
Mein Motorradtrip zum Surfertraum

1. Auflage 2022
© 2022 by hansanord Verlag
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ISBN Print 978-3-947145-58-4
ISBN E-Book 978-3-947145-59-1
Dieses Werk wurde vermittelt von der Scripta Literaturagentur München.
Cover: Marc-Torben Fischer
Coverfoto: Ulrich Stanciu / Archiv A+E Pauli | ae-pixx.com
Satz: Christiane Schuster | www.kapazunder.de
Lektorat: Monika Hofko
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hansanord Verlag

Für meine geliebte Frau Elisabeth,
die oft geduldig durch den Kamerasucher nach mir Ausschau hielt,
während ich draußen auf dem Wasser war,
und die mir bei der Arbeit an diesem Buch genauso geduldig
den Rücken freihielt.
Im Oktober waren bei den beiden Surf-Freunden die Wunden an Ellbogen und Knie verheilt. Und irgendwie mussten die versäumten Wasserspiele nachgeholt, das Gefühl, auf dem Brett zu stehen, noch einmal ausgekostet werden, auch wenn das Wasser der Alz mit vierzehn Grad gar nicht mehr sommerlich warm war. Ein letztes Mal in diesem Jahr. Saisonschluss. Danach erst einmal Skifahren, Skifahren und wieder Skifahren. Aber die Ideen reichten schon weiter, für die nächsten Sommer.
BRSA – Bavarian River Surfing Association!
Die aus Jux geborene und per Ansichtskarte nach Hause geschriebene
Idee war nicht mehr aus dem Kopf zu bekommen. Wenn man den Surfsport
in Bayern ein bisschen bekannter machen könnte und mit ihm die
Variante des Riversurfens? Mehr Anhänger für den Sport gewinnen, einen
Surfclub gründen, mehr Stellen in den Flüssen finden, wodurch weitere
Sufclubs entstünden ... Und alle zusammen unter einer Dachorganisation,
der Bavarian River Surfing Association?
Berichte von der Reise nach Biarritz wurden an verschiedene Zeitungsredaktionen
verschickt – ohne Resonanz. Oder haben sie vielleicht doch
etwas angestoßen?
Denn allmählich schien auch im meerfernen Binnenland das Interesse
am Surfen zu erwachen, wenn auch nicht selten mit einem leicht ironischen
Unterton, wenn manche Journalisten vom »Sport auf dem Bügelbrett
« schrieben, oder wenn man in dem einen oder anderen Lexikon noch
immer recht antiquierte Beschreibungen lesen konnte wie beispielsweise
im »Neuen Lexikon« aus dem Züricher Stauffacher Verlag:
Wellenreiten: ein Wassersport auf Hawaii, ähnlich dem
Wasserski;
als »Pferd« dient ein kleiner Einbaum.
Und ebenda:
Wasserjöring: Wassersport auf einem Brett mit Hantel
1968 bringt das Magazin »Twen« einen Artikel über das Wellenreiten. Arthur erfährt, dass es auf Sylt einen Surfclub geben soll. Natürlich wird Sylt dann das Sommerreiseziel 1968. Doch Arthur kann unter der Adresse in Westerland niemanden erreichen, und sowohl in der windgepeitschten Brandung unter dem roten Kliff als auch in den kleinen Wellen am Lister Weststrand ist er mit seinem weißen Longboard weit und breit der einzige Surfer.
In regem Erfahrungsstausch per Briefkorrespondenz mit einem Surfboard-Bauer bei Los Angeles entstehen in Trostberg weitere Surfbretter, im Mai 1969 verkündet die Illustrierte »Stern«: »Surfing kommt nach Europa«, im August 1969 reitet Arthur zum ersten Mal eine Stromschnellenwelle in der Alz. In »Weltbild« erscheint der Artikel »SURFING, weltweites Hobby«, und im Oktober desselben Jahres kann man in der Zeitschrift »M« ebenfalls etwas über den Surfsport lesen.
Sooft es geht, wird ans Meer gefahren, jedoch nicht mehr mit dem Motorrad.
Zu ungewiss ist es, ob am Ziel überhaupt ein Brett zur Verfügung
stehen würde.
Mit der Entdeckung von zwei stationären Wellen im Münchener Ländkanal
1971 tut sich eine interessante und leichter erreichbare Alternative
zum Reiten auf Meereswellen auf.
Damit kommt das Riversurfen aus der Verborgenheit abgelegener, unbekannter
Flussabschnitte in die Großstadt und vor Zuschauer.
Das bayerische Riversurfen wird bekannt, ja nach der Entdeckung der
Eisbachwelle im Lauf der folgenden Jahrzehnte sogar weltberühmt. Und
seitdem ist München auch, wie Biarritz, ein Surf-Mekka, aber ein spezielles,
nämlich das Mekka der Riversurfer.

























































Das ist das Angenehme auf Reisen,
dass auch das Gewöhnliche durch Neuheit und Überraschung
das Ansehen eines Abenteuers gewinnt.
Johann Wolfgang von Goethe
Im südöstlichen Oberbayern liegt ein sechzehnjähriger Gymnasiast auf
von der Augustsonne aufgeheizten Betonplatten am Ufer der reißenden
Alz und blinzelt in die glitzernden Wellen.
Nicht weit davon ist er zu Hause. Nicht einmal hundert Meter hinter
dem Garten seines Elternhauses könnte er in den dunkelgrün vorbeiströmenden
Fluss eintauchen, aber er liebt besonders diese Stelle etwas weiter
flussaufwärts. Hier verbringt er meist die heißen Sommernachmittage
nach der Schule und nach unaufschiebbaren Hausaufgaben.
