
NICE GUY EDDIE
C’mon, throw in a buck.
MR PINK
Uh-huh. I don’t tip.
NICE GUY EDDIE
Whaddaya mean, you don’t tip?
MR PINK
I don’t believe in it.
Quentin Tarantino
Reservoir Dogs

Wir wollten ins Restaurant gehen. Ich sage jetzt nicht dazu, in welches Restaurant, denn sonst ist es bei unserem nächsten Besuch wahrscheinlich vollkommen überfüllt mit Leuten, die mal sehen wollen, ob wir auch wieder da sind. Serge hatte reserviert. Er übernimmt das Reservieren immer. Das Restaurant ist eins von der Sorte, wo man sich drei Monate im Voraus telefonisch anmelden muss – oder sechs, oder acht, inzwischen weiß ich schon gar nicht mehr wie viele. Ich bin nicht der Typ, der drei Monate im Voraus wissen will, wo er an einem bestimmten Abend essen wird, aber offenbar gibt es Leute, für die ist das überhaupt kein Problem. Sollten Historiker in ein paar Jahrhunderten herausfinden wollen, wie zurückgeblieben die Menschheit zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts war, dann brauchen sie nur einen Blick in die Computer der sogenannten Toprestaurants zu werfen, denn dort werden alle Details gespeichert, zufällig weiß ich das. Wenn Herr L. beim letzten Mal bereit war, drei Monate auf einen Tisch am Fenster zu warten, dann wartet er jetzt auch fünf Monate auf den Katzentisch neben der Toilette. So etwas nennt man in solchen Restaurants »Pflege von Kundendaten«.
Serge reserviert nie drei Monate im Voraus. Serge reserviert am selben Tag. Das sei für ihn ein Sport, sagt er. Es gibt Restaurants, die lassen immer einen Tisch frei für Leute wie Serge Lohman, und dieses Restaurant zählt dazu. Wie viele andere auch, müsste ich eigentlich sagen. Wahrscheinlich gibt es im ganzen Land überhaupt kein Restaurant mehr, bei dem die Bedienung nicht zusammenzuckt, wenn am Telefon der Name Lohman erklingt. Er ruft natürlich nicht selbst an, so etwas lässt er seine Sekretärin oder seine engste Mitarbeiterin erledigen. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er, als ich ihn vor ein paar Tagen an der Strippe hatte. »Man kennt mich dort, ich organisiere uns schon einen Tisch.« Ich hatte nur gefragt, ob wir noch mal telefonieren sollten, falls es vielleicht keinen Tisch geben würde, und wohin wir dann gingen. In seiner Stimme am anderen Ende der Leitung schwang ein gewisses Mitleid mit, ich konnte förmlich sehen, wie er den Kopf schüttelte. Ein Sport.
Es gab da etwas, worauf ich heute wirklich überhaupt keine Lust hatte. Ich wollte nicht dabei sein, wenn Serge Lohman vom Restaurantinhaber oder dem Maître d’hôtel wie ein alter Bekannter begrüßt würde; um dann von einer Kellnerin zum schönsten Tisch an der Gartenseite geleitet zu werden, und wie Serge dann so tun würde, als sei das alles ganz normal und er in seinem tiefsten Inneren noch immer ein ganz normaler Kerl, der sich deswegen inmitten der vielen anderen normalen Leute besonders wohlfühlte.
Deshalb hatte ich vorgeschlagen, dass wir uns im Restaurant treffen sollten und nicht, wie er es angeregt hatte, vorher noch in der Kneipe um die Ecke. Eine Kneipe, in die auch viele normale Leute gingen. Wie Serge Lohman dann die Kneipe betreten würde, als normaler Kerl, vor allem aber mit einem vielsagenden Lächeln im Gesicht, die normalen Leute mögen doch bitte weiterreden und einfach so tun, als gäbe es ihn nicht – auch darauf hatte ich heute Abend keine Lust.
Da das Restaurant nur ein paar Straßen von uns entfernt liegt, wollten wir zu Fuß gehen. So kamen wir auch an der Kneipe vorbei, in der ich mich nicht mit Serge hatte treffen wollen. Ich hatte einen Arm um die Taille meiner Frau gelegt, ihre Hand hatte sie unter meine Jacke geschoben. Über dem Eingang der Kneipe leuchtete in warmem rot-weißen Licht die Reklameschrift für das Fassbier, das drinnen ausgeschenkt wurde. »Wir sind zu früh«, sagte ich. »Oder besser gesagt: Wenn wir jetzt schon zum Restaurant gehen, dann sind wir überpünktlich.«
Meine Frau, ich sollte das nicht mehr sagen. Sie heißt Claire. Ihre Eltern haben sie Marie Claire genannt, aber irgendwann wollte Claire nicht mehr wie eine Frauenzeitschrift heißen. Manchmal nenne ich sie Marie, um sie zu ärgern. Aber ich nenne sie selten »meine Frau« – ab und zu, bei offiziellen Gelegenheiten, in Sätzen wie: »Meine Frau kann gerade nicht ans Telefon kommen«, oder: »Meine Frau weiß sehr genau, dass sie ein Zimmer mit Blick aufs Meer reserviert hat.«
An einem Abend wie diesem kosten Claire und ich immer gerne den Moment aus, an dem wir noch zu zweit sind. Das ist dann so, als wäre alles noch offen, sogar die Verabredung zum Essen scheint auf einem Missverständnis zu beruhen, und wir sind gerade einfach nur zu zweit unterwegs. Wenn ich Glück definieren müsste, dann bestimmt so: Glück genügt sich selbst, es braucht keine Zeugen. »Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich«, so lautet der erste Satz von Tolstois Anna Karenina. Ich könnte dem höchstens noch hinzufügen, dass die unglücklichen Familien – und bei diesen Familien insbesondere die unglücklichen Ehepaare – nie alleine damit fertigwerden. Je mehr Zeugen, desto besser. Unglück ist immer auf der Suche nach Gesellschaft. Unglück erträgt keine Stille – vor allem nicht dieses unangenehme Schweigen, das aufkommt, wenn es alleine ist.
