»I won’t leave no message, I’ll just shut my mouth
And keep dreaming golden dreams …«
Motorpsycho, »Un chien d’espace«
»Some places are like people: some shine and some don’t.«
Dick, »The Shining«
Srecko Bradaric hatte die marinierten Rasnici gerade auf den Grill gelegt, als sein Diensthandy klingelte. Er brauchte seine Frau gar nicht erst anzuschauen, er wusste auch so, dass sie mit den Augen rollen würde. Und Dana hatte ja recht, der Augenblick war denkbar ungünstig: wolkenloser Himmel, hoch stehende Sonne, Schwalbengezwitscher, ein hochsommerlicher Samstagnachmittag, wie man ihn sich nicht besser ausmalen konnte. Ein Freund war samt Familie zu Besuch, die Kinder sprangen auf dem Trampolin und bespritzten sich dabei jauchzend mit Wasserpistolen, der große Gartentisch war eingedeckt und – vielleicht das Beste – in einem Plastikbottich voller Eiswasser dümpelten ein Dutzend Flaschen Indian Pale Ale aus einer kleinen Brauerei in Emmaboda vor sich hin, ein Bier, das kürzlich auf der Internetseite nothingbutbeer mit neun von zehn möglichen Sternen bewertet worden war. Srecko legte seufzend die Grillzange beiseite, nahm das Handy aus der Brusttasche seines kurzärmligen Hemds und sah aufs Display. Es war Ed Oskarsson, einer der Bewohner des Stairway to Heaven. Ausgerechnet Oskarsson. Sreckos Laune sackte ins Bodenlose. Oskarsson war ein besserwisserischer Rentner, ein Meckerfritze vor dem Herrn, der davon überzeugt war, dass er mit seinem Einzug in das exklusive Apartmenthochhaus im Norden der Stadt das Anrecht auf einen Rund-um-die-Uhr-Service erworben hatte, und Srecko regelmäßig zu den denkbar ungünstigsten Zeiten mit absurden Beschwerden, abwegigen Forderungen und obskuren Beschuldigungen nervte. Mal unterhielten sich die Nachbarn angeblich zu laut auf dem Balkon, mal trieben sich auf dem hauseigenen Hof vermeintlich verdächtige Gestalten herum, mal roch es unangenehm aus dem Müllschlucker – wer zum Teufel kam auf die Idee, in den Müllschacht hineinzuschnüffeln? Es war doch klar, dass es dort nicht nach Rosenblättern duftete! Da half es nichts, dass Srecko ihm schon x-mal erklärt hatte, dass er nicht Oskarssons persönlicher Assistent, sondern der facility manager war – mit Familie und festen Arbeitszeiten. Doch dies focht Oskarsson nicht an. Er war ein Plagegeist, ein echter Bukavac, der Srecko seinen Job, den er eigentlich gern mochte, immer mehr verleidete. Kurz spielte er mit dem Gedanken, das Gespräch einfach wegzudrücken, doch er wusste aus Erfahrung, dass das wenig nützen würde. Oskarsson würde unverzüglich die 24-Stunden-Hotline der Immobilienfirma anrufen, die das Stairway to Heaven verwaltete, und es würde keine fünf Minuten dauern, bis sich sein Chef persönlich bei ihm melden und ihn zur Schnecke machen würde. Nein, vor Oskarsson gab es kein Entkommen, Sommertag und Wochenende hin oder her. Notgedrungen nahm er das Gespräch an.
Oskarsson war auf hundertachtzig: Die Klimaanlage in seiner Wohnung spiele verrückt, ausgerechnet am heißesten Tag des Jahres. Er habe die Temperatur im Wohnzimmer gemessen, handgemessen, wie er betonte – was auch immer das bedeuten sollte –, und zwar mit einem Präzisionsthermometer, neununddreißig Grad, eine Zumutung sei das, eine Unverfrorenheit, er bezahle nicht monatlich einhundertachtzig Kronen pro Quadratmeter, um sich mit einem derart gottverdammten Mist herumplagen zu müssen. Srecko solle unverzüglich seinen fetten Jugo-Arsch herbewegen und sich um die Sache kümmern. Der geifernde Alte legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten.
