Clara Langenbach
ZEIT FÜR TRÄUME
DIE SENFBLÜTENSAGA
Roman
FISCHER E-Books
Clara Langenbach, geboren 1981, begann bereits in jungen Jahren, Geschichten zu schreiben. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Hamburg. »Zeit für Träume« ist ihr erster historischer Roman.
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de
Die freigeistige Emma ist Feuer und Flamme. Endlich werden Frauen an der Universität zugelassen, sie könnte studieren. Die Eltern dagegen wollen sie mit dem jungen Carl Seidel verheiraten. Carl liebt die Welt des Geschmacks. Er experimentiert mit Aromen und Düften. Er träumt davon in seiner eigenen Fabrik Senf herzustellen. Emma ist begeistert von Carls Leidenschaft und unterstützt ihn darin, gegen alle Widerstände. Energisch und geschickt treibt sie die Gründung des Unternehmens voran.
Während er die Vorbereitungen trifft, lässt Carl Emma an allen Entscheidungen teilhaben, fragt sie um Rat. Aber liebt sie Carl wirklich? Und warum ist sie so fasziniert von Carls Freund Antoine? Mit seinem Charme droht er einen Keil zwischen Emma und Carl zu treiben.
Originalausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH,
Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: www.buerosued.de
Coverabbildung: Arcangel/Magdalena Russocka und www.buerosued.de
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491306-3
Im Gedenken an Monjas Kater Toffee,
der in diesem Roman als Gusti weiterleben kann
EMMA
Sie verlangsamte die Schritte, bis sie gänzlich stehen blieb. Noch vor wenigen Minuten war sie von unbändiger Freude erfüllt. Nun erdrückte die imposante Kaiser-Wilhelms-Universität ihren ganzen Mut. Die Statuen herausragender Gelehrter schienen auf dem Dachsims über das Gebäude zu wachen, und es kam Emma vor, als würden sie voller Verachtung auf sie herabblicken. Unwillkürlich verkrampfte sie die Hände vor dem Bauch, dass die Finger ihr weh taten.
An ihr vorbei eilten plaudernde Studenten dem Eingang entgegen. Zaghaft blickte sie umher. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Anscheinend nicht allzu viel. Ihre Eltern glaubten, sie wäre unterwegs nach Speyer. Mit der wichtigen Mission, ihren wohlhabenden Onkel um Geld zu bitten – zu Hause war der Herd in Brand geraten. Ob Onkel Johann so gütig wäre, ihnen in dieser misslichen Lage auszuhelfen? Emmas Magen drehte sich bei dem Gedanken um, die freundliche Einladung ihrer Verwandten auszunutzen, um Geld zu schnorren. Aber das war nichts im Vergleich zu dem Unbehagen, das sich in ihr beim Anblick der kalten Sandsteinfassade, der riesigen Bogenfenster und der strengen Gesichter der Statuen ausbreitete.
Sie sollte nicht hier sein. Das war ihr klar.
»Hat sich das gnädige Fräulein etwa verlaufen, Franz? Was meinst du, sollen wir der süßen Maid ritterlich zu Hilfe eilen?«
Der Hohn dieser männlichen Stimme schien sie innerlich aufzuspießen. Sie war es gewohnt, von ihren Eltern ausgeschimpft oder zurechtgewiesen zu werden. Der fremde Spott ließ sie jedoch jeden Anstand vergessen. Sie fuhr herum, und ihre ganze Aufregung entlud sich in ihrem Unmut. »Keine Sorge«, schmetterte sie einem Studentenpaar entgegen, das einander wie kleine Kinder knuffte. »Das gnädige Fräulein weiß sich selbst zu helfen. Haben Sie vielen Dank.«
Zumindest einer von ihnen, ein rotbackiger Typ, grinste nicht mehr, anscheinend zu verunsichert, solch eine Erwiderung von einer Dame bekommen zu haben. Der andere, ein großer, gutgebauter Kerl mit dunklen Haaren, der sich lässig auf die Schulter seines Kumpels stützte, feixte dagegen umso mehr.
»Da bin ich aber beruhigt. Darf ich mich denn nach Ihrem Begehr erkundigen, gnädiges Fräulein?«
Sie hob eine Augenbraue. »Sich danach zu erkundigen, kann ich Ihnen leider nicht verbieten, gnädiger Herr, aber Sie müssen mich entschuldigen. Ich habe nämlich keine Zeit, hier zu stehen und sinnlos mit Ihnen zu schwadronieren.« Sie raffte ihren Rock zusammen und stieg entschlossen die Stufen hoch. Ihre Mutter wäre gewiss in Ohnmacht gefallen, hätte sie solche Worte aus ihrem Mund gehört, aber ihre Mutter war glücklicherweise nicht hier. Dagegen diese beiden Studenten, denen sie verdeutlichen musste, dass nichts und niemand mehr sie davon abhalten würde, diese Universität zu betreten. Sie war zu weit gekommen, um einfach aufzugeben.
Der Dunkelhaarige folgte ihr auf dem Fuße. Der andere trottete seinem Kumpel hinterher wie ein Hund, dessen Herrchen ihm keine Beachtung mehr schenkte.
»Ich muss gestehen, ich bin mehr als eifersüchtig und bestehe einfach darauf zu erfahren, welchen armen Studenten Sie mit Ihrem Liebreiz von den Studien der hohen Wissenschaft heute abzuhalten gedenken.«
Erneut fuhr sie herum – keine gute Idee auf der Treppe, denn sie rutschte aus und strauchelte. Der Dunkelhaarige war sofort da, um sie zu stützen, doch sie wies seine helfende Hand zurück, sobald sie aufrecht stand.
»Ihre Eifersucht ist absolut grundlos, gnädiger Herr. Mein Liebreiz wird niemanden von irgendetwas abhalten, denn ich bin nicht zu Besuch hier, sondern beabsichtige, selbst die hohen Wissenschaften zu studieren.«
»Oh-ho!« Seine intensiv blauen Augen schienen mit dem wolkenlosen Himmel um die Wette zu strahlen, sicherlich waren diesem frechen Blick schon einige Frauen verfallen. »Franz, hast du das gehört?«
»Wenn Franz nicht gänzlich taub ist, dann hat er das gehört, ja. Und womöglich hat er sogar von Else Gütschow gehört, die vor drei Jahren an dieser Universität promoviert worden ist. Und womöglich – es ist jetzt natürlich nur eine Vermutung – stellt Franz deswegen keine dummen Fragen, die eine Dame unnötig aufhalten, so dass sie womöglich noch zu spät zu ihrer Vorlesung kommt.« Sie warf Franz einen herausfordernden Blick zu und sah zufrieden, wie sein rundes Gesicht rot anlief. Ohne die Herren weiter zu beachten, steuerte sie den Eingang an, doch der Dunkelhaarige preschte vor und öffnete ihr galant die Tür.
»Zu welcher Vorlesung eilt denn die junge Dame so sehr?« Das Funkeln in seinen Augen wurde noch intensiver, neckte, stachelte sie an, etwas Unüberlegtes zu tun. Emma ermahnte sich, ihm nicht zu viel Aufmerksamkeit zu schenken, die ihm womöglich noch in seinen hübschen Kopf steigen würde.
