Dieses Buch widme ich meinen Eltern, die mir Dinge
schenkten, die ich wirklich liebte, zum Beispiel süße Entchen und Computer (statt scheußlicher kleiner Hunde).
Großer Dank gilt der besten Agentin der Welt: Ginger Clark. Dank dir blicke ich in eine leuchtende Zukunft –
und kann die Unbilden der Gegenwart vergessen.
– L. B.
Prolog
Irgendwo in Nimmerland …
„Warte, haben wir auch bei der Trollbrücke nachgeschaut?“
„Haben wir?“
„Was ist mit der Tonalquelle?“
„Und den Stränden rund um die Schimmernde See?“
Diese Fragen stellte ein schlanker junger Mann von unbestimmbarem Alter, aber wer ihn genauer ansah, konnte noch Reste weicher kindlicher Rundungen an seinen Wangen erkennen. Seine Augen, sein Mund und sogar seine Nase wackelten und kräuselten sich bei jedem Wort, und zwischendurch schien er intensiv nachzudenken wie ein Kleinkind, das seiner Mutter eine enorm wichtige Geschichte erzählen möchte. Seine strubbeligen Haare waren leuchtend rot, seine Augenbrauen etwas dunkler.
Und waren seine Ohren nicht ein wenig spitz?
Die Person, die seine Fragen beantwortete, hatte eindeutig spitze Ohren. Aber sogar bei genauerem Hinsehen waren sie kaum zu erkennen, außerdem war sie sehr sparsam mit ihren Antworten. Der Junge sprach zu einem kleinen goldenen Lichtschein, der funkelte und klimperte wie winzige Glöckchen. Die ganze Situation war so rätselhaft, als wäre hier ein Hypnotiseur mit einem Pendel an einer langen Goldkette am Werk, dessen Hin- und Herschwingen eine Bedeutung hatte, die sich nur einem Okkultisten erschloss.
Bei näheren Hinschauen zeigte sich, dass die kleine goldene Kugel eine winzige Frau war, die sehr spitze Ohren hatte, ernst dreinblickte und mit einem grünen Kleidchen und glitzernden Flügeln ausgestattet war. Ihr Körper schien aus energiegeladenen Rundungen zu bestehen, angefangen bei ihrem goldenen Haar mit dem wuscheligen Pferdeschwanz über ihre Hüften bis hin zu den silbernen Glöckchen an ihren Schuhen. Während sie mit ihm kommunizierte, ahmte sie den Gesichtsausdruck ihres Begleiters nach.
„Wirklich? Haben wir überall dort nachgeschaut? Oha. Und … wie wäre es mit dem hier?“
Der Junge drehte sich ruckartig um und stemmte sich gegen einen Baumstamm, als wollte er ihn aus dem Weg schieben. Tatsächlich spähte er nur dahinter. Doch auf der anderen Seite war nichts weiter zu sehen als bunte Flechten, Moos und ein paar Nashornkäfer.
Der Junge hielt abrupt in seiner Bewegung inne und schien zu Tode erschöpft zu sein. Er wirkte angespannt und enttäuscht zugleich, rutschte den Baumstamm hinunter, wobei er zwei weiße Käfer in die Flucht schlug.
Der goldene Lichtschein glitzerte zornig und flog auf und ab. Die Glöckchen klimperten tadelnd.
„Ich kann nicht mehr, Tinkerbell, ich bin fertig. Ich … ich fühle mich nicht gut.“
Die Fee – denn genau um eine solche handelte es sich hier – flog näher und musterte ihn besorgt. Und als ihr helles Licht auf sein Antlitz fiel, offenbarten sich die überaus verwunderlichen und seltsamen Einzelheiten dieser Szene. Denn weder ihr goldener Glanz noch das strahlende Sonnenlicht oder der leuchtend blaue Himmel bewirkten, dass der Junge einen Schatten warf.
Die Glöckchen klimperten sanft und hoffnungsvoll.
„Ich weiß es nicht, Tinkerbell. Wir haben jetzt überall gesucht. Doppelt und dreifach. Ich habe keine Ahnung, wo er abgeblieben sein könnte!“
Das helle Leuchten schaukelte nachdenklich auf und ab. Als befinde die Fee sich in einem Zustand, der bei Feen nur äußerst selten vorkommt: Sie dachte intensiv nach.
War womöglich sogar beunruhigt.
Aber der Junge schien sich trotz seines Schwächeanfalls vor allem für sich selbst zu interessieren. Er achtete nicht auf sie.
Sie klimperte energisch.
„Nee, ich hab keine Lust zu fliegen. Jedenfalls nicht jetzt. Ich will mich ausruhen. Du kannst allein weitersuchen. Ich muss erst mal ein Nickerchen machen. Danach wird’s mir besser gehen. Ganz bestimmt.“
Die Fee klimperte besorgt direkt vor seinem Gesicht.
„Zisch ab … und such ohne mich weiter.“ Er scheuchte sie fort wie eine Mücke. Der Schlaf übermannte ihn, kaum dass er seine Entscheidung gefällt hatte. „Ich hab … keine Lust mehr … zu fliegen …“
Er gähnte mehrmals ausgiebig, nickte ein und fing an zu schnarchen.
Die Fee betrachtete ihn schweigend. Sie schwebte im Schatten des mächtigen Baums und wurde von der sommerlichen Brise leicht hin- und hergeschaukelt.
Sie waren am Rand des Stillen Dschungels, dem angenehmsten Wald in Nimmerland. Die Blätter der Bäume leuchteten in hellem Grün, und es lebten nur harmlose, zumeist flauschige Tiere dort. Die Luft roch nach reifen Brombeeren – auch wenn jetzt gar nicht ihre Jahreszeit war –, und von einem in der Nähe vorbeiströmenden Fluss wehte ein Hauch von kühlender Feuchtigkeit herüber.
Wer diesen schönen Ort verlassen wollte, musste ein Narr sein. Ein Genie war, wer hier ein Nickerchen machte.
Aber Tinkerbell war gereizt. Sie hatte eine ungefähre Ahnung, wo der Schatten sein könnte, denn inzwischen wusste sie ziemlich genau, wo er nicht war.
Und wenn ihr Begleiter herausfand, dass sie diese Ahnung schon länger hatte, würde er sehr wütend auf sie sein.