Srecko seufzte erneut, steckte das Mobiltelefon weg, griff nach der Grillzange, drehte die Fleischspieße um und blickte mit zusammengepressten Lippen Dana an, die seinen Gesichtsausdruck wie immer richtig deutete und sachte den Kopf schüttelte. Nein, sollte das heißen, diesmal nicht, Srecko, bitte nicht, lass dir das nicht länger gefallen. Lehn dich auf. Geig dem Kerl die Meinung. Sei ein Mann. Er widerstand dem Impuls, gegen den Gasgrill zu treten. Sie hatte ja recht, natürlich hatte sie das, es war nicht fair, wie Oskarsson ihn behandelte, wie er ihn herumkommandierte und wie einen Lakaien antanzen ließ, wann immer es ihm passte. Doch was hatte Srecko schon für eine Wahl? Abgesehen von diesem verteufelten Bukavac, der ihm im Nacken saß, war die Arbeit in Ordnung, alle anderen dreiunddreißig Bewohner waren nett oder zumindest umgänglich, und das Gehalt stimmte, er hatte in seinem langjährigen Berufsleben im Gebäudemanagement noch nie mehr verdient. Und sie brauchten das Geld, jede Öre davon, seit sie das Reihenhaus gekauft hatten, in dessen schönem Garten sie sich gerade befanden, in dem er seine Freunde bewirtete, in dem die Kinder auf dem Trampolin tobten, in dem die Luft erfüllt war von Sommer und dem verheißungsvollen Geruch der Rasnici, die niemand so gut würzte wie seine Dana.
Verflixt noch mal. Er hob die muskulösen Schultern und ließ sie wieder fallen. Enttäuschung legte sich auf Danas Gesicht, er hasste es, wenn sie so guckte, aber was sollte er denn machen? Menschen wie sie, Einwanderer, Neu-, Halb- oder Noch-immer-nicht-Schweden, hatten keine Wahl. Das hatten sie nie. So viel hatte er in mehr als dreißig Jahren in diesem Land begriffen.
Nun hatte auch sein Freund bemerkt, dass etwas im Gange war.
»Alles in Ordnung?«, fragte Zlatko.
»Alles in Ordnung«, wiegelte er lächelnd ab, »ich muss nur kurz los, ein Notfall auf der Arbeit, es wird nicht lange dauern, ich bin zurück, bevor die Spieße gar sind.« Er löste die Schleife der Schürze, die mit roten Dalarna-Pferden bedruckt war, und nahm sie ab. »Kannst du so lange den Grill übernehmen?«
Neuneinhalb Minuten später parkte er seinen Golf in der Tiefgarage des Heaven und stieg aus. Hier unten war es angenehm kühl. Er ging einige Schritte und verschaffte sich mithilfe seiner Chipkarte, die als Generalschlüssel für das gesamte Haus diente, Zutritt zur Wirtschaftszentrale des hochmodernen Gebäudes. Dies hier war sein Reich. Hightech, alles nur vom Feinsten. Er prüfte die Anzeigen der Belüftungsanlage. Das Haus schuf sich sein eigenes Klima, das musste man sich einmal vorstellen. Kurz dachte er an seine Großmutter, an seine Baka, die ihr ganzes Leben in einer einfachen, aus Naturstein gemauerten Berghütte verbracht hatte. Als kleiner Junge hatte er den Bohneneintopf geliebt, den sie über dem offenen Feuer gekocht hatte. Das war eine andere Zeit gewesen und ein anderes Land, dachte er. Aber nun war kein Raum für Sentimentalitäten. Er wollte nichts anderes, als dass Oskarsson Ruhe gab und er so bald wie möglich wieder zurück nach Hause an den Grill konnte. Er konzentrierte sich auf die Displays und erkannte rasch, was im Argen lag. In der zwölften Etage, in der sich Oskarssons Wohnung befand, war ein Luftfilter verstopft, woraufhin sich die Klimaanlage in diesem Stockwerk automatisch ausgeschaltet hatte. Wahrscheinlich wieder die verdammten Pollen. In der Vorwoche hatte es ein ähnliches Problem in der zehnten Etage gegeben und im Monat davor die gleiche Geschichte in der vierzehnten. Irgendwie schien es immer nur die Stockwerke mit geraden Zahlen zu treffen, fiel ihm auf. Doch die Hauptsache war, dass sich das Problem leicht beheben ließ. Er nahm einen neuen Luftfiltereinsatz aus dem Metallschrank auf der anderen Seite des Raums, zog die Tür hinter sich zu