt, keine Ahnung, warum der Typ dort stand, als wäre er mit dem Waldboden verwurzelt. Er kam ihr irgendwie bekannt vor, aber sie konnte sein Gesicht nicht einordnen, da es zur Hälfte von der Kapuze bedeckt wurde.
Sie hatte die Haustür schon fast erreicht, als sie plötzlich herumgerissen wurde.
„Hey, was bilden Sie sich ein“, rief sie empört.
Genau in diesem Augenblick legte sich eine kräftige behandschuhte Hand auf Mund und Nase und Sina begann sich zu wehren. Sie trat nach ihrem Gegner, versuchte sich loszureißen, doch sie kam nicht gegen ihn an. Ihre Lungen brannten, schrien nach belebendem Sauerstoff.
Sie spürte, wie ihre Kräfte schwanden. Der Typ hatte sie im Schwitzkasten und presste seine Hand noch fester auf ihr Gesicht. Ein letztes Mal bündelte sie ihre Kräfte, bäumte sich auf und strampelte aus Leibeskräften. Aber es schien, als würde sie diesen ungleichen Kampf verlieren. Ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr und sie wurde nur noch von dem drängenden Gedanken beherrscht, zu atmen.
Jetzt hatte der Mann leichtes Spiel, sie war nichts mehr als eine willenlose Marionette. Ihre Beine gaben nach und sie ging langsam zu Boden. Das schmutzige Geheimnis würde nun niemand mehr lüften, diese Chance war unwiederbringlich vertan.
Frau Bergström, kommen Sie doch bitte in mein Büro“, rief Kian Bensson, der Chefredakteur der örtlichen Zeitung.
Linnea Bergström kam seiner Aufforderung nach und nahm vor seinem Schreibtisch Platz. „Neuer Auftrag?“, fragte sie.
„Ja, dieses Mal ist es ein ganz besonderes Häppchen für Sie nach all den Strapazen der letzten Zeit. Kein Serienmörder, der seinen Opfern die Münder verschließt, sondern ein dreitägiger Entspannungsurlaub in einem Luxushotel mit ein wenig Schreibarbeit nebenbei. Na, wie klingt das für Sie?“
„Fantastisch. Allerdings frage ich mich, wo der Haken bei der Sache ist?“
„Es gibt keinen.“ Bensson lächelte milde. „Der Eigentümer des Hotels spendiert Ihnen den Urlaub und im Gegenzug veröffentlichen wir einen zweiseitigen Bericht.“
„Das klingt wirklich gut. Um welches Objekt handelt es sich?“, hakte sie nach.
„In Norderö wurde ein heruntergekommenes Bauerngehöft in ein Luxushotel für gutbetuchte Gäste gebaut. Nur wenige Zimmer, aber dafür mit einem großzügigen Spa-Bereich und einer ausgezeichneten Küche. Um die Buchungen anzukurbeln, soll die Presse natürlich einen Artikel über die Vorzüge des Hotels verfassen. Sind Sie bereit für diesen Trip?“
„Wann geht es los?“, fragte Linn.
„In zwei Tagen.“
„Wunderbar, ich bin dabei.“
Der Rumpf der Fähre erbebte, als sich die Motoren in Gang setzten. Linn stand am Heck und schaute auf das aufgewühlte Wasser hinunter, dass die Schiffsschrauben hinterließen. Hennig war von ihrer dreitägigen Reise wenig begeistert gewesen, er ging nicht mehr ganz so locker mit den Risiken ihres Jobs um.
Inzwischen war sie bei ihm eingezogen und das Zusammenleben klappte reibungslos. Eigentlich hatte sie sich etwas Eigenes suchen wollen, aber schlussendlich Hennings Drängen nachgegeben.
Der stürmische Wind zerzauste ihr Haar und die feinen Tröpfchen der weißen Gischt legten sich auf ihr Gesicht. Über Nacht hatte es geschneit und die Landschaft in eine märchenhafte Glitzerwelt verwandelt. Der Winter im Norden war um eine Spur härter als in Malmö, aber in Hennings Wohnzimmer gab es einen großen Kamin.