Also lächelten Claire und ich uns in der Kneipe an, als wir unser Bier bekamen, im Bewusstsein, dass wir gleich den ganzen Abend in Gesellschaft des Ehepaars Lohman verbringen würden. Das hier würde der schönste Moment des Abends sein, danach konnte es nur noch bergab gehen.
Ich hatte keine Lust, in diesem Restaurant zu essen. Ich habe nie Lust, auszugehen. Eine demnächst anstehende feste Verabredung ist für mich das Fegefeuer, der eigentliche Abend die Hölle. Es fängt bereits morgens vor dem Spiegel an: Was soll man anziehen, soll man sich nun rasieren oder nicht. In Hinblick auf einen solchen Abend wird alles zum Statement, eine Jeans mit Löchern und Flecken ebenso wie ein gebügeltes Hemd. Lässt man sich einen Eintagesbart stehen, war man zu faul, sich zu rasieren; bei einem Zweitagebart kommt die unvermeidliche Frage, ob er Teil eines neuen Looks sei; bei einem Dreitagebart oder einem noch mehrtägigen Bart ist der Schritt zur totalen Verwahrlosung nur noch minimal. »Ist bei dir noch alles in Ordnung? Du bist doch nicht etwa krank oder so?« Egal ob man sich rasiert oder nicht, man fühlt sich nicht frei. Das Rasieren ist einfach ein Statement. Offenbar war einem der Abend so wichtig, dass man sich die Mühe gemacht hat, sich zu rasieren – man kann regelrecht sehen, wie die anderen das denken. Wer sich rasiert, befindet sich sofort 1:0 im Rückstand.
Und dann gibt es immer noch Claire, die mich an Abenden wie diesen daran erinnert, dass es sich nicht um einen normalen Abend handelt. Claire ist klüger als ich. Ich sage das jetzt nicht als halbherzig gemeinte feministische Bemerkung oder um mich bei Frauen einzuschmeicheln. Ich würde auch niemals behaupten, Frauen seien »im Allgemeinen« klüger als Männer. Oder empfindsamer oder intuitiver oder »sie würden mit beiden Beinen im Leben stehen« oder einen ähnlichen Mist, der, bei Tageslicht betrachtet, öfter von sogenannten empfindsamen Männern verbreitet wird als von Frauen.
Claire ist einfach klüger als ich. Ich gebe ehrlich zu, dass es einige Zeit gebraucht hat, bis ich mir das eingestehen konnte. In den ersten Jahren unserer Beziehung fand ich sie durchaus intelligent, allerdings ganz normal intelligent; eigentlich genau so intelligent, wie man es von der Frau an meiner Seite erwarten konnte. Mit einer dummen Frau würde ich es doch nicht länger als einen Monat aushalten? Claire war jedenfalls so intelligent, dass ich es nach einem Monat noch mit ihr ausgehalten habe. Und jetzt, nach fast zwanzig Jahren, noch immer.
Gut. Claire ist also klüger als ich, doch an einem Abend wie diesem fragt sie mich immer nach meiner Meinung, welche Ohrringe sie tragen soll, ob sie ihr Haar hochstecken soll oder nicht. Ohrringe haben für Frauen ungefähr dieselbe Bedeutung wie das Rasieren für Männer: je größer die Ohrringe, desto wichtiger, desto festlicher der Abend. Claire hat Ohrringe für jeden Anlass. Man könnte sagen, dass es nicht gerade von Intelligenz zeugt, wenn man sich bei der Wahl seiner Kleidung so unsicher verhält. Aber ich sehe das anders. Gerade eine dumme Frau würde denken, sie könne das alleine entscheiden. Was weiß denn ein Mann schon von solchen Sachen?, würde die dumme Frau denken und dann die falsche Wahl treffen.
Ich versuche mir manchmal vorzustellen, wie Babette Serge fragt, ob sie das richtige oder falsche Kleid anhat. Ob ihre Haare nicht zu lang sind. Wie Serge diese Schuhe findet. Sind die Absätze nicht zu flach? Oder etwa zu hoch?
Doch irgendetwas funktioniert bei dieser Vorstellung nicht, offenbar scheint sie vollkommen unvorstellbar zu sein. »Nein, das ist doch genau richtig«, höre ich Serge sagen. Aber er ist nur halb bei der Sache, es interessiert ihn nicht wirklich. Und zudem: Auch wenn seine Frau das falsche Kleid trägt, würden sich noch immer alle Männer nach ihr umdrehen, wenn sie an ihnen vorbeigeht. Ihr steht doch sowieso alles. Was will sie denn?
Das hier war keine In-Kneipe, hier verkehrten keine trendigen Leute – uncool, würde Michel sagen. Die Anzahl der Normalos überwog deutlich. Sie waren weder besonders alt noch jung, eigentlich bunt gemischt, in erster Instanz aber normal. So müssten alle Kneipen sein.
Es war ziemlich viel los. Wir standen dicht aneinandergedrängt, bei der Tür zur Herrentoilette. In der einen Hand hielt Claire ein Bierglas, mit der anderen Hand umfasste sie sanft mein Handgelenk.