und ließ sich von dem ultramodernen Fahrstuhl in den zwölften Stock befördern. Als er aus dem Lift trat, ging ihm auf, dass sich der Lufteinzug für diese Etage gar nicht in Oskarssons Wohnung befand, sondern in der gegenüberliegenden. Der Bewohner dieses Apartments hieß Adam Arlemark. Srecko kannte ihn kaum. Arlemark, ein Mann in den Vierzigern, war viel unterwegs, wahrscheinlich geschäftlich, er machte irgendetwas mit Software, wenn sich Srecko richtig erinnerte. Dass er nun in Arlemarks Wohnung musste, um den Luftfilter auszutauschen, war ihm gar nicht mal unrecht, alles war besser, als unter Oskarssons argwöhnischem Blick zu arbeiten und sich dabei aufs Übelste beschimpfen lassen zu müssen. Fetter Jugo-Arsch, hatte der Alte das wirklich gesagt? Dieser durchgeknallte Rassist hatte doch nicht alle Tassen im Schrank! Srecko klingelte bei Arlemark. In der Wohnung rührte sich nichts. Er klingelte erneut. Wieder nichts. Offenbar war der Mann nicht zu Hause. Wer blieb auch an einem solchen Prachttag wie heute in seiner Wohnung? Nur verbitterte Rentner, wie Oskarsson einer war. Srecko spielte mit der Chipkarte in seiner Hand. Er musste sie einfach nur vor das elektronische Schloss halten und die Tür würde aufspringen. Vertraglich war ihm das Betreten der Wohnungen in Abwesenheit der Bewohner in dringenden Wartungsfällen ausdrücklich erlaubt. Trotzdem hielt ihn etwas zurück. Es fühlte sich nicht richtig an, ohne Arlemarks Kenntnis in dessen Apartment einzudringen. Er fischte das Diensthandy aus der Hemdtasche und scrollte sich durch das Bewohnerverzeichnis, bis er die richtige Nummer hatte. Er rief an. Nach dem siebten Klingelton sprang eine Mailbox an. Er hinterließ eine Nachricht, in der er die Situation kurz schilderte und Arlemark über den notwendigen Filtertausch und die daraus resultierende Notwendigkeit des Betretens seiner Wohnung informierte. Anschließend steckte er das Handy wieder weg und öffnete mit der Karte das elektronische Schloss. Die Tür sprang auf.
Das Erste, was Srecko auffiel, war der eindringliche Geruch. Chemisch irgendwie. Wie Desinfektionsmittel oder verschütteter Alkohol. Gleichzeitig aber auch organisch, wie Humus, wie Waldboden, pilzig, dachte Srecko, aber mit einer seltsam süßlichen Kopfnote. Er schritt durch den dunklen Flur und trat in das großzügig geschnittene Wohnzimmer mit Glasfront. Gleißendes Licht stach ihm in die Augen. Die hoch stehende Sonne musste den Raum auf über vierzig Grad aufgeheizt haben, augenblicklich trat ihm Schweiß auf die Stirn. Geblendet blinzelte er ins Gegenlicht. Das gebohnerte Parkett reflektierte die Sonnenstrahlen, die durch die bodentiefen Fenster ins Innere fielen. Unwillkürlich blieb er stehen. Lag da jemand? Lag da einer auf dem Boden? Lag da Arlemark?
»Hallo?«, sagte er zaghaft.
Ja, da lag jemand, erkannte er, als sich seine Augen ein wenig an die anstrengenden Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Da lag jemand rücklings auf dem Boden.
»Adam?«, fragte er, während er langsam einen Schritt vor den anderen setzte.
Keine Reaktion.
Er umrundete die reglose Person in einem Halbkreis und die Lichtverhältnisse änderten sich. Nun erkannte er es.
Nun erkannte er ihn.
Es war Adam Arlemark. Sein Gesicht war intakt. Aber …
Srecko schluckte so trocken, dass es noch Augenblicke später im Hals schmerzte. Seine Knie drohten nachzugeben, aber er blieb aufrecht stehen. Er hatte als Kind den Krieg erlebt. Er hatte Dinge gesehen, die niemand je erleben oder sehen sollte. Aber so etwas …?
Er wendete sich ab, öffnete die Balkontür, taumelte hinaus, tippte mit zitterndem Finger die Nummer der Polizei auf dem Handy und erklärte stammelnd die Situation.
»Lebt die aufgefundene Person womöglich noch?«, fragte die sachliche Stimme am anderen Ende schließlich.
