6 Worte Schmerz

6 Worte Schmerz

Rhys by night

Kajsa Arnold

Inhalt

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Zitat

Wir streben mehr danach,

Schmerz zu vermeiden,

als Freude zu gewinnen.

(Sigmund Freud)

Kapitel 1

Mein Blick wandert an der Fassade des Wolkenkratzers hinauf und ich kann kaum das Ende erkennen. Dort oben habe ich gethront. Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor. Ich wünschte, ich hätte ihn nie verlassen, meinen Elfenbeinturm. Ich wünschte, ich hätte New York nie verlassen. Und am meisten wünschte ich, ich hätte sie niemals kennengelernt. Jazman Darling! Die große Liebe meines Lebens.

Der Schmerz, wenn ich allein ihren Namen denke, ist unerträglich für mich. Als ramme mir jemand mit voller Wucht die Faust in den Magen. Ich habe geweint, ich habe geschrien, ja, ich habe beinah den Verstand verloren. Doch eines habe ich nicht: Ich habe niemals aufgegeben, daran zu glauben, dass Jazman lebt. Ich wurde nicht geboren, um aufzugeben. Das Leben wird mich nicht in die Knie zwingen. Niemals. Ich weiß einfach, dass Jazman noch lebt. Sie muss es einfach. Etwas anderes kommt für mich nicht infrage. Aufgeben ist ein Wort, das es in meinem Leben nicht gibt.

Ich zupfe an meinen ramponierten Manschetten und betrete das Gebäude, werde aber direkt vom Sicherheitspersonal aufgehalten. Die Gesichter der Mitarbeiter sagen mir nichts. Sie müssen neu sein.

»Guten Tag, Mister. Sie benötigen einen Besucherausweis, wenn Sie das Gebäude betreten wollen.«

Ein ironisches Grinsen gleitet über meine Züge. Das ist wirklich ein guter Witz. »Ich denke nicht«, meine ich herablassend und der Sicherheitsmitarbeiter blickt mich ernst an. »Mister, wir haben hier Regeln, ich kann Sie nicht einfach durchlassen.«

»Regeln, die ich aufgestellt habe«, knurre ich.

In dem Gesicht des Securitymitarbeiters sehe ich, dass er nicht nachgeben wird.

»Rufen Sie Matt Baker an.« Ich werde langsam ungeduldig, denn ich bin es nicht gewohnt, zu warten. Dass man sich meinen Befehlen widersetzt schon gar nicht.

»Mister Baker ist hier der CEO. Ich denke nicht, dass er Zeit für Sie haben wird.«

Er blickt mich prüfend an und zieht ein Gesicht, als würde er sich vor mir ekeln. Ich gebe zu, der Anzug, den ich bereits seit zwei Wochen trage, ist ziemlich zerschlissen und mein Hemd auch nicht mehr ganz weiß, aber man soll Menschen nicht immer nach dem Äußerlichen beurteilen.

Ich fahre mir genervt über mein Kinn und der Bart juckt wie verrückt. »Mister Baker wird die Situation hier aufklären können. Ich gebe Ihnen mein Wort.«

»Sir, ich glaube nicht, dass Ihr Wort viel wert ist. Wenn Sie keinen Termin haben, muss ich Sie bitten, wieder zu gehen.«

»Verflucht! Ich brauche keinen Termin, um in mein eigenes Büro zu kommen!«, brülle ich nun los und die beiden Securitymänner greifen zu ihren Waffen.

»Wagen Sie es nicht, wenn Sie Ihre Jobs behalten wollen. Rufen Sie Matt Baker an! Sofort!«

Mitarbeiter des Hauses laufen an mir vorbei, schenken der Situation Beachtung, schreiten aber nicht ein, sondern laufen nur schnell vorbei, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Schließlich haben sie ja ihre Zugangspässe.

Die Fahrstuhltüren öffnen sich und ich höre schwere Schritte auf dem Marmorboden.

