Mary E. Pearson
Zweiunddieselbe
Das vergessene Leben der Jenna Fox
Roman
Aus dem Amerikanischen von Gerald Jung und Katharina Orgaß
FISCHER E-Books
Mary E. Pearson wurde 1955 in Südkalifornien, USA, geboren. Nach einem Universitätsstudium in San Diego
unterrichtete sie viele Jahre, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie ist verheiratet, hat zwei Töchter und zwei Golden Retriever. Sie liebt das Lesen, lange Spaziergänge, Skifahren, Kochen, Reisen und Familienfeiern. Ihr Roman Zweiunddiesselbe ist der erste Band einer Trilogie über die Protagonistin Jenna Fox und wurde 2010 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de
»Ich bin alles, was möglich ist.«
Als Jenna nach über einem Jahr aus dem Koma erwacht, weiß sie nicht, wer sie ist. Warum meldet sich kein einziger Freund bei ihr? Warum verhalten sich ihre Eltern so sonderbar? Was ist eigentlich passiert?
Verzweifelt versucht Jenna herauszufinden, wer sie einmal war. Denn der Mensch, als den ihre Eltern sie beschreiben, bleibt ihr fremd. Die Wahrheit, der sie schließlich Stück für Stück auf die Spur kommt, ist ungeheuerlich: Jenna hatte einen furchtbaren Unfall – und ihre Eltern haben alles medizinisch Mögliche getan, um sie am Leben zu erhalten. Doch ist sie wirklich noch dieselbe?
Ein zeitloser Roman über ethische Fragen in einer zukünftigen Welt voller medizinischer Fortschritte – hoch spannend bis zur letzten Seite.
»Der Autorin ist es gelungen, ethische Fragen in einer künftigen Welt voller medizinischer Fortschritte in eine fesselnde Handlung zu packen, die bis zum Schluss höchst spannend bleibt.« SWR4
Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2010
Die deutsche Erstausgabe erschien 2009 unter dem Titel Zweiunddieselbe im Hardcover-Programm von Fischer Schatzinsel, dem Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Velage.
Überarbeitete Neuausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel The Adoration of Jenna Fox bei Henry Holt and Company, LLC, New York
Copyright © 2008 by Mary E. Pearson
Published by Arrangement with Mary E. Pearson
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Hannover
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2021 Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Hedderichstraße 114, D-60596 Frankfurt am Main
Lektorat: Katrin Weingran
Covergestaltung: SUSE KOPP, Hamburg
Coverabbildung: Jill Hyland/Arcangel
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0430-1
Für meinen wunderbaren Mann Dennis
und meine geliebten Kinder Jessica, Karen und Ben
Früher war ich jemand namens Jenna.
Jenna Fox.
Das erzählen sie mir jedenfalls. Aber ich bin mehr als ein Name. Mehr, als sie mir erzählen. Mehr als die Zahlen und Fakten, mit denen sie mich vollstopfen. Mehr als die Videos, die sie mich anschauen lassen.
Mehr. Aber ich weiß nicht genau was.
»Komm, setz dich zu mir, Jenna. Das darfst du nicht verpassen.« Die Frau, die ich »Mutter« nennen soll, klopft auf das Sofakissen neben sich. »Komm her«, sagt sie noch einmal.
Ich setze mich neben sie.
»Das ist ein historischer Augenblick«, sagt sie, legt mir den Arm um die Schulter und drückt mich. Ich ziehe erst den einen Mundwinkel hoch, dann den anderen: Ich lächle. Weil das von mir erwartet wird. Weil sie das gern so möchte.
»Das ist nämlich etwas ganz Neues«, sagt sie. »Wir hatten noch nie eine Präsidentin, deren Familie ursprünglich aus Nigeria stammt.«
»Etwas ganz Neues«, wiederhole ich und beobachte den Bildschirm. Ich beobachte Mutters Gesicht. Ich habe eben erst gelernt, wie man lächelt. Wie ich reagieren soll, wenn sich ihr Gesichtsausdruck ändert, weiß ich nicht. Müsste ich aber.
»Setz dich doch zu uns, Mom!«, ruft sie nach nebenan in die Küche. »Es fängt gleich an.«
Sie wird nicht kommen, das weiß ich. Sie mag mich nicht. Keine Ahnung, woher ich das weiß. Es liegt nicht an ihrem Gesichtsausdruck. Ihr Gesicht verrät mir genauso wenig wie alle anderen. Es ist irgendetwas anderes.
»Ich wasche gerade ab. Ich seh’s mir auf dem Küchenmonitor an«, ruft sie.
Ich stehe auf. »Ich kann auch rausgehen, Lily.«
Sie kommt und bleibt im Durchgang zur Küche stehen. Sie schaut zu Mutter hinüber. Die beiden wechseln einen Blick, den ich nicht deuten kann. Mutter stützt den Kopf in die Hände. »Das ist doch deine Oma, Jenna. Du hast sie immer ›Nana‹ genannt.«
»Das ist schon in Ordnung. Meinetwegen kann sie ›Lily‹ zu mir sagen.« Sie setzt sich neben Mutter, auf die andere Seite.
Es ist stockdunkel.
Ich habe keine Augen, keinen Mund. Keine Wörter.
Ich kann nicht schreien, weil ich nicht atme. Die Stille lastet so schwer auf mir, dass ich am liebsten tot wäre.
Doch ich sterbe nicht.
Dunkelheit und Stille dehnen sich ins Unendliche aus.
Das ist kein Traum.
Ich träume nicht.
Der Unfall ist über ein Jahr her. Ich bin jetzt seit zwei Wochen wach. Über ein Jahr ist vergangen. Damals war ich sechzehn, jetzt bin ich siebzehn. Zum zweiten Mal wurde eine Frau zur Präsidentin gewählt. In unserem Sonnensystem wurde ein zwölfter Planet entdeckt. Der letzte frei lebende Eisbär ist gestorben. Schlagzeilen, die mich gleichgültig gelassen haben. Ich habe das alles verschlafen.