»Paul Laband«, warf sie ihm über die Schulter zu, als sie an ihm vorbeistolzierte. Schon stand sie im kühlen Eingangsbereich … und hielt inne. Als wäre sie in einen Palast gelangt – alles schien zu groß, zu mächtig für sie zu sein, und sie selbst kam sich ganz unbedeutend vor. Sie fröstelte bei dem Gedanken, wahrhaftig in diesen heiligen Hallen zu stehen. Die gleiche Luft zu atmen wie die unzähligen Professoren und Gelehrten hier. Voller Staunen sah sie sich um und bemerkte aus dem Augenwinkel, wie der vorlaute Student sie amüsiert beobachtete. Sie atmete tief durch. Er durfte nicht merken, mit wie viel Ehrfurcht der Anblick der Eingangshalle sie erfüllte. Stattdessen sollte er denken, sie wäre es gewohnt, hier zu sein, also straffte sie die Schultern und drehte sich voller Schwung nach links, um weiterzugehen.
»Verzeihung, gnädiges Fräulein, aber zur Vorlesung von Paul Laband geht es hier entlang.« Natürlich deutete er in die entgegengesetzte Richtung. »Zufälligerweise beabsichtige auch ich, diese Vorlesung zu besuchen. Ich studiere Rechtswissenschaften und …«
»Hervorragend«, unterbrach sie ihn und schenkte ihm ihr bezauberndstes Lächeln, von dem – wie ihre Mutter meinte – sogar die Milch sauer werden würde. »Wie froh ich bin, endlich jemanden gefunden zu haben, mit dem ich mich über die Vorträge von Paul Laband unterhalten kann. Was denken Sie bezüglich seiner Worte über den Zusammenhang des Verfassungsrechts mit den übrigen Gebieten der Rechtswissenschaft?«
Dem Studenten klappte die Kinnlade herunter, was seinem Antlitz, das nach allen Regeln der klassischen Kunst geformt zu sein schien, wenig schmeichelte. Kurz darauf fing er sich wieder, wollte etwas erwidern, als Franz süffisant einwarf: »Das würde Antoine Ihnen sicherlich erläutern, wenn er es könnte. Und das könnte er bestimmt, hätte er nicht so viele Vorlesungen geschwänzt.«
Im Geiste schrieb Emma Franz ein paar Pluspunkte gut, weil er seinem aufgeblasenen Kommilitonen doch noch Paroli bot. In gespielter Empörung drehte sich dieser um. »Auch du, Brutus, du?« Theatralisch breitete er die Arme aus, was Emma zum Anlass nahm, sich schnellen Schrittes davonzumachen – viel weiter hätte sie Paul Labands Ansichten zum Thema Rechtswissenschaft nicht ausführen können. Sie hatte sich informiert, ja, sie wusste, dass er heute diese Vorlesung abhielt und dass oft Zuhörer aus dem ganzen Land kamen, um seinen Vorträgen beizuwohnen. Sie hatte sogar heimlich gespart und sich den ersten Band seines Das Strafrecht des Deutschen Reiches gekauft, das 1876 erschienen war – doch nicht viel mehr als das Vorwort verstanden. Aber gerade deshalb war sie hier, um es zu begreifen, um zu lernen, um endlich klüger zu werden! Oder nicht?
Sie schloss sich dem Menschenstrom an, der in dieselbe Richtung floss, und schlüpfte zusammen mit den anderen Wissbegierigen in den Vorlesungssaal. Noch im Gehen zog sie die Hutnadel heraus und nahm ihre Kopfbedeckung ab. Ein paar Strähnen hatten sich aus ihrer lockeren Hochsteckfrisur gelöst, und sie strich sich die Haare hinter das Ohr, während sie sich verstohlen umsah. Sitzplätze waren keine mehr frei, viele Männer drängten sich in den Gängen. Ein Glück, in der Menge würde sie vielleicht gar nicht auffallen.
Sie schob sich nach ganz hinten, ohne aufzuschauen, um nicht den Blicken zu begegnen, die sie taxierten. Schon wieder verkrampften sich ihre Finger um den Rand des Hutes. Normalerweise wurde ihr als Dame immer ein Platz angeboten. Vermutlich dachten die Studenten, sie würde gleich wieder gehen oder wartete nur auf jemanden.
Der Saal füllte sich immer mehr. Von so vielen Körpern hatte sich die Luft schnell erhitzt und vibrierte im ungeduldigen Stimmengewirr.
»Aufregend, nicht wahr?«, raunte eine Stimme an ihrem Ohr, die Emma sofort erkannte.
Nicht der schon wieder, schoss ihr durch den Kopf. Auf ihren Lippen lag bereits eine spitze Bemerkung, doch da betrat Paul Laband den Saal, und alles ringsherum verstummte. Eine spannungsgeladene Stille breitete sich aus, nur ab und zu waren ein Atemzug oder ein verhaltenes Hüsteln zu vernehmen. Emma musste sich auf die Zehenspitzen stellen und den Hals recken, um Laband besser zu sehen. Sein dreiteiliger Anzug war fein, aber nicht protzig, alles aus dunklem Stoff, nur der weiße Hemdkragen bildete einen Blickfang. Das silberne, schüttere Haar war säuberlich nach hinten gekämmt, und der Schnauzbart fein gestutzt. Sein Gesicht wirkte blass und teigig, aber zu genau konnte Emma ihn von ihrem Platz aus nicht sehen. Er müsste fast siebzig sein, überschlug sie in Gedanken, aber er machte den Eindruck, als wäre er seiner Vorträge noch lange nicht überdrüssig.
Zufrieden steckte er eine Hand in die Hosentasche, begrüßte sein Publikum und begann ohne Umschweife die Vorlesung. Emma strengte sich an, um seinen Worten zu folgen, das Wissen, das er ihr bot, wie ein Schwamm in sich aufzusaugen. Doch die Sätze klangen fremd in ihren Ohren und unzählige Begriffe prasselten in ihrem Kopf wild durcheinander. Je länger sie zuhörte, umso weniger begriff sie.
Noch mehr verkrampfte sie die Hände um ihren Hut. Die Herren Studenten um sie herum lauschten konzentriert, ein junger Mann vor ihr nickte bedächtig, und sie beneidete ihn darum, dass er nicht nur in der Lage war, Labands Rede zu folgen, sondern seinen Worten offensichtlich zustimmte. Ihr dagegen trat der Schweiß auf die Stirn, sobald sie auch nur daran dachte, dem Vortrag weiterzulauschen. Ihr Gesicht glühte. Ihr Atem ging schwer. Vielleicht war es bloß das Korsett, das ihren Leib einschnürte. Und die schlechte Luft im Raum. Vielleicht aber auch nicht.
