Land of Stories Das magische Land

Chris Colfer

Land of Stories
Das magische Land

Die Macht der Geschichten

Aus dem Amerikanischen
von Fabienne Pfeiffer

Mit Illustrationen
von Brandon Dorman

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Chris Colfer

Chris Colfer ist Schauspieler und Autor. Bekannt wurde er vor allem durch die Rolle des Kurt Hummel in »Glee«, für die er unter anderem 2011 mit dem Golden Globe Award ausgezeichnet wurde. Alle »Land of Stories«-Bände erschienen auf der New York Times-Bestsellerliste.

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Das magische Land wird von allen Seiten bedroht, seit der maskierte Mann hier die Herrschaft übernommen hat. Um ihn zu besiegen stellen Conner und Alex eine Armee mit den Figuren aus Conners Geschichten zusammen. Doch können starke Piraten, mächtige Cyborgs und fürchterliche Zombiemumien wirklich gegen die dunkle Verschwörung ankommen, die weit mehr als die Königreiche im magischen Land zu zerstören droht?

 

Band 5 des phantastischen Abenteuers

Impressum

Alle Bände der Serie ›Land of Stories – Das magische Land‹:

Band 1: Die Suche nach dem Wunschzauber

Band 2: Die Rückkehr der Zauberin

Band 3: Eine düstere Warnung

Band 4: Ein Königreich in Gefahr

Band 5: Die Macht der Geschichten

Band 6: Der Kampf der Welten (erscheint 2021)

 

Zu diesem Buch ist bei Argon ein Hörbuch erschienen, das im Buchhandel erhältlich ist.

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Das englischsprachige Original erschien 2016 unter dem Titel »The Land of Stories: An Author's Odyssey« bei Little, Brown and Company, New York.

Text © 2016 by Christopher Colfer

Umschlag und Innenillustrationen © 2016 by Brandon Dorman

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2021 Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Covergestaltung: Isabelle Hirtz, Inkcraft unter Verwendung einer Illustration von Brandon Dorman

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-7336-0391-5

gefangen in einem Menschen.«

Victor Hugo

Der Lieblingsschüler

Für die feierliche Verabschiedung einer beliebten Schulleiterin in den wohlverdienten Ruhestand scheute der Schuldistrikt von Willow Crest keine Kosten und Mühen: Der Speisesaal des Gemeindezentrums war so elegant geschmückt und eingedeckt, dass nichts mehr an die Bingorunde der Senioren vom Vorabend erinnerte. Spitzendeckchen zierten die Tische, darauf Blumenarrangements, elektrische Kerzen und an jedem Platz goldene Teller, umgeben von so viel Besteck, dass die Gäste mit der Hälfte überhaupt nichts anzufangen wussten.

Fach- und Beratungslehrer, Hausmeister, Kantinenpersonal und ehemalige Schüler waren scharenweise gekommen, um Lebewohl zu sagen und der scheidenden Schulleiterin alles Gute zu wünschen. Für alle war der Ausstand eine der elegantesten Veranstaltungen, die sie jemals besucht hatten; der Ehrengast selbst fühlte sich beim Blick in die ausnahmslos langen

Der neuernannte Leiter des Schuldistrikts schlug behutsam einen Löffel gegen sein Champagnerglas, und im Saal wurde es still.

»Darf ich für einen Augenblick um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«, fragte er in ein Mikrophon. »Guten Abend, zusammen. Mein Name ist Dr. Brian Mitchell. Wie Sie wissen, haben wir uns heute hier versammelt, um eine der großartigsten Lehrerinnen zu feiern, die der Schuldistrikt von Willow Crest je zu seinen Angestellten zählen durfte: Mrs. Evelyn Peters.«

Auf den Namen folgte eine Runde herzlichen Beifalls. Ein heller Scheinwerferstrahl wurde auf Mrs. Peters gelenkt, die weit vorn im Raum neben Dr. Mitchell saß. Sie lächelte und winkte den Gästen zu, wünschte sich dabei jedoch insgeheim, sie hätte dem ganzen Aufheben nie zugestimmt. Besondere Aufmerksamkeit und Komplimente von ihren Kollegen brachten sie stets in Verlegenheit, und der Abend hatte schließlich gerade erst begonnen.

»Ich bin gebeten worden, ein paar Worte über Mrs. Peters zu sagen – eine ungeheuer einschüchternde Aufgabe«, fuhr Dr. Mitchell fort. »Was ich von mir gebe, ist im Grunde völlig gleichgültig; ich ahne bereits, dass sie – statt sich irgendein Kompliment zu Herzen zu nehmen – meiner Rede ohnehin nur auf grammatikalische Fehler hin lauschen wird.«

Das Publikum lachte, und Mrs. Peters verbarg ein Kichern hinter ihrer Serviette. Jedem, der sie kannte, war klar, wie recht der Schuldistriktsleiter mit seiner Einschätzung hatte.

