über den Autor



PortraetArthurGPauli

Arthur G. Pauli, Ingenieur und Erfinder, Fotograf und Autor ist geboren und aufgewachsen im Chiemgau. Genauer gesagt im Alztal, unweit des Chiemsees und der Chiemgauer Alpen, was nicht ohne Einfluss auf seine sportliche Orientierung hin zu Wassersport und Skisport gewesen sein dürfte.
Schon im Vorschulalter lernt er Schwimmen und Skifahren. Sein Lehrer in der Grundschule fördert vor allem aber auch seine musischen Talente für Zeichnen und Schreiben. Als Neunjähriger bekommt er von seinem Großvater eine Fotokamera und entdeckt das Fotografieren als kreatives Hobby für sich.
In seiner Zeit am Chiemgau-Gymnasium schreibt, zeichnet und fotografiert er für die Schülerzeitung. Aufgrund eines Fotos auf einer Schallplatte verliebt er sich in den Surfsport und erfindet als Binnenland-Ersatz für diesen typischerweise nur in weit entfernter Meeresbrandung ausgeübten Sport das Riversurfen.
Wegen seines Interesses an der Technik entscheidet er sich für eine Berufslaufbahn, in der er Technik und Kreativität verbinden kann: Er studiert Konstruktion und Entwicklung im Maschinenbau an der Technischen Universität München und findet nach seinem Diplom trotz Einstellstopps eine Anstellung bei einem internationalen Konzern. Wann auch immer es neben seinem ausfüllenden Beruf möglich ist, findet er Entspannung bei seinen Hobbies Fotografieren, Skifahren, Surfen und Schreiben. Er ist Skilehrer, Windsurf-Instruktor, zeichnet und fotografiert für Zeitschriften und Zeitungen. Privat und beruflich kommt er weit in der Welt herum, doch zieht es ihn nach jeder noch so schönen Reise immer wieder zurück nach Bayern und in die Heimat, in der er aufgewachsen ist: in den Chiemgau, wo er bis heute mit seiner Frau lebt. 



Athur G. Pauli




Surfari


Mein Motorradtrip zum Surfertraum





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Impressum



1. Auflage 2022

© 2022 by hansanord Verlag


Alle Rechte vorbehalten

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages nicht zulässig und daher strafbar. Das gilt vor allem für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 


ISBN Print 978-3-947145-58-4
ISBN E-Book 978-3-947145-59-1


Dieses Werk wurde vermittelt von der Scripta Literaturagentur München.

Cover: Marc-Torben Fischer

Coverfoto: Ulrich Stanciu / Archiv A+E Pauli | ae-pixx.com

Satz: Christiane Schuster | www.kapazunder.de

Lektorat: Monika Hofko


Für Fragen und Anregungen: info@hansanord-verlag.de

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Für meine geliebte Frau Elisabeth,

die oft geduldig durch den Kamerasucher nach mir Ausschau hielt,

während ich draußen auf dem Wasser war,

und die mir bei der Arbeit an diesem Buch genauso geduldig

den Rücken freihielt.

 

 

 

 

 

Epilog


Im Oktober waren bei den beiden Surf-Freunden die Wunden an Ellbogen und Knie verheilt. Und irgendwie mussten die versäumten Wasserspiele nachgeholt, das Gefühl, auf dem Brett zu stehen, noch einmal ausgekostet werden, auch wenn das Wasser der Alz mit vierzehn Grad gar nicht mehr sommerlich warm war. Ein letztes Mal in diesem Jahr. Saisonschluss. Danach erst einmal Skifahren, Skifahren und wieder Skifahren. Aber die Ideen reichten schon weiter, für die nächsten Sommer.

BRSA – Bavarian River Surfing Association!
Die aus Jux geborene und per Ansichtskarte nach Hause geschriebene Idee war nicht mehr aus dem Kopf zu bekommen. Wenn man den Surfsport in Bayern ein bisschen bekannter machen könnte und mit ihm die Variante des Riversurfens? Mehr Anhänger für den Sport gewinnen, einen Surfclub gründen, mehr Stellen in den Flüssen finden, wodurch weitere Sufclubs entstünden ... Und alle zusammen unter einer Dachorganisation, der Bavarian River Surfing Association?
Berichte von der Reise nach Biarritz wurden an verschiedene Zeitungsredaktionen verschickt – ohne Resonanz. Oder haben sie vielleicht doch etwas angestoßen?
Denn allmählich schien auch im meerfernen Binnenland das Interesse am Surfen zu erwachen, wenn auch nicht selten mit einem leicht ironischen Unterton, wenn manche Journalisten vom »Sport auf dem Bügelbrett « schrieben, oder wenn man in dem einen oder anderen Lexikon noch immer recht antiquierte Beschreibungen lesen konnte wie beispielsweise im »Neuen Lexikon« aus dem Züricher Stauffacher Verlag:

Wellenreiten: ein Wassersport auf Hawaii, ähnlich dem Wasserski;
als »Pferd« dient ein kleiner Einbaum.

Und ebenda:

Wasserjöring: Wassersport auf einem Brett mit Hantel

1968 bringt das Magazin »Twen« einen Artikel über das Wellenreiten. Arthur erfährt, dass es auf Sylt einen Surfclub geben soll. Natürlich wird Sylt dann das Sommerreiseziel 1968. Doch Arthur kann unter der Adresse in Westerland niemanden erreichen, und sowohl in der windgepeitschten Brandung unter dem roten Kliff als auch in den kleinen Wellen am Lister Weststrand ist er mit seinem weißen Longboard weit und breit der einzige Surfer.

In regem Erfahrungsstausch per Briefkorrespondenz mit einem Surfboard-Bauer bei Los Angeles entstehen in Trostberg weitere Surfbretter, im Mai 1969 verkündet die Illustrierte »Stern«: »Surfing kommt nach Europa«, im August 1969 reitet Arthur zum ersten Mal eine Stromschnellenwelle in der Alz. In »Weltbild« erscheint der Artikel »SURFING, weltweites Hobby«, und im Oktober desselben Jahres kann man in der Zeitschrift »M« ebenfalls etwas über den Surfsport lesen.

Sooft es geht, wird ans Meer gefahren, jedoch nicht mehr mit dem Motorrad. Zu ungewiss ist es, ob am Ziel überhaupt ein Brett zur Verfügung stehen würde.
Mit der Entdeckung von zwei stationären Wellen im Münchener Ländkanal 1971 tut sich eine interessante und leichter erreichbare Alternative zum Reiten auf Meereswellen auf.
Damit kommt das Riversurfen aus der Verborgenheit abgelegener, unbekannter Flussabschnitte in die Großstadt und vor Zuschauer.
Das bayerische Riversurfen wird bekannt, ja nach der Entdeckung der Eisbachwelle im Lauf der folgenden Jahrzehnte sogar weltberühmt. Und seitdem ist München auch, wie Biarritz, ein Surf-Mekka, aber ein spezielles, nämlich das Mekka der Riversurfer.