Unwillkürlich kamen ihr die Worte von Möbius in den Sinn, diesem hochgefeierten Psychiater, dessen Buch Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes ihre Mutter jederzeit aus dem Stegreif zitieren konnte: Übermäßige Gehirntätigkeit macht das Weib nicht nur verkehrt, sondern auch krank. Wir sehen das leider tagtäglich vor Augen.
Krank, so wie jetzt? Mit Herzrasen, Atemnot und Hitzewallungen?
»Alles in Ordnung?« Der Dunkelhaarige hinter ihr, Antoine, schien nur auf das Zeichen ihrer Schwäche gewartet zu haben. »Geht es Ihnen gut?«
»Keine Sorge, noch habe ich nicht vor, in Ohnmacht zu fallen«, gab sie halb erstickt zurück. Es war nur das Kleid. Klar, ein Stehkragen und eine Krawatte waren auch nicht der Gipfel der Bequemlichkeit, aber nicht zu vergleichen mit dem Korsett der Sans-Ventre-Linie, in das ihre Mutter sie heute früh gezwungen hatte. Dazu Rosen auf dem Hut, Rosen auf dem Rock – sie fühlte sich nicht wie ein Mensch, sondern wie der üppig bepflanzte Blumenkasten vor dem Stubenfenster der kleinen Wohnung, die ihre Eltern und sie in Metz bezogen hatten.
»Sie sehen sehr blass aus, wenn die Bemerkung mir gestattet ist.«
»Ist sie nicht. Kümmern Sie sich ruhig um ihren eigenen Teint.«
Jemand zischte ein Psst, zwei Herren neben ihr drehten sich um und schüttelten missbilligend die Köpfe – natürlich verärgert über das geschwätzige Weib, das die Vorlesung störte, nicht über ihren ach so fürsorglichen Kommilitonen. Abermals versuchte sie sich auf die Worte von Paul Laband zu konzentrieren, doch seine Rede entglitt ihr immer mehr. Wie gern hätte sie sich an die Wand gelehnt oder sich an einer der Lehnen von Sitzbänken abgestützt – wenn dieser Saal bloß nicht so überfüllt gewesen wäre!
Als hätte der Dunkelhaarige ihre Gedanken gelesen, tippte er einem jungen Mann, der neben ihr auf der Bank saß, auf die Schulter. »Verzeihung. Würden Sie der Dame vielleicht Ihren Sitzplatz anbieten?«
»Einer Dame?« Der Angesprochene schaute perplex hoch. Sein Blick blieb an Emma hängen, als frage er sich, ob er seinen Augen trauen sollte. »Oh.«
»Schon gut, ich stehe äußerst gern«, beschwichtigte Emma. Wieder zischte jemand ein Psst, während der sitzende Herr sich umständlich erhob und in den Gang nach hinten wegtrat, wobei er wohl jemandem auf den Fuß latschte und eine genervte Zurechtweisung erhielt.
»Dürfte ich den Grund für die Unruhe erfahren?«, schnitt Labands Stimme durch den Saal. Nun drehten sich alle Köpfe um, suchten nach dem Störenfried, und natürlich wurde dieser sogleich identifiziert. Einige Herren machten Platz, und nun fühlte sich Emma, als stünde sie ganz allein im Saal, Labands verärgertem Blick völlig ausgeliefert. Einen Moment wurde ihr ganz flau im Magen, dann riss sie sich zusammen. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte sie und bemühte sich um eine kräftige Stimme.
Laband stützte sich auf seinem Pult ab und beugte sich vor. Sein Blick wurde stechend. »Dürfte ich mich erkundigen, was Sie in meinem Vorlesungssaal machen, gnädiges Fräulein?«
»Ich wollte ihren Vortrag hören.« Sie schluckte. »Es ist bekannt, wie großartig …«
»Viel eher, meinen Vortrag mit Ihrem Unsinn stören!«, unterbrach er sie und winkte zur Tür. »Sie haben hier nichts zu suchen. Bitte verlassen Sie den Saal.«
»Nein, bitte!«, rief sie und knetete umso verzweifelter den Hut in ihren Händen. »Die Störung tut mir furchtbar leid. Es wird nicht mehr vorkommen.«
»Gewiss nicht, da Sie den Saal verlassen werden. Ein Weib hat an einer Universität nichts verloren!«
»Aber Else Gütschow …« Sie stockte. Ihre Stimme zitterte, und der eine oder andere feine Herr Student schmunzelte bereits in Erwartung, das arme Frauenzimmer in Tränen ausbrechen zu sehen.
»Grundgütiger.« Laband schnaubte. »Jetzt denkt doch tatsächlich jedes dahergelaufene Frauenzimmer, sie wäre Else Gütschow. Ich habe schon befürchtet, dass es dazu kommt. Ich habe gewarnt …« Er schüttelte den Kopf. »Wie auch immer. Sie sind nicht Else Gütschow, Gnädigste.«
»Ich könnte eine werden!«
Im Saal tönten vereinzelte Lacher.
»Nicht heute. Und nicht in meiner Vorlesung.« Mit einer flüchtigen Bewegung deutete Laband in ihre Richtung, nein, nicht zu ihr, sondern irgendwo neben Emma. »Sie da, ja, Sie! Tun Sie mir einen Gefallen und begleiten Sie die Dame bitte nach draußen, damit wir hier endlich weitermachen können.«
Zu ihrem Schreck war es ausgerechnet der Dunkelhaarige, den Laband zu ihrer peinlichen Eskorte auserwählt hatte. »Wenn Sie erlauben, gnädiges Fräulein.« Der Mistkerl schlüpfte an ihre Seite, verbeugte sich voller Vergnügen und machte eine weit ausschweifende Geste zum Ausgang. Dafür erntete er zustimmendes Gelächter seiner Kommilitonen, und Emma gab sich geschlagen.
»Machen Sie sich wegen mir keine Mühe. Ich finde allein hinaus.« Sie raffte ihren Rock und steuerte die Tür an. Die anderen Zuhörer hatten eine Gasse gebildet und begleiteten ihren Abgang mit einem aufgeregten, aber leisen Getuschel, dafür tönte das Klacken ihrer kleinen Absätze übermäßig laut.
»Ich fürchte, ich muss demnächst einen Pedell aufstellen, damit er mir die Weibsbilder vom Hals hält«, trafen Labands Worte ihren Rücken. Das aufwallende Gelächter der Männer war das Letzte, was sie hörte, als sie nach draußen trat. Der Dunkelhaarige hatte sich nicht abhalten lassen, ihr zu folgen, und schloss die Tür hinter ihnen.
»Wie schade.« Lässig lehnte er sich gegen die Wand, ein unverschämtes Grinsen auf den Lippen. »Ich habe auf eine längere Vorstellung Ihrerseits gehofft. Paul Laband ist sicherlich ein Koryphäe auf seinem Gebiet, und seine Vorlesung zu besuchen, ist unumstritten en vogue. Aber sein Vortrag ist doch etwas zu trocken. Da kommt so eine kleine Erheiterung sehr gelegen.«
»Sie finden seinen Vortrag trocken? Zumindest ist er mit wesentlich mehr Gehalt gesegnet als Ihrer. Ich schlage vor, Sie eilen zurück. Sie wollen doch en vogue sein und kein Wort verpassen.«
Emma setzte ihren Hut auf und steckte wütend die Nadel ein, dass das spitze Ende über ihre Kopfhaut kratzte.