Das Stampfen der Maschinen wurde langsamer und die Fähre legte im Hafen von Norderö an. Linn setzte sich wieder in ihren Wagen und fuhr an Land. Das Navigationsgerät lotste sie zum Hotel, das versteckt zwischen den Bäumen in Wassernähe lag. Das alte Gehöft hatte wenig von seinem ehemaligen Charme eingebüßt. Hier und da waren das Holz der Fassade und sämtliche Fenster erneuert worden, aber im Großen und Ganzen wirkte es urig und sehr gemütlich.
Das ansprechende Äußere des Hauses setzte sich auch im Inneren fort. An der Rezeption bekam sie von einer jungen Frau die Schlüsselkarte ausgehändigt.
„Herr Stolt, mein Chef, hat Ihnen ein hübsches Zimmer in der oberen Etage reserviert. Ich hoffe, Sie fühlen sich in unserem Hause wohl. Das Gepäck wird Ihnen gleich aufs Zimmer gebracht.“
„Vielen Dank“, sagte Linn und wandte sich ab, um nach oben zu gehen.
Der Flur wurde von modernen Lampen mit dezentem Licht ausgeleuchtet und ein weicher Teppich dämpfte ihre Schritte. Linn hielt die Schlüsselkarte an das Schloss, das sich mit einem leisen Klicken öffnete. Neugierig stieß sie die Tür auf.
„Wow!“, entfuhr es ihr.
Die Ausstattung war wirklich vom Feinsten. Tapeten, Vorhänge und Mobiliar waren farblich passend aufeinander abgestimmt. Ein großer Bildschirm hing gegenüber vom Bett und die Minibar war gut bestückt. Schon auf den ersten Blick wurde klar, dass sie sich von ihrem Gehalt als Journalistin nie einen Urlaub hier hätte leisten können.
Mit ausgestreckten Armen ließ sie sich rückwärts auf das King-Size-Doppelbett fallen, das sanft federnd nachgab. Darauf würde sie wie eine Königin schlafen. Schade, dass Henning noch in Göteborg auf einer Messe festsaß, sie hätte die Tage liebend gern mit ihm verbracht.
Nachdem sie sich einen kleinen Drink genehmigt hatte, räumte sie ihre Kleidungsstücke in den Schrank und verteilte die Kosmetikartikel in dem perfekt ausgestatteten Badezimmer. Was für ein Luxus.
Erst jetzt gönnte sie sich einen Blick aus dem breiten Panoramafenster, das die gesamte Stirnseite einnahm. Der Ausblick auf den See war atemberaubend, klares Wasser, in dem sich der Himmel spiegelte. Dahinter erhoben sich majestätisch die schneebedeckten Berge und Linn konnte tatsächlich bis nach Andersön schauen. Sie nahm sich fest vor, ein paar ausgedehnte Spaziergänge zu machen, um das Feeling dieser wunderschönen Insel einzufangen. Mit einer authentischen Beschreibung der näheren Umgebung würde sie beim Leser und sicher auch bei ihrem Auftraggeber punkten.
Für den heutigen Abend war ein Dinner zur Eröffnung des Hotels vorgesehen und sie hängte das Abendkleid, das Henning ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, auf einen Bügel. Hoffentlich war sie in diesem edlen Zwirn nicht overdressed.
Ludvig Stolt, der Hotelier, hatte sie zum Mittagsbrunch eingeladen, um mit ihr über den Artikel zu sprechen. Er war sehr engagiert und überließ nichts dem Zufall. Besonders die Vorzüge des Spa-Bereiches sollte Linn hervorheben, während sie ihr Augenmerk lieber auf die idyllische Landschaft der Insel gerichtet hätte. Vielleicht konnte man ja einen Kompromiss finden, der beide Seiten zufriedenstellte.