Bilder


1
Rheinfall

2
Biker-Gruß

3
Genf: Monument Brunswick

4
Nyon bei Nacht


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Rast an der Correze

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7
Libourne: Brücke über die Dordogne

8
Kräne in Bordeaux


9
Mimizan Plage

10
Camping Chambre d´Amour

11
Romantisches Biarritz

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Abend am Leuchtturm

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14
Biarritz: beleuchtete Felsen

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Biarritz: Villa Le Cap

16
Biarritz: Grand Plage

17
Biarritz: Roger de la Vierge

18
Die Felshöhle »Chambre d´Amour«

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Chambre d´Amour 1967

20
Brechende Welle

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Chambre d´Amour Surfer

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Arthur Pauli, Chambre d´Amour 1967

24
Cutback in Chambre d´Amour

25
Surfer in hohen Wellen vor Chambre d´Amour

26
Die Wellen von Guethary

27
Rotwein und Reisetagebuch

28
Stop in Ciboure

29
Mit ADLER-Bike am Atlantik

30
Surf & Bike

31
San Sebastian

32


33
Backwash

34
Isla Santa Clara und Monte Igueldo

35
Entzückende Bekanntschaft

36
Rechnung Panchica

37
Fröhliche Freunde

38
La glace est arivèe!

39
Biarritz: Kap Hainsart

40
Skimboarding

41
Lourdes: Mariä-Empfängnis Basilika

42
Lourdes-Pilger

43
Lourdes: Marienstatue an der Erscheinungsgrotte

44
Défilé de Pierre

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Camping im Weinberg

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Marseille-Nord

47
Marseille

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Am Strand von Nizza

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Monte-Carlo

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Wieder zu Hause auf der Alz: Arthur Pauli

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Arthur Pauli am Seil auf seinem Longboard etwa an der Stelle, an der er mit dem Campingtisch experimentiert hatte

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Arthur Pauli auf seinem Longboard

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Zwei Freunde beenden die Saison 1967

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Wow! Was für ein Backwash!
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Surf´s up!



Das ist das Angenehme auf Reisen,
dass auch das Gewöhnliche durch Neuheit und Überraschung
das Ansehen eines Abenteuers gewinnt.

Johann Wolfgang von Goethe

Prolog


Deutschland in den 1960er-Jahren.

Das Fernsehen ist noch schwarz-weiß, die Berliner Mauer ist gebaut worden, der Contergan-Skandal erschüttert Deutschland, das Attentat auf John F. Kennedy schockiert die Welt. Fernsehkrimis wie »Stahlnetz« oder Durbridge sind »Straßenfeger« und die Beat-Musik ist der neue Sound in den Radio-Hitparaden, vor allem die Musik der »Pilzköpfe« aus Liverpool, der Beatles.

Im südöstlichen Oberbayern liegt ein sechzehnjähriger Gymnasiast auf von der Augustsonne aufgeheizten Betonplatten am Ufer der reißenden Alz und blinzelt in die glitzernden Wellen.
Nicht weit davon ist er zu Hause. Nicht einmal hundert Meter hinter dem Garten seines Elternhauses könnte er in den dunkelgrün vorbeiströmenden Fluss eintauchen, aber er liebt besonders diese Stelle etwas weiter flussaufwärts. Hier verbringt er meist die heißen Sommernachmittage nach der Schule und nach unaufschiebbaren Hausaufgaben.
Der Fluss bringt das sommerwarme Chiemseewasser über die Wasserfälle von Altenmarkt herunter, holt sich an der Einmündung der gebirgsbachkalten Traun eine erfrischende Verstärkung und rauscht und gurgelt in wilden Wirbeln und Wellen an seinem Badeplatz vorbei hinunter zum Stauwehr von Trostberg.
Er könnte jetzt hier hineinspringen und sich hinuntertragen lassen bis hinter den Garten seines Elternhauses. Er könnte sich bis zu den Altenmarkter Wasserfällen hinaufbegeben und von dort herunter »flusswandern «, zwei Kilometer weit, mit einem kurzen Kälteschock am Zufluss der Traun, weiter vorsichtig im Flachschwumm über reißende Untiefen, dann um die Kurve an der Eisenbahnlinie schwimmen, in der sich das Wasser über dunkelgrünen Tiefen in respekteinflößenden Wirbeln umwälzt ...
Aber dann zu Fuß wieder zurück zum Liegeplatz? Bei dieser Hitze? Nein. Besser müsste man auf der Stelle schwimmen können, einfach genau hier hängen bleiben in diesen Wellen, sich von dem erfrischenden Nass mit den gurgelnden Luftbläschen umströmen lassen wie in einem Whirlpool. Und wenn es genug ist, wenn man genug abgekühlt ist, einfach wieder zurück zur Strohmatte auf dem heißen Uferbeton, zurück zum Transistorradio, aus dem die aktuellen Hits gegen das Rauschen des Flusses ankämpfen.
Hängen bleiben ...
In seinem Kopf formen sich Bilder aus der Vergangenheit. In der er als Neun- oder Zehnjähriger einen Teil der Sommerferien bei den Großeltern am Nordende der Stadt verbringen durfte.


Von der Kanalbrücke gleich unterhalb der Wohnung drang das Geräusch von Wasserplanschen und Jauchzen herauf. Da hatten die größeren Jungs aus der Nachbarschaft ein Holzbrett, etwa die Hälfte einer Holztür, mit einem dicken Seil an die Rohre der Brücke angehängt. Wenn es nicht benutzt wurde, war das Brett nicht zu sehen. Es lag auf dem Grund des Kanals. Nur ein kurzes, leicht in der Strömung zitterndes Seilstück war dann sichtbar, das sich von der Brücke schräg nach unten ins Wasser spannte.
Einer der Jungs sprang vor der Brücke ins Wasser, tauchte nach dem Brett und kam auf ihm stehend wieder an die Oberfläche. Er hielt sich mit einem kurzen Seilstück fest, das wie ein Zügel vorn am Brett festgemacht war. Durch Belasten und Einkanten des Bretts nach rechts oder links steuerte er hin und her. Die anderen am Kanalufer klatschten und jubelten. Da machte schon das Zuschauen Spaß. Günter, der Älteste von ihnen, tauchte mit dem Brett unter. Dazu drückte er mit den Füßen die Vorderkante nach unten. Sofort packte die Strömung zu und drückte das Brett weiter abwärts, bis Günter völlig unter Wasser verschwand. Kurz darauf tauchte er wieder auf, prustend und immer noch auf dem Brett stehend, die »Zügel« fest angezogen. Die Mädchen kreischten. Die Jungs johlten.
Der zehnjährige Sommergast schaute auch am nächsten und am übernächsten Tag zu. Er sagte nicht Nein, als sie ihn schließlich fragten, ob er es auch probieren wollte ...