»Ob sie noch lebt …?«, krächzte Srecko.
Er hatte noch nie eine abwegigere Frage gehört.
Stockholm-Tensta im Juli, achtunddreißig Grad im Inneren des parkenden Vans. Kommissarin Stina Forss sah durch die verdunkelten Scheiben nach draußen. Die Luft flirrte in den Straßenschluchten zwischen den Wohnblocks. Häuser wie Monolithen, Plattenbaulabyrinth, schlimmer als Berlin-Marzahn, dachte sie und wischte sich mit dem nackten Arm Schweiß von der Stirn. Aber dies war nicht ihre alte Heimat, sondern die neue. Die neueste, um genau zu sein. Tensta, eine Sechzigerjahre-Vorstadtbausünde, sogenanntes Millionenprogramm, längst eine Art Ghetto und Sackgasse Zigtausender Biografien, eine Hochhaushölle, eingeklemmt zwischen zwei anderen Hochhaushöllen, Hjulsta und Rinkeby. Hinten die Autobahn, vorn ein Waldgürtel, der die braven Einfamilienhäuser in Bromsten vor dem Einfall der Barbaren schützte. Forss kannte die Zahlen, jahrzehntelange Vorurteile waren irgendwann zu Fakten geronnen: Allein im Vorjahr achtzig Schusswechsel, siebzehn Tote, viele von ihnen noch nicht einmal volljährig, die meisten mit Migrationshintergrund. Self-fulfilling prophecies. Und diese furchtbaren Zahlen galten allein für den Großraum Stockholm. In Malmö, Göteborg, Uppsala, Borlänge sah es ähnlich aus. Mehr als siebzig Schusswaffenopfer landesweit. Das war auf die Einwohnerzahl hochgerechnet europäische Spitze. Nahezu amerikanische Verhältnisse. Die neueste Entwicklung der ohnehin schon angespannten Situation waren Sprengstoffattentate in den Gebieten der jeweiligen Kontrahenten, auf Wohnungen, Autos, Unterschlupfe. Mehrfach war es bereits zu schweren Verletzungen Unbeteiligter gekommen, von den immensen Sachschäden und dem zunehmenden Unsicherheitsgefühl in den betroffenen Stadtvierteln ganz zu schweigen. Und genau deshalb war sie hier. Operation Rimfrost, Raureif, hieß die landesweite Polizeistrategie, die Ressourcen bündeln sollte, um den entfesselten Drogenbandenkriegen endlich robust zu begegnen. Nachdem Forss vor Jahren in letzter Sekunde einen terroristischen Bombenanschlag verhindert und Tausende Menschenleben gerettet hatte, galt sie in Polizeikreisen als Kapazität, was Sprengstoffattentate anging. Der Leiter der landesweiten Operativen Einheiten, kurz NOA, hatte sie vor neun Monaten aus Växjö hierhergelotst, aus der småländischen Provinz an die vorderste Front des Kampfes gegen Bandenkriminalität. Ihre Gründe, Växjö zu verlassen und endlich wieder in einer Großstadt zu arbeiten, waren vielfältig und …
»Es tut sich was.«
Die Stimme des Einsatzleiters riss sie aus ihren Gedanken. Håkan Rydell war ein schmaler, großer Mann mit Brille, ehrgeizig und wie sie Anfang vierzig. Sie sah zu einem der Fenster im fünften Stock des Wohnblocks auf, vor dem ihr Fahrzeug postiert war, und hielt einen Kopfhörer an ihr Ohr. Sofort setzte Stimmengewirr ein. Die Zielpersonen, auf die sie warteten, betraten die verwanzte Wohnung. Forss lauschte und spürte, wie ihr unter der schusssicheren Weste der Schweiß den Rücken hinablief. Die Hitze machte es schwer, sich zu konzentrieren, sie hockten hier bereits seit Ewigkeiten in dem stickigen Wagen. Forss blickte auf die Uhr, zupfte an ihrer Augenklappe, fuhr sich durch die rotbraunen Locken. Ihr Körper kribbelte vor Ungeduld. Langmut war definitiv keine ihrer Stärken. Sie drückte die Kopfhörermuschel fester auf ihr Ohr. Nun verstand sie vereinzelte Satzfetzen.
»… bekommt nichts auf die Reihe, der Asi.«
»… schon immer ein fertiger Typ, dieser Kanake.«
»Tarek meinte, er würde vielleicht später …«
»… die Fresse halten.«
Lachen.