»Ich weiß nicht«, sagte sie, »aber in der letzten Zeit habe ich das Gefühl, dass Michel sich irgendwie seltsam verhält. Vielleicht nicht seltsam, aber doch anders als sonst. Distanziert. Findest du nicht auch?«
Michel ist unser Sohn. Nächste Woche wird er sechzehn. Nein, sonst haben wir keine Kinder. Wir hatten nicht vorgehabt, nur ein Kind in die Welt zu setzen, aber irgendwann war es für ein weiteres einfach zu spät.
»Ja?«, sagte ich. »Gut möglich.«
Ich durfte Claire nicht ansehen, wir kannten uns zu gut, meine Augen würden mich verraten. Deshalb tat ich so, als würde ich mich in der Kneipe umschauen, oder als wäre ich gerade besonders an dem Schauspiel der sich lebhaft unterhaltenden normalen Leute interessiert. Ich war froh, dass ich darauf bestanden hatte, uns erst im Restaurant mit den Lohmans zu treffen; ich stellte mir vor, wie Serge durch die Schwingtüren in die Kneipe eintrat, mit einem Grinsen, das die Leute dazu anspornen sollte, doch bitte mit dem fortzufahren, womit sie gerade beschäftigt waren, und ihn nicht weiter zu beachten.
»Hat er dir nichts erzählt?«, fragte Claire. »Ich meine nur, ihr unterhaltet euch doch über ganz andere Sachen als Michel und ich. Vielleicht ist es was mit einem Mädchen? Etwas, das er dir leichter erzählen kann?«
Wir mussten einen Schritt zur Seite treten, weil die Tür der Herrentoilette aufging, deswegen rückten wir etwas näher zusammen. Ich spürte, wie Claires und mein Bierglas aneinanderstießen.
»Hat es etwas mit einem Mädchen zu tun?«, fragte sie erneut.
Mein Gott, wäre es nur so, konnte ich mir nicht verkneifen zu denken. Etwas mit einem Mädchen … ach, das wäre wunderbar, so wunder-wunderbar normal, das übliche Pubertätsgehabe. »Darf Chantal/Merel/Roos heute hier übernachten?« »Wissen das denn ihre Eltern? Wenn Chantals/Merels/Roos’ Eltern das in Ordnung finden, dann ist es für uns auch okay. Wenn du nur daran denkst … wenn du gut aufpasst beim … na, du weißt schon, das brauche ich dir wahrscheinlich gar nicht mehr zu erzählen. Oder? Michel?«
Es kamen oft genug Mädchen zu uns, eins schöner als das andere, sie hockten auf dem Sofa oder am Küchentisch und grüßten mich höflich, wenn ich nach Hause kam. »Guten Tag, Herr Lohman.« »Du brauchst mich nicht zu siezen, ich heiße Paul.« Also sagten sie dann ein einziges Mal »Paul«, aber ein paar Tage später hieß es doch einfach wieder »Sie« und »Herr Lohman«.
Manchmal hatte ich eins der Mädchen am Telefon. Während ich nachfragte, ob ich Michel etwas ausrichten sollte, schloss ich die Augen und versuchte die Mädchenstimme (sie nannten selten ihren Namen, sondern fielen gleich mit der Tür ins Haus: »Ist Michel da?«) am anderen Ende der Leitung mit dem dazugehörigen Gesicht in Verbindung zu bringen. »Nein, ist wirklich nicht nötig, Herr Lohman. Es ist nur, weil er sein Handy ausgeschaltet hat, und da habe ich es mal unter dieser Nummer versucht.«
Einmal nur hatte ich, als ich ins Zimmer kam, das Gefühl, ich hätte sie bei irgendetwas erwischt. Michel und Chantal/Merel/Roos; vielleicht schauten sie sich nicht ganz so unschuldig The Fabulous Life auf MTV an, wie es den Anschein hatte: Vielleicht hatten sie aneinander herumgefummelt, vielleicht hatten sie schnell wieder Kleidung und Frisur in Ordnung gebracht, als sie mich kommen hörten. Irgendwas war da mit Michels errötenden Wangen – etwas Erhitztes. Jedenfalls kam es mir so vor.
Doch wenn ich ehrlich war, hatte ich keinen blassen Schimmer. Vielleicht passierte ja auch überhaupt nichts, und die vielen schönen Mädchen sahen in meinem Sohn vor allem einen guten Freund: ein netter, ziemlich hübscher Junge, einer, mit dem sie gerne auf einer Party aufkreuzten – ein Junge, dem sie vertrauten, weil er keiner von den Typen war, die einem immer gleich an die Klamotten wollten.
»Nein, ich glaube nicht, dass es etwas mit einem Mädchen zu tun hat«, sagte ich und schaute Claire nun direkt an. Das ist die Kehrseite des Glücks, alles liegt wie ein offenes Buch auf dem Tisch. Würde ich ihrem Blick noch länger ausweichen, wüsste sie sehr genau, dass da etwas war – mit einem Mädchen oder etwas noch Schlimmeres.
»Ich glaube eher, dass es mit der Schule zusammenhängt«, sagte ich. »Er hat gerade die Klausurenwoche hinter sich. Ich glaube, er ist einfach müde. Meiner Meinung nach hat er doch unterschätzt, wie schwer die Prüfungen in der Zehnten sind.«
Klang das glaubwürdig? Und vor allem: War mein Blick auch glaubwürdig? Claires Augen schossen hin und her, von meinem rechten zu meinem linken Auge. Dann hob sie eine Hand und befühlte meinen Hemdkragen; als würde damit etwas nicht stimmen, als müsse sie jetzt noch meine Kleidung ordnen, damit ich mich im Restaurant nicht blamierte.
Sie lächelte und legte mir die Hand mit gespreizten Fingern flach auf die Brust, zwei Fingerspitzen spürte ich auf der nackten Haut, an der Stelle, wo der oberste Knopf meines Hemdes geöffnet war.