Sie hängte sich die Tasche über ihre Schulter, griff nach dem Diktiergerät und verließ das Zimmer, damit sie sich einen ersten Überblick verschaffen konnte. Das zweite Gebäude war noch nicht ganz fertiggestellt, in der ehemaligen Scheune sollte ein kleiner Poolbereich entstehen. Außerdem fehlte noch die gläserne Überdachung, damit die Gäste trockenen Fußes dieses Gebäude erreichen konnten.
Zuerst begutachtete Linn den Speisesaal im Erdgeschoss, der seinen Namen eigentlich nicht verdiente. Die rustikalen Holzbalkendecken hingen niedrig und engten den Raum ein. Er wirkte dadurch weniger großzügig, aber sehr gemütlich. Tische und Stühle waren auch hier mit geübtem Auge ausgewählt worden, Altes traf auf Modernes. Ein gekonnter Stilmix, wie sie fand.
„Hej, auch neugierig unterwegs?“, erklang eine Stimme hinter ihr.
Überrascht drehte sie sich um. „Ja. Mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Hendrik Friis, ich bin der Fotograf, den Stolt engagiert hat.“
„Angenehm. Linnea Bergström, Journalistin.“ Sie reichte ihm die Hand.
„Ich weiß.“
„Woher?“
„Das Diktiergerät in Ihrer Hand.“ Er lächelte.
„Sie haben einen wirklich guten Blick.“
„Für einen Fotografen ein absolutes Muss. Ich werde meine Aufmerksamkeit mal wieder den Außenaufnahmen widmen, solange es noch so ruhig ist. Wir sehen uns sicher beim Dinner.“
„Mit Sicherheit.“
Linn sah ihm hinterher. Hendrik Friis war ein sympathischer Mann Mitte vierzig, der als typischer Einzelgänger galt, sie kannte einige seiner Arbeiten. Er war ein Künstler seines Faches und hatte die Begabung, den perfekten Moment mit seiner Kamera festzuhalten.
Sie widmete ihre Aufmerksamkeit wieder der Inneneinrichtung, schoss einige Fotos, um anschließend alles haargenau beschreiben zu können. Im Keller des Hauses befand sich der Spa-Bereich und sie stieg die Treppe hinunter.
Die teils fensterlosen Räume wurden durch die gekonnte Anordnung der Lampen perfekt ausgeleuchtet. Auch hier machte sich Linn unzählige Fotos und Notizen, um den Hotelbesitzer zufriedenzustellen. Die Ausstattung konnte man durchaus als nobel bezeichnen, aber sie war nicht unbedingt außergewöhnlich. Whirlpool, Massageraum, Sauna mit einem kleinen Becken nebenan und ein Fitnessraum, an dessen Stirnseite eine riesige Leinwand hing. Es war heutzutage nicht unüblich, während der sportlichen Aktivitäten Filme zu schauen.
Linn drehte sich um und ging wieder nach oben. Es zog sie förmlich nach draußen und sie warf sich im Hotelzimmer ihren Mantel hastig über. Die frostige Winterluft schlug ihr entgegen, als sie die zweiflüglige Eingangstür öffnete und nach draußen trat. Sie spazierte gemächlich am See entlang und genoss das Alleinsein. Die dunkle, ja fast schwarze Wasseroberfläche lag wie ein Spiegel vor ihr, nur die Wellen plätscherten rhythmisch gegen das Ufer. Im Sommer war der Storsjön an einigen Stellen türkisfarben, aber jetzt wirkte er durchweg bedrohlich, was sicher an der Jahreszeit liegen mochte.
Linn saugte die Eindrücke in sich auf wie ein Schwamm und sprach in das Diktiergerät. Vor einem kleinen Wäldchen stoppte sie ihre Schritte und kehrte um. Ludvig Stolt wäre sicher nicht erfreut, wenn sie zu spät kommen würde.
Für den Mittagsbrunch hatte sich Linn umgezogen. Zu ihrer Rechten saß der Fotograf und der Hotelier zu ihrer Linken.