Ja! Das ist es! Ein Seil hier zwischen den großen Felsbrocken am Ufer befestigen, ein Brett daran, und los geht’s.
Bald, schon am nächsten Tag, ist ein scheinbar geeignetes Brett gefunden. In einer Ecke der Garage stand noch die Platte des alten Campingtisches. Der hatte früher noch gute Dienste geleistet, zu Zeiten als die Familie mit dem Volkswagen Käfer zum Campingurlaub an die Adria gefahren war. Sie ist kreisrund, etwas größer als der Reservereifen, und hatte darübergepackt mit den drei Tischfüßen und dem anderen Reisegepäck perfekt unter die Fronthaube des VW gepasst. Jetzt, wo die Familie keine Campingurlaube mehr macht, wird er sicher nicht mehr gebraucht.
Aber vielleicht findet er bald eine neue Verwendung: als Schleppbrett in der reißenden Alz.
Mit der Bohrmaschine werden vier Löcher gebohrt, nahe am Rand, der damit zur flussaufwärts liegenden Brettkante wird. Zwei Löcher für den kurzen Strick nach oben, der als Zügel dient, zwei für das kurze Dreieck an der Unterseite für das lange Seil, das dann an einem geeigneten Felsen festgemacht wird ...
Nach ein paar Tagen schweißtreibendem Transport von Brett und Seil zur Lieblingsstelle am Fluss und nach zahlreichen Versuchen steht jedoch fest: Es geht nicht.
Das Spanplattenmaterial wird im Wasser rasch weich. Auch wenn er immer neue Löcher bohrt, sie reißen jedes Mal wieder aus. Am Ende ähnelt die runde Platte eher einem Zahnrad als einem Campingtisch, und ihm ist klar: Ein neues Brett muß her, aus stabilerem Material.
Das kleine Transistorradio spielt die aktuellen Hits. Radio Free Europe sendet sie fast ohne Pause, nur kurz unterbrochen zur vollen Stunde von Nachrichten in tschechischer Sprache.
»Baby Love« von den Supremes, »Twist and Shout«, A Hard Day’s Night« von den Beatles, »Ragdoll« von den Four Seasons, »I Get Around« von den Beach Boys, »Skinny Minnie«, »My Boy Lollipop«, »Surf City« von Jan&Dean, »Fun, Fun, Fun« und »Surfin’ USA« von den Beach Boys ...Diese Beach Boys mit ihren warmen West-Coast-Harmonien! Wie gut passen sie doch zur Sommersonne am Ufer der Alz. Und Surfing? Ist das etwa Wellenreiten?
Zu dieser Zeit weiß man hierzulande wenig über diesen Sport aus dem Pazifik.
Durchsucht man die Lexika, findet man unter »Surfing« keinen Eintrag und unter »Wellenreiten« ganz unterschiedliche Definitionen.


Das DBG LEXIKON von 1960 schreibt zum Beispiel:


Wellenreiten: Zweig des Wassersports, wird stehend auf einem langen Brett ausgeübt, das von einem Motorboot geschleppt wird.


In Großvaters Meyers Lexikon von 1930 ist nachzulesen:


Wellenreiten (englisch Surf-Riding): Wassersport der Polynesier; auf einem Brett stehend, sitzend oder kniend lassen sich die Insulaner mit der Brandungswelle an den Strand tragen; um 1920 von Nordamerika nach Deutschland eingeführt, wozu man ein Holzgestell (englisch Planking) benutzt, das ein (Motor-)Boot über das Wasser zieht.


Er kauft sich eine Langspielplatte der Beach Boys: »Surfin’ U.S.A.«. Auf der Plattenhülle fährt ein Wellenreiter auf einer riesigen Hawaii-Welle.
Er ist fasziniert und begeistert. Das ist es! Das neue Brett soll die Form eines solchen Surfbretts erhalten. Es soll den Spirit von Hawaii und Kalifornien an die Alz holen ...
Aber er hat keinen Schimmer wie ein solches Brett genau aussieht.
Im Mai des Folgejahres, 1965, zeichnet er einen Plan. Es muss leicht sein. Sperrholz ist leicht. Sieben Spanten und zwei runde Endstücke aus acht Millimeter Sperrholz, darüber vier Millimeter Beplankung. Stabil muss es sein und wasserfest. Eine Firma bei Hamburg kann Polyesterharz für den Bootsbau liefern. Auf eine Anfrage hin erhält er Informationen über Material und erforderliche Mengen.
Schon früher hatte er kleine Modellboote gebaut. Aus Sperrholz, Furnier und Bootslack. Aber dieses Vorhaben jetzt ist eine ganze Nummer größer und mit einem neuen Werkstoff: Polyesterharz. Er ist dennoch zuversichtlich, dass das Experiment gelingt.
Anfang August ist das Brett fertig.
Für den ersten Test im Fluss hat er sich einen Baum ausgesucht, der vom Ufer weit über die Strömung hinausragt. Daran will er das Zugseil befestigen. Es soll das Brett an zwei Metallhaken ziehen, die vorne seitlich am Rand angebracht sind.
Aber irgendwie funktioniert es nicht. Das Seil ist zu hoch oben angebunden. Dadurch steht das Brett zu steil im Wasser. Ist das Brett vielleicht zu lang? Zu schmal? Das Brett damals vor Jahren im Kanal hinter der Brücke war breiter als lang. Und das Seil war nur knapp über der Strömung befestigt.
Also abbauen und es flussaufwärts knapp über dem Wasser am Felsen anbinden? Oder erst einmal das Zugseil selbst in die Hand nehmen und das Brett frei unter die Füße nehmen, ähnlich wie beim Wasserskifahren? Gedacht, getan. Und es funktionert. Die Strömung des Flusses trägt. Nach einigen Versuchen, in denen Balance und Standsicherheit wachsen, gelingen bereits Richtungsänderungen durch Drehen und Schrägstellen des Bretts.
In einem Brief berichtet er der Cousine in Kalifornien von seiner Neuigkeit. Und da er noch immer nicht genau weiß, wie ein Surfbrett gebaut ist, und welche Abmessungen richtige Surfbretter haben, schickt sie ihm bald einige Surfer-Magazine.
Darin sind viele Fotos von Wellen wie auf dem Beach-Boys-Plattenalbum und eine Fülle von Werbeanzeigen für Surfbretter.
Er ist begeistert und endgültig angesteckt vom Surf-Bazillus.