Der Fluss bringt das sommerwarme Chiemseewasser über die Wasserfälle
von Altenmarkt herunter, holt sich an der Einmündung der gebirgsbachkalten
Traun eine erfrischende Verstärkung und rauscht und gurgelt
in wilden Wirbeln und Wellen an seinem Badeplatz vorbei hinunter zum
Stauwehr von Trostberg.
Er könnte jetzt hier hineinspringen und sich hinuntertragen lassen bis
hinter den Garten seines Elternhauses. Er könnte sich bis zu den Altenmarkter
Wasserfällen hinaufbegeben und von dort herunter »flusswandern
«, zwei Kilometer weit, mit einem kurzen Kälteschock am Zufluss der
Traun, weiter vorsichtig im Flachschwumm über reißende Untiefen, dann
um die Kurve an der Eisenbahnlinie schwimmen, in der sich das Wasser
über dunkelgrünen Tiefen in respekteinflößenden Wirbeln umwälzt ...
Aber dann zu Fuß wieder zurück zum Liegeplatz? Bei dieser Hitze?
Nein. Besser müsste man auf der Stelle schwimmen können, einfach genau
hier hängen bleiben in diesen Wellen, sich von dem erfrischenden Nass
mit den gurgelnden Luftbläschen umströmen lassen wie in einem Whirlpool.
Und wenn es genug ist, wenn man genug abgekühlt ist, einfach wieder
zurück zur Strohmatte auf dem heißen Uferbeton, zurück zum Transistorradio,
aus dem die aktuellen Hits gegen das Rauschen des Flusses
ankämpfen.
Hängen bleiben ...
In seinem Kopf formen sich Bilder aus der Vergangenheit. In der er als
Neun- oder Zehnjähriger einen Teil der Sommerferien bei den Großeltern
am Nordende der Stadt verbringen durfte.
Ja! Das ist es! Ein Seil hier zwischen den großen Felsbrocken am Ufer befestigen,
ein Brett daran, und los geht’s.
Bald, schon am nächsten Tag, ist ein scheinbar geeignetes Brett gefunden.
In einer Ecke der Garage stand noch die Platte des alten Campingtisches.
Der hatte früher noch gute Dienste geleistet, zu Zeiten als
die Familie mit dem Volkswagen Käfer zum Campingurlaub an die Adria
gefahren war. Sie ist kreisrund, etwas größer als der Reservereifen, und
hatte darübergepackt mit den drei Tischfüßen und dem anderen Reisegepäck
perfekt unter die Fronthaube des VW gepasst. Jetzt, wo die Familie
keine Campingurlaube mehr macht, wird er sicher nicht mehr gebraucht.
Aber vielleicht findet er bald eine neue Verwendung: als Schleppbrett in
der reißenden Alz.
Mit der Bohrmaschine werden vier Löcher gebohrt, nahe am Rand, der
damit zur flussaufwärts liegenden Brettkante wird. Zwei Löcher für den
kurzen Strick nach oben, der als Zügel dient, zwei für das kurze Dreieck an
der Unterseite für das lange Seil, das dann an einem geeigneten Felsen festgemacht
wird ...
Nach ein paar Tagen schweißtreibendem Transport von Brett und Seil
zur Lieblingsstelle am Fluss und nach zahlreichen Versuchen steht jedoch
fest: Es geht nicht.
Das Spanplattenmaterial wird im Wasser rasch weich. Auch wenn er
immer neue Löcher bohrt, sie reißen jedes Mal wieder aus. Am Ende ähnelt die runde Platte eher einem Zahnrad als einem Campingtisch, und
ihm ist klar: Ein neues Brett muß her, aus stabilerem Material.
Das kleine Transistorradio spielt die aktuellen Hits. Radio Free Europe
sendet sie fast ohne Pause, nur kurz unterbrochen zur vollen Stunde von
Nachrichten in tschechischer Sprache.
»Baby Love« von den Supremes, »Twist and Shout«, A Hard Day’s Night«
von den Beatles, »Ragdoll« von den Four Seasons, »I Get Around« von den
Beach Boys, »Skinny Minnie«, »My Boy Lollipop«, »Surf City« von Jan&Dean,
»Fun, Fun, Fun« und »Surfin’ USA« von den Beach Boys ...Diese Beach
Boys mit ihren warmen West-Coast-Harmonien! Wie gut passen sie doch
zur Sommersonne am Ufer der Alz. Und Surfing? Ist das etwa Wellenreiten?
Zu dieser Zeit weiß man hierzulande wenig über diesen Sport aus dem
Pazifik.
Durchsucht man die Lexika, findet man unter »Surfing« keinen Eintrag
und unter »Wellenreiten« ganz unterschiedliche Definitionen.
Das DBG LEXIKON von 1960 schreibt zum Beispiel:
Wellenreiten: Zweig des Wassersports, wird stehend auf einem
langen Brett ausgeübt, das von einem Motorboot geschleppt
wird.
In Großvaters Meyers Lexikon von 1930 ist nachzulesen:
Wellenreiten (englisch Surf-Riding): Wassersport der Polynesier;
auf einem Brett stehend, sitzend oder kniend lassen sich
die Insulaner mit der Brandungswelle an den Strand tragen;
um 1920 von Nordamerika nach Deutschland eingeführt,
wozu man ein Holzgestell (englisch Planking) benutzt, das
ein (Motor-)Boot über das Wasser zieht.
Er kauft sich eine Langspielplatte der Beach Boys: »Surfin’ U.S.A.«. Auf
der Plattenhülle fährt ein Wellenreiter auf einer riesigen Hawaii-Welle.
Er ist fasziniert und begeistert. Das ist es! Das neue Brett soll die Form
eines solchen Surfbretts erhalten. Es soll den Spirit von Hawaii und Kalifornien
an die Alz holen ...
Aber er hat keinen Schimmer wie ein solches Brett genau aussieht.
Im Mai des Folgejahres, 1965, zeichnet er einen Plan. Es muss leicht
sein. Sperrholz ist leicht. Sieben Spanten und zwei runde Endstücke aus
acht Millimeter Sperrholz, darüber vier Millimeter Beplankung. Stabil
muss es sein und wasserfest. Eine Firma bei Hamburg kann Polyesterharz
für den Bootsbau liefern. Auf eine Anfrage hin erhält er Informationen
über Material und erforderliche Mengen.