»Vielleicht ist es das«, sagte sie. »Ich finde nur, wir müssen beide aufpassen, dass er uns irgendwann vielleicht gar nichts mehr erzählt. Ich meine, dass wir uns nicht einfach daran gewöhnen dürfen.«
»Nein, klar. Aber es ist nun einmal so, dass man in seinem Alter auch ein gewisses Recht auf Geheimnisse hat. Wir müssen nicht alles über ihn wissen, sonst macht er womöglich noch ganz dicht.«
Ich sah Claire in die Augen. Meine Frau, dachte ich in diesem Moment. Weshalb sollte ich sie nicht meine Frau nennen? Meine Frau. Ich legte ihr eine Hand um die Taille und zog sie an mich. Auch wenn es nur für die Dauer dieses Abends war. Meine Frau und ich, sagte ich in Gedanken. Meine Frau und ich hätten gerne die Weinkarte.
»Worüber lächelst du?«, fragte Claire. Fragte meine Frau. Ich schaute auf unsere Biergläser. Meins war leer, ihr Glas noch drei viertel voll. Wie immer. Meine Frau trank immer langsamer als ich, auch deshalb liebte ich sie, am heutigen Abend vielleicht noch mehr als an anderen.
»Nichts«, sagte ich. »Ich habe … ich habe an uns gedacht.«
Es ging sehr schnell: In dem einen Moment sah ich Claire, sah ich meine Frau noch an, wahrscheinlich mit einem liebevollen Blick, oder jedenfalls mit einem erfreuten Gesichtsausdruck, und im nächsten Moment merkte ich, wie sich ein feuchter Film über meine Augen legte.
Weil sie unter gar keinen Umständen etwas bemerken durfte, vergrub ich mein Gesicht in ihrem Haar. Ich drückte sie noch fester an mich und sog den Geruch ein von: Shampoo. Shampoo und noch etwas anderem, etwas Warmem – der Geruch von Glück, dachte ich.
Wie hätte dieser Abend ausgesehen, wenn ich, das war erst eine Stunde her, einfach unten gewartet hätte, bis es Zeit zum Aufbruch gewesen wäre, anstatt nach oben zu gehen, in Michels Zimmer?
Wie hätte der Rest unseres Lebens dann ausgesehen?
Hätte der Geruch, den ich jetzt im Haar meiner Frau wahrnahm, einfach nur nach Glück gerochen? Wäre er dann nicht, wie jetzt, nur noch eine Erinnerung an eine weit zurückliegende Vergangenheit – der Geruch von etwas, das man von der einen zur anderen Sekunde verlieren konnte?
»Michel?«
Ich stand in der geöffneten Tür seines Zimmers. Er war nicht da. Okay, ich bin ehrlich: Ich wusste, dass er nicht da war. Er war im Garten und flickte den Hinterreifen seines Fahrrads.
Ich tat so, als hätte ich das nicht mitbekommen. Ich spielte, ich würde meinen, er sei einfach in seinem Zimmer.
»Michel?« Ich klopfte an die halb geöffnete Tür. Claire war im Schlafzimmer und suchte irgendwas im Kleiderschrank. In einer knappen Stunde mussten wir los zum Restaurant. Sie zögerte noch immer bei der Wahl zwischen dem schwarzen Rock mit den schwarzen Stiefeln oder der schwarzen Hose und den Sneakern von DKNY. »Welche Ohrringe?«, würde sie mich gleich fragen. »Diese oder die hier?« Ich würde ihr antworten, dass die kleinsten ihr am besten stünden, sowohl zum Rock als auch zur Hose.
Inzwischen befand ich mich in Michels Zimmer. Ich sah sofort, wonach ich suchte.
Ich möchte wirklich ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich so etwas vorher noch nie getan habe. Wenn Michel am Chatten war, dann drehte ich mich immer ein wenig zur Seite, damit ich nicht auf dem Bildschirm mitlesen konnte. Er sollte an meiner Körperhaltung ablesen können, dass ich nicht spionierte oder doch heimlich über seine Schulter mitlas, was er gerade eingetippt hatte. Manchmal erklang ein panflötenähnlicher Ton aus seinem Handy, als Signal für eine eingehende SMS. Sein Handy lag oft irgendwo herum, ich will gar nicht erst abstreiten, dass ich so manches Mal in Versuchung geraten bin, doch einmal einen Blick drauf zu werfen, besonders wenn er gerade nicht da war. »Wer schickt ihm eine SMS? Was schreibt er/sie?« Einmal ist es passiert, ich nahm Michels Handy und wog es in der Hand. Ich wusste, dass er erst in einer Stunde vom Sport zurückkommen würde und dass er es einfach vergessen hatte – das war damals noch sein altes Handy, ein Sony Ericsson ohne Slider. »1 neue Nachricht«, stand unter dem Icon mit einem Briefumschlag auf dem Display. »Ich weiß nicht, was da in mich gefahren ist, aber ehe ich mich versah, hatte ich dein Handy in der Hand und habe deine SMS gelesen.« Vielleicht würde er es nie merken, vielleicht aber doch. Er würde nichts sagen, aber er würde seine Mutter verdächtigen: ein feiner Riss, der im Laufe der Zeit zu einer tiefen Kluft auswachsen würde. Unser glückliches Familienleben wäre nicht mehr wie früher.
Es waren nur ein paar Schritte bis zu seinem Schreibtisch vorm Fenster. Wenn ich mich vorbeugte, konnte ich ihn unten im Garten sehen, auf der Terrasse vor der Küchentür, wo er seinen Reifen flickte – und wenn Michel hinaufschaute, würde er seinen Vater am Fenster in seinem Zimmer sehen.