Im Frühjahr 1966 steckt eine neue Ausgabe des Surfer-Magazins im Briefkasten. Darin eine Kurzgeschichte über einen fiktiven Rudi, der auf einem Fensterladen die Flutwelle eines Bergsees in Bayern reitet, und daneben eine gar nicht fiktive sondern topaktuelle Reportage über das französische Surf-Mekka Biarritz. Ein Zufall? Ein Wink des Schicksals und eine überraschende Entdeckung: Wellenreiten ist ein Sport, der nicht nur im Pazifik, in Hawaii und Kalifornien, sondern auch an der französischen Atlantikküste betrieben wird, im äußersten Winkel der Biskaya: in Biarritz.
Anhand der Bilder kann er nun abschätzen, wie groß ein Brett für echte Brandungswellen zu sein hat. Er findet heraus, dass die Bretter aus leichtem Hartschaum bestehen, dass sie, wie sein erstes Brett, mit einer Haut aus Glasfaser und Polyesterharz überzogen sind und hinten an der Unterseite eine Flosse besitzen, die ähnlich wie die Heckflosse eines Flugzeuges die Fahrtrichtung stabilisieren soll. Aus Holz wird eine Negativform für das neue, lange Brett gebaut. Von der Firma bei Hamburg werden die Chemikalien für den Schaum bestellt, die man miteinander vermischen und in die Negativform gießen muss. Es ist sein erster Versuch mit diesem Material. Das Ergebnis ist passabel, nicht schlecht für das erste Mal, und bald hat er den Schaumkern mit Harz und Glasgewebe überzogen, weiß lackiert und unter dem Heck eine Flosse aus Aluminium eingesetzt.
Mit dem gelungenen Bau scheint die Begeisterung auf alle Familienmitglieder übergesprungen sein. Bei der Planung des Sommerreisezieles ist sich die Familie ausnahmsweise schnell einig: Das neue Brett muss in echter Brandung getestet werden. Aber der Atlantik ist weit. Es muss doch auch anderswo geeignete Meereswellen geben. Ziel ist schließlich die Adriaküste bei Venedig.
An den ersten Tagen ist das Meer glatt. Wellen? Nicht viel höher als zu Hause am Chiemsee, wenn gerade einer der Chiemseedampfer am Ufer vorbeizieht.
Er wandert durch den Ort, wandert am Strand entlang. Aber nirgends ist ein weiteres Surfboard zu entdecken. Nur vor zwei Läden sticht ihm ein Werbeaufsteller aus Plastik ins Auge. Da klebt eine fast lebensgroße Plastik-Bikini-Badenixe an der Seite einer Hohlform im Format eines Surfbretts. Sommer, Sonne, Strand, Meer und Surfing! Die Ambra-Solare-Werbung für Sonnenschutz-Produkte steigert sein Urlaubsgefühl und sein Sehnen nach dem ersten Ritt auf einer Welle.
Zum Glück wühlt ein nächtlicher Septembersturm die bislang langweilig glatte Adria gehörig auf und hinterlässt am folgenden Morgen eine lange Dünung. Die Wellen glitzern in der Morgensonne. Er paddelt hinaus durch die Schaumberge der Brecher. Vom aufgewirbelten Sand ist das Salzwasser braun wie Milchkaffee. Es knirscht zwischen seinen Zähnen.
Die Welle richtig einzuschätzen, die richtige Stelle für den Start zu wählen, das schnelle Aufstehen und immer wieder hinauspaddeln und neue Versuche. Aller Anfang ist schwer und kräftezehrend, aber bald gelingen ihm die ersten Ritte, zehn, zwanzig Meter, bis die Welle bricht und als brodelnder Schaumberg auf den flachen Strand ausläuft. Es ist ein unvergesslicher Vormittag.
Im Spätwinter 1967 schreibt die Cousine aus Kalifornien, dass das Surfer-Magazin eines der Fotos abgedruckt hat, die sein Vater am Adriastrand geschossen und ihr geschickt hatte. Alle stürzen sich auf das beigefügte Heft. »Surfing Italian Style« lautet die Überschrift, und sie zeigt seinen kleinen Bruder, wie er gerade bäuchlings vom Brett ins Flachwasser rutscht.
Der Kommentar darunter ist zwar nicht ganz korrekt und leicht übertrieben, aber das ist vielleicht so in Amerika.
Kurz darauf, eines Abends in einer Skihütte in Österreich, schmiedet er mit seinem Freund Pläne für den Sommer.
Wohin nach dem Ende der Schule, wie den Abschluss gebührend feiern? Vom Foto im Surfer-Magazin und von der Biarritz-Reportage im Jahr zuvor beflügelt, gibt es kein langes Überlegen: Der Aufbruch in die Freiheit vom fremdbestimmtenen Alltag des Schülerdaseins, die erste große Reise ohne Familie muss nach Biarritz gehen. Wohin auch sonst? Zum Surfen. In richtigen Wellen. In Deutschland und Österreich landen derweil die Beach Boys mit »Sloop John B« und »Barbara Ann« zwei Nummer-Eins-Hits.
Kaum ist der Schnee weggeschmolzen und die Skiausrüstung in die Ecke gestellt, beginnen schon die Vorbereitungen für die große Fahrt.
Zu der anfänglichen Idee, die Reise mit den Motorrädern zu unternehmen, kommt kurz der Gedanke auf, auch das nötige Sportgerät, das lange weiße Surfbrett, mitzunehmen. Doch zum Transport des Surfbretts brauchen sie ein Auto. Wieviel Auto bekommt man für das knappe Budget eines Schülers? Auf eine Anzeige in der Tageszeitung hin besichtigen sie bei einem Bauernhof einen alten Mercedes 170 Diesel. Vierhundert Mark. Das wäre eine erschwingliche Summe.
Probefahrt. – Der Motor nagelt vertrauenerweckend, aber durch einige Rostlöcher neben den Sitzen ist die Straße darunter zu sehen. Als dann an einer Steigung die Handbremse bis zum Anschlag gezogen kaum Wirkung zeigt und auch sonst immer mehr kleine Mängel ins Auge stechen, schmilzt die Zuversicht endgültig dahin, es mit dieser Kiste quer über den Kontinent bis an den Atlantik zu schaffen.
Die beiden disponieren um. Also doch besser das eigene Motorrad, den eigenen Motorroller nehmen. Dann wird es eben eine Motorradreise ohne Brett. Selbiges wird man sich sicher dort irgendwie leihen können. Oder man kann mit jemandem Kontakt aufnehmen, der einem ein solches leihen
könnte ...
Mithilfe eines Französisch-Wörterbuches wird eine Anzeige aufgesetzt. Sie soll in einer Lokalzeitung im fernen Baskenland erscheinen. Vielleicht wird sie von jemandem gelesen, der ein Herz für surfsportverrückte Bayern hat?