Schon früher hatte er kleine Modellboote gebaut. Aus Sperrholz, Furnier
und Bootslack. Aber dieses Vorhaben jetzt ist eine ganze Nummer
größer und mit einem neuen Werkstoff: Polyesterharz. Er ist dennoch zuversichtlich,
dass das Experiment gelingt.
Anfang August ist das Brett fertig.
Für den ersten Test im Fluss hat er sich einen Baum ausgesucht, der
vom Ufer weit über die Strömung hinausragt. Daran will er das Zugseil
befestigen. Es soll das Brett an zwei Metallhaken ziehen, die vorne seitlich
am Rand angebracht sind.
Aber irgendwie funktioniert es nicht. Das Seil ist zu hoch oben angebunden.
Dadurch steht das Brett zu steil im Wasser. Ist das Brett vielleicht
zu lang? Zu schmal? Das Brett damals vor Jahren im Kanal hinter der
Brücke war breiter als lang. Und das Seil war nur knapp über der Strömung
befestigt.
Also abbauen und es flussaufwärts knapp über dem Wasser am Felsen
anbinden? Oder erst einmal das Zugseil selbst in die Hand nehmen und
das Brett frei unter die Füße nehmen, ähnlich wie beim Wasserskifahren?
Gedacht, getan. Und es funktionert. Die Strömung des Flusses trägt.
Nach einigen Versuchen, in denen Balance und Standsicherheit wachsen,
gelingen bereits Richtungsänderungen durch Drehen und Schrägstellen
des Bretts.
In einem Brief berichtet er der Cousine in Kalifornien von seiner Neuigkeit.
Und da er noch immer nicht genau weiß, wie ein Surfbrett gebaut
ist, und welche Abmessungen richtige Surfbretter haben, schickt sie ihm
bald einige Surfer-Magazine.
Darin sind viele Fotos von Wellen wie auf dem Beach-Boys-Plattenalbum
und eine Fülle von Werbeanzeigen für Surfbretter.
Er ist begeistert und endgültig angesteckt vom Surf-Bazillus.
Im Frühjahr 1966 steckt eine neue Ausgabe des Surfer-Magazins im
Briefkasten. Darin eine Kurzgeschichte über einen fiktiven Rudi, der auf
einem Fensterladen die Flutwelle eines Bergsees in Bayern reitet, und
daneben eine gar nicht fiktive sondern topaktuelle Reportage über das
französische Surf-Mekka Biarritz. Ein Zufall? Ein Wink des Schicksals
und eine überraschende Entdeckung: Wellenreiten ist ein Sport, der
nicht nur im Pazifik, in Hawaii und Kalifornien, sondern auch an der
französischen Atlantikküste betrieben wird, im äußersten Winkel der
Biskaya: in Biarritz.
Anhand der Bilder kann er nun abschätzen, wie groß ein Brett für echte
Brandungswellen zu sein hat. Er findet heraus, dass die Bretter aus leichtem
Hartschaum bestehen, dass sie, wie sein erstes Brett, mit einer Haut
aus Glasfaser und Polyesterharz überzogen sind und hinten an der Unterseite
eine Flosse besitzen, die ähnlich wie die Heckflosse eines Flugzeuges
die Fahrtrichtung stabilisieren soll. Aus Holz wird eine Negativform für
das neue, lange Brett gebaut. Von der Firma bei Hamburg werden die
Chemikalien für den Schaum bestellt, die man miteinander vermischen
und in die Negativform gießen muss. Es ist sein erster Versuch mit diesem
Material. Das Ergebnis ist passabel, nicht schlecht für das erste Mal, und
bald hat er den Schaumkern mit Harz und Glasgewebe überzogen, weiß
lackiert und unter dem Heck eine Flosse aus Aluminium eingesetzt.
Mit dem gelungenen Bau scheint die Begeisterung auf alle Familienmitglieder
übergesprungen sein. Bei der Planung des Sommerreisezieles ist
sich die Familie ausnahmsweise schnell einig: Das neue Brett muss in echter
Brandung getestet werden. Aber der Atlantik ist weit. Es muss doch
auch anderswo geeignete Meereswellen geben. Ziel ist schließlich die Adriaküste
bei Venedig.
An den ersten Tagen ist das Meer glatt. Wellen? Nicht viel höher als zu
Hause am Chiemsee, wenn gerade einer der Chiemseedampfer am Ufer
vorbeizieht.
Er wandert durch den Ort, wandert am Strand entlang. Aber nirgends
ist ein weiteres Surfboard zu entdecken. Nur vor zwei Läden sticht ihm ein
Werbeaufsteller aus Plastik ins Auge. Da klebt eine fast lebensgroße Plastik-Bikini-Badenixe an der Seite einer Hohlform im Format eines Surfbretts.
Sommer, Sonne, Strand, Meer und Surfing! Die Ambra-Solare-Werbung für Sonnenschutz-Produkte steigert sein Urlaubsgefühl und sein
Sehnen nach dem ersten Ritt auf einer Welle.
Zum Glück wühlt ein nächtlicher Septembersturm die bislang langweilig
glatte Adria gehörig auf und hinterlässt am folgenden Morgen eine
lange Dünung. Die Wellen glitzern in der Morgensonne. Er paddelt hinaus
durch die Schaumberge der Brecher. Vom aufgewirbelten Sand ist das
Salzwasser braun wie Milchkaffee. Es knirscht zwischen seinen Zähnen.
Die Welle richtig einzuschätzen, die richtige Stelle für den Start zu wählen,
das schnelle Aufstehen und immer wieder hinauspaddeln und neue
Versuche. Aller Anfang ist schwer und kräftezehrend, aber bald gelingen
ihm die ersten Ritte, zehn, zwanzig Meter, bis die Welle bricht und als
brodelnder Schaumberg auf den flachen Strand ausläuft. Es ist ein unvergesslicher
Vormittag.