Ich schnappte mir sein Handy vom Schreibtisch, ein nagelneues schwarzes Samsung, und schob den Slider hoch. Ich kannte seine Pin nicht. Wäre es ausgeschaltet gewesen, hätte ich keine Chance gehabt, doch auf dem Display erschien nahezu sofort ein verschwommenes Foto von einem Nike-Logo, wahrscheinlich von seiner eigenen Kleidung abfotografiert: von seinen Schuhen oder der schwarzen Mütze, die er immer, sogar bei sommerlich heißen Temperaturen selbst im Haus trug, bis fast über die Augen tief ins Gesicht gezogen.
Eilig suchte ich im Menü, das im Grunde dasselbe wie bei mir war, ebenfalls ein Samsung, allerdings ein Modell von vor einem halben Jahr und deswegen schon hoffnungslos veraltet. Ich klickte auf »Meine Dateien« und danach auf Videos. Schneller als erwartet fand ich das Gesuchte.
Ich schaute und merkte, wie mein Kopf langsam kalt wurde. Es war die Kälte, die man spürt, wenn man einen zu großen Happen Eis gegessen hat oder zu gierig ein eiskaltes Getränk trinkt.
Es war eine Kälte, die schmerzte – von innen.
Ich schaute noch einmal und schaute dann weiter: Es gab noch mehr davon, das sah ich, aber wie viel, das konnte ich so schnell nicht überblicken.
»Papa?«
Michels Stimme erklang von unten, aber ich hörte ihn bereits die Treppe hinaufkommen. Schnell schob ich den Slider seines Handys zu und legte es wieder auf den Schreibtisch zurück.
Mir blieb keine Zeit mehr, noch schnell ins Schlafzimmer zu eilen, ein Hemd oder ein Jackett aus dem Schrank zu nehmen und mich damit dort vor den Spiegel zu stellen. Mir blieb nur noch, möglichst entspannt und wie selbstverständlich aus Michels Zimmer zu kommen – als ob ich etwas suchen würde.
Als ob ich ihn suchen würde.
»Papa.« Er war oben am Treppenabsatz stehen geblieben und blickte an mir vorbei in sein Zimmer. Dann sah er mich an. Er trug die Nikemütze, sein schwarzer iPod nano baumelte an einem Band auf der Brust, den Kopfhörer hatte er locker um den Hals gelegt. Das musste man ihm wirklich lassen, er machte sich nichts aus Statussymbolen und hatte bereits nach ein paar Wochen die weißen Ohrstöpsel gegen einen einfachen Kopfhörer ausgetauscht, weil der einen besseren Klang hatte.
Alle glücklichen Familien gleichen einander, schoss es mir zum ersten Mal an diesem Abend durch den Kopf.
»Ich suchte …«, fing ich an. »Ich habe mich gefragt, wo du steckst.«
Bei seiner Geburt wäre Michel fast gestorben. Ich musste noch oft an den winzigen blauen, verschrumpelten Körper im Brutkasten kurz nach dem Kaiserschnitt denken: Dass es ihn gab, war mehr als ein Geschenk, auch das war Glück.
»Ich habe mein Rad geflickt«, sagte er. »Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht weißt, ob wir irgendwo noch Ventile haben.«
»Ventile«, wiederholte ich. Ich bin jemand, der sein Fahrrad nie selbst flickt, der noch nicht einmal auf die Idee käme. Und dennoch glaubte mein Sohn wider besseren Wissens noch immer an eine andere Version seines Vaters, eine Version, die wusste, wo sich Ventile befanden.
»Was hast du hier oben gemacht?«, fragte er plötzlich. »Du hast gesagt, du suchst mich. Weshalb denn?«
Ich sah ihn an, ich sah in die hellen Augen unter dem Mützenrand, die ehrlichen Augen, die, so hatte ich es immer gesehen, einen nicht unerheblichen Teil unseres Glücks ausmachten.
»Nur so«, sagte ich. »Ich habe dich gesucht.«
Wie zu erwarten waren sie noch nicht da.
Ohne damit allzu viel über die Lage des Restaurants zu verraten, kann ich dennoch berichten, dass es an der Straßenseite von Bäumen verdeckt wird. Wir waren jetzt eine halbe Stunde zu spät, und während wir über den Kiesweg schritten, der zu beiden Seiten von elektrischen Fackeln beleuchtet wurde, und uns dem Eingang näherten, überlegten meine Frau und ich, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass einmal wir und nicht die Lohmans als Letzte eintrafen.
»Wetten?«, fragte ich.
»Wieso wetten?«, erwiderte Claire. »Sie sind doch sowieso noch nicht da.«
Eine Bedienung mit einem schwarzen T-Shirt und einer schwarzen Bistroschürze, die ihr bis zu den Fußknöcheln ging, nahm unsere Jacken entgegen. Ein weiteres Mädchen in identischem Outfit sah eifrig in dem Buch mit den Reservierungen nach, das aufgeschlagen auf einem Stehpult lag.
Ich sah, dass sie eigentlich nur vortäuschte, den Namen Lohman nicht zu kennen, und das auch noch ziemlich schlecht.
»Herr Lohman, sagten Sie?« Sie zog eine Augenbraue hoch und gab sich keinerlei Mühe, ihre Enttäuschung darüber zu verbergen, dass nicht der leibhaftige Serge Lohman vor ihr stand, sondern zwei Leute, die sie noch nie gesehen hatte.
Ich hätte ihr auf die Sprünge helfen können, indem ich gesagt hätte, Serge Lohman sei unterwegs, aber ich ließ es bleiben.