„Und, wie finden Sie’s?“, fragte Stolt mit glänzenden Augen.
„Die Lage ist fantastisch und die Architektin hat ein Kleinod aus dem ehemaligen Hof erschaffen.“
„Ja, das finde ich auch. Eigentlich sollte uns Sina Andersson Gesellschaft leisten, keine Ahnung, wo sie gerade steckt.“
„Haben Sie noch weitere Umbaumaßnahmen geplant?“, hakte Linn nach.
„Und ob“, erwiderte Stolt. „Auf Verkön steht noch ein Sommerhaus, welches ich von der Familie Sjöblad übernommen habe.“
„Das wusste ich gar nicht“, erwiderte Linn.
„Während des Winters stoppen die Bauarbeiten, aber im Frühjahr soll dort ein Picknickplatz entstehen. Es wird einen Grillplatz geben, zwei größere Terrassen für Tanzabende und vieles mehr. Die Gäste sollen sich auf keinen Fall langweilen.“
„Werden wir dieses Grundstück auch zu sehen bekommen?“, fragte Friis.
„Selbstverständlich, allerdings nicht heute.“
Die junge gutaussehende Rezeptionistin näherte sich dem Tisch.
„Theodor Syversson ist gerade eingetroffen, falls Sie ihn begrüßen möchten“, sagte sie.
„Danke Ane, ich komme sofort.“ Stolt tupfte sich mit der Serviette die Mundwinkel ab. „Entschuldigen Sie bitte, aber ich will es mir nicht nehmen lassen, unseren hohen Gast persönlich zu empfangen. Wir sehen uns beim Dinner.“ Er stand auf und entfernte sich mit schnellen Schritten.
„Wer ist denn dieser Syversson?“ Friis sah sie fragend an.
„Ein hochrangiger Abgeordneter aus dem Stockholmer Parlament.“
„Ach so, mit Politik habe ich nicht viel am Hut. Was will der eigentlich hier?“
„Er ist auf dieser Insel geboren worden und wahrscheinlich gehört es zum guten Ton, sich ab und zu beim Volk blicken zu lassen“, erklärte sie lachend.
„Ehrlich gesagt bin ich froh, wenn ich wieder fahren kann. Mich zieht es raus in die Wildnis und ich habe diesen Job nur wegen des großzügigen Honorars angenommen.“
„Tja, Ihr guter Ruf eilt Ihnen voraus.“
„Alles eine Frage der Einstellung, solange man liebt, was man tut.“
„Auch wieder wahr. Ich werde mich mal auf mein Zimmer zurückziehen, um meine Notizen zu ordnen“, sagte Linn und erhob sich. „Bis später.“
Im Flur klappten Türen auf und zu und Linn fiel es schwer, sich bei diesem Geräuschpegel auf den Artikel zu konzentrieren. Der Abgeordnete war ohne seine Frau, aber dafür mit seinem Enkelsohn angereist. Der junge Mann wollte in die Fußstapfen seines Großvaters treten und engagierte sich politisch auf lokaler Ebene. Die zwei hatten die Zimmer am Ende des Flures bezogen und gerade wurde ihnen das Gepäck ausgehändigt. Vielleicht konnte sie dem älteren Herrn ja ein Interview für die Zeitung abringen.
Sie klappte ihren Laptop zu und verschwand im Badezimmer, um sich für den Abend herzurichten. Nach einem ausgiebigen Wannenbad stand sie vor dem Spiegel und legte ihr Make-up auf. Erneut bedauerte sie, dass Henning nicht an ihrer Seite war, denn das Kleid stand ihr ausgesprochen gut.
Sie verstaute Diktiergerät und Smartphone in der Clutch und schwebte förmlich nach unten. Im Speisesaal hatte sich bereits eine illustre Gesellschaft eingefunden. Theodor Syversson war der heimliche Star des Abends und wurde von den Gästen umschwärmt wie die Motten das Licht.