Leise schwebte sie hinunter zu ihm. Ihr goldenes Funkeln erhellte sein Gesicht bis ins kleinste Detail, jede Wimper, jede Sommersprosse, jede Pore. Er atmete durch den Mund und pustete sich dabei die Strähnen aus der Stirn, die so lang waren, dass sie immer wieder zurückfielen. Sie glitt über seine Stupsnase, nagte unschlüssig an ihrer Unterlippe – und nach einem kurzen inneren Kampf gab sie ihm einen hastigen kleinen Kuss.
Dann fasste sie einen Entschluss und erhob sich in den Himmel wie eine Biene, die nach einem harten Arbeitstag genug Nektar gesammelt hatte, um nach Hause zu fliegen.
Aber sie wollte nicht nach Hause fliegen.
Sie wollte weiter nach Peters Schatten suchen, und zwar an dem furchterregendsten Ort, den es überhaupt gab.
Sie würde nach London fliegen.
LONDON!
Ja, dies ist eine Szene, die so oft beschrieben wurde, dass sie beinahe schon eine Karikatur ihrer selbst geworden ist. Lasst sie uns trotzdem noch einmal heraufbeschwören, denn das ist unbedingt notwendig, sogar für diese Geschichte.
Die Wolken ziehen nicht über den Himmel, denn das würde viel zu nett wirken. Nein, diese Wolken verdeckten den Himmel, hängen schwer daran, ersticken alles andere. Ihre niederdrückende Masse wird noch verstärkt durch den Rauch, der aus hunderttausend Schornsteinen aufsteigt, die die Landschaft dekorieren wie eckige Giftblumen aus Stein. Und die grauen Dächer aus Schiefer und Lehm, die sich kreuz und quer geschichtet in alle Richtungen erstrecken wie eine verkehrte, kranke Version einer hügeligen Märchenlandschaft. Alles – wirklich alles – ist in verschiedenen Schattierungen von Grau bis Schwarz gehalten. Ein breiter, grauer Strom kriecht durch die Stadt wie eine müde, aber freundliche Schlange. Brücken, die nicht im Entferntesten so aussehen, wie ihre imposanten Namen es andeuten, überspannen ihn.
Ihr glaubt mir nicht? Dann schaut euch mal die London Bridge oder Bilder von ihr an. Eine einzige Enttäuschung.
Natürlich gibt es den Big Ben, diesen riesigen Glockenturm samt Uhr mit ebenso riesigen Zeigern aus Zinn und Kupfer, auf dem sich schon eine erstaunliche Anzahl fiktiver Gestalten getummelt hat. Seine Glocken läuten jede Stunde, bedrohlich und mahnend wie alle anderen Kirchenglocken in der Stadt, als wollten sie ihre Bewohner daran erinnern, dass der Tod naht oder die Suppe kalt wird.
Auf den gepflasterten Straßen unterhalb der Türme und Dächer wirkt sich das Wetter heftig aus. Der beinahe ständig fallende Regen und der morgendliche Nebel erzeugen zusammen eine feuchte, drückende Atmosphäre. Die Männer fühlen sich bemüßigt, Kapuzenmäntel zu tragen, die Kindermädchen mummeln die Babys ein, und die Mütter rufen ihren Kindern zu: „Geht nicht in den Garten, ihr holt euch ja den Tod bei diesem Nebel!“ Außerdem sieht man jede Menge Schirme. Zahllose schwarze Schirme mit den typischen spindeldürren insektengleichen Skeletten eilen vorbei. Ihr Anblick ist grausam ernüchternd.
Dort.
In London.
Am Ende des einen Jahrhunderts und am Beginn eines neuen.
Seht ihr es vor euch?
Gut.
Auf halben Weg zwischen den Schirmspitzen und dem Bereich, wo der Himmel eigentlich anfangen sollte, vielleicht sechs Meter unterhalb des höchsten Schornsteins, gab es ein besonderes Flügelfenster. Dort stand eine junge Frau in einem altmodischen hellblauen Kleid und schaute hinaus. Ihr Haar war von einem typischen Braun, ihre Augen typisch blau – was beinahe schon wieder ungewöhnlich war für diese Zeit und diesen Ort.
Zuerst schaute sie in den Himmel, aber es war unmöglich, irgendwelche Umrisse in den Wolken wahrzunehmen, denn die graue Decke war dicht und undurchdringlich und füllte den ganzen Himmel aus. Also blickte sie nach unten. Der trostlose Garten saugte die Feuchtigkeit auf wie ein verschimmelter Schwamm. Nur Pfützen, sonst nichts. Pfützen und ein Baum, der völlig aufgeweicht war.
Nichts an diesem tristen Anblick konnte durch irgendeine gedankliche Anstrengung geschönt werden: Hier war kein Platz für Piraten, Feen, goldene Kutschen, Ritter, nicht mal für einen Hauch von Draufgängertum. Jemand hatte eine braune Bananenschale über den Zaun geworfen. Und da lag sie nun, völlig fehl am Platz in einem englischen Hinterhof. Sie hatte rein gar nichts zu tun mit Sultanen oder Zauberpferden, sondern war bloß alt und vergammelt.
Wendy seufzte und trat vom Fenster zurück. Die Nachmittage waren am schlimmsten.
Den Morgen verbrachte sie mit ihrem Hauslehrer und erledigte Übungen und Arbeiten. Nach dem zweiten Frühstück las sie in einem guten Buch, das ihr der Buchhändler empfohlen hatte, dessen Neffe übrigens ziemlich gut aussah.
Zu diesem Zeitpunkt war Mrs. Darling bereits aufgebrochen, um Besuche zu machen, oder sie saß an ihrem hübschen Sekretär und erledigte ihre Korrespondenz mit einem eleganten blauen Federhalter. Die düstere Atmosphäre schien sie nicht zu berühren, selbst wenn sie den ganzen Tag zu Hause blieb. Sie war stets höflich und beschäftigt: mit ihrem Gesicht, ihrer Toilette, ihrem Nähzeug, den Eintragungen ins Haushaltsbuch, dem Überprüfen der Speisekammer oder dem Zurechtweisen der stets unzuverlässigen Köchin namens Mary. Wendy schaute ihrer Mutter gern bei der Erfüllung ihrer zahllosen Verpflichtungen zu, aber nun wich dieses Gefühl der Bewunderung einem verwirrenden Gedanken: Wie konnte eine Person die ganze Zeit heiter und gelassen bleiben, obwohl sie tagein, tagaus den gleichen Angelegenheiten nachging und es draußen auch noch ununterbrochen regnete?