Im Spätwinter 1967 schreibt die Cousine aus Kalifornien, dass das Surfer-Magazin eines der Fotos abgedruckt hat, die sein Vater am Adriastrand
geschossen und ihr geschickt hatte. Alle stürzen sich auf das beigefügte
Heft. »Surfing Italian Style« lautet die Überschrift, und sie zeigt seinen
kleinen Bruder, wie er gerade bäuchlings vom Brett ins Flachwasser rutscht.
Der Kommentar darunter ist zwar nicht ganz korrekt und leicht übertrieben,
aber das ist vielleicht so in Amerika.
Kurz darauf, eines Abends in einer Skihütte in Österreich, schmiedet er
mit seinem Freund Pläne für den Sommer.
Wohin nach dem Ende der Schule, wie den Abschluss gebührend feiern?
Vom Foto im Surfer-Magazin und von der Biarritz-Reportage im Jahr
zuvor beflügelt, gibt es kein langes Überlegen: Der Aufbruch in die Freiheit vom fremdbestimmtenen
Alltag des Schülerdaseins, die erste große Reise ohne Familie muss
nach Biarritz gehen. Wohin auch sonst? Zum Surfen. In richtigen Wellen.
In Deutschland und Österreich landen derweil die Beach Boys mit
»Sloop John B« und »Barbara Ann« zwei Nummer-Eins-Hits.
Kaum ist der Schnee weggeschmolzen und die Skiausrüstung in die
Ecke gestellt, beginnen schon die Vorbereitungen für die große Fahrt.
Zu der anfänglichen Idee, die Reise mit den Motorrädern zu unternehmen,
kommt kurz der Gedanke auf, auch das nötige Sportgerät, das lange
weiße Surfbrett, mitzunehmen. Doch zum Transport des Surfbretts brauchen
sie ein Auto. Wieviel Auto bekommt man für das knappe Budget
eines Schülers? Auf eine Anzeige in der Tageszeitung hin besichtigen sie bei
einem Bauernhof einen alten Mercedes 170 Diesel. Vierhundert Mark.
Das wäre eine erschwingliche Summe.
Probefahrt. – Der Motor nagelt vertrauenerweckend, aber durch einige
Rostlöcher neben den Sitzen ist die Straße darunter zu sehen. Als dann an
einer Steigung die Handbremse bis zum Anschlag gezogen kaum Wirkung
zeigt und auch sonst immer mehr kleine Mängel ins Auge stechen, schmilzt
die Zuversicht endgültig dahin, es mit dieser Kiste quer über den Kontinent
bis an den Atlantik zu schaffen.
Die beiden disponieren um. Also doch besser das eigene Motorrad, den
eigenen Motorroller nehmen. Dann wird es eben eine Motorradreise ohne
Brett. Selbiges wird man sich sicher dort irgendwie leihen können. Oder
man kann mit jemandem Kontakt aufnehmen, der einem ein solches leihen
könnte ...
Mithilfe eines Französisch-Wörterbuches wird eine Anzeige aufgesetzt.
Sie soll in einer Lokalzeitung im fernen Baskenland erscheinen. Vielleicht
wird sie von jemandem gelesen, der ein Herz für surfsportverrückte Bayern
hat?

Auch wenn unsere Motorradfahrt nach Biarritz bestimmt schon seit dem
Winter geplant war, so gab es bei unseren vielen Gesprächen eigentlich bis
kurz vor der Abfahrt kaum eine Gewissheit, dass wir das Wagnis tatsächlich
unternehmen würden. Wir hatten keine bestimmten Vorstellungen,
außer der ungefähren Fahrtroute natürlich, wie wir die Sache im Einzelnen
beginnen sollten. Wir würden es schon schaukeln, hofften wir und
betrachteten das ganze Abenteuer mehr oder weniger als eine Fahrt ins
Blaue. Unsere lockeren Vorbereitungen mochten auch daran gelegen haben,
dass wir den Termin der Abfahrt nicht auf einen bestimmten Tag
festsetzten, sondern alles von den Verhältnissen der Witterung abhängig
machten. So lag es also nicht mehr an uns selbst, sondern gewissermaßen
am Wetter, ob und wie unsere Pläne verwirklicht wurden. Unter solchen
Umständen konnte Nervosität oder Reisefieber einfach nicht aufkommen.
Unser Versuch, in letzter Minute von unseren Motorrädern auf einen
alten Mercedes 170 Diesel Kastenwagen umzusteigen, scheiterte weniger
an den nötigen vierhundert Mark – die hätten wir schon irgendwie aufgetrieben
– als an dem wenig vertrauenerweckenden Zustand der Karosserie.
Das rechte Seitenfenster war nicht mehr zu öffnen, links fehlte die Türklinke,
und an manchen Stellen neben den Bodenholmen konnten wir bei der
Probefahrt die Straße durchschimmern sehen.
Dem Vorteil, mehr Gepäck und dazu ein Wellenbrett mitnehmen und
außerdem die weite Strecke unter einem schützenden Dach zurücklegen
zu können, standen eine Menge technischer Mängel gegenüber. Der Motor
war ohne Zweifel zuverlässig, doch der überall gegenwärtige Rost ließ
die äußerst ungewisse Frage aufkommen, ob der Kasten überhaupt noch
fünftausend Kilometer durchstehen würde. So blieb es letztlich bei der wie
wir uns sagten »sportlichen Lösung«.