Linn beschloss, sich erst eine Kleinigkeit von Büfett zu gönnen. Vor ihr stand ein Mann Anfang dreißig und sie erkannte an seinem Profil sofort, dass es sich um Syverssons Enkelsohn handeln musste. Genau wie sein Großvater hatte er eine charismatische Ausstrahlung. Einige Menschen waren prädestiniert dafür, in der Öffentlichkeit zu stehen.
Sie setzte sich etwas abseits an einen Tisch und suchte in der Menge vergebens nach Friis. Stolt flog wie ein Schmetterling von einem zum anderen und führte sich wie ein gönnerhafter Gastgeber auf, bis ein Angestellter an ihn herantrat, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Stolt verließ mit dem jungen Mann den Saal und sein ernster Blick sprach Bände.
Linn stand auf und folgte beiden unauffällig. Stolt verschwand mit dem Angestellten in seinem Büro, hatte die Tür aber offen gelassen. So konnte sie ungehindert das Gespräch belauschen.
„Wir haben Sina gefunden. Ihre Leiche ist im See getrieben.“
„Oh mein Gott.“ Stolt erblasste. „Wie ist sie überhaupt auf die Insel gekommen?“
„Sie muss am Morgen die Bootsschlüssel an sich genommen haben.“
„Aber warum ist das niemandem aufgefallen?“, fragte Stolt.
„Das wissen Sie doch genau, wir sind alle im Stress. Was sollen wir machen?“, raunte der Hotelangestellte. „Die Veranstaltung abbrechen?“
„Auf gar keinen Fall“, widersprach Stolt heftig. „Ich kann negative Publicity nicht gebrauchen.“
„Was schlagen Sie vor? Soll ich die Polizei verständigen?“
Stolt schloss für einen Moment gequält die Augen. „Ich werde mich darum kümmern.“
Linn bog schnell um die Ecke, damit sie nicht bemerkt wurde, und riskierte von dort einen Blick.
Stolt kam allein aus seinem Büro. Anstatt zum Telefon zu greifen, gesellte er sich wieder zu seinen Gästen, so als wäre nichts geschehen. Sie beschloss, sich auf die Suche nach dem Angestellten zu machen, um ihn zu befragen. Auf dem Weg durch den Flur wurde sie mit einem festen Griff am Oberarm gepackt und in eine Nische gezogen.
„Friis, was machen Sie da?“, fauchte sie empört.
„Das wollte ich Sie auch gerade fragen.“
„Ich bin im Moment völlig durcheinander“, gestand sie ihm.
„Sie wissen demnach über Sina Andersson Bescheid?“
Sie nickte stumm.
„Wo ist Stolt?“
„Wieder bei seinen Gästen“, antwortete sie.
„Ist der Kerl jetzt völlig übergeschnappt? Er muss doch jemanden verständigen, Polizei, Rettungsdienst, was weiß ich …“
„Das hat mich auch gewundert“, gestand sie Friis.
„Wissen Sie was? Wir schnappen uns ein Boot und fahren rüber, um die Lage zu checken?“
„Jetzt?“ Linn zog fragend die Brauen hoch.
„Ja sicher. Wann sonst?“
„Ich weiß nicht so recht“, erwiderte sie skeptisch.
„Hallo? Sie sind doch Journalistin“, drängte Friis. „Sie wären die Erste vor Ort und könnten exklusiv darüber berichten. Ich steuere natürlich die Fotos bei.“
„Das fühlt sich wie Leichenschändung an.“
„Wollen Sie nun Ihren Job machen, ja oder nein?“
„Sie haben gewonnen, ich ziehe mich um.“
Linn stieg aus dem Wagen und folgte Friis zur Anlegestelle. Es war komplett verrückt, was sie hier taten, und sie ärgerte sich, dass sie zugesagt hatte.
„Wie sind Sie so schnell an ein Boot gekommen?“, fragte sie.