»Warten Sie!«, rief der junge Mann ihr hinterher. »Dürfte ich vielleicht Ihren Namen erfahren?«
»Den erfahren Sie früh genug.« Sie beschleunigte die Schritte.
»Wann denn?«
»Wenn ich an dieser Universität promoviere!« Sie ging schneller, lief, bis sie die Türen, die Stufen und die steinernen Figuren an der Universitätsfassade weit hinter sich gelassen hatte.
CARL
Er steckte eine Hand in die Tasche seines Sakkos und befühlte mit den Fingerkuppen die Senfkörner, die sich in der Naht verfangen hatten. Geratter und Surren der Maschinen füllten die Fabrikhalle mit pulsierendem Leben aus, das in Carl widerhallte und durch seine Adern rauschte. Am Ende eines langen Laufbandes reihten sich pausbäckige Steinguttöpfchen aneinander als Krönung eines bis in alle Feinheiten und Nuancen abgestimmten Prozesses. Tief atmete Carl den würzigen Duft des Senfes ein und genoss das Kribbeln in seiner Nase. Bei dem vertrauten Geruch breitete sich Zufriedenheit in ihm aus. Sie vertrieb die Enge in seiner Brust, die ihn in der letzten Zeit immer häufiger befiel, sobald er zu seiner Arbeitsstätte aufbrechen musste. Auch die innere Unruhe, mit der er die Fabrik betreten hatte, streifte er in den Produktionshallen wie ein unnützes Kleidungsstück ab. Nun galt es …
»Herr Seidel! Herr Seidel!«, ertönte die atemlose Stimme eines Laufburschen, voller Eifer, eine Nachricht zu überbringen. »Herr Weber möchte Sie sprechen!«
Carl zuckte zusammen. In letzter Zeit schickte der Fabrikbesitzer oft nach ihm, trug ihm die eine oder andere wichtige Aufgabe auf, die meistens nichts mit der Senfherstellung zu tun hatte und ihn unnötig lange von den Fabrikhallen fernhielt.
Rasch drehte sich Carl weg, als hätte er den Burschen nicht bemerkt. Er wollte nicht schon wieder stundenlang die Kontorbücher wälzen oder mit den Lieferanten über Preise feilschen. Bereits seit einer Weile kam es ihm vor, als wollte Richard Weber ihn unter Lieferscheinen und Vertragsverhandlungen begraben, obwohl sein Platz in den Fabrikhallen war. Mittendrin bei der Herstellung der würzigen Paste.
Schnellen Schrittes verschwand Carl in der Probierkammer, wie er den kleinen Raum nannte, in dem er den gereiften Senf stichprobenartig auf seine Qualität prüfte. Sobald er die Schwelle überschritt, fiel der Druck von seiner Brust ab. Er atmete tief durch. Ein großes Fenster spendete natürliches Tageslicht. Die weißen Wände wirkten auf den ersten Blick kahl, doch wenn Carl mit seinem Senf allein war, rückte alles um ihn herum in weite Ferne und seine Sinne konzentrierten sich ausschließlich auf den kostbaren Inhalt der grauweißen Steinguttöpfchen.
Carl legte das Sakko ab, hängte es auf einem Haken neben der Tür auf und zog sich seinen Kittel über. In diesem Raum wagte niemand, ihn zu stören. Sogar Richard Weber höchstpersönlich nahm eine gewisse Wartezeit in Kauf, wenn es um die Qualitätsprüfung seines Produkts ging. Hier hatte Carl sich sein ganz eigenes Refugium erschaffen.
Fünf Gefäße aus dem Lager reihten sich auf einem hohen Tisch aneinander. Sie ähnelten sich wie ein Soldat dem anderen, und nur das schlichte RW-Logo der Fabrik schmückte die vordere Seite. Carl wünschte sich, er könnte mehr daraus machen. Diesen Töpfchen vielleicht eine andere Form verleihen, damit man sie gern in die Hand nahm. Den kostbaren Inhalt durch die äußere Gestaltung betonen, ihnen ein moderneres Erscheinungsbild geben. Nicht umsonst genoss man Champagner aus filigranen Kristallgläsern und nicht aus plumpen Zinnbechern.
Doch die Töpfchen gehörten von Anfang an zum Senf, waren ein Zeichen der Beständigkeit, die heiligen Bewahrer des Geschmacks. Auch andere Hersteller hielten sich an die Tradition, da war nichts zu machen. Manch gewiefter Geschäftsmann übermalte die Gefäße der Konkurrenz einfach mit seinem Logo, so sehr glichen die Behälter einander.
Carl nahm eine kleine Menge des Inhalts mit einem Löffel heraus. Richard Webers Düsseldorfer Senf war aus schwarzer und weißer Senfsaat hergestellt worden, die Carl persönlich auswählte, um die Qualität des Produkts sicherzustellen. Manche stichelten, er kenne jedes Korn beim Namen. Darüber musste er immer grinsen. Nein, nicht jedes Korn. Aber er wusste, mit welcher Hingabe und Sorgfalt die Bauern ihre Felder bestellten, und glaubte fest daran, dass man diese Liebe herausschmecken konnte. So wie die Leidenschaft, mit der er die Herstellung vom ersten Anmischen bis zum Abfüllen in die Gefäße begleitete. Der wahre Geschmack war mehr als das, was die Zunge wahrzunehmen vermochte.
Prüfend betrachtete er die braungelbe Farbe, die ein unglaublich warmes Gefühl in seiner Brust hervorrief. Braun mit goldenen Sprenkeln, könnte man sogar meinen, und ein ganz anderes Bild kam aus den Tiefen seiner Erinnerungen auf. Ein Gesicht mit weichen Zügen, widerspenstigen Haarsträhnen und so wunderbar braunen Augen voller frecher goldener Sprenkel. Der Blick dieser Augen weckte eine Sehnsucht in ihm, die beinahe wehtat. Er musste blinzeln. Sich voller Schwermut daran erinnern, dass er gerade mit einem Löffel vor dem Fenster seiner Probierkammer stand und auf die winzige Senfmenge starrte.
Der Duft des Senfes kitzelte seine Nase, prickelte – ein feines, würziges Gemisch, das ihn endgültig in die Gegenwart holte. Früher hatte die Weber’sche Paste eher beißend nach Essig gerochen, und es hatte Carl viel Überzeugungskunst gekostet, den Fabrikherrn zur Anpassung der bewährten Rezeptur zu bekehren. Veränderungen gehörten nicht gerade zum Motto dieses Unternehmens. Jetzt nahmen seine Sinne die ätherischen Öle wahr, die dem Duft eine satte Note verliehen und zum Kosten des Senfs verführten.