»Zu sagen, dass jemand seine Arbeit gut macht, ist leicht – aber ich kann mit Gewissheit behaupten, dass Evelyn Peters eine herausragende Lehrerin war«, sagte Dr. Mitchell. »Vor

Viele der Gäste applaudierten, was Mrs. Peters die Röte ins Gesicht trieb; die meisten der Klatschenden hatten ähnliche Geschichten selbst erlebt oder zumindest mitbekommen.

»Zu Beginn verstanden wir uns nicht besonders gut«, gab Dr. Mitchell offen zu. »Sie triezte mich härter als jemals jemanden zuvor: Ich erhielt zusätzliche Hausaufgaben und musste nach Schulschluss dableiben und ihr laut vorlesen. Einmal hatte ich diese Sonderbehandlung derart satt, dass ich drohte, ihr Haus mit Graffitis zu besprühen, wenn sie nicht damit aufhörte. Am nächsten Tag reichte sie mir eine Farbdose und ein Kärtchen mit ihrer Adresse und sagte: ›Sprühen Sie ruhig, aber achten Sie zumindest auf die korrekte Rechtschreibung.‹«

Der Saal brach in schallendes Gelächter aus, und alle Köpfe wandten sich Mrs. Peters zu, die daraufhin verlegen nickend die Geschichte bestätigte.

»Mrs. Peters hat mir so viel mehr als bloß das Lesen beigebracht«, setzte Dr. Mitchell wieder an, und seine Stimme brach beinahe. »Von ihr habe ich gelernt, wie wichtig Mitgefühl und Geduld sind. Sie war die einzige Lehrerin, die mir den Eindruck vermittelt hat, dass ich ihr ebenso am Herzen liege wie meine Noten. Sie hat meine Begeisterung für das Lernen geweckt und mich dazu inspiriert, selbst Lehrer zu werden. Wir sind traurig,

Mrs. Peters putzte ihre Brille, um die Gäste von den Tränen abzulenken, die ihr in die Augen gestiegen waren. Ohne den Zuspruch der zahlreichen Menschen im Raum hätte sie sich selbst womöglich niemals eingestanden, wie viele junge Leben sie positiv beeinflusst hatte.

»Und nun wollen wir alle gemeinsam anstoßen«, sagte Dr. Mitchell und hob sein Glas. »Auf Evelyn Peters: Danke, dass Sie uns alle beflügelt und begleitet haben. Der Schuldistrikt von Willow Crest wird ohne Sie nicht mehr derselbe sein.«

Sämtliche Gläser im Saal wurden zu Ehren von Mrs. Peters in die Luft gereckt. Anschließend ergriff Mrs. Peters selbst das Mikrophon und erwiderte die Geste mit ihrem eigenen Glas.

»Bitte gestehen Sie nun auch mir ein paar Worte zu«, sagte sie. »Mein verstorbener Ehemann war ebenfalls Lehrer, und er hat mir den besten Rat gegeben, den ein Pädagoge dem anderen zuteilwerden lassen kann. Daher möchte ich seine weisen Worte nun gern an Sie alle weitertragen, für den Fall, dass ich heute zum letzten Mal die Gelegenheit dazu habe.«

Das Publikum rutschte gespannt bis an die Stuhlkanten nach vorn, allen voran Mrs. Peters’ Kollegen.

»Als Lehrer dürfen wir unsere Schüler nicht zu Menschen nach unseren eigenen Wunschvorstellungen heranziehen; stattdessen sind wir dazu verpflichtet, ihnen alles Nötige mit auf den Weg zu geben, damit aus ihnen Erwachsene gemäß ihrer eigenen Bestimmung werden können. Vergessen Sie niemals, dass die Ermutigung, die diese Schüler von uns bekommen, unter Umständen die einzige ist, die sie jemals erhalten werden – sparen Sie also nicht daran. Nach meiner fünfundzwanzigjährigen

Der Schluss ihrer Rede wurde mit stehenden Ovationen quittiert. Nach einigen Momenten des Beifalls drängte Mrs. Peters die Gäste, wieder Platz zu nehmen, woraufhin der Jubel jedoch nur nochmals anschwoll.

Die Lichter wurden gedimmt, und eine Leinwand schwebte von der Decke herab. Dr. Mitchell und Mrs. Peters setzten sich und verfolgten, wie Gruppenfotos all jener Klassen, die Mrs. Peters im Lauf ihrer Karriere betreut hatte, darauf projiziert wurden, angefangen mit ihrem allerersten sechsten Jahrgang fast dreißig Jahre zuvor. Immer wieder war während der Vorführung das Lachen der einstigen Schüler zu hören, die sich über die lächerlichen Klamotten und Frisuren, die sie als Elf- oder Zwölfjährige zur Schau getragen hatten, köstlich amüsierten. Auffällig war jedoch, wie wenig Mrs. Peters sich im Laufe der Jahre verändert hatte. Auf jedem einzelnen Bild sahen Haare, Brille und Blumenkleider der Lehrerin exakt gleich aus – beinahe so, als wäre Mrs. Peters in der Zeit eingefroren, während die Welt ringsum sich weitergedreht hatte.