Ich bin schreiend aufgewacht. Das haben sie mir jedenfalls erzählt. Ich erinnere mich nicht an den ersten Tag. Irgendwann habe ich gehört, wie Lily in der Küche leise zu Mutter gesagt hat, dass ihr meine Schreie Angst machen. »Wie ein Tier hört sie sich an«, hat sie gesagt.
Ich wache immer noch schreiend auf. Warum, weiß ich nicht. Ich fühle nichts. Jedenfalls nichts, das ich benennen könnte. Es ist wie Atmen – etwas, das ich nicht beeinflussen kann. Als ich aufgewacht bin, war Vater hier. Er sagte, es sei ein Anfang. Es sei gut. Vielleicht fand er ja alles gut, was ich tat. Die ersten Tage waren schwierig. Mein Kopf und mein Körper spielten verrückt. Mein Kopf hat sich als Erstes beruhigt. Man musste mir die Arme am Bett festbinden. Am nächsten Tag hatten sich auch meine Arme beruhigt. Alle schwirrten um mich rum. Sie führten lauter Tests mit mir durch, immer wieder aufs Neue. Vater hat mehrmals täglich meinen Zustand in sein Netbook eingegeben, weil er mit irgendeinem Arzt Rücksprache hinsichtlich meiner Behandlung gehalten hat. Ich habe nichts von einer Behandlung gemerkt. Ich habe einfach von Tag zu Tag Fortschritte gemacht. Erst konnte ich nicht laufen. Am nächsten Tag ging’s. Erst hing mein rechtes Augenlid herunter. Am nächsten Tag verhielt es sich normal. Erst lag meine Zunge wie ein Fleischklumpen im Mund, dann konnte ich auf einmal Wörter aussprechen, die ich über ein Jahr lang nicht benutzt hatte.
Als ich am fünften Tag ohne zu stolpern auf die Veranda hinausging, hat Mutter geweint und gesagt: »Es ist ein Wunder! Ein Wunder!«
»Sie läuft noch ganz unnatürlich, siehst du das denn nicht?«, hat Lily gefragt.
Mutter hat nicht darauf geantwortet.
Am achten Tag musste Vater wieder nach Boston, zur Arbeit. Er hat mit Mutter getuschelt, aber ich habe trotzdem etwas aufgeschnappt. Riskant … muss wieder hin … du schaffst das schon. Bevor er ins Auto gestiegen ist, hat er die Hände um mein Gesicht gelegt. »Eins nach dem anderen, Engelchen«, hat er gesagt. »Du musst Geduld haben. Du wirst alles wieder lernen, dich an alles erinnern. Im Lauf der Zeit wird sich alles finden.« Ich glaube, inzwischen kann ich wieder ganz normal gehen. Mein Gedächtnis dagegen ist noch nicht wieder in Ordnung. Ich erinnere mich weder an meine Mutter noch an meinen Vater, noch an Lily. Ich erinnere mich nicht daran, dass ich früher in Boston gewohnt habe. Ich erinnere mich nicht an den Unfall. Ich erinnere mich nicht an Jenna Fox.
Vater sagt, das wird schon wieder. »Die Zeit heilt alle Wunden«, sagt er.
Ich sage ihm nicht, dass ich nicht weiß, was »Zeit« ist.
Es gibt Wörter.
Wörter, an die ich mich nicht erinnere.
Keine schwierigen Wörter,
die man nicht zu kennen braucht.
Sondern ganz einfache.
Springen. Heiß. Apfel.
Zeit.
Ich schlage die Wörter nach, damit ich sie nie mehr vergesse.
Wo sind die ganzen Wörter geblieben,
die Wörter, die ich früher im Kopf hatte?
neugierig (Adj.) 1. von Neugier erfüllt, erwartungsvoll, wissbegierig 2. zudringlich, indiskret
In der ersten Woche hat mir Mutter alles Mögliche über mich erzählt. Wie ich heiße. Was ich als Kind für Haustiere hatte. Was meine Lieblingsbücher sind. Wo wir im Urlaub waren. Und jedes Mal hat sie hinterher gefragt: »Weißt du noch?« Jedes Mal, wenn ich »nein« gesagt habe, sind ihre Augen irgendwie kleiner geworden. Kann das sein? Ich habe mir Mühe gegeben, das »Nein« nicht so hart klingen zu lassen. Dass sich jedes »Nein« anders anhört als das davor. Aber am 6. Tag ist ihr mittendrin die Stimme weggeblieben, als sie mir von meiner letzten Ballettaufführung erzählt hat. »Weißt du noch?«
Am 7. Tag hat sie mir einen kleinen Karton gegeben. »Ich will dich nicht bedrängen«, hat sie gesagt. »Die Reihenfolge stimmt, und fast alle sind beschriftet. Wenn du sie dir anschaust, löst das vielleicht Erinnerungen aus.« Sie hat mich umarmt. Ich habe gespürt, wie weich ihr Pullover ist. Wie kühl ihre Wange ist. So etwas kann ich spüren. Hart. Weich. Rau. Glatt. Aber in mir drin fühlt sich alles wie wattiger Brei an. Ob dieser Teil von mir noch schläft? Ich habe die Arme um sie gelegt und versucht nachzuahmen, wie sie mich gedrückt hat. Sie schien sich darüber zu freuen. »Ich hab dich so lieb, Jenna«, hat sie gesagt. »Ich bin immer für dich da, wenn du irgendwelche Fragen hast, das sollst du wissen.«
Die passende Antwort war »Danke«. Keine Ahnung, ob ich mich daran erinnert habe oder ob man es mir eben erst beigebracht hatte. Ich habe sie nicht lieb. Ich weiß, dass das nicht richtig ist, aber wie kann man eine Fremde lieben? Trotzdem hat sich in dem wattigen Brei etwas geregt. Zuneigung? Pflichtgefühl? Ich wollte ihr eine Freude machen. Was hat sie mir angeboten? Ich bin immer für dich da, wenn du irgendwelche Fragen hast. Ich hatte aber keine Fragen. Noch nicht.