Unsere unerschütterliche Ruhe und Zuversicht in das Gelingen unseres
Vorhabens konnte nicht einmal von dem Umstand getrübt werden, dass nach der Generalüberholung meiner Maschine samt Einsetzen
neuer Kolbenringe von Probelauf zu Probelauf andere Mängel
aufzutreten begannen. Mein vorher fast unbegrenztes Vertrauen in
mein Fahrzeug wurde langsam zu einem gemischten Gefühl aus Misstrauen
und trotzigem Zweckoptimismus. Noch am Montag hatte ich
Jürgen mit recht unsicheren Mutmaßungen und Zweifeln schockiert,
ob die Maschine bis Freitag fahrtüchtig sein würde. Dass immer wieder
einer der beiden Zylinder plötzlich mit der Zündung aussetzte und
dass daraufhin die Motorleistung so weit absank, bis die Zündung vollständig
ausfiel, war für mich eine Phantomkrankheit, die übrigens
nicht einmal ein Mechaniker in der nahen Werkstatt heilen konnte.
Immerhin vermochte ich diesen kritischen Punkt immer weiter hinuszuschieben,
ein Umstand, der vielleicht mit den neuen Kolbenringen
zusammenhing,
wobei aber das nicht alle Symptome jener geheimnisvollen
Krankheit erklären konnte. Es würde schon gut gehen, hofften
wir und setzten den Start unserer Surfari kurzfristig für Samstagmorgen
fest, waren uns aber klar darüber, dass der Spuk im Motor meiner
ADLER unsere Fahrt ganz gewiss mit überraschenden Sondereinlagen
würzen würde.
Bis Freitagabend waren also alle möglichen Vorbereitungen getroffen,
angefangen vom Tanken und Zusammenstellen kleinerer Ersatzteile über
sorgfältiges Kofferpacken bis hin zum Imprägnieren und Flicken des kleinen
geliehenen Zweimannzelts. Noch ahnten wir nicht, welchen Vorteil es
hatte, dass ich es – eigentlich nur aus Versehen – einen Tag zu lange in
essigsaurer Tonerde eingeweicht ließ, ein altes Hausrezept, denn die
schlimmsten Wetterprognosen unserer Freunde sollten später durch beinahe
unglaubliche Überraschungen sogar noch in den Schatten gestellt
werden.
Die ganze Woche hatte mich noch die Frage gequält, wohin mit meiner
Fotoausrüstung? Sie sollte sicher verstaut, aber dennoch jederzeit schnell
griffbereit sein.
Irgendwie hatte ein Arbeitskollege meines Vaters Wind von unserem Reisevorhaben bekommen. Er hatte einmal eine BMW besessen, und ein
schwarzer Tankrucksack sei noch übrig geblieben, den er mir für die Fahrt
leihen könnte. Er sei auch mal in Biarritz gewesen, erzählte er, damals im
Krieg, als junger Soldat am Atlantikwall, seiner Meinung nach die schönste
Ecke von Frankreich ...
Als ich nun heute um 18 Uhr nach längerem Knobeln und Probieren
die heilige Prozedur des Kofferpackens vollendet hatte, fühlte ich mich
schon bedeutend leichter und fuhr hinunter zu Jürgen, in der Absicht, von
ihm ähnlich Erfreuliches zu erfahren. Der wühlte jedoch noch recht virtuos
in einem Berg von Wäsche nach den geeignetsten Stücken, gab mir aber
zu verstehen, dass er später bei mir erscheinen wollte, wenn er das Gepäckproblem
optimal gelöst hätte. Kurz nach 20 Uhr kam er dann auf seinem
Heinkel Roller angebraust, und, kein Zweifel, die vollbrachte Leistung
schien auch ihn merklich zufriedenzustellen. Es war fast so etwas wie Galgenhumor
in unseren Witzeleien, als wir mit meinen Eltern ein wenig
Abschied feierten. Das war natürlich ein Anlass für eine Flasche Cinzano.
Da es auch an den nötigen Eiswürfeln nicht fehlte, merkten wir kaum, wie
schnell der Abend verging. Mir erschien es recht unwirklich, so vergnügt
im Wohnzimmer zu sitzen und dabei daran zu denken, dass wir neun
Stunden später im Sattel unserer Maschinen eine Fahrt von über viertausend
Kilometern antreten würden. Dass wir uns in ein aufregendes Abenteuer
stürzten, ahnten wir und sprachen schon ganz aufgeregt von den
Straßen, vom Sonnenschein, vom Meer und vom Wellenreiten. Wir standen
gewissermaßen
gespannt und mit klopfendem Herzen vor einer Tür,
hinter der alle künftigen Überraschungen verborgen waren. Durch das
Schlüsselloch konnte man nur das Allernächste schemenhaft erkennen, alles
andere würde erst im Laufe der Zeit zum Vorschein kommen. So warteten
wir mit Ungeduld die wenigen Stunden, bis sich diese Tür endlich
auftat, bis unser Abenteuer seinen Lauf nahm – unsere Surfari, unser Motorradtrip
zum Surfertraum ...
Rrrrr —— Der Wecker rasselte, kaum dass ich mich erinnerte, am Abend
zuvor nach einem tiefen Blick ins Cinzano-Glas eingeschlafen zu sein. Es
war viertel nach sechs, und der freundliche Sonnenstrahl, der sich ins Zimmer
schlich, wollte einen herrlichen Tag versprechen. Zwar sah dieser
Morgen noch aus wie einer von so vielen, denn wie immer gab es Kakao
und Butterbrote, aber das Anlegen der Ledermontur war eine bislang ungewohnte
Angelegenheit. Nachdem der Tankrucksack
mit meiner Fotoausrüstung,
der große Koffer und der unförmige Zeltsack mit langen
Lederriemen
kunstgerecht auf die Maschine gepackt waren, wurde mir
allmählich bewusst, welch weites Ziel wir uns gesetzt hatten und auf welch
arglose Weise wir ihm entgegenfieberten. Nach dem unvermeidlichen Abschiedsprotokoll
klappte endgültig die Brille herunter, die Zündung leuchtete
auf, der Kickstarter schnellte hinunter, und die ersten Takte der Begleitmusik
zu unserem Abenteuer röhrten in blauen Wolken aus den
beiden Auspuffen meiner Maschine.