Bedacht führte er den Löffel an seine Lippen. Die pikante, doch eher leise Schärfe breitete sich auf seiner Zunge aus. Einen Augenblick später gesellte sich eine süßliche Note dazu, etwas zu stark nach seinem Eindruck, sie rundete die erste Wahrnehmung dennoch wunderbar ab. »Ja, mein Junge, das ist der einzig wahre Geschmack der Würze, die unsere Sinne belebt«, stieg Richard Webers zufriedene Stimme in seinen Gedanken auf, und Carl fühlte sich sofort drei Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt. Da hatte er gerade seine Ausbildung in der Fabrik angefangen und zum ersten Mal von den Erzeugnissen seines Lehrherrn gekostet.
Den einzig wahren Geschmack kannte er in- und auswendig. An immer mehr Tagen sehnte er sich nach einem Wagnis. Nach Würze, die den Gaumen herausforderte. Er träumte davon, die milden, hellen Senfsorten vollständig durch die dunklen zu ersetzen und mehr Feuer aus den Körnern herauszukitzeln. Schon lange zog es ihn nach Dijon, um die Geheimnisse der Franzosen zu erforschen, die Erkenntnisse in Düsseldorf zu nutzen und so etwas Neues zu kreieren. Doch Richard Weber wollte nichts davon hören. Die so hoch gepriesene Dijon-Art würde seinen guten deutschen Senf nicht verpfuschen, auf keinen Fall!
Resigniert schüttelte Carl den Kopf. Seine Träumereien hatten keine Zukunft. Jedenfalls nicht hier.
Pflichtbewusst probierte er von den anderen Töpfchen, ließ die körnige Paste auf seiner Zunge zergehen und zerlegte sie in ihre einzelnen Geschmacksnuancen. Auch heute entsprachen sie seinen Erwartungen. Richard Webers Düsseldorfer Senf schmeckte wie immer hervorragend. Und selbstverständlich traditionsreich.
Carl seufzte und legte den Löffel beiseite. Man hatte nach ihm geschickt – er sollte den Fabrikherrn nicht allzu lange warten lassen.
Mit Wehmut streifte er den Kittel ab, zog das Sakko wieder über und machte behutsam die Tür hinter sich zu, als müsse er seine Sehnsüchte nach neuen Senfwegen sorgfältig hinter sich verschließen. Der Laufbursche wartete auf ihn, bereit, sogleich wieder loszurufen, doch Carl hob beschwichtigend eine Hand. »Ich weiß, ich weiß. Richard Weber verlangt nach mir.«
Sein Blick flog hoch zu einem gläsernen Kasten über der Fabrikhalle, den Richard Weber als Büro nutzte. Von dort aus überwachte er seine Arbeiter. Carl sah zu dem kleinen, stämmigen Mann auf, der die Arme vor der Brust verschränkt hielt. Neben ihm entdeckte er Hans Gabrisch. Vor einer Weile war dieser hier mit einem lukrativen Angebot aufgetaucht. Seitdem überlegte Richard Weber, die Senfkörner bei Gabrisch mahlen zu lassen. So könnte er das Mahlwerk fortschaffen und dafür die Hallen zum Anmischen des Senfs erweitern, die Fabrik effizienter gestalten und der Nachfrage besser gerecht werden.
In Carl sträubte sich alles bei dem Gedanken daran, einen so wichtigen Herstellungsschritt aus der Hand zu geben. Mahlte man zu stark und wurden die Mahlsteine dabei zu heiß, würden ätherische Öle verloren gehen. Auch die Konsistenz spielte eine große Rolle. Ein guter Senf war nicht nur ein Geschmacks- und Geruchserlebnis, er sprach wortwörtlich alle Sinne an und musste sich auch auf der Zunge gut anfühlen. So begleitete Carl die Produktion vom gelieferten Korn an bis zum letzten Weg der Senftöpfchen zu ihren zufriedenen Kunden. Und nun sollte er das Mahlen der Saat in fremde Hände legen?
Seine Brust schnürte sich erneut zusammen. Als würde ihm bei der Vorstellung die Luft zum Atmen fehlen. Er musste eine Pause einlegen, bevor er die Stufen zum Büro hochsteigen konnte.
Mach dir keine Sorgen, schalt er sich. Darauf würde Richard Weber niemals eingehen, war ihm die Tradition doch so unglaublich wichtig! Und bis jetzt wurde kein einziger Schritt der Produktion woanders ausgeführt als in der Fabrik.
Entschlossen klopfte Carl an der Tür. Kaum trat er über die Schwelle, lief Richard Weber auf ihn zu und klopfte ihm freudig auf den Rücken. »Carl, mein Junge! Endlich bist du da.«
»Es tut mir leid, dass Sie warten mussten.«
»Ach, was redest du da! Ich weiß doch, wie wichtig dir die Qualitätsprüfung ist. Womöglich wird sie bald noch wichtiger.« Er zwinkerte Carl zu und deutete auf seinen Besuch. »Hans Gabrisch kennst du bereits, nicht wahr?«
Carl nickte. Freudig und kräftig drückte Herr Gabrisch ihm die Hand.
»Nun«, fuhr Richard Weber sogleich fort, als könnte er es kaum erwarten, dass sie die Höflichkeitsfloskeln hinter sich brachten. »Ich habe mich entschieden. Herr Gabrisch wird das Mahlen der Körner übernehmen, damit wir unseren Betrieb erweitern können. Ich möchte, dass du mit ihm die Einzelheiten besprichst. Ich vertraue darauf, dass du für uns wunderbare Konditionen heraushandelst.«
Das Herz rutschte Carl in die Hose. So bange war ihm schon lange nicht mehr. Als hätte sein alter Französischlehrer ihn aufgerufen, seinen Aufsatz vor der ganzen Klasse vorzulesen. Er fühlte kaum noch den Boden unter den Füßen. »Ich finde, wir sollten diesen Schritt …«
»Es ist eine beschlossene Sache.« Richard Weber klopfte ihm erneut auf den Rücken, dieses Mal deutlich kräftiger, als wollte er jede Widerrede im Keim ersticken. »Ich muss dann mal. Minna wartet schon auf mich. Morgen kannst du mich darüber informieren, wie die Verhandlungen verlaufen sind. Hans? Bitte entschuldige mich, besprich alles Weitere mit Carl, ich bin mir sicher, ihr werdet euch wunderbar verstehen.«
Schon eilte er aus dem Büro.
Hans Gabrisch schmunzelte. »Na. Mein alter Freund Richard hält wohl große Stücke auf Sie, Herr Seidel. Sonst hat er nie so wichtige Verhandlungen einem anderen überlassen.«
Carl nickte stumm. Beinahe unwillkürlich fand seine Hand den Weg in die Tasche seines Sakkos und befühlte die Körner darin. War es noch sein Senf, wenn das Mahlen jemand anderer übernahm? Andererseits, was machte er sich vor? Sein Senf war es nie gewesen. Alles hier gehörte demjenigen, dessen Initialen auf den Steinguttöpfchen standen.
Schon wieder tauchte vor seinem Geist das Gesicht auf mit den warmen braunen Augen und frechen goldenen Sprenkeln darin. Er erinnerte sich nicht an den Klang ihrer Stimme, aber an ihre Worte, die ihm bewusst machten, wie sehr sein Leben ihn einengte. Wie schrecklich er sich verrannt hatte. Schon wieder.