Die Bildershow rührte Mrs. Peters mehr als jeder andere Beitrag des Abends. Sie hatte das Gefühl, ein Familienalbum würde vor ihren Augen durchgeblättert. Zu jedem Gesicht, das auf der Leinwand auftauchte, kannte sie noch den Namen, und mit den allermeisten Schülern stand sie nach wie vor entweder persönlich in Kontakt oder wusste doch zumindest, was aus ihnen geworden war; nur einige wenige hatte sie gänzlich aus dem Blick verloren. Es schmerzte sie, dass diese Kinder, denen

Für Mrs. Peters, die keine weitere Familie hatte, waren ihre Schüler wie eigene Kinder, und sie hoffte inständig, dass sie allesamt glücklich und gesund waren, wohin auch immer das Leben sie geführt haben mochte. Und auch, dass die Jungen und Mädchen – nun, da sie selbst ihnen nicht mehr Pfeiler des Mitgefühls und der Orientierung im Leben sein konnte – jemand anderen gefunden hatten, der diese Rolle ausfüllte.

»Evelyn?«, flüsterte Dr. Mitchell.

Mrs. Peters war nach wie vor jedes Mal irritiert, wenn ein ehemaliger Schüler sie mit ihrem Vornamen anredete – selbst wenn es sich dabei um den Schuldistriktsleiter handelte.

»Ja, Dr. Mitchell?«, wisperte sie zurück.

»Hatten Sie jemals einen Lieblingsschüler?«, fragte er grinsend. »Ich weiß, wir sollten keine Lieblinge haben, aber gab es ein Kind, das ihnen ganz besonders ans Herz gewachsen ist? Abgesehen von mir, versteht sich.«

Darüber hatte Mrs. Peters sich noch nie Gedanken gemacht. Sie hatte in ihrer Laufbahn mehr als fünfhundert Schülerinnen und Schüler erlebt, und jede und jeder von ihnen war ihr aus anderen Gründen im Gedächtnis geblieben, doch eine Rangfolge aufzustellen, war ihr nie in den Sinn gekommen.

»Ich habe es gewiss bei einigen mehr genossen, sie zu unterrichten, aber einen einzelnen Favoriten könnte ich nicht benennen«, antwortete sie. »Dazu müsste ich über sie urteilen, und ich war schon immer der Meinung, dass ein Urteil über ein Kind zu fällen ist, als würde man über ein unfertiges Kunstwerk richten. Jedes Kind betritt ein Klassenzimmer mit seinem ganz persönlichen Päckchen an Hürden und Herausforderungen, die sich ihm in den Weg stellen werden, ob nun

So hatte Dr. Mitchell die Angelegenheit noch nie betrachtet. Selbst als Erwachsener lernte er nach wie vor von seiner alten Lehrerin.

»Mag sein, dass ich inzwischen Schuldistriktsleiter bin, aber Ihr Schüler bleibe ich mein Leben lang«, sagte er zu Mrs. Peters.

»Ach, Dr. Mitchell«, lachte sie. »Im Klassenzimmer des Lebens sind wir alle Schüler bis zuletzt.«

Obwohl Mrs. Peters aufrichtig geglaubt hatte, keine Antwort sei die beste Antwort auf seine Frage, wurde ihr kurz darauf klar, dass sie sich irrte: Auf der Leinwand erschien nun ein drei Jahre altes Foto ihrer letzten sechsten Klasse. Sie überflog die Gesichter ihrer früheren Schützlinge und blieb an jenen der damals zwölfjährigen Zwillinge Alex und Conner Bailey hängen.

Alex’ Haar wurde ordentlich von einem pinkfarbenen Haarreif zurückgehalten, und sie presste einen Stapel Bücher regelrecht an ihr Herz. Ein breites Grinsen zog sich über ihr Gesicht, denn nirgends hatte sie sich je wohler gefühlt als in der Schule. Ihr Bruder dagegen hatte verquollene Augen, und der Mund hing ihm offen. Er wirkte, als sei er gerade erst aufgewacht und sich überhaupt nicht bewusst, dass er fotografiert wurde.

Mrs. Peters musste unwillkürlich lachen, denn genau so hatte sie die beiden in Erinnerung – und das Bild führte ihr wieder vor Augen, wie sehr sie sie vermisste.