„Ich habe mir an der Rezeption den Schlüssel aushändigen lassen. Stolt scheint immer noch keinen Rettungsdienst oder die Polizei verständigt zu haben.“
„Dann müssen wir das übernehmen. Ich habe sowieso kein gutes Gefühl bei dieser Sache.“ Sie runzelte die Stirn.
„Kann das nicht warten, bis wir am anderen Ufer sind.“
„Tut mir leid, aber auf Ihre Sonderwünsche werde ich keine Rücksicht nehmen. Es wäre trotzdem nett, wenn Sie diesen Anruf tätigen könnten. Ich bin bei der Östersunder Polizei nicht gerade beliebt.“
„Ist das Ihr letztes Wort?“
Sie nickte.
„Okay, ich beuge mich Ihrem Willen“, lenkte Friis ein.
Er zog sein Smartphone aus der Hosentasche und wählte den Notruf.
Linn verfolgte das Gespräch mit Interesse, das gerade in eine völlig andere Richtung driftete. Am Ende musste sich Friis rechtfertigen, warum er vom Ableben der verunglückten Architektin überhaupt wusste.
„Na, vielen Dank auch“, brummte Friis anschließend verstimmt und löste die Taue. „Wahrscheinlich stehe ich jetzt ganz oben auf der Liste der Verdächtigen, weil ich Sina Andersson angeblich ins Wasser geschubst habe.“
„Schon mal etwas von unterlassener Hilfeleistung gehört?“
„Jetzt kommen Sie schon, steigen Sie ein“, drängte Friis und reichte ihr die Hand.
Das Boot schwankte, als sie einstieg, und ihre Angst verstärkte sich.
„Haben Sie überhaupt einen Bootsführerschein?“, hakte sie verunsichert nach.
„Nein, aber Sie kennen doch sicher meine legendäre Alaska-Fotoserie?“
„Ja, natürlich.“
„Ich war tagelang mit dem Kanu unterwegs. Reicht das fürs Erste?“
„Ist ja schon gut“, beschwichtigte sie.
Friis startete den Motor und das Boot setzte sich ruckartig in Bewegung. Linn verkrampfte sich und klammerte sich mit den Händen an der Sitzbank fest. Es war stockdunkel und der eisige Fahrtwind fegte ihnen um die Ohren. Ihr schicker Stadtmantel war für die Überfahrt absolut unpassend und wärmte kaum. Schon nach wenigen Minuten war sie komplett durchgefroren. Dann entdeckte sie auf der linken Seite Land und atmete erleichtert auf. Doch Friis dachte nicht daran, das Tempo zu drosseln.
„Warum fahren Sie am Ufer vorbei?“
„Weil es sich um eine der zwei unbewohnten Inseln handelt“, antwortete er.
Linn hatte in der stockfinsteren Nacht völlig die Orientierung verloren. Ringsum von den dunklen Fluten umgeben, verblassten die Lichter von Norderö. Am liebsten hätte sie Friis zur Umkehr gezwungen.
„Es ist nicht mehr weit“, sagte er, als hätte er ihre Gedanken erraten.
„Hoffentlich. Ich friere wie ein junger Hund.“
Die Überfahrt schien ewig zu dauern, bis Linn einen hellen Schimmer vor sich sah.
„Sind wir endlich da?“, fragte sie hoffnungsvoll.
„Ja, das sind die Lichter von Schloss Verkön“, bestätigte Friis.
Mit routinierten Handgriffen legte er an und half Linn auf den Bootssteg.
„Und nun?“
„Wir gehen zum Schloss. Die Leute können uns mit Sicherheit mehr sagen.“
Nach einer relativ kurzen Wegstrecke sahen sie eine kleine Menschentraube, die sich direkt vor dem Eingang versammelt hatte. Der Tod von Sina Andersson musste demnach schon die Runde gemacht haben. Während sich Friis zu den Anwesenden gesellte, stieß Linn die Tür auf, um sich aufzuwärmen. Frierend zog sie die Handschuhe aus, rieb ihre eiskalten Finger aneinander und sah sich neugierig um.