Das ist ein Fehler.
Heute womöglich mehr als damals.
EMMA
Der Zentralbahnhof empfing sie mit noch mehr Hektik als bei ihrer Ankunft in Straßburg vor wenigen Stunden. Alles pfiff, brummte, unzählige Menschen eilten an ihr vorbei, die Gepäckträger huschten hin und her und ein heiserer Zeitungsverkäufer krächzte die Schlagzeilen des Tages in die Menge.
Sie hasste Bahnhöfe seit ihrer Kindheit. Seit sie damals von ihrer abgehetzten Mutter durch einen geschleift worden war, unwissend, wohin es ging. In den Gesprächsfetzen ihrer Eltern, die sie immer wieder mal aufgeschnappt hatte, klang es so, als würden sie ins Hinterland umsiedeln, wo niemand der deutschen Sprache mächtig war. Sie hatte Rotz und Wasser geheult, übergab sich direkt auf das Gleis, doch ihre Mutter zerrte sie hinter sich her in den stickigen und überfüllten Waggon.
Emma schluckte und kämpfte die Erinnerungen hinunter. Hinter ihrem Schädel pochte ein dumpfer Schmerz. Bei der ganzen Aufregung war sie gar nicht dazu gekommen, etwas zu essen oder zu trinken. Sie fühlte sich ausgelaugt und schrecklich verloren in diesem ganzen Tumult. Denn Straßburg hatte sie verhöhnt. Vielleicht nicht Straßburg selbst, sondern nur die Universität. Allen voran Paul Laband, der Mann, der jedermann eindrucksvoll vor Augen geführt hatte, wo eine Frau wie sie hingehörte. Hatte sie wirklich etwas anderes gehofft? Rechtswissenschaften, wahrhaftig? Vielleicht war es besser so, und sie sollte sich mit ihrer Ausbildung in der Klosterschule endlich zufriedengeben. Um ihren künftigen Gatten mit Gesprächen zu unterhalten, würde es ausreichen.
Jetzt reiß dich mal zusammen, befahl Emma sich, als sie merkte, dass sie sich selbst zu bemitleiden begann. Selbstmitleid brachte sie nicht weiter. Sie durfte nicht resignieren, sondern musste überlegen, wohin die Reise gehen sollte.
Erst einmal natürlich zu ihren Verwandten. Sie würde ihren Stolz herunterschlucken und im Auftrag ihrer Mutter um Geld bitten. Und die Universität? Im Zug hatte sie genug Zeit, darüber nachzudenken. Sie musste ja nicht in Straßburg studieren, sie könnte nach Heidelberg oder Freiburg gehen. Dort durften Frauen bereits seit fünf Jahren legitim die Vorlesungen besuchen. Seit fünf Jahren! Unvorstellbar. Im Herzen des Reichslandes hatte sie sich schon immer wie eine Hinterwäldlerin gefühlt.
Plötzlich riss etwas an ihrer Ellenbeuge. Instinktiv zog Emma den Arm an sich, während sie die Schlaufen ihres Retiküls umklammerte. Neben ihr – ein Junge. Kaum sechs Jahre alt. Der verbissen am anderen Ende ihres Täschchens zerrte.
»Hey!« Sie keuchte und griff die Schlaufen noch fester.
Er biss die Zähne zusammen, knurrte fast wie ein in die Enge getriebenes Tierchen und stieß sie, ohne die Tasche loszulassen. Emma taumelte gegen einen Mann hinter ihr. »Hilfe! Bitte helfen Sie mir!«, rief sie verzweifelt.
»Du Bengel!«, donnerte seine Stimme, und Emma schnappte erleichtert nach Luft, als er den Jungen packte und von ihr wegzerrte. Im Retikül war ihr ganzes Geld. Was würde sie tun, sollte sie es verlieren?
»Du kleiner dreckiger Dieb!« Der Mann drehte dem Jungen einen Arm auf den Rücken, und das Kind wimmerte vor Schmerz auf. »Jetzt winselst du, was? Abhacken sollte man euch die Hände, damit ihr nicht mehr nach dem Besitz anderer langen könnt.«
Der Junge schaute mit weitaufgerissenen Augen zu Emma. Sein eingefallenes Gesicht erschreckte sie – wie ein Totenschädel sah es aus, der mit dünner Haut überzogen war. Der Blick fast leer vor Angst.
»Halt!«, stieß Emma aus und presste sich das Retikül an die Brust. Noch ein bisschen, und das dünne Ärmchen würde brechen. Beinahe hörte sie schon das trockene Knacken, mit dem der Knochen nachgab. »Es ist ja nichts passiert. Lassen Sie ihn los!« Ihre Stimme schrillte unwillkürlich, als sie sah, wie der Mann den Arm noch weiter hochbog. Einige Passanten blieben stehen, um sich das Schauspiel anzuschauen. Verzweifelt zog Emma am Ärmel des Mannes. »Hören Sie auf!«
»Wie Sie meinen«, zischte er zwischen den Zähnen hervor. Endlich ließ er den Jungen los, zupfte seine Kleidung zurecht und ging weg, nicht ohne ein »dummes Weib« in ihre Richtung zu werfen.
Emma atmete auf. Erst jetzt bemerkte sie, wie sehr ihre Finger zitterten. Sie schob sich ihr Täschchen wieder in die Armbeuge, nahm den Jungen an die Hand und blickte umher. »Es ist alles in Ordnung«, versicherte sie den umstehenden Passanten.
Die Schaulustigen zogen nach und nach davon, und als jeder wieder seinen Geschäften nachging, kniete sich Emma vor den Jungen. Alles an ihm wirkte so schrecklich dünn. Seine Statur, sein blondes Haar, seine rissigen, blutleeren Lippen.
»Hallo. Ich bin Emma. Und wie heißt du?«
Er blickte beiseite und wischte sich mit dem freien Arm die Nase ab. »Geht Sie nichts an.«
»Gut, geht mich nichts an. Hast du Hunger?« Noch immer versuchte sie, ihm in die Augen zu schauen, doch sein Blick huschte hin und her.
»Nein.«
»Du schwindelst. Ich höre deinen Magen knurren.«
»Vielleicht ist das Ihrer.«
Sie schmunzelte. Da könnte er nicht ganz unrecht haben. »Was hältst du davon, wenn wir uns beide etwas zu essen holen? Vor dem Bahnhof habe ich vorhin eine Brezelverkäuferin gesehen.« Allein der Gedanke an den herrlichen Duft des Gebäcks ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Dem Jungen ging es wohl ähnlich, sein Gesicht hellte sich auf, aber nur kurz, als würden andere Gedanken wie eine Gewitterfront über sein Gemüt ziehen. Er nickte abwesend. Sie stand auf, da riss er seine Hand aus der ihren.
»Lassen Sie mich doch einfach in Ruhe! Was wollen Sie von mir?«
Für seine schmächtige Statur hatte er unglaublich viel Kraft.