Das Stehpult mit dem Reservierungsbuch wurde durch eine schmale, messingfarbene Leselampe beleuchtet: Art déco oder etwas in der Art, das wieder in oder gerade wieder aus der Mode war. Das Mädchen hatte ihr Haar, das so schwarz wie ihr T-Shirt und die Bistroschürze war, straff zurückgekämmt und hinten zu einem dünnen Zopf zusammengebunden, als sei es auf das Styling des Restaurants abgestimmt. Auch das Mädchen, das unsere Jacken angenommen hatte, trug einen ebenso straffen Zopf. Vielleicht war das ja Vorschrift, überlegte ich, eine Vorschrift aus hygienischen Gründen, so wie ein Mundschutz im Operationssaal. Immerhin gehörte es zu den Prinzipien dieses Restaurants, dass sie nur »ungespritzte« Produkte verwendeten – das Fleisch stammte zwar noch von Tieren, allerdings von Tieren, die »ein schönes Leben« gehabt hatten.
Über das straffe, schwarze Haar hinweg warf ich einen kurzen Blick in das eigentliche Restaurant, jedenfalls bis zu den ersten zwei oder drei Tischen im Speisesaal, die man von hier aus erkennen konnte. Links neben dem Eingang befand sich die »offene Küche«. Offenbar wurde in diesem Moment etwas flambiert, begleitet von dem dazugehörenden blauen Rauch und den hochschießenden Flammen.
Ich hatte schon wieder keine Lust. Mein Widerwillen gegenüber dem uns bevorstehenden Abend hatte inzwischen schon physische Formen angenommen – eine leichte Übelkeit, klamme Finger und ein beginnender Kopfschmerz hinter meinem linken Auge –, war aber gerade noch nicht so stark, dass mir sofort schlecht wurde oder ich auf der Stelle in Ohnmacht fiel.
Ich stellte mir vor, wie die Mädchen mit den schwarzen Bistroschürzen auf Gäste reagieren würden, die noch vor Erreichen des Speisesaals am Stehpult zusammenbrachen: ob sie eilends versuchen würden, mich in der Garderobe verschwinden zu lassen, jedenfalls schnell weg außer Sichtweite der Gäste. Wahrscheinlich dürfte ich mich auf einem Hocker hinter den Mänteln ausruhen. Höflich, aber bestimmt, würden sie nachfragen, ob sie vielleicht ein Taxi bestellen sollten. Weg! Weg mit dem Mann! – Wie wunderbar wäre es doch, Serge schmoren lassen zu können, welche Erleichterung, dem Abend eine andere Wendung zu geben.
Ich ging die verschiedenen Möglichkeiten durch. Wir konnten in die Kneipe zurückgehen und dort ein Tagesgericht für Normalos bestellen. Heute gab es Spareribs mit Pommes, hatte ich in Kreide geschrieben auf einer schwarzen Tafel gelesen. »Spareribs mit Pommes, 11,50 Euro« – wahrscheinlich noch kein Zehntel des Betrages, den wir hier pro Person zum Fenster hinauswerfen würden.
Es gab noch die andere Möglichkeit, einfach direkt nach Hause zu gehen, mit einem Abstecher zur Videothek, um dort eine DVD auszuleihen, die wir uns dann im Schlafzimmer von unserem großen Doppelbett aus anschauen konnten: ein Glas Wein, etwas zum Knabbern, ein paar Käsewürfel (ein weiterer Abstecher zum 24h-Shop), und der Abend wäre perfekt.
Ich würde mich vollkommen aufopfern, versprach ich in Gedanken, ich würde Claire den Film aussuchen lassen, auch wenn es dann garantiert ein Kostümfilm sein würde. Stolz & Vorurteil, Zimmer mit Aussicht oder Mord im Orient-Express oder etwas in der Art. Ja, so könnte es gehen, überlegte ich, mir könnte unwohl werden und dann könnten wir nach Hause gehen. Doch stattdessen sagte ich: »Serge Lohman, der Tisch zur Gartenseite.«
Das Mädchen blickte vom Buch auf und sah mich an.
»Aber Sie sind nicht Herr Lohman«, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken.
In diesem Moment verfluchte ich alles: das Restaurant, die Mädchen mit den schwarzen Bistroschürzen, den bereits jetzt schon verdorbenen Abend – aber ganz besonders verfluchte ich Serge, das Essen, auf das er am meisten gedrungen hatte, ein Essen, zu dem pünktlich zu erscheinen er noch nicht einmal die Höflichkeit besaß. Er war nie pünktlich, auch in den Gemeindesälen mussten die Leute immer auf ihn warten. Der stark beschäftigte Lohman hatte sich wohl verspätet, die Versammlung in dem Saal zuvor war überzogen worden, und jetzt stand er irgendwo im Stau. Er fuhr nicht selbst, nein, Autofahren bedeutete Zeitverschwendung für jemanden, der mit solchen Talenten gesegnet war wie Serge. Man hatte einen Chauffeur, damit man in der kostbaren Zeit wichtige Papiere durchgehen konnte.
»Ja, das stimmt«, sagte ich. »Lohman ist der Name.«
Ich sah das Mädchen unverwandt an, das Mädchen, das nun doch mit der Wimper gezuckt hatte, und öffnete den Mund für den nächsten Satz. Der Moment des Sieges war erreicht, doch es war ein Sieg mit dem Beigeschmack einer Niederlage.
»Ich bin sein Bruder«, sagte ich.
»Als Aperitif des Hauses haben wir heute einen Champagner rosé.«
Der Maître d’hôtel – oder Restaurantleiter, die Serviceleitung, Bankettleitung, der Oberkellner oder wie auch immer so jemand in einem solchen Restaurant genannt wird – trug keine schwarze Bistroschürze, sondern einen Dreiteiler. Der Anzug war hellgrün mit blauen Nadelstreifen, und aus der Brusttasche schaute die Spitze eines ebenfalls blauen Taschen- oder Einstecktuchs heraus.