Ich habe mir die erste Scheibe angeschaut. Es kam mir logisch vor, die Reihenfolge einzuhalten. Der Film zeigt mich in der Gebärmutter. Stundenlang. Ich war nämlich ihr erstes und einziges Kind.
Bevor ich auf die Welt kam, hatte meine Mutter schon zwei Fehlgeburten erlitten. Zwei kleine Jungen, die innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate starben. Als dann ich unterwegs war, haben Mutter und Vater besondere Vorkehrungen getroffen, und es ging alles gut. Ich war ihr Ein und Alles. Ihr Wunderkind. Ich habe mir angeschaut, wie ich als Fötus in der dunklen Fruchtblase herumgeschwommen bin. Müsste ich mich daran auch erinnern?
Jeden Tag schaue ich mir mehr Scheiben an und versuche, mich an die Jenna von früher zu erinnern. Auf manchen sind Fotos, auf anderen Filme. Es gibt viele dieser kleinen Scheiben, vielleicht hundert Stück. Tausende Stunden Jenna.
Ich mache es mir auf dem großen Sofa bequem. Heute sehe ich mir Jenna Fox/3 Jahre alt an. Es geht mit dem Kindergeburtstag los, als ich drei geworden bin. Ein kleines Mädchen läuft lachend drauflos, bis es an einer hohen, verwitterten Mauer anhalten muss. Die Kleine schlägt mit den Händchen gegen die Mauer und dreht sich zur Kamera um. Ich halte den Film an und betrachte das Gesicht eingehend. Das Lachen. Die Kleine hat etwas. Etwas, das ich in meinem eigenen Gesicht nicht entdecken kann. Aber was ist es? Nur ein Wort, das ich vergessen habe? Oder vielleicht doch noch etwas anderes? Ich sehe mir die großen groben, rötlichbraunen Steine an, auf denen ihre gespreizten Fingerchen liegen. Ich erkenne die Gartenmauer des Sandsteinhauses, in dem wir früher gewohnt haben. Das weiß ich, seit ich mir gestern Scheibe 18 angeschaut habe.
Ich sage »Play«, und der Film läuft weiter. Ich schaue zu, wie das blonde Mädchen quietschend weiterläuft und den Kopf zwischen zwei Hosenbeine steckt. Dann wird die Dreijährige auf einmal hochgehoben, und die Kamera zoomt auf Vaters Gesicht. Er lacht und prustet der Kleinen auf den Bauch. Meinen Bauch. Die Dreijährige lacht. Offenbar gefällt es ihr. Ich stelle mich vor den Spiegel neben dem Bücherregal. Ich bin jetzt siebzehn, aber ich sehe ihr trotzdem noch ähnlich. Blonde Haare. Blaue Augen. Aber andere Zähne. Mit drei hat man ganz kleine Zähne. Meine Finger. Meine Hände. Alles viel größer. Als ob ich jemand ganz anderes wäre. Und trotzdem bin ich das auf dem Video. Behaupten sie jedenfalls. Ich setze mich wieder auf das Sofa und schaue mir weiter den Geburtstag an, das abendliche Bad, die Ballettstunde, das Malen mit Fingerfarben, den Wutanfall, das Vorlesen, alles, was Vater und Mutter im Leben der dreijährigen Jenna Fox bedeutsam fanden.
Ich höre jemanden hereinkommen. Aber ich drehe mich nicht um. An den Schritten erkenne ich Lily. Sie geht anders als Mutter. Schneller. Und sie tritt fester auf. So etwas entgeht mir nicht. War ich früher auch so hellhörig? Sie bleibt stehen. Ich warte darauf, dass sie etwas sagt. Aber sie schweigt. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.
»Du weißt, dass du die DVDs nicht der Reihe nach anzuschauen brauchst«, sagt sie nach einer Weile.
»Das weiß ich. Mutter hat es mir gesagt.«
»Es gibt auch Videos von dir als Teenager.«
»Ich bin immer noch ein Teenager.«
Eine Pause entsteht. Sie schweigt absichtlich, glaube ich. »Wahrscheinlich schon«, sagt sie dann. Sie kommt um das Sofa herum, damit ich sie sehen kann. »Bist du denn gar nicht neugierig?«
Neugierig. Ein Wort, das ich heute Morgen nachgeschlagen habe, weil Mutter gemeint hat, Mr. Bender, der auf der anderen Seite vom Teich wohnt, sei neugierig.
»Ich weiß nicht.«
Lily lässt die verschränkten Arme sinken und legt den Kopf schief. Sie ist eine hübsche Frau. Sie sieht wie fünfzig aus, aber ich weiß, dass sie mindestens sechzig sein muss. Um die Augen hat sie Fältchen, die jetzt tiefer werden. Ich kann immer noch nicht alle Gesichtsausdrücke richtig deuten.
»Sieh sie dir lieber kreuz und quer an. Mach gleich mit letztem Jahr weiter.«
Lily geht wieder hinaus, und ich treffe am 15. Tag nach meinem Erwachen meine erste eigene Entscheidung. Ich werde die Scheiben der Reihe nach anschauen.
Irgendetwas ist merkwürdig daran, wie wir leben. Lily ist irgendwie merkwürdig. Vater und seine nächtlichen Telefonate mit Mutter sind merkwürdig. Ich selber sowieso. Wieso erinnere ich mich an alle möglichen Einzelheiten über die Französische Revolution, aber nicht mehr daran, ob ich irgendwann mal eine beste Freundin hatte?