»Gut.« Sie seufzte. »Du musst nicht mit mir kommen.« Sie nahm ihr Retikül, holte ein paar Münzen heraus und steckte den Arm wieder durch die Schlaufen. »Hier.« Sie legte das Geld in seine Handfläche und schloss seine Finger darum. »Mehr kann ich dir leider nicht geben. Ich brauche den Rest selbst, um mir eine Fahrkarte nach Speyer zu kaufen, verstehst du?«
Ungläubig starrte er auf seine Faust, die ihre Hände umschlossen hielten.
»Versprich mir, dass du dir etwas zu essen besorgst, in Ordnung?«
»Behalten Sie doch Ihr Geld«, schnaubte er, zerrte seine Faust aus ihrer Hand und warf ihr die Münzen vor die Füße. Schon lief er davon. Seine schmale Gestalt huschte zwischen den Menschen hin und her, bis er gänzlich in der Menge verschwunden war.
»Auch gut«, murmelte Emma, während sie in die Richtung starrte, in die er gelaufen war. Dieser leere Blick von ihm, ganz ohne Träume … Egal wie schlecht es ihr manchmal ging, sie hatte immer noch Hoffnung auf ein anderes Leben. Und den Willen, ihren Weg zu gehen. Dieses Kind – es hatte nichts mehr von alldem.
Sie sammelte das Geld auf und ließ es in das Täschchen hineinfallen. Die Münzen klimperten auf den Boden. Erschrocken prüfte Emma ihr Retikül. Der Brokat war unten aufgeschlitzt worden, ein großes Loch klaffte an der Naht, durch das sie ihre ganze Hand durchstrecken konnte.
Alles weg.
Sie sah sich um. Nur ein Taschentuch, ihr Schlüssel zur Wohnung und ihr Gepäckschein lagen noch hinter ihr.
Mit einem Mal wurde ihr eisig kalt.
Sie ließ die Szenerie vor ihren Augen Revue passieren, dachte daran, wie sie den Jungen an der Hand gehalten, wie er genickt hatte – aber nicht ihr. Natürlich nicht ihr, sondern seinem Komplizen, der hinter ihrem Rücken gewartet hatte, dass sie abgelenkt genug war, damit er Beute machen konnte. Wie dumm sie war! Einfach nur dumm. Und sie wollte dem Jungen noch ein paar Münzen zustecken.
Ein paar Münzen, die nun zu ihren Füßen lagen.
Ihre Nase begann zu kribbeln.
Nein.
Nicht weinen.
Auf keinen Fall weinen! Dieser Bahnhof würde sie nicht wie ein kleines Kind zum Heulen bringen.
Sie wischte sich über die Augen und begann, ihre Habseligkeiten aufzusammeln. Auch wenn es sinnlos war, zählte sie die Pfennige nach. Das Geld reichte nicht einmal für eine Rückkehr nach Metz, geschweige denn für eine Reise ins Rheinland. Aber eine Brezel war nach wie vor drin, und mit einem vollen Bauch überlegte es sich deutlich leichter. Sie bahnte sich den Weg nach draußen, wo der Tag sie warm und sorglos empfing.
Die frische Luft tat ihr gut. Sie streckte ihr Gesicht der Sonne entgegen und versuchte zu lächeln. »Alles wird gut«, flüsterte sie sich kaum hörbar zu. »Ganz bestimmt.«
Sie schlenderte über den Platz. Das Mädchen, das die Brezeln verkaufte, saß noch immer vor dem Bahnhofsgebäude auf einer Holzkiste, etwas abseits, wo sie den ankommenden Droschken und eilenden Passanten nicht im Weg war und dennoch nah genug am Tumult, um dem einen oder anderen ihre Ware anzubieten. Neben ihr stapelten sich Flechtkörbe mit Brezeln. Der verführerische Duft lockte bereits von weitem, Emma glaubte schon zu schmecken, wie der erste herrliche Bissen ihren Gaumen kitzelte.
»Eine Brezel für das gnädige Fräulein?«, rief die kleine Verkäuferin ihr zu. Das Mädchen trug ein einfaches braunes Kleid und eine dunkle Schürze, die Ärmel hatte sie sich bis zu den Ellenbogen hochgeschoben. Ihre krausen Locken trotzten den Haarnadeln und Bändern und standen in alle Richtungen ab.
»Wie viel?«
»Drei Pfennig, gnädiges Fräulein.«
Emma nickte und reichte das Geld herüber.
Die Kleine steckte es rasch ein. Wie alt mochte sie sein? Elf? In dem unförmigen Kleid sah sie deutlich älter aus, trotz ihrer niedlichen Stupsnase und den Locken, aber sie wirkte schlaksig und noch nicht zu einer jungen Frau ausgereift.
»Läuft das Geschäft gut?«, fragte Emma.
Das Mädchen verzog das Gesicht. »Nicht so. Wenn ich schon wieder mit der Hälfte der Ware zurückkomme, gibt es Prügel.«
Emma senkte den Blick. In der einen Hand hielt sie ihre Habseligkeiten und noch ein paar Münzen. In der anderen lag die frisch gekaufte Brezel. Du hast genug eigene Sorgen, tadelte sie sich selbst. Was geht dich das an?
Sie stöhnte auf und reichte die restlichen Münzen.
»Gib mir doch noch eine.« Der Tag war lang und … ja, musste sie denn immer eine gute Samariterin spielen? Gerade das hatte sie doch erst in diese Lage gebracht! Aber da wechselten die letzten Pfennige schon die Besitzerin, und Emma grübelte, wie sie jetzt die zweite Brezel halten sollte.
»Gibst du … gibst du mir für den Rest einen der Flechtkörbe?«
Die Kleine zögerte, als fragte sie sich, ob das gnädige Fräulein sie auf den Arm nehmen wollte, nickte dann aber und reichte Emma einen Korb. Das Ding war klobig und unhandlich, viel zu groß für ihre Siebensachen. Trotzdem hatte Emma so die Hände etwas freier.
Und nun?
Sie hatte zwei Brezeln, einen Korb und überhaupt kein Geld mehr. Irgendetwas musste ihr einfallen, und zwar schleunigst.
»Aufpassen!«
Emma wich zurück, als eine altersschwache Droschke an ihr vorbeiholperte. Fast wäre sie unter die Hufe der Pferde geraten – heute schien sie es darauf anzulegen, ihr Glück herauszufordern. Sie ging zurück in den Bahnhof. Denk nach, spornte Emma sich an, denk nach! Von einer Reise ins Rheinland brauchte sie nicht einmal zu träumen. Das Einzige, was ihr blieb, war nach Hause zurückzukehren und ihren Eltern den Ausflug nach Straßburg zu beichten. Aber wie kam sie ohne Geld nach Metz? Sie könnte versuchen, einen leeren Güterwagen zu erwischen oder …
»Kann ich Ihnen helfen, gnädiges Fräulein?«
Erschrocken fuhr Emma herum. Fast glaubte sie, neben sich den vorlauten Studenten aus der Universität zu entdecken, der endlich seine Gelegenheit bekam, einen strahlenden Ritter für eine Jungfer in Not zu spielen – aber das war nur ein kleiner, kräftiger Mann in Uniform, jemand vom Bahnhofspersonal.