Rauschen.
Undefinierbares Rumpeln.
Dann wieder Stimmen, diesmal klar und nah an einem der versteckten Mikrofone.
»… wollen wir mal zum Geschäftlichen kommen, Brüder.«
»… cash, habibi, Bargeld lacht …«
»Was du nicht sagst.«
Sie erkannte die Stimme des Angesprochenen wieder.
»Das ist er, wir sollten reingehen«, sagte sie laut. »Jetzt, auf der Stelle.«
Rydell warf ihr einen langen Blick zu, bevor er sich kopfschüttelnd an die anderen beiden Kollegen wandte. Die Chemie zwischen ihr und dem Rest des Teams hatte vom ersten Augenblick an nicht gestimmt.
»Du kennst die Befehle, Forss. Wir warten, bis das Mobile Einsatzkommando eintrifft. Und jetzt Ruhe!«
Naserümpfend ruckelte er seinen Kopfhörer zurecht.
Zu ihrer Ungeduld gesellte sich Wut. Rydell war zwar der Teamleiter, trotzdem war das hier ihr Baby. Ihr Informant, ihre Show, so einfach war das. Sie musste sich beherrschen. Dabei hatte sie sich geschworen, dass es dieses Mal anders laufen sollte als in Berlin und Växjö. Ruhiger. Entspannter. Keine Alleingänge mehr, keine Ausbrüche, kein Aufbegehren. Sie hatte in ihrem Leben schon zu oft von vorne angefangen. Sie klaubte eine Dose Snus aus ihrer Gesäßtasche, öffnete sie und schob sich ein Tabakpäckchen unter die Oberlippe. Vielleicht beruhigte das Nikotin ein wenig. Sie schätzte die Situation grundlegend anders ein als Rydell. Ihr Informant hatte recht gehabt. Jamal Khaled, der top boy von Tensta, war persönlich zu dem Treffpunkt gekommen. Jetzt, in diesem Augenblick, befand er sich in der Wohnung. Und mit ihm aller Wahrscheinlichkeit nach mehrere Kilo Heroin, ein Haufen Schwarzgeld und jede Menge illegaler Waffen. Solche Gelegenheiten gab es nicht oft. Sie spürte unmittelbar die elektrisierende Wirkung des Kautabaks. Rydell war ein ausgemachter Idiot, wenn er weiter auf das Sonderkommando wartete, anstatt sofort zu handeln. Allein der Umstand, dass der Einsatz im Vorfeld nicht besser synchronisiert worden war, zeigte seine Inkompetenz. Wieso war das SWAT-Team nicht längst vor Ort und in Stellung gebracht? Das Kribbeln im Körper wurde stärker. Ihr rechter Fuß wippte. Sie zog die Kreppverschlüsse der Kevlarweste strammer. Sie war zu NOA und Rimfrost gekommen, um etwas zu bewirken. Was sie wollte, waren weniger Halbstarke, die sich gegenseitig über den Haufen schossen, abstachen oder in die Luft sprengten. Das erreichte man nicht, indem man zauderte, immer wieder zu spät kam, sodass einem nur noch übrig blieb, die Blutlachen aufzuwischen oder Leichenteile einzusammeln. Das erreichte man nicht, indem man kleine Straßendealer abgriff. Aber vor allem erreichte man nichts mit ängstlichen Vorgesetzten.
»Ich geh da jetzt rein«, sagte sie, riss den Kopfhörer herunter, stand auf und zog die Schiebetür des Vans auf, bevor irgendjemand reagieren konnte.