Als ich heute aufgewacht bin, waren die Fragen auf einmal da. Wo hatten sie sich so lange versteckt? Die Zeit heilt alle Wunden. Hat Vater das damit gemeint? Oder mussten die Wörter, die mir entfallen waren, sich erst wieder in der richtigen Reihenfolge zusammensetzen? Abgesehen von den Fragen ist mir das Wort vorsichtig eingefallen. Warum? Aber vielleicht muss ich mich einfach auf die Wörter verlassen, wenn sie auftauchen.
»Ich gehe jetzt, Jenna«, ruft Mutter von der Haustür aus. »Kommst du auch bestimmt zurecht?«
Mutter geht in die Stadt. Es ist das erste Mal überhaupt seit Tag eins, dass ich sie das Haus verlassen sehe.
»Klar«, rufe ich. »Meine Nährstoffe stehen in der Küche. Ich weiß, wie viel ich nehmen soll.« Ich darf noch nichts Richtiges essen. Als ich nach dem Grund gefragt habe, sind die beiden einander andauernd ins Wort gefallen. Schließlich haben sie mir erklärt, dass mein Verdauungssystem noch eine Weile keine normale Nahrung verkraftet, weil ich ein Jahr lang durch einen Schlauch ernährt wurde. Ich kann mich an keinen Schlauch erinnern. Vielleicht ist der ja auf der letzten DVD zu sehen, die ich mir laut Lily gleich anschauen soll. Warum ist ihr das so wichtig?
»Du bleibst bitte im Haus«, ruft Mutter noch.
»Das wird sie«, antwortet Lily.
Mutter hat in der Stadt eine Besprechung mit irgendwelchen Handwerkern. Sie ist Baurestauratorin. Beziehungsweise war. Sie hatte in Boston einen Betrieb zur Restaurierung alter Sandsteinhäuser. Darauf war sie spezialisiert. Sie hatte viel zu tun. Überall wird restauriert. Altes ist begehrt. Lily hat gesagt, Mutter hatte einen guten Ruf und war immer ausgebucht. Sie hat ihren Beruf meinetwegen aufgegeben. In Kalifornien gibt es keine Sandsteinhäuser. Aber Mutter meint, das Haus, in dem wir jetzt wohnen, muss auch dringend restauriert werden. Ein Cotswold-Cottage hat sie es genannt. Jetzt, wo es mir bessergeht, will sie es endlich herrichten. Im Grunde ähneln sich alle Restaurierungen ziemlich, meint sie. Mich und unser Haus wieder herzurichten ist ihre neue Berufung.
Sie ist schon auf halbem Weg zum Gartentor, als ich meine erste Frage stelle. Mir ist klar, dass ihr der Zeitpunkt nicht passt.
»Warum sind wir hierhergezogen, Mutter?«
Sie bleibt stehen. Ich glaube zu sehen, dass sie ein wenig stolpert. Sie dreht sich um. Sie reißt die Augen auf. Aber sie antwortet mir nicht, darum frage ich noch einmal: »Warum wohnen wir hier, wenn Vater, dein Betrieb und alle Ärzte in Boston sind?«
Mutter blickt kurz zu Boden, so dass ich ihr Gesicht nicht sehen kann, dann schaut sie wieder auf. Sie lächelt. Erst zieht sie einen Mundwinkel hoch. Dann den anderen. Ein vorsichtiges Lächeln. »Ach, dafür gibt es viele Gründe, Jenna. Wenn ich dir das alles jetzt erläutere, verpasse ich meinen Bus, aber vor allem sind wir hergezogen, damit du in Ruhe wieder gesund werden kannst. Und unsere Rechnung scheint ja aufzugehen, findest du nicht?«
Glatt. Einstudiert. Das höre ich an dem leichten Singsang in ihrer Stimme. Es klingt durchaus einleuchtend, aber es überzeugt mich trotzdem nicht. Die Ärzte in der Nähe zu haben ist für mein Wohlergehen viel wichtiger als Ruhe. Trotzdem nicke ich. Irgendwas stimmt nicht mit ihren Augen. Augen können nicht atmen. So viel weiß ich. Aber ihre Augen blicken irgendwie atemlos.
Ich gehe in mein Zimmer. Auch wenn ich keine Lust dazu habe. Aber ehe sie endgültig gegangen ist, hat Mutter noch gesagt: »Geh in dein Zimmer, Jenna. Ruh dich ein bisschen aus.« Ich will mich eigentlich nicht ausruhen, und ich will nicht in mein Zimmer gehen, aber da tragen mich meine Füße schon die Treppe hoch, und ich ziehe die Tür hinter mir zu. Weil ich ihr damit eine Freude mache.
Mein Zimmer liegt im ersten Stock, in dem es insgesamt zehn Räume gibt, außerdem jede Menge Wandschränke, Badezimmer, Nischen und irgendwelche fensterlosen kleinen Kammern, die niemand benutzt. Mein Zimmer ist als Einziges sauber und möbliert. In den anderen Räumen hausen nur Spinnen, und hier und da liegt irgendwelches alte Zeug von den vorigen Bewohnern herum. Im Erdgeschoss gibt es noch einmal mindestens zehn Zimmer, von denen nur die Hälfte richtig eingerichtet ist. Manche sind abgeschlossen, und ich war noch nie drin. Mutter und Lily haben ihre Zimmer unten. Das Haus ist viel zu groß für ein Cottage, denn ein Cottage ist ursprünglich ein kleines Bauernhaus mit einem einzigen großen Wohnraum gewesen. Das habe ich nachgeschlagen. Cotswold habe ich auch nachgeschlagen. Das ist eine Schafrasse. Wir müssten also eigentlich in einem Schafstall wohnen. Ich habe hier noch kein Schaf gesehen.
Mein Zimmer liegt ganz am Ende eines langen Flures. Es ist das größte Zimmer hier oben. Das Bett, der Schreibtisch und der Stuhl sehen darin viel zu klein aus. Die Möbel spiegeln sich in den blanken Holzdielen. Es ist ein kaltes Zimmer. Damit meine ich nicht die Temperatur, sondern die Stimmung. Dem Zimmer merkt man nicht an, wer darin wohnt. Oder vielleicht eben doch.