Bei Jürgen wiederholte sich der wehmütige Abschied – für uns war er
keineswegs wehmütig, denn es zog uns jetzt mit allen Fasern nach Westen
–, dann ließen wir das vertraute Trostberg hinter uns und genossen
jene Spannung und Elektrizität, die jetzt alles zu erfüllen schien.
Ein kurzer Regenschauer überraschte uns in München, konnte unser
Hochgefühl jedoch nicht beeinträchtigen, denn nach anderthalbstündiger
Fahrt hatten wir bereits über hundert Kilometer ohne Schwierigkeiten zurückgelegt.
Doch Halt – man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Vor Landsberg,
also bereits nach zwanzig weiteren Minuten, verlor Jürgens Motorroller
Benzin, und leider mussten wir anhalten. Jürgen hatte den kleinen
Fehler zwar bald behoben – der Benzinschlauch war nur lose geworden –,
doch half jetzt bei meinem Motor kein gutes Zureden mehr ... Er wollte
nicht mehr anspringen. So gab es nur eine Methode: warten und abkühlen
lassen. Es war die alte Krankheit, doch was half es ... Kurz darauf, in Landsberg,
nahm meine Adler das Kolonnenkriechen
recht übel und konterte
mit dem Ausfall eines Zylinders. Wieder war eine Kühlpause fällig, und
während Jürgen losbrauste, um eine neue Zündkerze zu besorgen, machte
ich es mir mit einer Tüte Bonbons bequem und hatte Zeit, über diese »verdammte
Phantom-Krankheit« meines alten Hobels nachzudenken.
Doch waren wir nicht so leicht zu erschüttern. Noch bestand kein
Grund zur Aufregung. Zum Mittagessen in Kempten konnten wir es voraussichtlich
noch ziemlich leicht schaffen.
Aller guten (und in diesem Falle auch aller unangenehmen) Dinge sind
bekanntlich drei, und so brachte uns eine schier endlose Fahrzeugschlange
vor Kempten beinahe aus der Fassung. Im Schritttempo ging es vom Ortseingang
bis zur Brücke über die Iller, und das war natürlich zu viel für die
Adler, die unbedingt zügig gefahren werden wollte. Eine halbstündige Rast
(sprich: Kühlpause) war unvermeidlich, und die mitleidigen Blicke eines
Polizisten weckten die ersten Zweifel, ob ich jemals an den Bodensee, das
Ziel dieses Tages, kommen würde.
Bei Onkel, Tante und Cousine wurden wir schließlich mit Schweinebraten
und Semmelknödeln gemästet, als hätten wir schon tagelang nichts
mehr zwischen die Zähne bekommen. Auf die vielen Fragen, wie es bisher
gelaufen wäre, erzählten wir mit gut gespielter Ruhe und Gelassenheit von
den eigensinnigen Zicken meiner Maschine und davon, dass wir ihr das
sehr schnell austreiben wollten. Es brauchte ja niemand zu wissen, dass wir
uns insgeheim den Kopf zerbrachen,
wie es nun weitergehen sollte, und ob
wir vielleicht in Büßlingen die Fahrt abbrechen müssten ...
Im Augenblick war aber der Himmel über Kempten zu herrlich blau für
so düstere Gedanken, und wir entledigten uns ihrer und unserer heißen
Lederanzüge, um bei Limonade, Kaffee und Kuchen ausgiebig Siesta zu
halten.
Um drei Uhr nachmittags endlich brachen wir wieder auf, und da wir
nun frisch gestärkt und die Maschinen reichlich abgekühlt waren, legten
wir uns mit neuen Hoffnungen in die Kurven, die uns immer weiter von
zu Hause wegbrachten. Wieder fesselten uns die Geschwindigkeit, das
Brummen der Motoren und das Vorüberziehen von Hügeln, Wäldern,
Wiesen und Dörfern. Und ab und zu vergaßen wir ganz unsere schwerwiegenden
Probleme. Wie gut, dass wir nicht so leicht zu erschüttern waren
und uns lieber auf all das Schöne freuten, das auf uns zukam, als uns
über die Vergangenheit den Kopf zu zerbrechen. Lindau und das Nordufer
des Bodensees blieben nur kurze Eindrücke, denn wir zogen es vor, am
Tagesziel – Büßlingen bei Schaffhausen – so bald wie möglich anzukommen.
Nach einigen kleinen Pausen, in denen wir die sonnige Landschaft
genossen, wussten wir, dass sie – und in dieser Beziehung war meine Adler
zweifellos eine SIE – wieder einmal ihre kritische Zeit hatte, die nur durch
konsequent zügiges Fahren gemeistert werden konnte. Aus diesem Grunde
musste ich einmal befürchten, den linken Schalldämpfer zu verlieren, als
ich in einer scharfen Linkskurve über einen Bahnübergang schoss und dabei
mit dem Auspuff knallend auf das Gleis federte. Doch was der Motor
anscheinend an Schwächen zeigte, lag an Stärke und Robustheit im Fahrgestell
– immerhin ein Trost.
Wir hatten kaum den opulenten Mittagsbraten bei meiner Cousine in
Kempten richtig verdaut, da sahen wir uns in Büßlingen bei Jürgens Tante
wahren Schnitzel-Ungetümen und zahllosen Beilagen gegenüber. Zwar
war alles recht köstlich zubereitet, doch hätten wir es lieber für später zurückgestellt,
wenn wir vielleicht mehr Hunger hatten. – Zum Beispiel irgendwo
in Frankreich, wo wir nirgends gefüllte Teller sorgender Verwandter
erwarten konnten.
»Ja was ist? – Schmeckt’s etwa nicht?«, wollte die Tante wissen und verlangte
wohl insgeheim von uns, dass wir ihr jetzt das Gegenteil bewiesen.
Und das taten wir. Mit mannhafter Selbstverachtung gelang es uns, die
Platten zu leeren. Andersherum betrachtet war es nämlich auch ein gewisser
Vorteil, auf diese Weise mit dem Essen für einige Tage vorgesorgt zu
haben.