Beide Bailey-Zwillinge hatten plötzlich und unerwartet die Schule gewechselt, ehe Mrs. Peters Gelegenheit gehabt hatte, sich von ihnen zu verabschieden. Alex war mitten im siebten Schuljahr zu ihrer Großmutter nach Vermont gezogen, und

Soweit Mrs. Peters informiert war, hatte Alex’ Umzug damit zu tun gehabt, dass sie dort eine Schule mit besonderer Hochbegabtenförderung besuchen konnte. Aus welchem Grund es Conner in den Norden verschlagen hatte, war ihr jedoch nach wie vor ein Rätsel.

Im Jahr vor seinem Umzug war Conner während einer Schulexkursion nach Europa gemeinsam mit einer Klassenkameradin, Bree Campbell, durchgebrannt – eine Aktion, die zu keinem der beiden bis dato stets unauffälligen Schüler so recht zu passen schien. Wäre Conner an Mrs. Peters’ Schule geblieben, wäre er angemessen bestraft worden, so wie es Bree widerfahren war; einen Schulwechsel empfand jedoch sogar sie als ausgesprochen drastische Konsequenz.

Die gesamte Situation war Mrs. Peters höchst merkwürdig vorgekommen und wühlte sie nach wie vor auf. Gerade erst hatte Conner sein Naturtalent fürs Schreiben entdeckt gehabt und zum ersten Mal in der Schule mit herausragenden Noten glänzen können. Wo auch immer er nun sein mochte: Mrs. Peters hoffte, dass er dort jemanden gefunden hatte, der ihn weiter bestärkte und ermutigte. Nichts war in ihren Augen tragischer als verschenktes Schülerpotential.

Die Bildervorführung ging zu Ende, und im Speisesaal wurde der Nachtisch serviert, ehe der Abend nach einem weiteren Dutzend Lobesreden früherer Kollegen und Schüler schließlich ausklang.

 

Mrs. Peters verstaute stapelweise Abschiedskarten und eine ganze Armladung Blumensträuße in ihrem Auto. Sie freute sich

Sie durchwühlte ihre geräumige Handtasche und fand darin den Schlüssel zum Unterrichtsraum ihrer einstigen sechsten Klasse. Zu ihrem Glück waren die Schlösser zwischenzeitlich nicht getauscht worden, so dass es ihr ohne Probleme gelang, das Zimmer der ehemaligen 6B zu betreten. Sie hatte eine Welle der Rührung erwartet, doch stattdessen stellte sie lediglich fest, dass ihr der dunkle Raum fremd geworden war.

Die neue Lehrkraft hatte ihn gänzlich umgestaltet: Die Pulte standen jetzt in Gruppen statt Reihen zusammen, und entlang der Wände, die einst von Regalen mit Wörterbüchern und Lexika gesäumt gewesen waren, zogen sich nun Tablet- und Computerarbeitsplätze. Dazu hatte jemand die Poster der weltbekannten Schriftsteller und Wissenschaftler ausgetauscht, und an ihrer Stelle präsentierten nun Prominente auf mehreren Plakaten ihre Lieblingsbücher – Bücher, von denen Mrs. Peters sehr zu bezweifeln wagte, ob die Stars sie tatsächlich auch gelesen hatten.

Mrs. Peters kam sich vor wie eine Schauspielerin, die ein falsches Filmset betreten hatte. Sie war fassungslos darüber, wie sehr ein Unterrichtsraum sich in so kurzer Zeit verändern konnte – ganz so, als hätte sie selbst niemals dort gelehrt. Das Einzige, was sie wiedererkannte, war das Lehrerpult. Es befand sich noch am exakt selben Platz wie während der

Sie hoffte inständig, dass die Raumgestaltung lediglich den persönlichen Geschmack ihres Nachfolgers widerspiegelte, darüber hinaus jedoch auch in ihrer Abwesenheit weiterhin jene Sitten und Werte vermittelt wurden, die sie selbst einst ihren Schülern beigebracht hatte. Sie hoffte, dass die modernen technischen Hilfsmittel den Unterricht bereicherten, statt ihm seine Seele zu rauben. Und am allermeisten hoffte sie, dass dem neuen Lehrer seine Aufgabe ebenso am Herzen lag wie früher ihr.

Ehe düstere Gedanken und Sorgen sie zu erdrücken drohten, rief Mrs. Peters sich ins Gedächtnis, dass sie es gewiss als deutlich schlimmer empfunden hätte, wäre alles unverändert gewesen. Immerhin war es Lehrkräften wie ihr zu verdanken, dass die junge Generation so mühelos und trittsicher ihren Weg in die Zukunft beschritt.

Und genau wie für alle Lehrerinnen und Lehrer vor ihr war es nun für sie an der Zeit, den Stab an ihre Nachfolger zu übergeben. Sie hatte bloß nicht damit gerechnet, dass das Loslassen ihr so schwerfallen würde.