»Pierce ... Waterman! Stecken Sie um Himmels willen die Waffen weg! Rhys? Ich fasse es nicht!«

»Dieser Kerl spielt sich hier auf, als würde ihm das Gebäude gehören!«, meint Pierce irritiert und steckt seine Waffe wieder in das Holster zurück.

»Das liegt vermutlich daran, dass ihm das Gebäude gehört«, erklärt Matt trocken und blickt mich an, als würde ein Weltwunder vor ihm stehen. Er schüttelt den Kopf. »Wo kommst du nur her? Wir vermissen dich seit Monaten. Wo hast du nur gesteckt?«

»Sie ist nicht tot! Ich weiß es einfach«, stammele ich.

»Mein Gott, Rhys! Ich habe mir Sorgen gemacht.« Matt durchquert die Sicherheitsschleuse und fällt mir in die Arme. »Verdammt, du kannst echt eine Dusche gebrauchen. Komm mit nach oben.«

Er wendet sich den Sicherheitsmännern zu. »Bitte erstellen Sie für Mister Cunningham eine Keycard und schicken Sie diese nach oben. Und das recht zügig, wenn ich bitten darf.«

»Natürlich! Bitte entschuldigen Sie, Mister Cunningham, dass wir Sie nicht sofort erkannt haben.«

Ich nicke den beiden Männern zu und Matt geleitet mich zum Aufzug.

Wir fahren mit dem Privataufzug bis in das Penthouse. Dorthin, wo ich früher gelebt habe. Vor ihr! Bevor ich Jazman kennenlernte und ihr verfallen bin. Bevor sie mein Leben um hundertachtzig Grad drehte und auf den Kopf stellte. Bevor ich ein glücklicher Mann wurde. Unsere wenigen Jahre auf Hawaii lasse ich dabei außer Acht. Mittlerweile lebt Matt in dieser Wohnung.

Er schließt die Tür mittels einer Keycard auf und ein Gefühl des Nach-Hause-Kommens macht sich in mir breit. Auch wenn es für mich kein Zuhause mehr gibt. Ohne Jazman gibt es noch nicht einmal ein Leben für mich.

»Was hältst du davon, wenn du erst einmal eine Dusche nimmst und wir dann reden? Soll ich uns etwas zu essen kommen lassen?«

»Nein danke. Die Dusche nehme ich gerne, aber ich brauche nichts zu essen.«

»Du siehst aber aus, als hättest du länger nichts Nahrhaftes zu dir genommen.« Matt sieht nicht so aus, als würde er nachgeben.

»Okay, dann bestell uns irgendwas.«

»Du findest alles an seinem Platz!«, ruft Matt mir zu und ich habe keinen Zweifel daran.

Matt blickt seinem Freund hinterher und kann nicht glauben, dass er nach sieben Monaten, in denen Rhys spurlos verschwunden war, endlich wieder auf der Bildfläche auftaucht. Er hat sich verändert. Der Tod von Jazman und den Kindern muss ein Schlag gewesen sein, von dem er sich wohl nie wieder erholen wird. Matt kann es ein wenig nachvollziehen. Er hat auch seine Frau und seinen Sohn verloren, weil er nicht die Finger von anderen Weibern lassen konnte. Nun hat er eine gescheiterte Ehe hinter sich und wohnt wieder allein in New York. Abby lebt immer noch auf Hawaii und hat wieder geheiratet. Sie ist glücklich und das beruhigt Matt ein wenig. Ab und an sieht er seinen dreijährigen Sohn, doch seine Arbeit als CEO von CuDa Ltd., die sich um die Verwaltung einer Stiftung und den Betrieb von Galerien in der ganzen Welt kümmert, beansprucht seine gesamte Aufmerksamkeit, seitdem Rhys sich aus der Leitung zurückgezogen hat. Alexander, Jazmans Bruder, ist nach einer kurzen Auszeit wieder in die Firmenleitung eingestiegen. Er leitet eine Zweigstelle auf Hawaii, da seine Frau ihre Heimat nicht verlassen will. Sie kommen zurecht, doch es fehlt ein Mann mit Rhys’ Führungskraft. Allerdings macht sein Freund nicht den Eindruck, als könne er bald wieder das Ruder des Unternehmens in die Hand nehmen.