»Forss, du kannst doch nicht …«
Sie konnte. Sie stieg aus, warf sich eine leichte Windjacke über, die Schutzweste und Holster verdeckte, band sich ihr Halstuch zu einem improvisierten Hijab über die Locken und marschierte los. Das war übereilt. Das war kopflos. Das war wahrscheinlich sogar wahnsinnig. Es allein mit drei oder vier bewaffneten Kriminellen aufzunehmen. Die Späher nicht mitgerechnet, die aller Voraussicht nach an Fenstern und Hauseingängen postiert waren. Doch sie war nicht zwangsläufig allein. Nicht wenn Rydell, Andersson und Hamudi ihr folgen würden. Denn was blieb ihnen anderes übrig? Sie konnten ihre Kollegin schlecht in ein aussichtsloses Feuergefecht laufen lassen. Dazu war der Korpsgeist zu stark, selbst einer renitenten Einzelgängerin gegenüber. Als sie die Straße überquert hatte, hörte sie hinter sich, wie die Schiebetür des Vans ins Schloss fiel und die anderen ihr fluchend folgten. Na, wer sagt’s denn, dachte sie. Die Eingangstür des Wohnblocks hatte kein funktionstüchtiges Schloss, vermutlich schon seit Jahren nicht mehr. Ein Fußtritt und die Tür flog auf. Sie zog die Sig Sauer und orientierte sich. Der Fahrstuhl war außer Betrieb, wahrscheinlich ebenfalls seit Ewigkeiten. Der alleinige Weg nach oben bestand aus dem Treppenhaus, eine Feuerleiter gab es nicht. Der einzige mögliche Fluchtweg für die Zielpersonen führte am Ende des Treppenhauses aufs Flachdach, von wo aus man fünfzig Meter weiter in einen anderen, parallelen Treppenschacht gelangen konnte. Die Tür, die aufs Dach hinausging, stand normalerweise offen. Wenn Forss’ Informant jedoch ganze Arbeit geleistet hatte, war die Tür seit einer guten Stunde mit einem soliden Vorhängeschloss gesichert, sprich: Die Gangster kamen nicht aus dem Haus heraus, ohne an ihr vorbeizugelangen. Irgendwo weiter oben im Treppenhaus pfiff jemand. Das musste die Warnung der Späher sein, sie hatten die drei Kripomänner in ihren schusssicheren Westen über die Straße rennen sehen. Nun ging hinter Forss die Tür auf, Rydell und die anderen beiden traten mit gezogenen Waffen ein.
»Forss, verdammt und zugenäht …«
»Später könnt ihr mich vor die Interne schleppen. Oder vierteilen. Oder wonach auch immer euch der Kopf steht. Aber jetzt brauche ich euch, okay?« Rydell knurrte etwas Unverständliches. Er hatte einen hochroten Kopf und es war schwer auszumachen, ob das an seiner Wut oder der Aufregung lag. Wahrscheinlich beides. Andersson schnaufte, das Übergewicht machte ihn kurzatmig und der Schweiß färbte sein Hemd dunkel. Hamudi nestelte fahrig an seiner Dienstwaffe herum. Nicht gerade die glorreichen Sieben, dachte Forss, aber allemal besser, als allein hier zu stehen. »Wir gehen gemeinsam hoch, einverstanden?« Sie blickte den Kollegen in die Augen. »Denkt daran, es ist wie bei Gandalf im verfluchten Moria: Sie kommen nicht an uns vorbei!« Nicken. »Konzentriert euch auf Jamal. Die anderen sind zweitrangig. Okay? Let’s go!«
Zügig und dicht hintereinander gingen sie die Treppe hinauf, die Waffen beidhändig gegriffen und entsichert. Andersson schnaufte wie eine Dampflok. Forss musste davon ausgehen, dass die Männer im fünften Stock längst durch ihre Späher informiert worden waren. Als sie im dritten Stock angelangt waren, öffnete sich auf dem Treppenabsatz eine Tür. Kurz sah man das verschreckte Gesicht einer alten Frau, dann schlug die Tür wieder zu. Sie hatten die Treppe zum vierten Geschoss gerade zur Hälfte geschafft, als es über ihnen hektisch wurde, gedämpfte Rufe, quietschende Sneakersohlen, schnelle Schritte. Drei, vielleicht vier junge Männer, die die Treppe nach oben nahmen.
»Sie laufen in die Falle«, zischte Forss. »Andersson, du sicherst die Wohnungstür im Fünften, nicht, dass uns Jamal doch noch irgendwie verarscht und hinter unserem Rücken abhaut, falls sie von der verschlossenen Tür Wind bekommen haben. Die anderen mir nach!«
Sie stürmten nach oben. Forss spürte, dass ihr das Training im vergangenen Jahr gutgetan hatte. Auch Rydell und Hamudi waren in Form. Die Verfolgten hatten anderthalb Treppenabsätze Vorsprung. Zumindest bis zum achten Stock. Dann war Schluss. Vorausgesetzt, der Informant hatte sich an sein Wort gehalten, dachte Forss. Als sie am sechsten Stock vorbei waren, hörte sie, wie es über ihnen still wurde. Die Männer mussten die Tür erreicht haben. Sie blieb stehen und bedeutete ihren Kollegen mit einer Handbewegung, es ihr gleichzutun. Der Puls dröhnte in den Ohren, ihr Atem raste. Über ihnen hörte sie einen Fluch. Dann Tritte gegen die Metalltür. Wir haben sie, dachte sie triumphierend, wir haben sie im Sack.