Seine Stimme war leise, zu leise, man konnte ihn kaum über die Geräusche des Speisesaals hinweg verstehen. Irgendwas stimmte hier mit der Akustik nicht, hatten wir gleich festgestellt, nachdem wir uns an unserem Tisch (zur Gartenseite, ich hatte richtig gepokert) niedergelassen hatten. Man musste lauter als üblich sprechen, sonst flatterten die Worte davon, zur gläsernen Decke, die hier auch ein Stück höher als in anderen Restaurants war. Absurd hoch, könnte man sagen, wenn die Höhe nicht alles mit der früheren Bestimmung des Gebäudes zu tun gehabt hätte: eine Molkerei, meine ich irgendwo mal gelesen zu haben, oder ein Wasserpumpwerk.
Der Maître d’hôtel deutete mit dem kleinen Finger auf etwas auf unserem Tisch. Ob er das Teelicht meinte, überlegte ich zunächst – auf allen Tischen stand statt einer Kerze oder Kerzen ein Teelicht. Nein, der kleine Finger zeigte auf ein Schälchen mit Oliven, das er dort offenbar gerade hingestellt hatte. Jedenfalls konnte ich mich nicht erinnern, es dort stehen gesehen zu haben, als er die Stühle für uns zurückgeschoben hatte. Wann hatte er das Schälchen dorthin gestellt? Kurz überkam mich ein Anfall von Panik. In der letzten Zeit passierte es mir öfter, dass plötzlich Bruchstücke fehlten – Zeitfetzen, leere Augenblicke, in denen ich mit meinen Gedanken offenbar woanders gewesen war.
»Das hier sind griechische Oliven von der Peloponnes, zart beträufelt mit einem Olivenöl erster Ernte extra vergine aus Nordsardinien und bekrönt mit Rosmarin aus …«
Als der Maître d’hôtel diesen Satz sagte, beugte er sich ein wenig näher zu unserem Tisch hinunter, und dennoch verstand man ihn kaum; der letzte Satzteil war komplett unverständlich, wodurch uns die Herkunft des Rosmarins vorenthalten wurde. Normalerweise konnte mir eine solche Information zwar gestohlen bleiben, von mir aus kam der Rosmarin aus dem Ruhrgebiet oder aus den Ardennen, aber ich fand das Geschwafel wegen einer Schale Oliven doch ziemlich übertrieben, und ich hatte keine Lust, ihn einfach so davonkommen zu lassen.
Zudem war da noch dieser kleine Finger. Weshalb deutet jemand mit seinem kleinen Finger? War das chic? Gehörte das etwa zu dem Anzug mit den blauen Nadelstreifen und dem hellblauen Tüchlein? Oder hatte der Mann einfach etwas zu verbergen? Seine anderen Finger bekamen wir nämlich nicht zu Gesicht, die hatte er nach innen in die Handfläche geknickt, damit man sie nicht sehen konnte – womöglich waren sie mit Schimmelekzemen übersät oder zeigten Symptome einer unheilbaren Krankheit.
»Bekrönt?«, staunte ich.
»Ja, bekrönt mit Rosmarin. Bekrönt heißt, dass …«
»Ich weiß, was bekrönt heißt«, zischte ich scharf und vielleicht auch etwas zu laut, denn am Nachbartisch unterbrachen ein Mann und eine Frau kurz ihr Gespräch und sahen in unsere Richtung: ein Mann mit einem viel zu buschigen Bart, der so ziemlich sein ganzes Gesicht bedeckte, und eine für sein Alter etwas zu junge Frau, die ich auf ungefähr Ende zwanzig schätzte; zweite Ehe, dachte ich, oder ein Flirt für einen Abend. Er versucht sie mit einem Restaurant wie diesem zu beeindrucken. »Bekrönt«, fuhr ich etwas leiser fort. »Mir ist durchaus klar, dass die Oliven nicht alle ein Krönchen tragen und mich wie die Könige anglotzen.«
Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass Claire den Kopf weggedreht hatte. Das war kein gutes Entree; der Abend war bereits verkorkst, ich musste ihn nicht noch weiter verderben, und vor allem nicht für meine Frau.
Doch dann tat der Maître d’hôtel etwas, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte: Ich hatte eigentlich erwartet, dass ihm die Kinnlade runterklappen würde, seine Unterlippe würde zu zittern anfangen, und er würde vielleicht erröten und danach eine vage Entschuldigung stammeln – so, wie man es ihm von oben vorgeschrieben hatte, ein Verhaltenskodex gegenüber lästigen und ungehobelten Gästen –, doch stattdessen brach er in Gelächter aus. Es war übrigens ein echtes Lachen, nicht gespielt oder aus reiner Höflichkeit.
»Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte er und hielt sich eine Hand vor den Mund; und wieder waren die Finger, wie eben beim Deuten auf die Oliven, nach innen geknickt, nur der kleine Finger war noch immer abgespreizt.
»So hatte ich es noch nicht betrachtet.«
»Und was hat dieser Anzug zu bedeuten?«, fragte ich Claire, nachdem wir beide den Aperitif des Hauses bestellt hatten und der Maître d’hôtel sich von unserem Tisch entfernt hatte.
Claire streckte über den Tisch ihre Hand nach mir aus und berührte kurz meine Wange.
»Liebling …«
»Ja, nein, ich finde ihn seltsam, jedenfalls hat man darüber nachgedacht. Du wirst mir doch nicht weismachen wollen, dass darüber niemand nachgedacht hat?«
Meine Frau schenkte mir ein wunderbares Lächeln, es war das Lächeln, das sie mir immer dann schenkte, wenn sie der Ansicht war, ich würde mich unnötigerweise über etwas aufregen – ein Lächeln, das ungefähr ausdrücken sollte, dass sie die Aufregung zwar durchaus amüsant fand, sie aber keineswegs gewillt war, sie ernst zu nehmen.