»Ich würde gern wissen, wann der nächste Zug nach Metz geht.«
»Nach Metz?« Geschäftlich rückte der Mann seine Mütze zurecht. »Da haben Sie Glück. Wenn Sie sich beeilen, kriegen Sie ihn noch. Der Zug steht am Gleis eins, hat eine Verspätung.«
Ihr Herz klopfte wild, als forderte es sie auf, die Chance zu ergreifen. Was, wenn es ihr Glück war, das ihr da zuwinkte? Sie könnte sich im Zug verstecken, vielleicht gelang es ihr tatsächlich, so nach Metz zu gelangen?
Die Waggons warteten auf sie.
Wie eine Einladung.
Sie atmete tief durch und stieg ein. Ihre Handflächen fühlten sich feucht an. Was ist mit deinem Koffer, der in der Gepäckaufbewahrung auf dich wartet, durchfuhr der Gedanke sie. Sie knetete ihre Finger, den Korb um den Arm gehängt. Den Koffer konnte sie wirklich vergessen. Natürlich würden ihre Eltern umso mehr schimpfen, wenn sie auch noch ihre Habseligkeiten verlor, aber jetzt zählte nur eins: heil nach Hause zu kommen. Oder nicht? Beim Gedanken an das Gespräch mit ihren Eltern zog sich ihr Magen zusammen. Vielleicht sollte sie zuerst einen Bissen nehmen, um Kräfte zu schöpfen. Also holte sie ihre Brezel und trat entschlossen in den Gang.
Sie war wohl in der zweiten Klasse gelandet. Die Menschen saßen auf gepolsterten Sitzen – kein Vergleich zu den Holzbänken der dritten und vierten Klasse, die Emma kannte, wo sich die Passagiere wie Hühner auf einer Stange aneinanderdrängten. Die Luft war trotz geöffneter Fenster stickig, erfüllt vom Schweiß und dem schweren Blumenduft eines Damenparfüms. Ein Kind quengelte. Es rutschte auf dem Schoß seiner Mutter herum, darum bemüht, sich ihren Händen zu entwinden. »Nun sei doch endlich still! Wir fahren gleich weiter!«, fauchte die Mutter es an, woraufhin es zu plärren begann.
Emma sah sich um. Verstecken? Aber wo? Sie würde sich kaum unter einem der Sitzplätze zusammenrollen können.
»Fräulein?«
Sie verharrte. Schweißtropfen liefen ihren Rücken hinunter. Der Schaffner? Hatte er sie entdeckt? Wie konnte er nur wissen, dass sie keinen Fahrschein besaß?
Ihre Gedanken ratterten. Sie würde sagen, sie hätte sich verirrt. Oder so tun, als hätte sie ihn nicht bemerkt und einfach weitergehen, um schnell auszusteigen?
»Fräulein, verkaufen Sie die?«
Verwirrt drehte sich Emma um. Hinter ihr saß ein drahtiger Herr, der sich mit einem Tuch über die Stirn wischte. Was wollte er von ihr? Ungeduldig deutete er auf die Brezel in ihrer Hand. »Verkaufen Sie die jetzt oder nicht?«
Perplex sah Emma auf das Gebäck in ihrer Hand. Dann glitt ihr Blick auf das Flechtkörbchen. Er hielt sie für eine Verkäuferin!
»Sechs Pfennig«, murmelte sie, noch bevor sie wirklich realisierte, was sie da sagte.
»Aber hören Sie mal, Fräulein!«, empörte sich der Mann und tupfte sich abermals mit dem Tuch über das Gesicht. »Sechs Pfennig?«
»Nur noch zwei sind übrig. Aber wenn Sie aussteigen möchten – vor dem Eingang ist … meine Schwester. Sie gibt Ihnen eine für drei ab.«
Die Mutter mit dem quengelnden Kind auf dem Schoß winkte sie herbei. »Ich nehme eine.«
Noch etwas zögernd trat Emma näher und gab ihr die Brezel, die sofort aufgebrochen und dem Kind in den Mund gesteckt wurde. Anscheinend hatte das Essen den Kleinen besänftigt, er lutschte vergnügt an seinem Stück.
Noch etwas verdattert schaute Emma auf die sechs Pfennig, die auf ihrer Handfläche lagen.
»Hier«, rief der Herr mit dem Taschentuch und streckte ihr sein Geld entgegen. »Geben Sie mir die Letzte.«
Zwölf Pfennig. Für zwei Brezeln.
Emma schloss die Münzen in der Faust ein, so fest sie konnte. Die Gedanken in ihrem Kopf purzelten ihre Bahnen wie in einem komplexen, aber perfekt abgestimmten Mechanismus: Zwölf Pfennig für zwei Brezeln. Bezahlt hast du nur sechs dafür. Bei einem Mädchen, das nicht weiß, wie es seine Ware loswerden soll.
»Fräulein, ich hätte gern auch eine«, hörte sie einen jungen Herrn schräg gegenüber rufen, worauf Emma nur entschuldigend die Schultern zuckte. »Bedauere. Das waren wirklich die Letzten.«
Schnell huschte sie den Gang entlang, verließ den Zug und eilte zum Ausgang. Atemlos wich sie einer weiteren ankommenden Droschke aus und hielt erst vor dem Brezelstand. Verwirrt schaute die kleine Verkäuferin zu ihr hoch. »Gnädiges Fräulein? War etwas nicht in Ordnung?«
»Alles bestens«, stieß Emma hervor. »Was sagst du, wenn ich dir helfe, die Ware zu verkaufen?«
Unsicher rutschte das Mädchen auf der Holzkiste hin und her. »Wie meinen Sie das?«
»Du kannst hier nicht weg.« Emma knetete ihre Finger. Ihre Stimme zitterte, dabei gab es überhaupt keinen Grund zur Aufregung – trotzdem schien in ihrem Innern alles zu prickeln. Sie hatte eine Idee. Eine Idee, die wirklich funktionieren könnte! Und das von einem dummen Weib, das kein Wort in hohen Wissenschaften verstand. »Du musst auf deine Ware aufpassen. Aber ich kann zu den Zügen gehen und dort die Brezeln den Reisenden mit einem Aufpreis anbieten.«
Das Mädchen kräuselte ihre Nase. »Sie wollen mich doch auf den Arm nehmen.«
Emma hob beschwichtigend die Hände. »Nein. Wirklich nicht. Hör zu. Ich hole meinen Koffer aus der Gepäckaufbewahrung und gebe ihn dir. Als Pfand. Er ist mehr wert als ein Korb voller Brezeln. Wenn ich verschwinde, gehört er dir.«
Das Mädchen legte den Kopf schräg und betrachtete Emma mit wachen, klugen Augen. Hoffentlich täuschte der Eindruck nicht, und die Kleine sah die Gelegenheit, die sich ihr bot.