Wendy mochte es, wenn Mrs. Darling sie in das einbezog, was sie ihre „femininen Rituale“ nannte, wobei es normalerweise um das korrekte Auftragen von Pudern oder Cremes ging, ums Polieren der Fingernägel oder darum, wie man sich mit hübschen Schleifen herausputzte. Besonders schön waren die Tage, an denen genug Geld übrig war, um zu zweit auszugehen und bei Saxelbrees den Tee einzunehmen. Wendy bewunderte ihre Mutter, die immer lächelte. Für sie war sie trotz ihres immer wieder geflickten Huts die schönste Mutter auf der ganzen Welt. Sie fragte sich, ob sie auch eines Tages über so viel Schönheit, Selbstsicherheit und perfektes Benehmen verfügen würde.
Aber derartige Ausflüge waren selten. Und selbst die schönsten Dinge verloren ihren Glanz, wenn sie sie mit den Freuden verglich, die Nimmerland bereithielt.
Wendy wandte sich ihrem Schreibpult zu. Normalerweise widerstand sie diesem Drang bis zum Ende des Tages, sah es als eine Art Belohnung an. Wie die Schoko-Pralinés, die ihre Mutter sich manchmal genehmigte. Während sie sie aß, lächelte Mrs. Darling immer selig. Mitunter genehmigte sie sich sogar eine vor dem Abendessen, als brauchte sie sie nach einem besonders anstrengenden Tag.
Wenn es Wendy drängte, in ihre Schublade zu schauen, konnte sie ihre Sehnsucht oft bezwingen, indem sie das kleine Notizbuch herausholte, das sie fast immer bei sich trug. Dazu gehörte ein kleiner blauer Stift, der genau in den Buchrücken passte. Das Büchlein war inzwischen fast vollständig gefüllt mit enthusiastischen Gedanken, festgehalten in ihrer feinen Handschrift. Die zerlesenen Seiten waren betitelt mit Überschriften wie „Peter Pan, die Piraten und der unerwartete Zeppelin“ oder „Peter Pan und Tiger Lily gegen den Zyklopen der Kobaltblauen See“. Die Geschichte mit dem Titel „Peter Pan erteilt Captain Hook eine zeitgemäße Lektion“ war mit kleinen Zeichnungen von ihrer Uhr auf dem Kaminsims und der gierigen Schnauze eines Krokodils verziert. Da sie den Rest dieses Ungeheuers nicht akkurat zeichnen konnte, hatte sie lieber darauf verzichtet.
Aber heute wirkten die Worte kraftlos und hohl, und die Leere zwischen den Zeilen kam ihr noch trostloser vor als sonst.
Wendy konnte nicht länger widerstehen. Nicht heute, wo alles so besonders grau und grässlich und hoffnungslos war.
Sie zog die quietschende Holzschublade auf und nahm ein weiches dunkles Bündel heraus. Als sie es schüttelte, fiel es auseinander wie ein Spinnennetz, aber ohne die klebrigen Fädchen, die an den Fingern hängen bleiben. Um was es sich handelte, war noch nicht erkennbar. Erst als sie es auf dem Boden ausbreitete, waren die Umrisse eines ganz besonderen Schattens zu sehen: des Schattens von Peter Pan.
Vor vier Jahren hatte Nana ihn dem Jungen entrissen. Und seitdem bewahrte Wendy ihn sorgfältig in ihrer obersten Schublade auf und wartete darauf, dass Peter zurückkommen würde, um ihn zu holen.
Michael und John hatte als Erste aufgegeben.
Anfangs hatten ihre Brüder die Entdeckung noch enthusiastischer gefeiert als sie selbst. Michael war umhergesprungen, hatte laut geschrien und sich vor Begeisterung gegen die Wände geworfen. John hatte seine lächerliche Brille abgezogen, versucht, wie ein Erwachsener zu sprechen, und von „eindeutigen Beweisen“ und „unwiderlegbaren Tatsachen“ gefaselt.
Aber …
Die Wochen waren zu Monaten geworden. Zu einem Jahr. Zu vier Jahren.
Es gab keine Beweise, keine Tatsachen, kein Lebenszeichen von dem Besucher aus Nimmerland. Und auch wenn die Jungs gelegentlich noch verstohlene Blicke auf den Schatten warfen, hatte Michael ihn eines Tages „irgendwie lausig“ und „ziemlich verblichen“ genannt. Und John hatte düster etwas von „Manifestationen eines anderen Reichs“ und „meteorologischen Phänomenen“ gemurmelt. Mit der Zeit wurde er zu einem Stück Tand, einer Erinnerung an alte Zeiten oder einen exotischen Ort, so wie der kleine Mosaikspiegel, den Mr. Darling von einem Mann gekauft hatte, der nach Kaschmir zurückgehen wollte.
Aber seither hatte Wendy sich jeden Abend beim Zubettgehen nach Nimmerland gesehnt. Sie hoffte, es wäre so, wie es in einigen gleichermaßen populären wie fragwürdigen Ratgebern stand: Wenn man sich kurz vor dem Schlafengehen ganz intensiv etwas wünschte, dann träumte man davon. Wendy nickte ein, während sie flüsterte: „Peter, ich habe deinen Schatten … Peter …“
Oft wachte sie mit einem eigenartig wohligen Gefühl auf, als hätte sie die Grenzen von Nimmerland berührt – eine Ahnung von Wölfen und fremdartigen Früchten und Freiheit befiel sie –, aber dann war alles schnell vergessen, und das Gefühl verging.
Wendy fuhr mit dem Daumen über den Rand des Schattens und erschauderte. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie noch weinen.
Was habe ich falsch gemacht?
Was war so abstoßend an ihr, dass Peter nicht zurückkam – nicht einmal, um seinen Schatten zu holen?
Was stimmte nicht mit ihr, dass niemand aus Nimmerland etwas mit ihr zu tun haben wollte?
Sie legte den vermaledeiten Schatten wieder in die Schublade und schob sie hastig zu. Dann hielt sie sich eine Hand vor den Mund, um einen Schluchzen zu unterdrücken.
Bald war Teezeit, und sie wollte nicht, dass ihre Mutter sie auf die hässlichen roten Flecken auf ihren Wangen oder die Ringe unter ihren Augen ansprach.
Nachmittags kamen ihre Brüder nach Hause, und alles wurde einfacher.
„John, Michael“, rief Wendy erleichtert, als ihre lauten Stimmen und jungenhaften Scherze durch das sonst so stille Haus hallten.