Matt zückt sein Handy und bestellt eine große Familienpizza, wobei ihm der Begriff Familienpizza wie eine böse Fügung des Schicksals vorkommt.

Keine zwanzig Minuten benötigt der Pizzaservice und liefert schließlich die Bestellung. Als Matt die Anrichte deckt, kommt Rhys aus dem Obergeschoss, in dem das Badezimmer liegt. Geduscht und frisch rasiert, macht er schon wesentlich mehr her.

»Warum sieht diese Wohnung so unbewohnt aus?«, fragt Rhys und setzt sich an die Bar in der Küche. »In dem Schlafzimmerschrank habe ich noch Kleidung von mir gefunden.«

»Ich habe meine alte Wohnung nebenan nie aufgegeben. Dort fühle ich mich wohler. Du kannst also hier wieder einziehen. Die Putzfrau hält ein Mal pro Woche alles sauber. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass ich dich wiedersehe.«

»Hast du etwas zu trinken für mich?«, fragt Rhys und schaut sich suchend um.

»Wasser?«

»Scotch.«

Matt nickt und geht hinüber zur Bar an der Wand und gießt zwei Gläser ein.

Als er Rhys eines davon auf den Tresen stellt, greift dieser sofort danach und trinkt den Inhalt in einem Zug leer. »Am besten holst du gleich die ganze Flasche her«, murmelt Rhys.

»Du solltest etwas essen.« Matt reicht ihm ein Stück der Pizza, die Rhys widerwillig annimmt, letztendlich aber doch hineinbeißt.

»Also, erzähl mir, was passiert ist. Warum hast du nicht an der Beerdigung von Jazman und den Kindern teilgenommen?«

Rhys blickt seinen Freund ernst an und Matt sieht den Schmerz, der Rhys im Griff hat, und es zerreißt ihm fast das Herz, ihn so leiden zu sehen.

Kapitel 2

Ich blicke auf meine Hände, die leicht zittern. Ich brauche dringend noch einen Schluck, wenn ich das hier durchstehen will. Also erhebe ich mich und hole die Flasche Scotch aus der Bar, stelle sie vor mir auf den Tresen in der Küche, nachdem ich wieder auf dem Barhocker Platz genommen habe. Erst als ich ein weiteres Glas intus habe, bin ich bereit zu sprechen.

»Du fragst mich, warum ich nicht da war? Das kann ich dir sagen, Matt. Weil ich nicht glaube, dass meine Frau und meine Kinder wirklich tot sind.«

Ich sehe die Enttäuschung in Matts Gesicht. Er hält mich wie jeder andere auch für einen Spinner. »Du glaubst mir nicht?«

»Rhys, so sehr ich mir wünsche, dass Jaz und die Kinder noch am Leben sind, aber einen Flugzeugabsturz über dem Pazifik kann niemand überleben. Und selbst wenn, es ist sieben Monate her. Glaubst du nicht, wir hätten ein Lebenszeichen erhalten, wenn es so wäre?«

»Sie sind nicht tot!«, rufe ich aufgebracht und balle meine Hände zu Fäusten.

»Rhys, ich wünschte, du hättest recht.«

Mit zittrigen Fingern gieße ich mir erneut ein Glas ein.

»Es wird dir nicht helfen, wenn du dich volllaufen lässt. Das wird sie nicht wieder zurückbringen«, knurrt Matt leise.