Der einzige Farbtupfer ist die hellgelbe Tagesdecke. Abgesehen von dem Netbook, über das Vater immer mit den Ärzten Rücksprache gehalten hat, ist der Schreibtisch leer. Kein Papier. Keine Bücher. Kein Krimskrams. Nichts.
Von meinem Zimmer aus gelangt man in ein großes Ankleidezimmer, das in einen begehbaren Kleiderschrank führt. Daran schließt sich ein noch kleinerer Wandschrank mit einer niedrigen Tür in der hintersten Ecke an. Die Tür kriegt man nicht auf. Ein sonderbares Labyrinth. War mein Zimmer in Boston auch so komisch verwinkelt? In dem vorderen Schrank hängen vier T-Shirts und vier Hosen, alle blau. Darunter stehen zwei Paar Schuhe. Der hintere Schrank ist leer. Ich lasse die Hände über die Wand gleiten. Wozu hat man einen begehbaren Schrank, wenn nichts drin ist?
Ich schaue aus dem Fenster, auf unseren Hof und zum Teich hinüber. Der neugierige Mr. Bender ist ein kleiner, ferner Fleck. Es sieht aus, als hockte er auf dem Boden und betrachtete etwas. Er steht auf und geht ein paar Schritte weiter, dann kann ich ihn nicht mehr sehen, weil er hinter den vordersten Bäumen des Eukalyptuswäldchens verschwunden ist, das unsere beiden Grundstücke voneinander trennt. Ich wende mich vom Fenster ab und betrachte noch einmal mein Zimmer.
Ein Stuhl.
Ein leerer Tisch.
Ein gemachtes Bett.
Nicht gerade viel. Ist das alles, was Jenna Fox ausmacht?
Hatte ich Freunde?
Ich war über ein Jahr lang krank, trotzdem gibt es in meinem Zimmer keine einzige Karte, keinen Brief, keinen Luftballon und keinen verwelkten Blumenstrauß.
Wenn das Netbook summt, ist es nie für mich.
Nicht einmal ehemalige Mitschüler erkundigen sich nach mir.
Ich habe vielleicht viel vergessen, aber ich weiß, dass da etwas nicht stimmt.
Ich weiß, dass man sich erkundigt, wenn jemand krank ist.
Was war diese Jenna Fox für ein Mensch, dass sie überhaupt keine Freunde hatte?
Will ich mich überhaupt an so jemanden erinnern?
Mindestens einen Freund sollte jeder haben.
Ich höre Lily vor sich hinsummen. Meine Füße wollen sich selbständig machen, aber ich beherrsche mich, denn Lily soll mich nicht hören. Ich drücke mich an die Wand und spähe in die Küche. Sie hat mir den Rücken zugewandt. Sie verbringt viel Zeit in der Küche und kocht ausgefallene Gerichte. Früher war sie im Städtischen Krankenhaus von Boston Chefärztin der Inneren. Vater war ihr Assistenzarzt. So hat er auch Mutter kennengelernt. Lily hat ihren Beruf inzwischen an den Nagel gehängt, warum, weiß ich nicht. Sie hat sich aufs Gärtnern und Kochen verlegt. Anscheinend erfinden sich alle Bewohner unseres Hauses neu, und keiner ist mehr der, der er früher einmal war.
Wenn Lily gerade nicht kocht, ist sie im Garten und kümmert sich um das Gewächshaus. Ich darf nichts essen, was sie zubereitet. Ob das vielleicht ein Grund dafür ist, dass sie mich nicht mag? Jetzt klappert sie mit den Töpfen und dreht den Wasserhahn auf. Ich schleiche mich zur Haustür.
Die schwere Tür knarrt, als ich sie aufmache, aber Lily kommt nicht sofort angelaufen. Wahrscheinlich hat sie bei dem ganzen Töpfegeklapper und Wasserrauschen nichts gehört. Ich bin noch nie weiter gekommen als bis auf die Vortreppe, außer einmal, als es schon dunkel war und Mutter mit mir einen kleinen Spaziergang zu Lilys Gewächshaus gemacht hat. Seit ich wieder wach bin, schärft mir Mutter ständig ein, immer in der Nähe des Hauses zu bleiben. Sie hat Angst, dass ich verloren gehe.
verloren (Adj.) 1. abhanden gekommen 2. einsam, verlassen 3. dem Untergang geweiht
Ich habe Angst, dass ich schon verloren bin.
Es ist ein warmer Nachmittag. Die Sonne tut mir in den Augen weh. Ich ziehe die Tür hinter mir zu, damit Lily keinen Verdacht schöpft, und laufe los. Ich will nicht weit weg, ich bleibe in Sichtweite des Hauses. Vorsichtig. Da ist das Wort wieder, wie ein Hindernis direkt vor mir, aber auch wie ein Stups von hinten. Ich komme am Außenschornstein des Wohnzimmerkamins vorbei. Die obersten Ziegelsteine sind heruntergefallen und vom Unkraut schon fast überwuchert. Der übrige Schornstein ist mit hellgrünen Flechten bewachsen. Ich gehe hinten um die Garage herum, damit mich Lily nicht sieht. Auf dieser Seite des Hauses sind ein paar Fenster mit Brettern verrammelt, und ein Stück Dach ist abgedeckt. Mutter scheint genug Geld zu haben. Warum hat sie dann nicht einmal die nötigsten Reparaturen in Auftrag gegeben? Schließlich hatte sie doch ein Jahr lang Gelegenheit dazu, während ich im Koma lag.
Als ich an der Garage vorbei bin, habe ich einen guten Blick auf das Grundstück des neugierigen Mr. Bender, aber ich kann ihn nirgends entdecken. Der Garten hinter unserem Haus fällt zum Teichufer hin sanft ab. Der Teich ist groß, die Oberfläche ist glatt. Er liegt zwischen unserem und Mr. Benders Grundstück, und der sich dahinschlängelnde Bach, aus dem er sich speist, dient unserem Grundstück als natürliche Grenze zu den Nachbarn auf der Südseite, wie eine Art Zaun. Auf der Nordseite geht der Teich wieder in den Bach über, der in einem Eukalyptuswald verschwindet.