„Hallo, Schwesterherz“, sagte John, reichte ihr seinen Hut und kniff sie mit einer scherzhaften Geste in die Wange. Eines Tages würde er auf eine richtige Universität gehen, vielleicht sogar nach Oxford, und er übte sich schon jetzt in der typischen Ironie und lässigen Ausdrucksweise, die für einen Aufenthalt dort unerlässlich waren. Michael schmiss seine Stiefel in eine Ecke und warf den Mantel über eine Stuhllehne. Andere Familien hatten Hausmädchen, die sich um solche Dinge kümmerten, aber da die Darlings über kein großes Vermögen verfügten, musste Wendy das erledigen.
Zumindest hatte sich das so eingebürgert.
Sie machte ein missbilligendes Geräusch, als sie Michaels Jacke aufhob, glattstrich und ordentlich an die Garderobe hängte.
„Wendy, du begehst einen unsäglichen Fehler, wenn du deiner Bildung nicht weiter in einer öffentlichen Institution nachgehst“, erklärte John und klang, als würde er jemanden imitieren.
„Außerdem macht es einen Riesenspaß“, knurrte Michael und blickte finster drein. Er war weniger subtil, wenn es um sarkastische Bemerkungen ging.
„Nun, Vater sagt, keine der Töchter seiner Klienten geht dorthin – und das sind alles wohlanständige Mädchen. Und abgesehen davon habe ich hier alle Zeit und alle Bücher, die ich brauche“, erwiderte sie zurückhaltend. Als sie sich – wenn auch zögernd – entschlossen hatte, den Besuch einer dieser neumodischen öffentlichen Schulen abzulehnen, war ihr das richtig vorgekommen. Warum sollte sie ihre Zeit in einer überfüllten Schule verbringen und sich wie ein Kind behandeln lassen, wenn sie doch einen Hauslehrer haben konnte? Nach den Stunden konnte sie im Haus herumwerkeln und so tun, als würde sie alles so in Ordnung halten wie eine Erwachsene.
„Es ist dämlich. Ich hasse es. Die Schule und ihre idiotischen Regeln“, ereiferte sich Michael. „Wenn du die Erbsen nicht isst, bekommst du keinen Pudding! Blöde Essensregeln!“
„Aber Michael, ich bin sicher, sie möchten dich nur dazu bringen, eine gesunde Mahlzeit einzunehmen“, warf Wendy ein. Ihr gefiel es, die Rolle ihrer Mutter einzunehmen, ihren sanften Ton und ihr nachsichtiges Lächeln zu imitieren. Das ließ alle unangenehmen Gefühle mit einem Mal verschwinden.
„Sind noch welche von den französischen Keksen da?“, fragte Michael. „Die du gebacken hast?“
„Die ich zusammen mit Mutter gebacken habe? Vielleicht. Ich hole welche und bringe dir eine schöne Tasse Tee, während du nach oben gehst und ein Bad nimmst. Und vor dem Schlafengehen erzähle ich euch eine Geschichte.“
„Oh, Wendy und ihre Geschichten“, meinte John lächelnd und rollte dabei kaum mit den Augen. „Ich muss eine Menge anderer Sachen lesen. Richtige Lektüre. Wahre historische Ereignisse. Außerdem, liebe Wendy, habe ich den Eindruck, dass deine Geschichten eine leichte Tendenz in Freudianische haben. Ist dir das noch nicht aufgefallen? Es geht die ganze Zeit um Väter und Söhne und verschwundene Mütter …“
„Ich habe keine Ahnung, wovon du redest“, gab sie frostig zurück. Das war ihr tatsächlich nicht aufgefallen, sein herablassender Tonfall aber sehr wohl.
„Ich möchte drei Löffel Zucker in meinen Tee! Und Milch!“ krakeelte Michael, während er aus dem Zimmer stürmte.
„Oh“, fiel es Wendy wieder ein. „Mutter kommt bald von ihrem Abendessen mit Mrs. Cradgeapple. Wenn ihr euch beeilt, könnt ihr ihr noch gute Nacht sagen, bevor ihr zu Bett geht.“
„Oh. Ja. Mutter“, sagte John nachdenklich. „Die habe ich schon ewig nicht mehr gesehen. Eine große Dame? Ungefähr so groß? Würde mir wirklich gefallen, wenn ich die alte Glucke diesbezüglich einholen könnte.“
„John!“ Wendy stemmte die Hände in die Hüften.
„Ganz ruhig, Schwester. Ich muss mich erst mal mit der Schweizer Psychologie beschäftigen. Du kennst ja die Schweizer. Jede Menge Schokolade, Zeitmesser und der Rest steht zwischen den Zeilen.“ John machte eine übertriebene Verbeugung und tat so, als würde er sich an den nicht mehr vorhandenen Hut tippen.
Als er gegangen war, warf Nana, die sich ihrem Alter gemäß behaglich neben dem Kamin eingerichtet hatte, Wendy einen fragenden Blick zu, wie es nur ein wirklich intelligenter Hund tun kann.
„Ja, ich sehe die Schmutzspuren, die sie auf dem Fußboden hinterlassen haben“, seufzte Wendy. „Und nein, ich weiß nicht, was ich mit ihnen anfangen soll. Jungs!“
Das war nun allerdings ein interessanter Gedanke.
Im Nimmerland gab es viele Kinder, die nie erwachsen wurden – aber was war mit einem Jungen, der zu schnell erwachsen wurde? Im übertragenen Sinn. Als wäre er gerade aus dem Ei geschlüpft und am Ende des Tages schon ein Mann geworden.
„Erwartungsvoll schauten sie das Ei an“, murmelte sie und überlegte. „‚Was wird es wohl sein?‘, fragte Cubby. ‚Woher soll ich das wissen?‘ Peter lachte. ‚Irgendwas Großes ganz bestimmt – darauf kannst du wetten!‘“
Ja. Das war hübsch. Sie nahm ihr kleines Notizbuch heraus. Nun, wo ihre Brüder die Geschichten nicht mehr hören wollten, musste sie sie eben woanders unterbringen.
Vielleicht würde ja eines Tages wieder jemand zuhören.
Michael kam zurück, patschnass, aber immerhin war er jetzt halbwegs sauber – auch wenn sein Hals immer noch einen dunklen Rand hatte. Er kippte seinen Tee hinunter, verschlang die Madeleines und stapfte dann wieder nach oben, um mit seinen Zinnsoldaten zu spielen. John hatte sich noch nicht herunterbequemt, vielleicht hatte er sich in seine Bücher über echte Soldaten vertieft, die in heroische Schlachten zogen.