»Adieu, Klassenzimmer«, murmelte Mrs. Peters. »Die Lektionen, die wir gemeinsam gelehrt haben, werden mir fehlen – aber noch mehr werde ich die Lektionen vermissen, die wir zusammen gelernt haben.«

Sie hatte sich gerade von ihrem Stuhl erhoben und zum Gehen gewandt, als plötzlich ein Windstoß durch den Raum fuhr. Zettel wurden von den Wänden gerissen, und ein Luftstrudel bildete sich in der Mitte des Zimmers. Ein grelles Licht erleuchtete die Szene wie ein Blitzschlag, und Mrs. Peters brachte sich mit einem Hechtsprung unter dem Lehrerpult in Sicherheit.

»Na, das schaut ja ziemlich anders aus als in unseren Sechstklässlertagen«, meinte die vertraute Stimme eines jungen Mannes. »Oh Mann, wieso kriegen die Knirpse von heute Computer? Wir hatten damals keine – sonst wäre ich garantiert nicht so oft eingeschlafen.«

»Die Zeiten ändern sich«, erklang eine zweite Stimme, die Mrs. Peters ebenfalls nur zu gut kannte. »Ich bin ziemlich sicher, dass schon in naher Zukunft überhaupt keine Schulen mehr gebaut werden. Dann setzt sich jedes Kind nur noch zu Hause vor einen Rechner oder ein Tablet und lernt von dort aus. Kannst du dir etwas Schrecklicheres vorstellen?«

»Kümmern wir uns besser um eine Krise nach der anderen«, erwiderte der junge Mann. »Du suchst bei den Computertischen, und ich durchstöbere die Aktenschränke. Irgendwo hier drin müssen meine Geschichten doch stecken.«

Die Fußpaare eilten in zwei entgegengesetzte Ecken des Raums. Mrs. Peters wusste, dass sie die dazugehörigen Stimmen bereits viele Male gehört hatte, konnte sie jedoch noch keinen konkreten Gesichtern zuordnen.

»Wenn sie nicht in ihrem alten Büro waren, wieso bist du dann so überzeugt, dass wir sie hier finden?«, fragte die junge Frau.

»Weil wir überall sonst schon nachgesehen haben«, bekam sie zur Antwort. »Lehrer sind rührselig – vielleicht hat sie sie in eine Zeitkapsel gepackt oder so? Ich möchte gern erst alle anderen Möglichkeiten ausschließen, ehe wir bei ihr einbrechen.«

Mrs. Peters hielt die Spannung nicht länger aus. Sie richtete sich langsam auf und lugte über die Tischkante. Kaum hatte sie

»Mr. Bailey! Miss Bailey!«, rief sie. Seit ihrer letzten Begegnung waren die Zwillinge gehörig gewachsen, insbesondere Alex. Mrs. Peters schaffte es kaum, ihre Augen von der langen, wunderschönen Robe loszureißen, die sie trug: Das himmelblaue Kleid funkelte bei jeder Bewegung, als entstamme es geradewegs einem Märchen.

Alex und Conner waren ebenso baff, auf ihre frühere Lehrerin zu treffen, wie sie es über ihr Auftauchen war.

»Ähm … hi, Mrs. Peters!«, grüßte Alex und lachte nervös. »Lange nicht gesehen!«

»Mrs. Peters?«, staunte Conner. »Was machen Sie denn so spät noch hier?«

Mrs. Peters verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihn streng über ihre Brillengläser hinweg.

»Diese Frage wollte ich Ihnen beiden gerade stellen«, sagte sie. »Wie sind Sie ohne Schlüssel hier hereingekommen? Was hatte es mit diesem Blitz und dem Wind auf sich? Soll das eine Art Schülerstreich sein?«

Einen Augenblick lang starrten die Zwillinge einander stumm an, doch beide waren völlig ratlos, was sie ihr erzählen sollten. Da ihm absolut nichts Besseres einfiel, verlegte Conner sich darauf, mit wedelnden Armen durch das Klassenzimmer zu hüpfen.

»Mrs. Peters, Sie trääääuuuumen!«, sang er. »Das Sushi, das Sie gegessen haben, war verdorben, und jetzt suchen Ihre einstigen Schüler Sie in Albträumen heim! Verlassen Sie schnell diesen Raum, bevor wir zu gigantischen Tafelstöcken und Kartenhaltern mutieren!«

Sein grauslicher Versuch, sie zu täuschen, entlockte

»Seien Sie versichert: Ich bin bei vollem und klarstem Bewusstsein, Mr. Bailey«, sagte sie. »Würde mir nun bitte einer von Ihnen beiden erklären, wie Sie in diesem Klassenzimmer erschienen sind, oder muss ich die Polizei rufen?«

Inzwischen hätte es den Zwillingen leichtfallen sollen, jemandem in der Anderswelt die Sachlage zu erläutern, doch nun, da sie ihrer ehemaligen Lehrerin in ihrem ehemaligen Unterrichtsraum gegenüberstanden, fühlten sie sich mit einem Mal keinen Tag mehr älter als zwölf. Mrs. Peters konnten sie unmöglich anlügen – doch die Wahrheit würde ihre Lehrerin den Geschwistern niemals abnehmen.