»Nein«, stimme ich ihm zu, »aber es macht den Schmerz erträglich. Der Schmerz, der mir vor sieben Monaten das Herz bei lebendigem Leib herausgerissen hat.«

»Du bist in keinem guten Zustand.«

»Ich fühle mich auch nicht besonders gut. Und solange Jaz nicht wieder bei mir ist, wird es mir nicht besser gehen.«

»Rhys, du musst zur Vernunft kommen! Jaz wird nie wieder zurückkommen. Du musst dich damit abfinden, denn wir brauchen dich hier. Willst du alles zugrunde gehen lassen?«

Ich stürze den Rest Scotch, der noch im Glas verblieben ist, in einem Zug runter und setze es laut auf dem Tresen ab. »Ich werde sie suchen, denn tief in meinem Herzen spüre ich, dass sie lebt. Und ich werde sie finden. Und wenn das bedeutet, dass ich alles andere zugrunde gehen lassen muss, ja, dann ist das so.«

Matt ist anzusehen, dass er meine Worte ernst nimmt. Er nickt und presst dann überlegend die Lippen aufeinander. »Gut, wenn du dir so sicher bist, dann werde ich dir helfen. Du kannst dein Büro wiederhaben. Ich ziehe in das von Alexander, es steht ohnehin leer. Schlaf dich richtig aus und morgen fangen wir neu an.« Er schlägt mir auf die Schulter. »Hier sind wir beide wieder. Zu Hause in Manhattan. Beide wieder allein.« Dann verlässt er die Wohnung.

Ich rechne es ihm hoch an, dass er nicht fragt, wo ich die ganze Zeit über war. Ich hätte ihm ohnehin keine Antwort geben können. Seit der Nachricht, dass Jazman und meine drei Kinder, der dreizehnjährige Elijah und die vierjährigen Zwillinge Morgan und Madison, mit dem Flugzeug ins Meer gestürzt und vermutlich ertrunken sind, habe ich keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Die Nachricht hat mich auf Hawaii erreicht. Daran, wie ich nach New York gekommen bin, habe ich nur verschwommene Erinnerungen. Doch jetzt bin ich hier und werde nicht eher Ruhe geben, bis ich alle vier gefunden habe. Aufgeben ist keine Alternative. Nicht für mich.

Ich habe schlecht geschlafen und betrete am nächsten Morgen den Fitnessraum in der unteren Etage meines Apartments. Sofort strömen tausend Erinnerungen auf mich ein. Wie ich hier gemeinsam mit Jaz trainiert habe, wie ich sie geliebt habe. Es scheint mir, als halle ihr Lachen von den Wänden wider.

Verflucht! Ich schließe die Tür hinter mir. Es ist einfach zu viel für mich. Ich kann das nicht. Frustriert renne ich wieder nach oben und reiße mir die Trainingsklamotten vom Leib. Ich springe in den Pool, der im Obergeschoss liegt, schwimme ein paar Bahnen, bis ich total erschöpft bin.

Ich würde mir ein paar neue Anzüge zulegen müssen. Die Kleidung, die noch in der Wohnung zu finden ist, reicht gerade mal für zwei Tage. Der Großteil meiner Kleidung ist noch auf Hawaii, mein Koffer ist mir irgendwie abhanden gekommen. Ich brauche dringend eine neue Assistentin, die sich darum kümmern muss.

Als ich durch die Glastür der Führungsetage trete, blickt mich die Empfangsdame überrascht an.

»Mister Cunningham! Sie sind es wirklich?« Ihr Mund bleibt ein wenig offen stehen und sie bringt mich dadurch zum Lächeln. Sie ist eine Afroamerikanerin, um die fünfzig, mit einem wachen Blick. Obwohl wir uns noch nie begegnet sind, hat sie mich erkannt. Eine Frau, die sich informiert.

»Guten Morgen. Ich glaube, wir wurden uns noch nicht vorgestellt.«

Ich reiche ihr die Hand.