Wendy saß in der Küche und starrte ihr Notizbuch und die unberührten Teller mit dem Gebäck an. Madeleines waren gerade der letzte Schrei. Sie hatte einen wunderschönen Nachmittag verbracht und ihrer Mutter beim Backen geholfen. Nachdem die Madeleines einen Tag herumgestanden hatten, waren sie trocken geworden und hatten Geschmack verloren. Sie nahm eine und tunkte sie zögernd in den Tee, knabberte das feuchte Ende ab und stellte fest, dass sie so viel besser schmeckten. Der Geschmack erinnerte sie an Sonne, Wärme und exotische Düfte …
Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Mit einem Mal sah sie ein Schiff, das auf den Wellen eines tropischen Meeres tänzelte, und sich selbst am Strand. Der Anflug eines Traums von Nimmerland – nur fühlte sich alles so echt an! Die Matrosen – es waren Piraten – sangen, und Captain Hook verbeugte sich so galant, wie es der tapsige John niemals hinbekam. Im Sonnenlicht und unter freiem Himmel wirkte der Piratenkapitän überhaupt nicht beängstigend.
Aber vielleicht lag es auch an dem Wolf an ihrer Seite, mit dem sie sich vor langer Zeit angefreundet hatte, der knurrte und jederzeit für sie töten würde. Vielleicht war sie deshalb so mutig.
Wirklich zu schade, dass Ihr nicht bleiben könnt …, sagte der Captain. Dieser Taugenichts hat Euch in der Patsche sitzen lassen – und dann auch noch in diesem grauen London …
Sie funkelte ihn böse an. „Sprecht nicht so abfällig über Peter Pan. Ihr seid doch der Pirat. Ihr lasst Menschen über die Planke gehen und verbrennt ihre Schiffe.“
Aber nicht einmal in meinen bösesten und schlimmsten Momenten würde ich eine Dame schmählich verlassen, wie er es getan hat. Er hat kein Herz, nicht einmal ein so finsteres wie meines.
„Er hat mich nicht verlassen. Er hat mir seinen Schatten dagelassen“, widersprach sie vielleicht ein wenig zu heftig.
Hook riss die Augen auf.
Ihr habt … seinen Schatten … ernsthaft?
Wendy spürte, wie ihre Lippen zu beben begannen, und unterdrückte ihren Schreck. Hatte sie einen Fehler begangen?
„Mit Euch hat das nichts zu tun. Und mir geht es gut, vielen Dank.“
Nach all den Geschichten, die Ihr über ihn erzählt habt … all der Zeit, die Ihr darauf verwendet habt, seine Legende zu stricken, behandelt er Euch so? Er hat Euch schmählich verlassen und Euch aufgetragen, Euch um seinen Schatten zu kümmern, mehr nicht.
In ihrem Traum weinte Wendy nicht. Nicht vor einem Schuft wie Hook.
Aber die Wendy mit der Madeleine tat es.
Sie legte den Kopf auf ihre Arme und weinte sich in den Schlaf.
Stunden später wurde sie von einer sanften Berührung und dem Duft des Parfüms ihrer Mutter geweckt. Auch wenn sie die fast erwachsene Wendy nicht in mehr tragen konnte, gelang es ihr doch, sie liebevoll zu umarmen und die Treppe hinaufzuführen.
„Was ist denn nur los mit ihr?“, knurrte Mr. Darling. „Sie schläft am Tisch ein wie eine Dienerin.“
„Schsch“, machte Mrs. Darling. Sie deutete auf das Notizbuch, damit er es aufhob, denn Wendy nahm es überallhin mit.
„Mutter“, murmelte Wendy und ging ein paar Schritte allein. „Ach, Mutter, du bist so schön.“
„Danke, Liebes. Du bist süß …“
Mrs. Darling half ihr beim Auskleiden und wirkte dabei mit ihren langen Wimpern und der perfekten Frisur eher wie eine Ikone der Schönheit und nicht wie eine pragmatische Mutter. Wendy ließ sich gern wieder wie ein kleines Mädchen behandeln. Sie legte sich schlaftrunken ins Bett und hörte, wie ihre Eltern miteinander sprachen.
„Mit diesem Mädchen muss etwas geschehen“, sagte Mr. Darling missmutig und wedelte mit dem Notizbuch. „Mit ihr stimmt doch etwas nicht.“
„Sie ist einfach nur … traurig. Sie braucht etwas, um das sie sich kümmern kann“, entgegnete Mrs. Darling. „Einen Jungen. Oder etwas Wohltätiges.“
„Wohltätigkeit? Die könnte die Familie Darling allerdings gebrauchen“, stimmte Mr. Darling aufgebracht zu. „Es wäre schön, wenn jemand ihr den Hof machte, aber dazu braucht es Kleider und Hüte und jede Menge teuren Flitterkram. Das war ja das Gute an Wendy … sie wollte nie all die Dinge, die andere Mädchen hatten.“
„Nein“, gab Mrs. Darling ihm mit einem Hauch von Traurigkeit recht. „Sie wollte immer etwas … anderes.“
Und Wendy träumte weiter von fernen Meeren und Wölfen.
In Bocca al Lupo
Wendy schlug die Augen auf, und die Träume von versteckten Hütten im Wald, freundlichen Wölfen und hinterlistigen Piraten verschwanden im grauen Dunst des Morgens. Sie hatte keine Lust, aufzustehen und mit ihren alltäglichen Ritualen zu beginnen: das Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen, ihr Haar mit hundert Bürstenstrichen in Form zu bringen, bevor sie es zusammenband, sich ein passendes Kleid auszusuchen, nachzusehen, welches Kleidungsstück geflickt werden musste und welches sie ein bisschen aufhübschen könnte.
Aber trotz ihrer Trägheit und Lustlosigkeit machte sie doch weiter, ergab sich ihrer täglichen Routine. Gewohnheiten, vor allem die nützlichen, wurden von Menschen wie Wendy leicht verinnerlicht. Ohne weiter nachzudenken, stand sie auf und machte ihr Bett, knuffte das Kissen, damit es hübsch aussah, wenn sie sich am Abend wieder hinlegen würde. Sie beugte sich über die Schüssel und wusch sich das Gesicht mit dem kalten Wasser – ohne in den Spiegel zu schauen –, bürstete sich das Haar – nur siebenundfünfzig Striche – und untersuchte ihre Fingernägel. Mit wenig Enthusiasmus entschied sie, dass sie nicht poliert werden mussten.