SURFARI-Annonce

Freitag, 28. Juli 1967


Auch wenn unsere Motorradfahrt nach Biarritz bestimmt schon seit dem Winter geplant war, so gab es bei unseren vielen Gesprächen eigentlich bis kurz vor der Abfahrt kaum eine Gewissheit, dass wir das Wagnis tatsächlich unternehmen würden. Wir hatten keine bestimmten Vorstellungen, außer der ungefähren Fahrtroute natürlich, wie wir die Sache im Einzelnen beginnen sollten. Wir würden es schon schaukeln, hofften wir und betrachteten das ganze Abenteuer mehr oder weniger als eine Fahrt ins Blaue. Unsere lockeren Vorbereitungen mochten auch daran gelegen haben, dass wir den Termin der Abfahrt nicht auf einen bestimmten Tag festsetzten, sondern alles von den Verhältnissen der Witterung abhängig machten. So lag es also nicht mehr an uns selbst, sondern gewissermaßen am Wetter, ob und wie unsere Pläne verwirklicht wurden. Unter solchen Umständen konnte Nervosität oder Reisefieber einfach nicht aufkommen. Unser Versuch, in letzter Minute von unseren Motorrädern auf einen alten Mercedes 170 Diesel Kastenwagen umzusteigen, scheiterte weniger an den nötigen vierhundert Mark – die hätten wir schon irgendwie aufgetrieben – als an dem wenig vertrauenerweckenden Zustand der Karosserie. Das rechte Seitenfenster war nicht mehr zu öffnen, links fehlte die Türklinke, und an manchen Stellen neben den Bodenholmen konnten wir bei der Probefahrt die Straße durchschimmern sehen.
Dem Vorteil, mehr Gepäck und dazu ein Wellenbrett mitnehmen und außerdem die weite Strecke unter einem schützenden Dach zurücklegen zu können, standen eine Menge technischer Mängel gegenüber. Der Motor war ohne Zweifel zuverlässig, doch der überall gegenwärtige Rost ließ die äußerst ungewisse Frage aufkommen, ob der Kasten überhaupt noch fünftausend Kilometer durchstehen würde. So blieb es letztlich bei der wie wir uns sagten »sportlichen Lösung«.
Unsere unerschütterliche Ruhe und Zuversicht in das Gelingen unseres Vorhabens konnte nicht einmal von dem Umstand getrübt werden, dass nach der Generalüberholung meiner Maschine samt Einsetzen neuer Kolbenringe von Probelauf zu Probelauf andere Mängel aufzutreten begannen. Mein vorher fast unbegrenztes Vertrauen in mein Fahrzeug wurde langsam zu einem gemischten Gefühl aus Misstrauen und trotzigem Zweckoptimismus. Noch am Montag hatte ich Jürgen mit recht unsicheren Mutmaßungen und Zweifeln schockiert, ob die Maschine bis Freitag fahrtüchtig sein würde. Dass immer wieder einer der beiden Zylinder plötzlich mit der Zündung aussetzte und dass daraufhin die Motorleistung so weit absank, bis die Zündung vollständig ausfiel, war für mich eine Phantomkrankheit, die übrigens nicht einmal ein Mechaniker in der nahen Werkstatt heilen konnte. Immerhin vermochte ich diesen kritischen Punkt immer weiter hinuszuschieben, ein Umstand, der vielleicht mit den neuen Kolbenringen zusammenhing, wobei aber das nicht alle Symptome jener geheimnisvollen Krankheit erklären konnte. Es würde schon gut gehen, hofften wir und setzten den Start unserer Surfari kurzfristig für Samstagmorgen fest, waren uns aber klar darüber, dass der Spuk im Motor meiner ADLER unsere Fahrt ganz gewiss mit überraschenden Sondereinlagen würzen würde.
Bis Freitagabend waren also alle möglichen Vorbereitungen getroffen, angefangen vom Tanken und Zusammenstellen kleinerer Ersatzteile über sorgfältiges Kofferpacken bis hin zum Imprägnieren und Flicken des kleinen geliehenen Zweimannzelts. Noch ahnten wir nicht, welchen Vorteil es hatte, dass ich es – eigentlich nur aus Versehen – einen Tag zu lange in essigsaurer Tonerde eingeweicht ließ, ein altes Hausrezept, denn die schlimmsten Wetterprognosen unserer Freunde sollten später durch beinahe unglaubliche Überraschungen sogar noch in den Schatten gestellt werden.
Die ganze Woche hatte mich noch die Frage gequält, wohin mit meiner Fotoausrüstung? Sie sollte sicher verstaut, aber dennoch jederzeit schnell griffbereit sein.
Irgendwie hatte ein Arbeitskollege meines Vaters Wind von unserem Reisevorhaben bekommen. Er hatte einmal eine BMW besessen, und ein schwarzer Tankrucksack sei noch übrig geblieben, den er mir für die Fahrt leihen könnte. Er sei auch mal in Biarritz gewesen, erzählte er, damals im Krieg, als junger Soldat am Atlantikwall, seiner Meinung nach die schönste Ecke von Frankreich ...
Als ich nun heute um 18 Uhr nach längerem Knobeln und Probieren die heilige Prozedur des Kofferpackens vollendet hatte, fühlte ich mich schon bedeutend leichter und fuhr hinunter zu Jürgen, in der Absicht, von ihm ähnlich Erfreuliches zu erfahren. Der wühlte jedoch noch recht virtuos in einem Berg von Wäsche nach den geeignetsten Stücken, gab mir aber zu verstehen, dass er später bei mir erscheinen wollte, wenn er das Gepäckproblem optimal gelöst hätte. Kurz nach 20 Uhr kam er dann auf seinem Heinkel Roller angebraust, und, kein Zweifel, die vollbrachte Leistung schien auch ihn merklich zufriedenzustellen. Es war fast so etwas wie Galgenhumor in unseren Witzeleien, als wir mit meinen Eltern ein wenig Abschied feierten. Das war natürlich ein Anlass für eine Flasche Cinzano. Da es auch an den nötigen Eiswürfeln nicht fehlte, merkten wir kaum, wie schnell der Abend verging. Mir erschien es recht unwirklich, so vergnügt im Wohnzimmer zu sitzen und dabei daran zu denken, dass wir neun Stunden später im Sattel unserer Maschinen eine Fahrt von über viertausend Kilometern antreten würden. Dass wir uns in ein aufregendes Abenteuer stürzten, ahnten wir und sprachen schon ganz aufgeregt von den Straßen, vom Sonnenschein, vom Meer und vom Wellenreiten. Wir standen gewissermaßen gespannt und mit klopfendem Herzen vor einer Tür, hinter der alle künftigen Überraschungen verborgen waren. Durch das Schlüsselloch konnte man nur das Allernächste schemenhaft erkennen, alles andere würde erst im Laufe der Zeit zum Vorschein kommen. So warteten wir mit Ungeduld die wenigen Stunden, bis sich diese Tür endlich auftat, bis unser Abenteuer seinen Lauf nahm – unsere Surfari, unser Motorradtrip zum Surfertraum ...