Das Schloss glich eher einer großen Villa, war aber stilvoll eingerichtet. Zu dieser Jahreszeit waren kaum Gäste anwesend und die Lobby war wie leergefegt.
Linn wollte gerade ihren Mantel aufknöpfen, als Friis hereinstürmte.
„Ich weiß, wo wir Sina Andersson finden, die Angestellten wissen bereits Bescheid. Wir müssen ans andere Ufer.“
„Also einmal quer über die Insel?“
„Aus Ihrem Mund klingt das immer nach endlosen Strapazen.“
„Das empfinde ich auch so“, erwiderte sie. „Und wenn ich ehrlich bin, ist mein Bedarf an Toten mehr als gedeckt. Machen Sie Ihre Fotos, ich höre mich lieber unter den Gästen um.“
„Sie sind ein Feigling“, schnaubte Friis. „Gerade von Ihnen hätte ich mehr Biss erwartet.“
Linn zögerte einen Augenblick, bevor sie einwilligte. „In Gottes Namen, ich werde mitkommen“, seufzte sie. Eisige Luft schlug ihr entgegen, als sie mit Friis nach draußen trat. „Wo müssen wir hin?“
„Immer der Nase lang.“
Er schaltete eine Taschenlampe an und leuchtete den Weg aus.
„Wo haben Sie die denn aufgetrieben?“, fragte sie.
„Sie haben doch selbst gesagt, dass mir mein guter Ruf vorauseilt“, erwiderte er und zog das Tempo an, sodass Linn Mühe hatte, ihm zu folgen.
Hinter dem Hotel verlor sich der Weg und Friis stapfte einfach querfeldein. Sie umrundeten ein Waldstück, durch dessen hohe Bäume wispernd der Wind fuhr. Das gesamte Areal wirkte unheimlich. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass die Architektin am anderen Ufer tot geborgen worden war.
Plötzlich hörte sie ein leises Geräusch, das der Wind in ihre Richtung trieb. Sie blieb stehen und zupfte Friis am Ärmel.
„Hören Sie das auch?“
„Was denn?“
„Es klingt wie das Weinen eines Kindes“, sagte sie und erschauderte.
„Ach das.“ Er winkte ab. „Dieses Geräusch kommt vom Wind, kein Grund zur Sorge.“
„Aber es klingt so …“
„… menschlich?“, unterbrach er sie.
„Genau.“
„Ich könnte Ihnen da ein paar furchterregende Dinge erzählen. Zum Beispiel der Appalachen-Trail in Amerika, den ich mit einem Kollegen …“
„Ist ja schon gut, ich glaube Ihnen. Sie müssen mir nicht noch mehr Angst einjagen.“
„Das hatte ich auch nicht vor. Es ging lediglich darum, Ihnen ein paar dieser Phänomene zu schildern. Eines Nachts habe ich durch die Zeltwand eine hochgewachsene Gestalt bemerkt, die sich an unserer Ausrüstung zu schaffen gemacht hat. Ich zurre also den Reißverschluss auf und stürme nach draußen, aber die Gestalt hatte sich direkt vor meinen Augen in Luft aufgelöst …“
„Schluss jetzt“, fuhr sie ihn an, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Ich will nichts mehr von diesen Schauergeschichten hören.“
„Okay, ich habe verstanden.“ Er klang beleidigt.
Stumm stapften sie nebeneinander her. Das Säuseln des Windes verstummte, was Linn mit Erleichterung zur Kenntnis nahm. Es war auch so schon beklemmend genug, sich einen Weg durch diese Wildnis zu bahnen.
„Wir sind gleich da“, schnaufte Friis und deutete nach vorn.
Sie durchquerten einen Bereich mit hohen Kiefern und kurz darauf hatten sie freie Sicht. Zwei Männer standen am Ufer und das Licht ihrer Taschenlampen erhellte das grausige Szenario.