Wenn Wendy in Bewegung war, fühlte sie sich besser. Kleinigkeiten zu erledigen, verschaffte ihr ein wenig Befriedigung. Wenig später hatte sie die Jungs aus den Betten geholt, das Brot geröstet, den Tee serviert und die Jacken ausgebürstet. Die unbändige Energie ihrer Brüder schien sie zu beflügeln. Und Nana, die Gute, versuchte zu helfen, indem sie eine überzählige Manschette mit dem Maul aufhob und geduldig wartete, bis einer der Jungs – in diesem Fall Michael – sie sich schnappte und der Hündin zum Dank den Kopf tätschelte. Die ganze Aufregung endete damit, dass John seiner Schwester einen Luftkuss zuwarf und seinen trägen Bruder mit sich durch die Haustür zerrte.
„Ach du meine Güte“, sagte Mrs. Darling, als sie wie eine geisterhafte Erscheinung im Flur erschien. Sie stand kurz da, in ihrem wundervollen weißen Morgenmantel, und hielt sich anmutig die Hand vor den Mund, als sie gähnte. „Was würde ich bloß ohne dich anfangen?“
Sie gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn, und Wendy durchflutete ein Gefühl der Wärme, als sie dieses Lob hörte. Aber dann stieg die Erscheinung wieder die Treppe hinauf, um sich ihrer Toilette hinzugeben, und im Erdgeschoss breitete sich die ganz normale Atmosphäre eines typischen Werktags aus. Wendy aß Toast und trank Tee und setzte sich anschließend hin, um für ihre Französischstunden bei Mademoiselle Gabineau zu lernen. Dieser genügte ihr Expertentum in Sachen Französisch offenbar nicht, denn sie musste ständig ihre Ansichten über geschichtliche oder naturwissenschaftliche Themen einbringen, mitunter sehr heftig, immer viel zu schnell und mit einem Akzent, der nur mühsam zu verstehen war. Kaum hatte sie ihre Ansichten über einen Sachverhalt zum Besten gegeben, wandte sie sich auch schon dem nächsten zu. „Eines Tages wirst du einen Haushalt führen müssen – mit allem, was dazugehört“, mahnte sie. „Und dazu gehört, dass du weißt, wie ein Pullover zusammengelegt wird.“
Wendy verzichtete auf eine Antwort. Sie strich mit der Hand über die Seiten ihres Notizbuchs, das sie in der Schürzentasche aufbewahrte, und träumte von einer höflichen, logischen und absolut bösen Hexe.
Dieser Tag schien sich in den gleichen Bahnen zu bewegen wie der gestrige und der vorgestrige und so weiter – aber irgendwann, noch vor dem Fünf-Uhr-Tee, hörte Wendy eigenartige Geräusche im Erdgeschoss. Die Haustür ging auf und wurde geschlossen, und eine tiefe männliche Stimme ertönte.
Es war noch viel zu früh für Mr. Darling, der tagsüber seinen Geschäften nachging. Erstaunt schlich Wendy die Treppe hinunter, so schnell, wie es ihr gerade noch schicklich vorkam. Nana erwartete sie am Treppenabsatz und tat etwas, wozu sie sich nur selten bewegen ließ. Sie knurrte. Ganz leise.
„Nana, was ist denn los?“, fragte Wendy mit wachsender Unruhe. Ihr Hund war zwar groß, aber alles andere als ein Wolf und sicherlich zu alt, um einen Eindringling zu vertreiben.
„Oh, was für ein lustiger Gedanke ‚alles andere als ein Wolf‘. Wie komme ich denn auf so etwas? Wölfe? Also wirklich!“
Das war nur so dahingesagt, aber wenn sie laute Selbstgespräche führte, fühlte Wendy sich mutiger. Und wie auch immer, jemand war ins Haus eingedrungen, und es war ihre Aufgabe, seine Bewohner und das Tafelsilber zu verteidigen.
Beherzt hob sie den Kopf und schob die Tür zum Flur auf, wobei sie sich um einen möglichst entrüsteten Gesichtsausdruck bemühte.
„Hör zu, du Schuft …“
Angesichts der eigenartigen Szene, die sie erblickte, hielt sie augenblicklich inne.
Mr. Darling war tatsächlich schon zu Hause. Er stand da, in Anzug und Mantel, einen Hut auf dem Kopf. Ein ungewohnter Anblick, denn normalerweise kam er erst nach Hause, wenn es bereits dunkel war, und ging sofort nach oben, um sich seine Pantoffeln und die Hausjacke anzuziehen. Er hielt die Arme auf eine eigenartige Weise, als ob der eine gebrochen wäre und mit der Hand gestützt werden müsste. Ebenfalls ungewöhnlich war, dass Mrs. Darling neben ihm stand, eine behandschuhte Hand auf seine Schulter gelegt.
Mr. Darling war offensichtlich verwirrt von der Ansprache seiner Tochter und hob fragend die Augenbrauen. „Wendy? Was um Himmels willen ist das für ein Ton? Ich? Ein Schuft?“
„Liebling, was ist denn los?“, fragte Mrs. Darling und lächelte nachsichtig.
„Ich habe Geräusche gehört und dachte … Ich bin froh, dass du heute früher nach Hause kommst, Vater! Aber hast du dich etwa verletzt? Ist dein Arm gebrochen? Bist du deshalb schon … Nein, wenn das der Fall wäre, hättest du doch Dr. Sorello mitgebracht, der dir grässliche Medizin verabreichen würde. Ist heute ein Feiertag? Ich habe aber nichts in meinen Kalender eingetragen. Ein Geburtstag? Sind die Banken geschlossen? Oder … oh nein, Vater! Du hast doch nicht etwa deine Arbeit verloren? Aber ihr beiden seht so fröhlich aus, das kann es also nicht sein. Ist sonst etwas passiert?“
Mr. Darling prallte zurück, als er Wendy reden hörte, als würde sie mit ihren Worten einen regelrechten Sturmwind erzeugen.
„Schon gut, schon gut“, sagte er, da ihm offenbar nichts Besseres einfiel.
„Wendy, Liebes, wir haben dir etwas mitgebracht“, erklärte Mrs. Darling und lachte leise. „Nun zeig’s ihr doch.“
Mr. Darling bewegte die Arme und enthüllte, was seine eigenartige beschützende Körperhaltung verborgen hatte.
Zuerst dachte Wendy, es sei eine Ratte, was seine Größe – klein –, seine Farbe – weiß – und Nanas Ablehnung – extrem – erklärt hätte.