»Das würden wir gern, aber es ist eine sehr, sehr lange Geschichte«, sagte Alex.

»Ich habe einen Universitätsabschluss in Amerikanischer Literatur – ich liebe lange Geschichten«, gab Mrs. Peters zurück.

Plötzlich wurden ihre strengen Züge weicher. Ihr Blick huschte beinahe ungläubig zwischen den Zwillingen hin und her; fast schien es, als sei ihr ganz von selbst die Erleuchtung gekommen und sie habe lediglich noch Schwierigkeiten, die damit verbundene Erkenntnis zu akzeptieren.

»Sekunde mal«, sagte Mrs. Peters. »Hat das Ganze hier womöglich irgendetwas mit der Märchenwelt zu tun?«

Alex und Conner fiel haargenau gleichzeitig die Kinnlade herunter. Es war das Letzte, was sie aus dem Mund ihrer früheren Lehrerin erwartet hatten, und sie fühlten sich ein wenig wie in einem Film, der abrupt eine Szene übersprungen hatte.

»Ähm … korrekt«, erwiderte Conner. »Na, das war einfach.«

Alex funkelte Conner böse an – überzeugt, dass er ihr gegenüber etwas zu erwähnen vergessen hatte.

»Natürlich nicht!«, empörte sich Conner. »Das war vermutlich Mom! Irgendwie musste sie unsere Schulwechsel ja erklären!«

Als die Blicke der Geschwister wieder auf Mrs. Peters landeten, zog die ehemalige Schulleiterin eine Miene, wie Alex und Conner sie an ihr noch nie zuvor gesehen hatten: Ihre Augen waren groß geworden und leuchteten, und sie verbarg ein breites Lächeln hinter beiden Händen. Die Pensionärin wirkte wie ein aufgeregtes Schulmädchen.

»Oh, du meine Güte«, hauchte Mrs. Peters. »Nach all den Jahren habe ich endlich die Gewissheit, dass es wirklich wahr gewesen ist … Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft ich mich gefragt habe, ob es nur ein Traum oder eine Halluzination war, aber Sie beide sind haargenau so aufgetaucht wie sie damals … und haargenau so ein Kleid hat sie auch getragen …«

Die Zwillinge waren heillos verwirrt.

»Was soll wahr gewesen sein?«, erkundigte sich Conner.

»Von wem reden Sie?«, drängte Alex.

»Als ganz kleines Mädchen lag ich mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus«, berichtete Mrs. Peters. »Eines späten Abends, während die Krankenschwestern und Pfleger mit anderen Patienten beschäftigt waren, ist eine gütige Frau in exakt solch einem Kleid in meinem Zimmer erschienen. Sie hat mir die Haare gebürstet und die komplette Nacht lang Geschichten vorgelesen, um mich zu trösten. Ich habe sie damals für eine Art Engel gehalten. Bevor sie gegangen ist, habe ich sie angefleht, mir ihren Namen zu verraten – und da hat sie geantwortet, sie sei eine gute Fee und lebe in der Märchenwelt.«

Alex und Conner trauten ihren Ohren kaum. Da hatten sie Mrs. Peters jahrelang zu kennen geglaubt und doch keine

»Oha, die Welten sind klein«, murmelte Conner.

»Diese Frau war unsere Großmutter«, gestand Alex. »Sie und weitere Feen sind früher in diese Welt gereist und haben bedürftigen Kindern Märchen vorgelesen. Grandma meinte, durch die Erzählungen haben die Kinder stets neue Hoffnung geschöpft.«

Mrs. Peters ließ sich auf dem Pult nieder und presste die Hand aufs Herz.

»Tja, damit hat sie ganz recht«, sagte sie. »Sobald ich wieder gesund war, verschlang ich bis zum Ende meiner Kindheit jedes Märchen, das ich finden konnte. Tatsächlich bin ich vor allem deshalb Lehrerin geworden, weil ich dieselben Geschichten mit anderen teilen wollte.«

»Das gibt’s doch gar nicht!«, staunte Conner. »Darum haben Sie uns diese Aufsätze über Märchen schreiben lassen, als wir in Ihrer Klasse waren! Das ist ja megakrass

»Conner, ich hasse es, wenn du dieses Wort verwendest«, zischte Alex.