Samstag, 29. Juli 1967


Rrrrr —— Der Wecker rasselte, kaum dass ich mich erinnerte, am Abend zuvor nach einem tiefen Blick ins Cinzano-Glas eingeschlafen zu sein. Es war viertel nach sechs, und der freundliche Sonnenstrahl, der sich ins Zimmer schlich, wollte einen herrlichen Tag versprechen. Zwar sah dieser Morgen noch aus wie einer von so vielen, denn wie immer gab es Kakao und Butterbrote, aber das Anlegen der Ledermontur war eine bislang ungewohnte Angelegenheit. Nachdem der Tankrucksack mit meiner Fotoausrüstung, der große Koffer und der unförmige Zeltsack mit langen Lederriemen kunstgerecht auf die Maschine gepackt waren, wurde mir allmählich bewusst, welch weites Ziel wir uns gesetzt hatten und auf welch arglose Weise wir ihm entgegenfieberten. Nach dem unvermeidlichen Abschiedsprotokoll klappte endgültig die Brille herunter, die Zündung leuchtete auf, der Kickstarter schnellte hinunter, und die ersten Takte der Begleitmusik zu unserem Abenteuer röhrten in blauen Wolken aus den beiden Auspuffen meiner Maschine.
Bei Jürgen wiederholte sich der wehmütige Abschied – für uns war er keineswegs wehmütig, denn es zog uns jetzt mit allen Fasern nach Westen –, dann ließen wir das vertraute Trostberg hinter uns und genossen jene Spannung und Elektrizität, die jetzt alles zu erfüllen schien.
Ein kurzer Regenschauer überraschte uns in München, konnte unser Hochgefühl jedoch nicht beeinträchtigen, denn nach anderthalbstündiger Fahrt hatten wir bereits über hundert Kilometer ohne Schwierigkeiten zurückgelegt.
Doch Halt – man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Vor Landsberg, also bereits nach zwanzig weiteren Minuten, verlor Jürgens Motorroller Benzin, und leider mussten wir anhalten. Jürgen hatte den kleinen Fehler zwar bald behoben – der Benzinschlauch war nur lose geworden –, doch half jetzt bei meinem Motor kein gutes Zureden mehr ... Er wollte nicht mehr anspringen. So gab es nur eine Methode: warten und abkühlen lassen. Es war die alte Krankheit, doch was half es ... Kurz darauf, in Landsberg, nahm meine Adler das Kolonnenkriechen recht übel und konterte mit dem Ausfall eines Zylinders. Wieder war eine Kühlpause fällig, und während Jürgen losbrauste, um eine neue Zündkerze zu besorgen, machte ich es mir mit einer Tüte Bonbons bequem und hatte Zeit, über diese »verdammte Phantom-Krankheit« meines alten Hobels nachzudenken.
Doch waren wir nicht so leicht zu erschüttern. Noch bestand kein Grund zur Aufregung. Zum Mittagessen in Kempten konnten wir es voraussichtlich noch ziemlich leicht schaffen.
Aller guten (und in diesem Falle auch aller unangenehmen) Dinge sind bekanntlich drei, und so brachte uns eine schier endlose Fahrzeugschlange vor Kempten beinahe aus der Fassung. Im Schritttempo ging es vom Ortseingang bis zur Brücke über die Iller, und das war natürlich zu viel für die Adler, die unbedingt zügig gefahren werden wollte. Eine halbstündige Rast (sprich: Kühlpause) war unvermeidlich, und die mitleidigen Blicke eines Polizisten weckten die ersten Zweifel, ob ich jemals an den Bodensee, das Ziel dieses Tages, kommen würde.
Bei Onkel, Tante und Cousine wurden wir schließlich mit Schweinebraten und Semmelknödeln gemästet, als hätten wir schon tagelang nichts mehr zwischen die Zähne bekommen. Auf die vielen Fragen, wie es bisher gelaufen wäre, erzählten wir mit gut gespielter Ruhe und Gelassenheit von den eigensinnigen Zicken meiner Maschine und davon, dass wir ihr das sehr schnell austreiben wollten. Es brauchte ja niemand zu wissen, dass wir uns insgeheim den Kopf zerbrachen, wie es nun weitergehen sollte, und ob wir vielleicht in Büßlingen die Fahrt abbrechen müssten ...
Im Augenblick war aber der Himmel über Kempten zu herrlich blau für so düstere Gedanken, und wir entledigten uns ihrer und unserer heißen Lederanzüge, um bei Limonade, Kaffee und Kuchen ausgiebig Siesta zu halten.
Um drei Uhr nachmittags endlich brachen wir wieder auf, und da wir nun frisch gestärkt und die Maschinen reichlich abgekühlt waren, legten wir uns mit neuen Hoffnungen in die Kurven, die uns immer weiter von zu Hause wegbrachten. Wieder fesselten uns die Geschwindigkeit, das Brummen der Motoren und das Vorüberziehen von Hügeln, Wäldern, Wiesen und Dörfern. Und ab und zu vergaßen wir ganz unsere schwerwiegenden Probleme. Wie gut, dass wir nicht so leicht zu erschüttern waren und uns lieber auf all das Schöne freuten, das auf uns zukam, als uns über die Vergangenheit den Kopf zu zerbrechen. Lindau und das Nordufer des Bodensees blieben nur kurze Eindrücke, denn wir zogen es vor, am Tagesziel – Büßlingen bei Schaffhausen – so bald wie möglich anzukommen. Nach einigen kleinen Pausen, in denen wir die sonnige Landschaft genossen, wussten wir, dass sie – und in dieser Beziehung war meine Adler zweifellos eine SIE – wieder einmal ihre kritische Zeit hatte, die nur durch konsequent zügiges Fahren gemeistert werden konnte. Aus diesem Grunde musste ich einmal befürchten, den linken Schalldämpfer zu verlieren, als ich in einer scharfen Linkskurve über einen Bahnübergang schoss und dabei mit dem Auspuff knallend auf das Gleis federte. Doch was der Motor anscheinend an Schwächen zeigte, lag an Stärke und Robustheit im Fahrgestell – immerhin ein Trost.
Wir hatten kaum den opulenten Mittagsbraten bei meiner Cousine in Kempten richtig verdaut, da sahen wir uns in Büßlingen bei Jürgens Tante wahren Schnitzel-Ungetümen und zahllosen Beilagen gegenüber. Zwar war alles recht köstlich zubereitet, doch hätten wir es lieber für später zurückgestellt, wenn wir vielleicht mehr Hunger hatten. – Zum Beispiel irgendwo in Frankreich, wo wir nirgends gefüllte Teller sorgender Verwandter erwarten konnten.
»Ja was ist? – Schmeckt’s etwa nicht?«, wollte die Tante wissen und verlangte wohl insgeheim von uns, dass wir ihr jetzt das Gegenteil bewiesen. Und das taten wir. Mit mannhafter Selbstverachtung gelang es uns, die Platten zu leeren. Andersherum betrachtet war es nämlich auch ein gewisser Vorteil, auf diese Weise mit dem Essen für einige Tage vorgesorgt zu haben.
Wir waren zum Platzen voll. An Schlaf war in diesem Zustand nicht zu denken, und so wurde ein ausgedehnter Verdauungsspaziergang auf die kleine Anhöhe hinter dem Haus zur unbedingten Notwendigkeit. Die Freude, das Ziel des ersten Tages erreicht zu haben, ließ uns alle Schwierigkeiten beinahe vergessen (ein voller Magen macht ja auch froh), und sichtlich ausgelassen turnten wir durch das hohe taunasse Gras. Dieses unbeschwerte Treiben dauerte jedoch nur einige Augenblicke, nämlich so lange bis wir auf die Schwärme von feindlich gesinnten Stechmücken und Bremsen aufmerksam wurden, denen wir uns nur mit größter Mühe und unter Anwendung jeder erdenklicher List erwehren konnten.
Aber es war nicht auszuhalten. Ein paar Ferientage an diesem Ort würden uns zur Verzweiflung bringen. So stand unser Entschluss fest. Mochte meine Maschine auch noch so spinnen, wir würden unsere Fahrt so weit fortsetzen, wie es eben möglich war. Nach Hause wollten wir auf keinen Fall (dazu waren wir viel zu stolz), und von hier vertrieben uns die Mücken, also blieb – übrigens zu unserer ungeteilten Freude – als einzige Lösung: Weiterfahren. Der Entschluß war gefasst, doch im Augenblick galt es unseren lästigen Peinigern zu entwischen. Mit abgerissenen Schachtelhalmen die dichten Schwärme abwehrend, unsere hellblauen Jeans übersät mit dem schwarzen Gekrabbel dicker Bremsen, liefen wir den Wiesenhang hinunter, um uns zurück ins Haus zu retten und vom Lauf erhitzt unsere vollen Bäuche vor dem Fernsehschirm zu entspannen.
Seltsamerweise sollten wir auch am morgigen Abend mit solchen geflügelten Peinigern zu tun haben, eine richtiggehende Plage ... Und auch an den übrigen Tagen unserer Reise stellte sich uns manchmal das gar nicht unwichtige Problem: Gestochen werden oder nicht – das ist hier die Frage.