Aber dann streckte es eine kleine rosa Zunge aus dem Maul, und seine schwarzen Augen blinzelten aufgeregt. Das kleine Ding schnaufte und strampelte mit den Beinchen und wusste ganz offensichtlich nicht, wie ihm geschah. Seine winzigen Ohren, die kaum größer waren als die Ecken eines Damentaschentuchs, wirkten doch erstaunlich groß gemessen am Umfang des Kopfes und schienen nicht beweglich zu sein wie die von Nana.
„Oh“, sagte Wendy erstaunt. In den Büchern über „Benimmregeln für englische Mädchen und Jungen“ hatte nie etwas darüber gestanden, wie man mit einer derartigen Situation umgehen musste. „Oh, ein kleiner Hund.“
„Das ist ein Yorkshire Terrier. Ist er nicht niedlich?“, fragte Mrs. Darling hingerissen und gab dem Hündchen einen Kuss.
Mr. Darling schien von diesem Gefühlsausbruch unangenehm berührt.
„Ja, nun … alle Mädchen scheinen jetzt so etwas zu haben. Tragen sie in Körben herum … binden ihnen Schleifchen um … nehmen sie mit in den Park … und solche Dinge. Jedenfalls musst du damit nicht auf die Jagd gehen, das steht mal fest. Wir dachten nur, du könntest vielleicht einen … äh … Freund gebrauchen.“
„Wir hatten Angst, du könntest dich einsam fühlen in diesem großen, zugigen Haus“, ergänzte Mrs. Darling, ergriff die Hände ihrer Tochter und drückte sie.
Wendy, die eben noch so gesprächig gewesen war, fiel nichts mehr ein. Mr. Darling hatte sich immer darüber beklagt, wie klein ihr Haus sei, und hatte es ständig mit denen seiner Geschäftspartner und Direktoren verglichen, in deren Ränge er aufsteigen wollte. Mrs. Darling hatte noch nie etwas Abwertendes über ihr Haus gesagt, sondern es immer verniedlicht: liebenswert, gemütlich, überschaubar, angenehm, hübsch.
„Oh … ja … einsam …“, echote Wendy, um an dem Punkt anzuknüpfen, der ihr am sinnvollsten erschien.
Nana wuffte beleidigt. Was war sie denn, bitte? Nur ein Möbelstück?
Die Eltern schauten ihre Tochter erwartungsvoll an.
Es wäre jetzt angebracht, nach vorn zu treten und eine Hand auszustrecken, damit der kleine Hund sich mit ihrem Geruch vertraut machen konnte. Also tat sie es.
Der kleine Welpe beschnüffelte ihre Hand und leckte sie ab. Er kam ihr vor wie ein Tier aus dem Urwald, wie sie in ihren Abenteuerbüchern beschrieben wurden. Eine scheußliche Kreatur, die sich von Ameisen oder Honig ernährte oder anderen Dingen, die man aufsaugen konnte. Der kleine Hund bellte mehrmals, und es klang seltsam leise und irgendwie irritierend.
„Vielen Dank, Vater“, sagte Wendy und hob die Hände, als hätte sie die Absicht, ihn zu umarmen. Es war keine falsche Geste, im Gegenteil. Sie hätte ihren Vater zu gern umarmt und ihren Kopf an seine Brust gelegt, sein Rasierwasser gerochen und seine Nähe genossen. Ihre Mutter legte ihr einen Arm um die Schultern und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
Sie liebten sie, das war deutlich zu spüren.
Aber sie verstanden sie nicht.
Wendy versuchte herauszufinden, was das Hündchen so alles konnte, während Nana ungnädig zuschaute.
Es rannte in die Mitte des Zimmers und wedelte mit dem Schwanz, als hätte es etwas Ungeheuerliches entdeckt.
Es rannte zu ihr zurück, ließ sich hochheben und leckte ihr Kinn ab.
Es rannte hinter einem Ball her, den Wendy über den Boden rollen ließ.
Es unternahm keinen Versuch, den Ball anzuhalten, zu packen oder irgendwas damit zu tun, außer ihn auf eine hysterische Weise anzubellen, die Wendy sehr verwunderte.
Und schließlich, als ihr klar wurde, dass ihre Brüder erst in zwei Stunden nach Hause kommen würden und ihre Eltern längst verschwunden waren, suchte Wendy nach einem passenden Körbchen und setzte Schneeball hinein – welchen Namen sollte sie ihm denn sonst geben? Dann zog sie den Mantel an und ging nach draußen. Ihr Notizbuch hatte sie ganz vergessen, so sehr war sie mit ihrem Schoßhund beschäftigt.
Nana blieb ebenfalls zu Hause, eingeschnappt und missbilligend.
Auch wenn sie sich lächerlich vorkam, musste Wendy zugeben, dass die feuchte kühle Luft sich angenehm in ihrem Gesicht anfühlte. Feuchtigkeit ist gut für die Haut, pflegte ihre Mutter zu sagen. Frische belebt, würde ihr Vater es ausdrücken. Der kleine Hund spähte aus dem Korb und schaute sich um, machte aber keine Anstalten, hinauszuspringen, um sich einen eigenen Eindruck von den vielen wundersamen Dingen zu machen, an denen sie vorbeikamen. Wendy nickte anderen Spaziergängern zu, die Schneeball amüsiert oder freudig überrascht anschauten.
Und dann kamen ihr ausgerechnet die Shesbow-Zwillinge entgegen.
Wie immer trugen sie gleich geschnittene Kleider in leicht voneinander abweichenden Farben, gleiche Hüte mit verschiedenen Blumen, gleiche Schirme mit verschiedenen Quasten. Womit sie sich genug ähnelten, um ihre Ähnlichkeit zu bemerken, aber dennoch zu erkennen, dass es sich keineswegs um identische Persönlichkeiten handelte.
Wendy erstarrte und wäre am liebsten umgedreht, so als hätte sie etwas zu Hause vergessen. Sie sah, wie die stahlblauen Augen der Zwillinge sie fixierten, und wurde schwach unter ihren neugierigen Blicken, nicht zuletzt wegen der Sternsinger-Feier letzte Weihnachten.
Aber sie hatten sie bereits gesehen und auch bemerkt, dass sie etwas Interessantes bei sich trug, das zu ihrer Zerstreuung beitragen konnte. Also reckte Wendy den Kopf und ging tapfer weiter, um sich ihrem Schicksal zu stellen.