Wir waren zum Platzen voll. An Schlaf war in diesem Zustand nicht zu
denken, und so wurde ein ausgedehnter Verdauungsspaziergang auf die
kleine Anhöhe hinter dem Haus zur unbedingten Notwendigkeit. Die
Freude, das Ziel des ersten Tages erreicht zu haben, ließ uns alle Schwierigkeiten
beinahe vergessen (ein voller Magen macht ja auch froh), und sichtlich
ausgelassen turnten wir durch das hohe taunasse Gras. Dieses unbeschwerte
Treiben dauerte jedoch nur einige Augenblicke, nämlich so lange
bis wir auf die Schwärme von feindlich gesinnten Stechmücken und
Bremsen aufmerksam wurden, denen wir uns nur mit größter Mühe und
unter Anwendung jeder erdenklicher
List erwehren konnten.
Aber es war nicht auszuhalten. Ein paar Ferientage an diesem Ort würden
uns zur Verzweiflung bringen. So stand unser Entschluss fest. Mochte
meine Maschine auch noch so spinnen, wir würden unsere Fahrt so weit
fortsetzen, wie es eben möglich war. Nach Hause wollten wir auf keinen
Fall (dazu waren wir viel zu stolz), und von hier vertrieben uns die Mücken,
also blieb – übrigens zu unserer ungeteilten Freude – als einzige Lösung:
Weiterfahren. Der Entschluß war gefasst, doch im Augenblick galt
es unseren lästigen Peinigern zu entwischen. Mit abgerissenen Schachtelhalmen
die dichten Schwärme abwehrend, unsere hellblauen Jeans übersät
mit dem schwarzen Gekrabbel dicker Bremsen, liefen wir den Wiesenhang
hinunter, um uns zurück ins Haus zu retten und vom Lauf erhitzt unsere
vollen Bäuche vor dem Fernsehschirm zu entspannen.
Seltsamerweise sollten wir auch am morgigen Abend mit solchen geflügelten
Peinigern zu tun haben, eine richtiggehende Plage ... Und auch
an den übrigen Tagen unserer Reise stellte sich uns manchmal das gar
nicht unwichtige Problem: Gestochen werden oder nicht – das ist hier die
Frage.
Die Nacht in Büßlingen war für mich wenig erfreulich – Ich schlief sehr
unruhig. Das Erlebnis des ersten Reisetages, die Aufregung, die vielen Eindrücke
mochten ihren Einfluss gehabt haben. Zwar war ich gestern todmüde
gewesen und froh, mich in einem kühlen Bett ausstrecken zu können,
doch stellte sich heraus, dass ich den größten Teil der Nacht hindurch
nur oberflächlich dahindöste und von der überlauten Turmuhr gleich gegenüber
stündlich zur Verzweiflung gebracht wurde. Büßlingen besitzt,
obwohl es noch auf deutschem Boden liegt, eine Turmuhr nach Schweizer
Art, die jede Stunde oder gar jede halbe mit einem kurzen Glockenspiel
verkündet. Ich vermisste den vertrauten Klang schwerer bayerischer Kirchenglocken
und fühlte mich bei diesem recht eigenartig leiernden Ton
sehr viel weiter nach Süden versetzt. Diese Gedanken beschäftigten mich
natürlich erst später. In dieser Nacht wartete ich nur mit Ungeduld
auf
den Morgen und versuchte, durch Zuhalten der Ohren und Verkriechen
unter einem Knäuel Bettdecken, dieser regelmäßigen Folter zu entkommen.
Nachdem nun endlich der Morgen gekommen war und wir von Jürgens
Tante mit Kaffee, Kuchen und kleinem Gebäck aufs Neue gemästet wurden,
sahen wir mit dem zweiten Reisetag unserem ersten Grenzübertritt
entgegen.
Bei mir herrschten – nur allzu leicht verständlich – gemischte bis ungewisse
Gefühle vor. Bei Jürgen zwar nicht in dem Maße, weil seine Maschine
ordnungsgemäß lief, doch war er nicht ganz unbeschwert, da ein
Schaden an meiner Adler auch ihn zum Umkehren zwingen würde.
Am Rheinfall bei Schaffhausen bekamen die Verschlüsse unserer Kameras
erstmals zu tun. Es war jedoch nur ein kurzer Aufenthalt vor jener,
rauschenden, tosenden, hell flimmernden Kulisse, wo es so angenehm
frisch nach Süßwasser roch. Unwillkürlich musste ich an unsere Alz zu
Hause denken, wo ich gern zwischen den Uferfelsen saß, in das Flimmerspiel der Sonne starrte und diesen gleichen Geruch von Süßwassergischt in
tiefen Zügen genoss ...
Mit letzten bewundernden und neidvollen Blicken auf eine schwere
englische Triumph, die in ihrem energischen Bass auf der schmalen Straße
zur Rheinfall-Promenade herunterbrummte, ließen wir den Rheinfall und
Schaffhausen hinter uns und legten unter strahlender Sonne in bester
Reiselaune
einen Schnitt von 90 auf die kurvenreiche Straße nach Waldshut.
Dort fuhren wir zum zweiten Mal von Deutschland in die Schweiz,
und ich bekam anlässlich einer allzu langen Autoschlange
gewisse Bedenken,
was meine Adler dazu sagen würde. Eigentlich benahm sie sich ganz
zivilisiert, solange ich sie gut auf Touren hielt, ich durfte nur nicht die
Hand vom Gas nehmen. Ich hatte also bloß die linke Hand frei und reichte
dem Schweizer Grenzer den Ausweis mit dem Hinweis, der Motor würde
mir sonst abwürgen. Der uniformierte Knabe aber zauberte ein süßsaures
Lächeln hervor und wollte partout nicht selbst den Personalausweis
in die Hand nehmen, um ihn aufzuschlagen. Mir blieb also nichts anderes
übrig, als meine Rechte vom Gasgriff zu nehmen und dem Herrn das Papier
aufgeklappt unter die Nase zu halten.