»Ich stimme Ihnen vollkommen zu, Mr. Bailey – das ist megakrass!«, lachte Mrs. Peters. »Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie dankbar ich bin, endlich die Wahrheit erfahren zu haben. Die ganze Zeit über haben Sie beide gar nicht in einem anderen Bundesstaat gelebt – sondern bei Ihrer Großmutter in der Märchenwelt! Das erklärt die abrupten Schulwechsel, und auch, weshalb Ihre Mutter in ihrer Erklärung so vage geblieben ist – und ich nehme an, es hat auch etwas mit Mr. Baileys eigenmächtigem Ausflug während der Schulexkursion nach Europa zu tun.«

»Schuldig«, bekannte Conner verlegen. »Immerhin bin ich also in Wirklichkeit kein Krimineller!«

Sie wirkte so glücklich, dass es die Zwillinge schmerzte, ihr die traurige Nachricht beibringen zu müssen.

»Genau genommen ist sie vor etwas mehr als einem Jahr gestorben«, sagte Alex.

»Ja, kurz nachdem sie einen Drachen erlegt hatte!«, prahlte Conner. »Aber das ist eine weitere lange Geschichte, die bloß zu noch längeren Geschichten führen würde – glauben Sie mir, unser zukünftiger Biograph wird alle Hände voll zu tun haben –, und momentan fehlt uns die Zeit für ausführliche Erklärungen! Tatsächlich sind wir nämlich in einer sehr wichtigen Angelegenheit hier.«

»Ach?«, machte Mrs. Peters.

»Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie meine Kurzgeschichten in einem Ordner gesammelt haben – damit ich Sie später für Collegebewerbungen zur Hand habe? Wissen Sie, wo dieser Ordner sich jetzt befindet?«, fragte er.

»Haben Sie denn keine eigenen Abschriften?«, stutzte Mrs. Peters.

»Nein, die Texte waren ja allesamt handschriftlich«, meinte Conner. »Ich hatte genug Mühe damit, die Originale zu schreiben – da hätte meine Hand gestreikt, wenn ich auch noch Abschriften hätte anfertigen wollen.«

»Mr. Bailey, falls Sie tatsächlich eine Karriere als Schriftsteller anstreben, müssen Sie lernen, Ihre Arbeit zu sichern –«

»Jep, das lerne ich gerade auf die harte Tour«, stellte Conner fest. »Schauen Sie, etwas Schreckliches ist im magischen Land passiert, und wir brauchen meine Geschichten, um die Märchenwelt zu retten.«

»Sie haben ganz gewiss eine Million Fragen, aber wie

Ihr Tonfall und die flehenden Blicke beider Zwillinge verrieten Mrs. Peters, wie ernst es ihnen war, daher bedrängte sie die Geschwister nicht länger mit Fragen.

»Sie haben Glück«, sagte sie stattdessen. »Ich habe die Geschichten bei mir.«

Mrs. Peters holte ihre Handtasche unter dem Pult hervor und zog einen dicken Ordner heraus. Sie blätterte durch die abgehefteten Seiten, und die Zwillinge sahen, dass es sich dabei um Hunderte von Schüleraufsätzen, Mathearbeiten, Buchbesprechungen, Geschichtsklausuren und Kunstwerke handelte.

»Heute war mein letzter Arbeitstag vor dem Ruhestand«, erzählte Mrs. Peters. »Also habe ich meinen Schreibtisch ausgeräumt und das hier gefunden. Eine Sammlung, die ich über die Jahre angelegt habe: all jene Schülerarbeiten, die mich als Lehrerin besonders stolz gemacht haben. Wann immer ich einmal einen harten Tag hatte, habe ich diesen Ordner durchgeblättert und daraus neue Kraft und Inspiration geschöpft.«

Als sie am Ende der Zettelflut angelangt war, löste sie einen Packen davon heraus und reichte Conner den Papierstapel mit seiner schludrigen Handschrift.

»Bitte sehr, Ihre Kurzgeschichten, Mr. Bailey«, sagte sie.

Die Zwillinge seufzten vor Erleichterung. Nachdem sie so lange danach gesucht hatten, hielten sie die Texte nun beinahe in Händen. Conner fasste danach, doch Mrs. Peters’ Griff schloss sich nur fester um die Seiten.

»Ich gebe Sie Ihnen nur, wenn Sie mir im Gegenzug dafür etwas versprechen«, sagte sie.

Conner nickte. »Ja, auf jeden Fall!«

Mrs Peters bohrte ihren Blick in seinen. »Sobald dieses turbulente Kapitel Ihres Lebens sein Ende gefunden hat, setzen Sie Ihre Schulausbildung fort und schreiben weiter – versprochen?«, verlangte sie.

Conner hatte deutlich Schlimmeres erwartet. »Okay, klar, versprochen«, antwortete er.