Sonntag, 30. Juli 1967


Die Nacht in Büßlingen war für mich wenig erfreulich – Ich schlief sehr unruhig. Das Erlebnis des ersten Reisetages, die Aufregung, die vielen Eindrücke mochten ihren Einfluss gehabt haben. Zwar war ich gestern todmüde gewesen und froh, mich in einem kühlen Bett ausstrecken zu können, doch stellte sich heraus, dass ich den größten Teil der Nacht hindurch nur oberflächlich dahindöste und von der überlauten Turmuhr gleich gegenüber stündlich zur Verzweiflung gebracht wurde. Büßlingen besitzt, obwohl es noch auf deutschem Boden liegt, eine Turmuhr nach Schweizer Art, die jede Stunde oder gar jede halbe mit einem kurzen Glockenspiel verkündet. Ich vermisste den vertrauten Klang schwerer bayerischer Kirchenglocken und fühlte mich bei diesem recht eigenartig leiernden Ton sehr viel weiter nach Süden versetzt. Diese Gedanken beschäftigten mich natürlich erst später. In dieser Nacht wartete ich nur mit Ungeduld auf den Morgen und versuchte, durch Zuhalten der Ohren und Verkriechen unter einem Knäuel Bettdecken, dieser regelmäßigen Folter zu entkommen.
Nachdem nun endlich der Morgen gekommen war und wir von Jürgens Tante mit Kaffee, Kuchen und kleinem Gebäck aufs Neue gemästet wurden, sahen wir mit dem zweiten Reisetag unserem ersten Grenzübertritt entgegen.
Bei mir herrschten – nur allzu leicht verständlich – gemischte bis ungewisse Gefühle vor. Bei Jürgen zwar nicht in dem Maße, weil seine Maschine ordnungsgemäß lief, doch war er nicht ganz unbeschwert, da ein Schaden an meiner Adler auch ihn zum Umkehren zwingen würde. Am Rheinfall bei Schaffhausen bekamen die Verschlüsse unserer Kameras erstmals zu tun. Es war jedoch nur ein kurzer Aufenthalt vor jener, rauschenden, tosenden, hell flimmernden Kulisse, wo es so angenehm frisch nach Süßwasser roch. Unwillkürlich musste ich an unsere Alz zu Hause denken, wo ich gern zwischen den Uferfelsen saß, in das Flimmerspiel der Sonne starrte und diesen gleichen Geruch von Süßwassergischt in tiefen Zügen genoss ...
Mit letzten bewundernden und neidvollen Blicken auf eine schwere englische Triumph, die in ihrem energischen Bass auf der schmalen Straße zur Rheinfall-Promenade herunterbrummte, ließen wir den Rheinfall und Schaffhausen hinter uns und legten unter strahlender Sonne in bester Reiselaune einen Schnitt von 90 auf die kurvenreiche Straße nach Waldshut. Dort fuhren wir zum zweiten Mal von Deutschland in die Schweiz, und ich bekam anlässlich einer allzu langen Autoschlange gewisse Bedenken, was meine Adler dazu sagen würde. Eigentlich benahm sie sich ganz zivilisiert, solange ich sie gut auf Touren hielt, ich durfte nur nicht die Hand vom Gas nehmen. Ich hatte also bloß die linke Hand frei und reichte dem Schweizer Grenzer den Ausweis mit dem Hinweis, der Motor würde mir sonst abwürgen. Der uniformierte Knabe aber zauberte ein süßsaures Lächeln hervor und wollte partout nicht selbst den Personalausweis in die Hand nehmen, um ihn aufzuschlagen. Mir blieb also nichts anderes übrig, als meine Rechte vom Gasgriff zu nehmen und dem Herrn das Papier aufgeklappt unter die Nase zu halten.
Er war zufrieden – ich nicht. Denn jetzt stand die Maschine und machte keinen Mucks mehr.
Sie verlangte nach einer Verschnaufpause von mindestens dreißig Minuten.
Wir waren schon wieder auf der Strecke, als bei uns beiden ein gewisses Gefühl im Magen den nahenden Mittag ankündigte. Kurz vor Aarau fanden wir ein ehrwürdiges Wirtshaus, das nach Lage und Aussehen genau das Richtige zu sein schien. Es war das Gasthaus »Zum Bären«, und im schattigen Garten machten wir uns sogleich mit Heißhunger über ein saftiges Wiener Schnitzel mit Salat und Pommes frites her. Zwar waren wir noch gar nicht weit von der deutschen Grenze entfernt, doch begannen sich schon hier bei der Verständigung mit der Kellnerin einige Schwierigkeiten einzustellen. Es war aber halb so wild, wir wussten die Sache schon zu schaukeln, und da das Essen gut war, behielten wir einen gemütlichen und vor allen Dingen satten Eindruck von dieser Mittagspause. Wir waren umso zufriedener, als wir alles mit dem