Er war zufrieden – ich nicht. Denn jetzt stand die Maschine und machte
keinen Mucks mehr.
Sie verlangte nach einer Verschnaufpause von mindestens dreißig Minuten.
Wir waren schon wieder auf der Strecke, als bei uns beiden ein gewisses
Gefühl im Magen den nahenden Mittag ankündigte. Kurz vor Aarau fanden
wir ein ehrwürdiges Wirtshaus, das nach Lage und Aussehen genau
das Richtige zu sein schien. Es war das Gasthaus »Zum Bären«, und im
schattigen Garten machten wir uns sogleich mit Heißhunger über ein saftiges
Wiener Schnitzel mit Salat und Pommes frites her. Zwar waren wir
noch gar nicht weit von der deutschen Grenze entfernt, doch begannen
sich schon hier bei der Verständigung mit der Kellnerin einige Schwierigkeiten
einzustellen. Es war aber halb so wild, wir wussten die Sache schon
zu schaukeln, und da das Essen gut war, behielten wir einen gemütlichen
und vor allen Dingen satten Eindruck von dieser Mittagspause. Wir waren
umso zufriedener, als wir alles mit dem Geld von Jürgens Tante bezahlen
konnten. Die hatte ihm vor der Abfahrt zwei Scheinchen in die Tasche
gesteckt.
Das Wetter war so herrlich und die Straßen so gut, dass uns ein unbeschreibliches
Gefühl von Freiheit und Unbeschwertheit umfing. Manchmal
sangen wir während der Fahrt oder winkten freudig entgegenkommenden
Motorradfahrern zu, und im Nu hatten wir über Ölten und
Solothurn den Bieler See erreicht. Als Jürgen hier tanken musste, verbanden
wir das Notwendige gleich mit dem Vergnügen und legten eine längere
Pause ein, um dem süßen Nichtstun zu frönen. Endlich schienen wir
das Rezept zu ungetrübten Reisefreuden gefunden zu haben – wir fuhren
mehr oder weniger ins Blaue, genossen den Augenblick und taten immer
das, was uns gerade einfiel. Gerade jetzt wollten wir richtig faulenzen, die
Sonne und den Bieler See genießen. Dazu hatten wir einen kleinen Bootsverleih
ausgesucht und machten es uns zwischen Außenbordern, Fiberglasrümpfen
und Takelage bequem. Der Chef, der sich freute, ein paar Worte
Deutsch an den Mann bringen zu können, hatte ganz und gar nichts dagegen.
Ab und zu fuhren wir neugierig auf, wenn das auffällige Röhren
eines Auspuffs einen rassigen Sportwagen ankündigte doch sonst ließen
wir uns kaum aus der Ruhe bringen ...
Bis auf einmal deutsche Laute an unsere Ohren drangen. Sofort waren
wir hoch und entdeckten hinter der Zapfsäule einen süßen Minirock, der
uns umso mehr entzückte, als aus ihm zwei bezaubernde Beine herausragten.
– Ich glaube, wir beide träumten gerade davon, auf der langen Reise
eine solche Sozia dabeizuhaben, als mit einigen barschen, befehlenden
Worten eines für uns nicht sichtbaren Erwachsenen die ganze »Fata Morgana
« verschwand, wie sie gekommen war. Was uns blieb, war der Rest
eines eben begonnenen Traums
und ein bisschen Mitleid, dieses Wesen in
der Gesellschaft eines Rohlings zu wissen. Was uns aber außerdem blieb,
war dieser strahlende Sommernachmittag, in dessen flimmerndem Blau
wir schließlich versanken, sodass bald wieder alle Gedanken irgendwo im
Nichts des Dahindösens endeten.
Lange Schatten erinnerten uns am späten Nachmittag daran, dass wir
noch bis zum Genfer See kommen wollten, und bald sahen wir erneut
Eindrücke über Eindrücke auf uns einstürmen. Vorbei am See von Neuchâtel,
der scheinbar nicht enden wollte, und über kurvenreiche Straßen
nach Morges am Genfer See führte uns die letzte Etappe dieses unvergesslichen
Tages, an dem Jürgen in eine höchst brenzlige Situation kam. Sie
hätte das Ende unserer Fahrt bedeuten können, wie er mir später am
Abend erzählte.
Irgendwo bei Orbe auf der schmalen Verbindungsstraße zwischen Yverdon
und Cossoney lag auf einer Hügelkuppe – von unten nicht sichtbar – eine
schmale, zwischen zwei scharfen Kurven eingeklemmte Brücke über eine
Eisenbahnlinie. Ich als Vorausfahrender hatte das Hindernis dank des tief
liegenden Schwerpunktes meiner Maschine mit leichter Gänsehaut und in
äußerster Seitenlage bereits glücklich hinter mir, als Jürgen nachsetzte, den
Hügel mit zu viel Schwung heraufdonnerte und dadurch ebenso in diese
heikle Lage kam. War die S-Kurve überhaupt zu schaffen? Im Geiste sah er
sich schon über die Betonbrüstung der Brücke segeln und tief unten auf
den Schienen zerschellen – erzählte er – , doch er schaffte es um Haaresbreite
und mit »zusammengebissenen Zähnen und eingerollten Zehen«.
Nyon am Genfer See endlich war unser Ziel, die Jugendherberge
in der
Rue de Genève. Unerwartet schnell fanden wir sie, und mein Motorrad
knallte wie erleichtert eine herzhafte Fehlzündung in den ruhigen Abend.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite drehte sich ein Radfahrer erschrocken
um und äugte besorgt nach seinem Hinterreifen, während wir
lachend in das große Tor der Jugendherberge einfuhren. Schiefe Kamine,
morsche Fensterläden und Fragmente eines vielleicht ockerfarbenen Verputzes,
dazu ein verwilderter Garten, der als Zeltplatz diente, ließen erahnen, dass das Haus vor etlichen Jahren oder Jahrzehnten noch ein romantisches
Schlösschen auf dem hohen Ufer des Genfer Sees gewesen sein
musste.