Noch ein paar Schritte, dann sehe ich Mr. Bender. Er hockt auf der Erde wie die dreijährige Jenna auf den DVDs. Bei einem Erwachsenen sieht das merkwürdig aus. Er schaut auf den Boden. In der einen Hand hält er etwas, die andere streckt er aus, als wollte er etwas aufheben. Er hockt so reglos da, dass ich stehen bleibe.
Interessant. Anscheinend bin ich doch neugierig.
Ich laufe weiter, bis ich unten am Teichufer stehe, dann gehe ich in den Wald hinein. Die Bäume haben dünne Stämme, aber sie stehen dicht beieinander. Ein paar Meter weiter ergießt sich der Teich in den Bach. Das Wasser strömt kaum kräftiger als das Wasser aus dem Hahn in Lilys Küche und ist fast überall nur eine Handbreit tief. Ich springe von einem trockenen Trittstein zum nächsten, bis ich auf Mr. Benders Grundstück stehe. Ich klettere die Uferböschung hoch. Eigentlich müsste ich mich fürchten. Mutter würde wollen, dass ich mich fürchte. Aber abgesehen von Mutter, Vater und Lily ist Mr. Bender der einzige Mensch, der mir begegnet ist, seit ich wieder wach bin. Ich möchte endlich mit jemandem sprechen, der mich nicht kennt. Mit jemandem, der Lily und Mutter nicht kennt. Mit jemandem außerhalb unserer merkwürdigen Runde. Mr. Bender sieht mich kommen und steht auf. Er ist viel größer, als ich dachte. Ich bleibe wieder stehen.
»Tag!«, ruft er.
Ich rühre mich nicht von der Stelle.
»Na, hast du dich verlaufen?«
Ich drehe mich nach unserem Haus um. Ich betrachte meine Hände. Von beiden Seiten. Ich heiße Jenna Fox. »Nein«, erwidere ich und gehe weiter.
Er streckt mir die Hand hin. »Ich bin Clayton Bender. Bist du meine neue Nachbarin?« Er deutet mit dem Kinn auf unser Haus.
Neu? Was bedeutet für ihn neu? Ist ein Jahr neu? »Ich heiße Jenna Fox. Ja, ich wohne da drüben.« Wir geben uns die Hand.
»Du hast ja eiskalte Hände, junge Dame! Musst du dich erst noch akklimatisieren?«
Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber ich nicke und sage »Ja«. »Ich habe Sie von meinem Fenster aus gesehen. Sie haben dagehockt und auf die Erde geschaut. Was haben Sie da gemacht?«
Er lacht und erwidert: »Du bist aber neugierig!«
»Ich weiß nicht.«
Er lacht noch einmal und schüttelt den Kopf. »Ich habe auf den Boden geschaut, weil ich gerade etwas mache. Du kannst es dir gern ansehen.« Er geht ein paar Schritte und zeigt auf die Erde. Ich folge ihm.
»Was ist das?«, frage ich.
»Ich habe mir noch keinen endgültigen Titel dafür ausgedacht, aber wahrscheinlich nenne ich es ›Kiefernschlange‹. Oder so ähnlich. Ich mache Umweltkunst.«
»Was machen Sie?«
»Ich erschaffe Kunstwerke aus Sachen, die ich in der Natur finde.«
Auf dem Boden liegen sorgfältig aufgereiht lauter lange Kiefernnadeln. Sie sind an beiden Enden vorsichtig in die lose Erde gesteckt, so dass sie eine gewundene Schlange bilden, die sich in die Erde hinein- und wieder hinausschlängelt. Ich würde die Schlange gern anfassen, aber dann würde sie kaputtgehen. Wozu soll das alles gut sein? Mr. Bender hat den ganzen Vormittag damit zugebracht, etwas zu erschaffen, das schon morgen zertrampelt oder vom Wind weggepustet sein wird. »Warum machen Sie so etwas?«, frage ich.
Er lacht schon wieder. Warum lacht er andauernd? »Sie sind aber kritisch, Miss Fox! Ich mache Kunst, weil ich muss. Es kommt einfach aus mir heraus. Es ist wie Atmen.«
Wie kann eine Kiefernnadelschlange aus ihm herauskommen? Und dann noch eine, die nicht halten wird. »Morgen ist Ihre Schlange kaputt.«
»Da hast du allerdings recht. Das ist ja das Schöne und Wundersame daran. Finde ich jedenfalls. Sie ist empfindlich und vergänglich und zugleich ewig. Meine Kunstwerke kehren wieder in die Natur zurück und sind unendlich wiederverwendbar. Ich ordne die Bestandteile der Natur nur vorübergehend anders an, damit meine Mitmenschen das Alltägliche mit neuen Augen sehen und erkennen, wie schön es ist. Der Betrachter soll innehalten und …«
»Aber hier sieht Ihr Kunstwerk doch niemand.«
»Wenn es fertig ist, fotografiere ich es. Allzu große Vergänglichkeit kann ich mir nicht leisten. Auch ich muss von etwas leben. Hast du denn noch nie von Clayton Bender gehört?«
»Nein.«
Er grinst. »Tja, offenbar sind manche meiner Arbeiten nicht besonders bekannt, aber als junger Künstler habe ich einmal eine Eisskulptur im Schnee gemacht. Weiß auf Weiß. Damit wurde ich ziemlich berühmt. Fast in jedem Bürogebäude und in jeder Arztpraxis hängt ein Foto davon. Es ist nicht mein bestes Werk, aber das bekannteste. Wahrscheinlich, weil Weiß immer passt. Mit dem Geld, das ich damit verdient habe, habe ich mir dieses Haus gekauft. Heutzutage könnte ich mir kein Haus mehr leisten.«
»War Ihr Haus teuer?«
»Es ist eine teure Gegend. Heute muss man hier für ein Haus ein kleines Vermögen hinlegen. Aber mein Haus habe ich für einen Appel und ein Ei bekommen, weil ich es kurz nach dem großen Beben gekauft habe. Daran kannst du dich sicher nicht erinnern, weil du noch zu jung bist, aber …«
»Vor fünfzehn Jahren. Südkalifornien. Neunzehntausend Tote. Zwei ganze Ortschaften sind im Meer versunken, und das gesamte öffentliche Verkehrsnetz brach zusammen, weil der halbe Bundesstaat unter Wasser stand. Es war die größte Naturkatastrophe, die es in unserem Land je gab, und gilt zugleich mit der Aureus-Epidemie ein Vierteljahr danach als Auslöser für die zweite große Wirtschaftskrise, die sechs Jahre lang anhielt.«
Ich bin verdutzt. Ist das das richtige Wort? Ja: verdutzt. Keine Ahnung, wo ich das alles herhabe.