»Und dann noch so ein Teelicht«, sagte ich. »Weshalb nicht gleich auch noch Plüschtiere und ein Trauermarsch?«
Claire fischte sich eine von den peloponnesischen Oliven und ließ sie im Mund verschwinden. »Mmmm«, sagte sie. »Herrlich. Nur schade, man schmeckt wirklich, dass der Rosmarin zu wenig Sonne abbekommen hat.«
Jetzt war ich an der Reihe, meiner Frau zuzulächeln; der Rosmarin, das hatte der Maître d’hôtel uns noch erläutert, stammte aus »eigenem Anbau« und kam aus einem Kräutergarten hinterm Restaurant. »Hast du gesehen, wie er die ganze Zeit mit dem kleinen Finger gedeutet hat?«, sagte ich und schlug die Karte auf.
Eigentlich hatte ich mir erst einmal die Preise für die Gerichte ansehen wollen: Preise in Restaurants wie diesem hier faszinieren mich immer außerordentlich. Ich muss dazusagen, dass ich nicht unbedingt ein sparsamer Typ bin, ich würde aber auch nicht behaupten wollen, Geld spiele bei mir keine Rolle. Ich zähle wirklich nicht zu der Sorte Leute, die es nur »schade ums Geld« finden, in ein Restaurant zu gehen, »wo man zu Hause doch viel bessere Sachen kochen kann«. Nein, solche Leute haben wirklich keine Ahnung, nicht vom Essen und auch nicht von Restaurants.
Meine Faszination rührt woandersher. Sie hat etwas damit zu tun, was ich der Einfachheit halber als den unüberwindbaren Abstand bezeichnen würde zwischen dem Gericht und dem Betrag, den man dafür zahlen muss: als hätten diese beiden Größen – auf der einen Seite das Geld, auf der anderen das Essen – nichts miteinander zu tun, als würden sie in zwei komplett verschiedenen Welten existieren. Als hätten sie jedenfalls nichts nebeneinander auf einer Speisekarte zu suchen.
Das hatte ich vor: Ich wollte die Namen der Gerichte lesen und mir danach die Preise daneben anschauen, aber mein Blick wurde von etwas auf der linken Seite der Karte angezogen.
Ich stutzte, schaute noch einmal hin und suchte dann im Restaurant den Anzug des Maître d’hôtel.
»Was ist denn?«, fragte Claire.
»Weißt du, was hier steht?«
Meine Frau sah mich fragend an.
»Hier steht ›Aperitif des Hauses: 10 Euro‹.«
»Ja?«
»Das ist doch seltsam«, sagte ich. »Der Mann sagt zu uns: ›Der Aperitif des Hauses ist heute ein Champagner rosé.‹ Jeder normale Mensch meint doch, der Champagner rosé würde aufs Haus gehen, oder liege ich jetzt vollkommen falsch? ›Können wir Ihnen noch etwas ‚vom Hause‘ anbieten?‹ Das hat dann keine zehn Euro zu kosten, sondern gar nichts.«
»Nein, warte mal, das muss nicht immer so sein. Wenn auf einer Speisekarte steht: ›Steak à la maison‹, also wörtlich Steak des Hauses, dann ist damit nur gemeint, dass es nach Art des Hauses zubereitet wird. Nein, das ist kein passendes Beispiel … Hauswein! Wein des Hauses, damit ist dann doch nicht gemeint, dass es den Wein gratis gibt.«
»Gut, gut, das ist mir schon klar. Aber das hier ist wieder etwas anderes. Hier habe ich noch nicht einmal einen Blick in die Karte werfen können. Hier schiebt jemand in einem Dreiteiler einem den Stuhl zurück, stellt ein lächerliches Schälchen mit Oliven auf den Tisch und sagt dann als Erstes, was der Aperitif des Hauses heute ist. Das ist doch wirklich irreführend! Das klingt doch eher nach einer Einladung als nach zehn Euro? Zehn Euro! Zehn! Oder mal anders betrachtet. Hätten wir ein Glas schalen Champagner rosé des Hauses bestellt, wenn wir zuvor gewusst hätten, dass wir zehn Euro dafür zahlen müssen?«
»Nein.«
»Das meine ich damit. Das Geschwafel mit dem ›vom Hause‹ dient nur dazu, einen einzulullen.«
»Ja.«
Ich sah meine Frau an, aber sie blickte ernst zurück. »Nein, ich nehme dich nicht auf den Arm«, sagte sie. »Du hast vollkommen recht. Es ist tatsächlich etwas anderes als Steak oder Wein des Hauses. Ich verstehe jetzt, wie du das meinst. Es ist einfach seltsam. Es sieht fast so aus, als würden sie es extra machen und schauen, ob man in die Falle geht.«
»Ja, nicht wahr?«
In der Ferne konnte ich den Dreiteiler in Richtung Küche vorbeipreschen sehen; ich winkte ihn heran, doch das wurde nur von einem der Mädchen mit den schwarzen Bistroschürzen bemerkt, die zu unserem Tisch eilte.
»Hören Sie sich das hier doch einmal an«, sagte ich, während ich dem Mädchen die Karte hinhielt. Schnell noch schaute ich zu Claire rüber – zur Unterstützung oder aus Liebe oder um einen verständnisvollen Blick zu erhaschen: Mit uns beiden konnte man sich keine Späßchen erlauben von wegen »Aperitif des Hauses« –, doch Claires Blick war auf etwas anderes hinter meinem Kopf gerichtet: auf einen Punkt, an dem sich, wie ich wusste, der Restauranteingang befand.
»Da sind sie«, sagte sie.