Geld von Jürgens Tante bezahlen konnten. Die hatte ihm vor der Abfahrt zwei Scheinchen in die Tasche gesteckt. Das Wetter war so herrlich und die Straßen so gut, dass uns ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit und Unbeschwertheit umfing. Manchmal sangen wir während der Fahrt oder winkten freudig entgegenkommenden Motorradfahrern zu, und im Nu hatten wir über Ölten und Solothurn den Bieler See erreicht. Als Jürgen hier tanken musste, verbanden wir das Notwendige gleich mit dem Vergnügen und legten eine längere Pause ein, um dem süßen Nichtstun zu frönen. Endlich schienen wir das Rezept zu ungetrübten Reisefreuden gefunden zu haben – wir fuhren mehr oder weniger ins Blaue, genossen den Augenblick und taten immer das, was uns gerade einfiel. Gerade jetzt wollten wir richtig faulenzen, die Sonne und den Bieler See genießen. Dazu hatten wir einen kleinen Bootsverleih ausgesucht und machten es uns zwischen Außenbordern, Fiberglasrümpfen und Takelage bequem. Der Chef, der sich freute, ein paar Worte Deutsch an den Mann bringen zu können, hatte ganz und gar nichts dagegen. Ab und zu fuhren wir neugierig auf, wenn das auffällige Röhren eines Auspuffs einen rassigen Sportwagen ankündigte doch sonst ließen wir uns kaum aus der Ruhe bringen ...
Bis auf einmal deutsche Laute an unsere Ohren drangen. Sofort waren wir hoch und entdeckten hinter der Zapfsäule einen süßen Minirock, der uns umso mehr entzückte, als aus ihm zwei bezaubernde Beine herausragten. – Ich glaube, wir beide träumten gerade davon, auf der langen Reise eine solche Sozia dabeizuhaben, als mit einigen barschen, befehlenden Worten eines für uns nicht sichtbaren Erwachsenen die ganze »Fata Morgana « verschwand, wie sie gekommen war. Was uns blieb, war der Rest eines eben begonnenen Traums und ein bisschen Mitleid, dieses Wesen in der Gesellschaft eines Rohlings zu wissen. Was uns aber außerdem blieb, war dieser strahlende Sommernachmittag, in dessen flimmerndem Blau wir schließlich versanken, sodass bald wieder alle Gedanken irgendwo im Nichts des Dahindösens endeten.
Lange Schatten erinnerten uns am späten Nachmittag daran, dass wir noch bis zum Genfer See kommen wollten, und bald sahen wir erneut Eindrücke über Eindrücke auf uns einstürmen. Vorbei am See von Neuchâtel, der scheinbar nicht enden wollte, und über kurvenreiche Straßen nach Morges am Genfer See führte uns die letzte Etappe dieses unvergesslichen Tages, an dem Jürgen in eine höchst brenzlige Situation kam. Sie hätte das Ende unserer Fahrt bedeuten können, wie er mir später am Abend erzählte. 

Irgendwo bei Orbe auf der schmalen Verbindungsstraße zwischen Yverdon und Cossoney lag auf einer Hügelkuppe – von unten nicht sichtbar – eine schmale, zwischen zwei scharfen Kurven eingeklemmte Brücke über eine Eisenbahnlinie. Ich als Vorausfahrender hatte das Hindernis dank des tief liegenden Schwerpunktes meiner Maschine mit leichter Gänsehaut und in äußerster Seitenlage bereits glücklich hinter mir, als Jürgen nachsetzte, den Hügel mit zu viel Schwung heraufdonnerte und dadurch ebenso in diese heikle Lage kam. War die S-Kurve überhaupt zu schaffen? Im Geiste sah er sich schon über die Betonbrüstung der Brücke segeln und tief unten auf den Schienen zerschellen – erzählte er – , doch er schaffte es um Haaresbreite und mit »zusammengebissenen Zähnen und eingerollten Zehen«. Nyon am Genfer See endlich war unser Ziel, die Jugendherberge in der Rue de Genève. Unerwartet schnell fanden wir sie, und mein Motorrad knallte wie erleichtert eine herzhafte Fehlzündung in den ruhigen Abend. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite drehte sich ein Radfahrer erschrocken um und äugte besorgt nach seinem Hinterreifen, während wir lachend in das große Tor der Jugendherberge einfuhren. Schiefe Kamine, morsche Fensterläden und Fragmente eines vielleicht ockerfarbenen Verputzes, dazu ein verwilderter Garten, der als Zeltplatz diente, ließen erahnen, dass das Haus vor etlichen Jahren oder Jahrzehnten noch ein romantisches Schlösschen auf dem hohen Ufer des Genfer Sees gewesen sein musste.