Mr. Bender holt tief Luft. »Donnerwetter! Du kennst dich ja hervorragend aus, Jenna. Bist du ein Geschichtsfan?«
War ich so jemand? Bin ich so jemand? Mich beschäftigt immer noch, wie selbstverständlich die ganzen Zahlen und Fakten aus mir herausgesprudelt sind. »Scheint so.«
»Aber du hast ganz recht. Wegen dieser schrecklichen Ereignisse konnte ich das Haus so unverschämt billig erwerben. Inzwischen ist das Erdbeben längst vergessen, und die Wissenschaftler behaupten, es dauert noch etliche hundert Jahre, bis wieder eines kommt, das Stärke neun erreicht, darum sind die Immobilienpreise inzwischen wieder in schwindelerregende Höhen gestiegen.«
»Unser Haus ist ziemlich heruntergekommen. Das ist bestimmt nicht viel wert.«
»Es hat ja auch jahrelang leergestanden, aber es dürfte nicht besonders aufwendig sein, es wieder herzurichten. Ich find’s schön, dass dort wieder jemand wohnt. Als ich vorletzte Woche mitbekommen habe, dass ihr eingezogen seid, habe ich mich richtig gefreut, dass wieder eine Familie das alte Haus mit Leben erfüllt.«
»Vorletzte Woche? Wir wohnen schon länger hier.«
Mr. Bender runzelt die Stirn. »Ach so? Na ja, du musst es ja wissen. Manchmal verliere ich das Zeitgefühl.«
Aber ich merke, dass er mir nicht glaubt. Vielleicht hat er bloß keine Lust, sich mit mir zu streiten. Und ich will mich auch nicht mit ihm streiten.
»Machen Sie jetzt ein Foto davon?« Ich zeige auf die Kiefernschlange.
»Noch nicht. Erst wenn die Sonne tiefer steht. Wenn ich Glück habe, kann ich ein paar von meinen Vögeln bewegen, sich dazuzugesellen. Sozusagen als zeitgemäße Version des Gleichnisses vom Löwen und vom Lamm.«
»Sie haben Vögel?«
»Du kannst sie dir gern ansehen. Komm mit.«
Wir gehen den Abhang weiter hoch und kommen in einen verwilderten Garten. Ein Pfad aus geborstenen Steinplatten windet sich durch Lavendelbüsche, wuchernde Buchsbaumhecken und dicke Anisdolden, die wie mit Spitzenstoff bezogene Sonnenschirmchen aussehen. Dahinter liegt eine kreisrund angelegte Rasenfläche mit einer grob gezimmerten Holzbank mitten drauf. Mr. Bender setzt sich auf die Bank und greift nach einer kleinen Schüssel, die in Reichweite steht. Er nimmt den Deckel ab und kippt sich etwas aus der Schüssel in die hohle Hand. »Setz dich«, sagt er. Ich setze mich.
Er streckt die Hand aus, und sofort fängt es überall an zu zwitschern. »Bleib ganz still sitzen«, ermahnt er mich. Ein kleiner grauer Vogel schwirrt über seine Hand hinweg, ohne etwas aufzupicken. Noch einer kommt angeflogen, verharrt einen Augenblick flatternd in der Luft und fliegt wie der Erste wieder davon. Der nächste Vogel lässt sich flügelschlagend auf Mr. Benders Handgelenk nieder, pickt einen Sonnenblumenkern auf und fliegt weg. Schon kommen die nächsten beiden Vögel an. Sie sind mutiger als ihre Artgenossen, setzen sich auf Mr. Benders Hand und picken gierig. Ich betrachte gebannt die winzigen Schnäbel, die gelblichen Krallen und das dichte graue Gefieder, das an einen zusammengeklappten Seidenfächer erinnert. Als ich den einen Vogel anfassen will, fliegen beide davon.
»Man muss viel Geduld haben. Hier, versuch’s auch mal«, sagt Mr. Bender. Er reicht mir die Schüssel mit dem Futter, und ich kippe mir etwas auf die Hand. Ich strecke die Hand aus und warte ab. Nicht weit weg hört man die Vögel im Jakarandabaum zwitschern, aber sie kommen nicht angeflogen. Ich mache den Arm ganz lang. Wir sitzen beide schweigend da und warten. Ich gebe acht, mich nicht zu bewegen. Ich habe viel Geduld.
Die Vögel bleiben, wo sie sind.
»Vielleicht sind sie ja satt«, meint Mr. Bender. »Du kannst jederzeit wieder rüberkommen, Jenna, und es noch mal versuchen.«
Jederzeit? Die unterschiedlichen Gesichtsausdrücke, die kurz nach dem Aufwachen für mich alle gleich aussahen, erschließen sich mir inzwischen nach und nach. Die Augen sind das Wichtigste. Sie sprechen ihre eigene, stumme Sprache, auch wenn sie nur kaum merkliche Andeutungen machen. Auf einmal kann ich Lilys Gesichtsausdruck von gestern deuten – Kummer. Und Mr. Benders Gesichtsausdruck zeigt, dass er sein Angebot ernst meint. Dass er sich tatsächlich freuen würde, wenn ich wiederkomme. Wie können Augen dermaßen viel ausdrücken? Noch etwas, das meine Neugier weckt.