»Ergebt euch!«, rief sie, so laut sie konnte. Ihre Stimme hallte im graffitiverschmierten Treppenschacht wider. »Ihr habt keine Chance! Es sind zweiunddreißig Bullen im Haus und rundherum verteilt.«
Das war gelinde gesagt übertrieben. Zumindest bis hoffentlich bald das verdammte Einsatzkommando eintraf.
Ein Schuss dröhnte über ihnen, gefolgt von einem Aufschrei.
Wahrscheinlich hatte einer der Trottel versucht, das Schloss an der Tür aufzuschießen, und dabei den Querschläger abbekommen. Schlösser aufschießen, so etwas klappte meist nur in Filmen. Sie hörte, wie über ihnen getuschelt wurde, dazwischen schmerzverzerrtes Stöhnen. Die Kerle berieten sich offenbar.
»Überleg dir jeden weiteren Schritt gut, Jamal!«, rief sie. Persönlich werden, Vertrauen aufbauen. »Bisher geht es nur um Drogenhandel und illegalen Waffenbesitz. Wir reden hier von ein bis zwei Jahren Bau.« Das waren reine Fantasiezahlen, aber egal. »Wenn du jetzt jedoch anfängst, auf Ermittlungsbeamte zu schießen, verlässt du den Knast als alter, seniler Sack.« Sie machte eine Wirkungspause, bevor sie fortfuhr. »Ich will, dass du dir das genau vorstellst, Jamal: Nie wieder Party machen. Nie wieder deinen geilen Mercedes AMG fahren. Nie wieder einen wegstecken.«
Wieder hörte man gedämpftes Stimmengemurmel. Sie berieten sich. Dazwischen immer wieder das Stöhnen. Offenbar hatte sich tatsächlich jemand verletzt.
»Okay, wir kommen herunter.«
Sie atmete auf, auch wenn die Nummer noch nicht vorüber war, bevor sie jedem der Gangster Handschellen angelegt hatten.
»Kickt die Waffen die Treppe runter. Wenn ich sage, dass es losgeht, kommt ihr einzeln und mit erhobenen Händen nach unten, verstanden?«
»In Ordnung.«
Drei Handfeuerwaffen und ein Messer schepperten die Treppe hinab. Hamudi und Rydell kümmerten sich darum. Dann kamen die Männer einer nach dem anderen die Stufen herab, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Der erste und jüngste von ihnen war höchstens sechzehn Jahre alt, ein Knirps mit Nasenring, der nächste war vielleicht achtzehn. Er blutete am Ohr. Als dritter und letzter kam Jamal, groß, Mitte zwanzig, muskulös, kurze Dreadlocks, ein vergoldeter Schneidezahn, der durch sein freches Grinsen volle Wirkung entfaltete. Das komplette Klischee, Tenstas top boy. Nach ihm würde es eine neue Nummer eins geben, da machte sich Forss nichts vor. Dennoch war es ein Anfang. Ein Schritt auf dem langen Weg für eine bessere Zukunft der Vorstädte.
»Langsam«, sagte sie, »einer nach dem anderen.«
Der Revolver in der Hand des Kleinen tauchte wie aus dem Nichts auf. Er musste ihn hinter dem Kopf gehalten haben. Er schoss sofort. Das Projektil zischte an Forss vorbei und traf Hamudi, der leicht versetzt hinter ihr stand. Ihr Kollege taumelte zur Seite. Im selben Moment eröffnete Rydell das Feuer. Sein Finger zuckte. Einmal, zweimal, dreimal. Die Schüsse hallten ohrenbetäubend in dem engen, schmutzigen Treppenhaus. Der Junge brach zusammen. In seiner Stirn klafften drei Löcher. Forss’ Ohren fiepten. Der durchdringende Corditgeruch raubte ihr den Atem. Jamal und das andere Gangmitglied hatten sich zu Boden geworfen. Der Jüngere der beiden weinte. Rydell kniete sich vor Hamudis gekrümmten Körper und drückte auf die stark blutende Schulterwunde. Er sah wutentbrannt zu ihr auf.
»Scheiße, Forss«, rief er. »So eine verdammte Scheiße.«