„Miss Darling“, sagte Clara und lächelte kühl und amüsiert. „Wie überaus schön, dich zu sehen, und dann auch noch in der Öffentlichkeit, vor allem nachdem –“
„Oh! Was hast du denn da?“, rief Phoebe aus und starrte den Korb an.
„Meinst du ihn?“ Beinahe hätte Wendy alles verdorben. War Schneeball überhaupt ein „er“? Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, es herauszufinden. „Der ist neu.“
„Oh … oh, wie überaus beeindruckend“, bemerkte Phoebe affektiert und streckte ihre Hände aus, die in fein verzierten Handschuhen steckten. Das Hündchen schnüffelte daran und das Mädchen hätte beinahe vor Begeisterung aufgeschrien.
„Wirklich anbetungswürdig“, sagte Clara. „Wo hast du ihn her?“
„Nun“, erwiderte Wendy zögernd. Sie hasste es, dass diese Mädchen sie immerzu von oben herab behandelten und sie trotzdem immerzu versuchte, ihnen zu gefallen. Wenn sie wahrheitsgemäß erzählte, wie sie zu dem Hund gekommen war, würden die beiden vielleicht etwas Nettes sagen. „Zu Hause war es ein bisschen einsam geworden, wisst ihr. Und da dachte ich, es wäre gar nicht schlecht, wenn es etwas gäbe, das mir Gesellschaft leistet und das ich ein bisschen verhätscheln kann.“
„Ist er nicht süß“, hauchte Phoebe.
„Es freut mich, dass du dir eine Aufgabe gesucht hast“, sagte Clara, während sie mit dem Schirm auf den Boden klopfte und sich bemühte, so zu klingen wie ihre Großmutter. „Alle haben sich schon Sorgen gemacht, weißt du.“
„Sorgen? Meinetwegen? Alle?“
„Also bitte, Wendy. Nach Weihnachten war doch offensichtlich, wie deine Zukunft aussehen wird. Deine Brüder werden zur Universität gehen, und du bleibst zu Hause und kümmerst dich um deine Eltern. Und später dann wahrscheinlich um deine Nichten und Neffen, als alte Jungfer.“
„Mit Katzen“, fügte Phoebe hinzu, ohne das Hündchen aus den Augen zu lassen. „Du hättest dann natürlich Katzen.“
„Genau, jede Menge Katzen.“
„Die Leute … reden über mich? Sagen, ich werde eine alte Jungfer? Mit Katzen?“ Wendy war so überwältigt von diesen neuen Informationen, dass sie die Beleidigung dahinter gar nicht bemerkte. Sie war sechzehn Jahre alt, zum Donnerwetter! Sie hatte noch jede Menge Zeit.
Und da sollte sie schon ans Heiraten denken? Jetzt? Es gab doch weiß Gott interessantere Themen. Ballons und Unterseeboote. Luftschiffe und Piraten. Das dunkle Afrika und das ferne Australien. Peter Pan und Feen und Meerjungfrauen und Zentauren …
„Und jetzt dies“, seufzte Phoebe und warf die Hände hoch, weil ihr angesichts des kleinen Hundes die Worte fehlten. „Weißt du, Alice hat auch einen kleinen Hund! Oh, wir sollten zu ihr gehen! Wäre das nicht lustig? Wir könnten eine Feier veranstalten oder so was.“
„Du könntest ihn zu einer unserer Teegesellschaften mitbringen“, sagte Clara nachdenklich. „Die veranstalten wir manchmal. Wir haben jetzt unseren eigenen literarischen Salon.“
„Vielen Dank, sehr gerne“, gab Wendy zurück, bevor sie überhaupt nachgedacht hatte, ob sie das ehrlich meinte. Oder ob die Einladung ehrlich gemeint war. Es klang eher so, als wollten sie vor allem Schneeball einladen. Andererseits – ein literarischer Salon. Das war doch ein Ort, an dem es ums Erzählen von Geschichten ging!
„Du könntest dort sogar jemanden kennenlernen, eventuell, eines Tages“, fügte Phoebe hinzu. „Jemanden, der so verträumt ist wie du und Hunde mag.“
„Das wäre eine echte Aufgabe“, ergänzte Clara mit funkelnden Augen. „Dich gesellschaftsfähig zu machen und jemand Passenden für dich zu finden. Aber du musst uns versprechen, nichts zu tun – vor allem nicht wie ein Wasserfall draufloszuplappern, wie du es so gern tust. Das findet niemand attraktiv oder damenhaft.“
„Ganz und gar nicht“, stimmte Phoebe zu. „Auf diese Weise findest du nie jemanden.“
„Ich will doch gar nicht allein bleiben. Außerdem habe ich jetzt Schneeball“, sagte Wendy und versuchte, ihre Gedanken so auszudrücken, wie sie es wirklich meinte. Das schien leider nicht zu funktionieren. „Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass jemand zu mir passt. Jedenfalls im Augenblick. Und ich will gar nicht aufhören zu reden. Ich mag nun mal Geschichten und erzähle gern welche. Außerdem … gibt es denn nichts anderes? Geht es nur darum, den passenden Mann zu finden oder eine alte Jungfer zu werden und Katzen zu haben? Gibt’s denn nichts anderes?“
„Jetzt geht es schon wieder los“, stellte Phoebe freundlich fest. Sie legte einen Finger an Wendys Mund. „Schsch.“
Dann nickten die Schwestern einander zu, waren einer Meinung und absolut zufrieden mit sich und ihrer Welt.
„Ich schicke dir eine Einladung“, sagte Clara, als sie Arm in Arm davongingen.
Wendy schaute ihnen nach. Dann warf sie einen Blick auf Schneeball, der sie ausdruckslos anstarrte.
Das könnte der Anfang von etwas ganz Neuem sein. Wenn sie es geschickt anstellte, wäre es vorbei mit den einsamen langen Tagen zu Hause. Sie würde an Teegesellschaften und Partys teilnehmen, vielleicht sogar mit anderen zusammen Hunde ausführen.
Auch Jungs wären dabei.
Alles würde gut werden. Sie würde rauschende Bälle besuchen und Quadrillen tanzen. Sie würde einen Ehemann finden und Kinder haben und in einem anderen, hoffentlich weniger langweiligen Haus leben.
Will ich das?
Und wäre das besser oder schlechter als das, was ich jetzt habe?
Wendy atmete tief durch.
Und dann rannte sie los, bis nach Hause, mit trampelnden Füßen und kein bisschen damenhaft.