»Mache ich«, sage ich. Mr. Bender steht auf und streut die letzten Sonnenblumenkerne in die Buchsbaumhecke. Ein Zwitscherchor ertönt. Die Vögel waren noch nicht satt.
»Ich muss jetzt weiterarbeiten, Jenna, aber vielen Dank für deinen Besuch.« Wir gehen wieder den Weg entlang, doch am Rand des Gartens bleibt Mr. Bender stehen und reibt sich den Nacken. »Hör zu, sei lieber vorsichtig, wenn du die Gegend erkundest. Hier ist schon einiges vorgefallen. Fenster wurden eingeschlagen, Haustiere sind verschwunden und dergleichen. Die meisten Nachbarn sind nette Leute, aber manche … und du kennst dich ja noch nicht so gut aus.«
»Und Sie? Kennen Sie sich aus?«
»Na ja, das Internet ist eine nützliche Erfindung, und ich weiß gern, wer um mich herum wohnt.« Er späht zu dem weißen Haus am Ende unserer Straße hinüber.
»Danke für den Rat, Mr. Bender. Das Wort ›vorsichtig‹ sagt mir etwas.«
Ich habe einen Freund gefunden. Auf einmal ist alles anders. Er ist vielleicht nicht die Art Freund, den sich eine Siebzehnjährige normalerweise sucht, aber ich bin ja auch keine normale Siebzehnjährige. Und im Moment ist es mir auch egal.
Keine Ahnung, ob ich mich irgendwann an Jenna erinnern werde, ich meine, an die Jenna, die ich früher war. Vater scheint davon überzeugt zu sein. Mutter hofft verzweifelt darauf. Aber etwas Altes aufzugeben und sich etwas Neues, ganz und gar Eigenes aufzubauen, gefällt mir so gut, dass ich gern damit weitermachen möchte.
Wenn ich lächle, brauche ich nicht mehr darüber nachzudenken, dass man dazu die Mundwinkel hochziehen muss. Es geht von ganz allein. Ich bin nicht mehr verloren. Ich bin keine Unbekannte mehr. Mr. Bender kennt mich.
Von der Uferböschung auf Mr. Benders Seite aus kann ich unser Haus schon sehen. Ich gehe durch das Eukalyptuswäldchen bis dahin, wo der Teich von Erde und einem Gewirr aus knorrigen Baumwurzeln aufgestaut wird. Als ich den Fuß auf den ersten Stein setze, der über den plätschernden Bach führt, sehe ich aus dem Augenwinkel etwas Weißes blinken. Die Sonne lässt das Wasser gleißend aufblitzen. Es blendet mich. Zieht mich hinein.
Ich rutsche aus, mein Fuß landet im Wasser.
Jemand schreit.
Ich spüre, dass ich falle, aber ich kann nicht sehen, wohin. Alles dreht sich. Mein Mund klappt auf. Schreie. Meine Hände schlagen um sich. Mein Mund füllt sich mit Wasser.
Mein Mund. Meine Nase. Alles wird schwarz. Ich schlucke. Die Brust tut mir weh.
Überall ist Teich.
»Na-na!« Steine schürfen mir die Knie auf. Alles blinkt und blitzt und strahlt. Dann wird das Licht gedämpft. Die Geräusche werden träge wie Sirup. Tiefer, immer tiefer. Nasse Schwärze umfängt mich. Über mir steigen funkelnde Luftblasen auf.
»Jenna!«
Jemand packt meine Handgelenke. Packt mich an den Schultern und schüttelt mich.
»Jenna!«
Lilys Gesicht ist über mir. Sie zieht mich hoch.
»Was machst du denn, Jenna? Jenna! Jenna!«
Der Teich ist wieder glatt. Meine Kleider sind trocken. Mein eines Knie ist aufgeschürft. Oben drauf bildet sich eine Perle aus wässrigem Blut. »Ich …«
»Alles in Ordnung?« Lily hat stecknadelkopfgroße Pupillen. Ihr Ton ist schneidend scharf.
»Ich glaube schon.« Was ist eigentlich passiert? Alles war auf einmal so anders. Der Teich war riesengroß und ich selbst winzig klein. Ich dachte, der Teich verschluckt mich. Ich konnte nichts mehr sehen.
Ich dachte, ich ertrinke.
Mutter drückt Vater weg und kommt zu mir herüber. Ich sitze am Küchentisch. Sie hat sich eine Viertelstunde lang mit ihm per Netbook über die harmlose Schürfwunde an meinem Knie ausgetauscht. Davor hatte sie Lily gebeten, die Wunde zu versorgen, aber Lily hat sich geweigert. Sie habe den Arztberuf vor fünfzehn Jahren an den Nagel gehängt, außerdem sei Erste Hilfe sowieso nicht ihr Fachgebiet gewesen. »Er glaubt, dass es heilt wie eine ganz gewöhnliche Wunde«, teilt mir Mutter jetzt mit.
»Es ist ja auch eine ganz gewöhnliche Wunde.«
»Nicht ganz«, brummelt Lily und setzt sich auf den Stuhl mir gegenüber.
Mutter gerät außer sich: »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst im Haus bleiben, Jenna?«
»Ich hatte aber keine Lust.«
Mutter lässt sich auf einen Stuhl sinken und massiert sich die Schläfe. »Wie ist das passiert?«, fragt sie in ruhigerem Ton.
»Ich wollte über den Bach. Als ich auf den ersten Stein getreten bin, da …« Ja, was ist da eigentlich passiert?
»Da?«, wiederholt Mutter mit belegter Stimme.