»Gut«, sagte sie. »Denn die Welt braucht Schriftsteller wie Sie zur Inspiration, Mr. Bailey. Betrachten Sie Ihr Talent nicht als selbstverständlich und verschwenden Sie es nicht.«

Mrs. Peters lockerte ihre Finger, und Conner konnte seine Geschichten endlich an sich nehmen. Alex war sehr dankbar, dass der Austausch so leicht über die Bühne gegangen war – sie hatte sich innerlich bereits dafür gewappnet gehabt, Mrs. Peters im Notfall mit einem Lähmzauber belegen zu müssen.

»Ich bin froh, dass ich es in Ihren Ordner geschafft habe«, sagte Conner zu Mrs. Peters.

»Ich hätte niemals gedacht, dass ich so etwas einmal sagen würde, Mr. Bailey – aber sollte ich jemals so etwas wie einen Lieblingsschüler gehabt haben, dann waren ganz gewiss Sie es«, gestand Mrs. Peters.

»Ich?«, staunte Conner. »Aber … aber … wieso

»Ja – wieso?«, echote Alex, ehe es ihr gelang, sich zu beherrschen.

»Bei allem gebührenden Respekt, Miss Bailey: Wenn ich einmal alt bin und mein Gedächtnis mich im Stich lässt, dann werde ich nicht die Schüler am längsten in Erinnerung behalten, die die besten Noten oder die wenigsten Fehlstunden vorzuweisen hatten«, erklärte Mrs. Peters. »Sondern jene, die die

»Ich glaube nicht, dass ich mehr Fortschritte gemacht habe als sonst irgendjemand«, meinte Conner schulterzuckend.

»Das liegt daran, dass es niemandem vergönnt ist, sich selbst durch die Augen eines anderen zu betrachten«, sagte Mrs. Peters und schmunzelte. »Ich habe Sie nach dem Tod Ihres Vaters leiden sehen – aber Sie haben sich selbst entschlossen aus diesem Loch wieder herausgekämpft. Statt sich Ihrer Trauer hinzugeben, haben Sie einen starken, widerstandsfähigen Sinn für Humor entwickelt. Bald schon musste ich Sie ständig für Ihre Albernheiten im Unterricht tadeln. Im darauffolgenden Jahr, nach meiner Beförderung zur Schulleiterin, entstand bei mir immer stärker der Eindruck, dass hinter Ihrer Clownerie eine beachtliche Phantasie steckte. Ich ließ mir von Ihren Lehrern Kostproben Ihrer Aufsätze geben und sah meine Vermutung bestätigt. Sie haben sich dafür entschieden, an ihrem Kummer zu wachsen – und um das zu schaffen, braucht es einen sehr starken Charakter.«

Alex bedachte ihren Bruder mit einem stolzen Lächeln. Conners ganzer Kopf glühte – er vertrug Komplimente in etwa so gut wie Mrs. Peters.

»Na, wenn das so ist«, meinte er. »Dann bin ich wohl tiefgründiger, als ich dachte.«

»Sie wären überrascht«, antwortete Mrs. Peters. »Ihre Texte verraten viel über Sie, vermutlich mehr, als Sie preisgeben wollten. Vielleicht erfahren Sie selbst das ein oder andere über sich, sobald Sie sie jetzt noch einmal durchsehen.«

Diese Aussage beunruhigte Conner ein wenig – wie viel von sich hatte er unwissentlich offengelegt? Beim Schreiben war

»Danke, Mrs. Peters«, sagte er. »Und, ganz ehrlich: Sie waren auch immer meine Lieblingslehrerin. Ohne Sie hätte ich niemals Gefallen am Schreiben gefunden.«

 

Mrs. Peters war sehr froh, an diesem Abend unverhofft auf die Bailey-Zwillinge getroffen zu sein. Die Gewissheit, dass sie dazu beigetragen hatte, Alex und Conner zu den wunderbaren und verantwortungsbewussten jungen Erwachsenen zu machen, die sie inzwischen waren, war das größte Geschenk zu ihrer Pensionierung, das sie sich hätte erträumen können. Sie schob den Ordner zurück in ihre Tasche und warf dann einen Blick hinauf zur Wanduhr. Ernüchtert musste sie feststellen, dass die neue Lehrkraft sie mit einer scheußlichen gelben Glitzereinfassung versehen hatte, die wohl an eine Sonne erinnern sollte.

»Ich fasse es nicht: schon nach Mitternacht«, bemerkte Mrs. Peters. »Ich bin vollkommen erschöpft. Wenn Sie beide mich bitte entschuldigen würden; ich denke, ich werde dann mal –«

Mit einer neuerlichen Windböe samt Lichtblitz verschwanden die Zwillinge ins Nichts hinein. Mrs. Peters musste lachen, denn ihr rasanter Abgang bestätigte etwas, wovon sie schon lange aus tiefstem Herzen überzeugt war.

»Schüler«, seufzte sie. »Sie kommen und gehen wie im Flug.«

Das Maskenimperium

In der Luft hing so dichter Rauch, dass der Himmel kaum zu sehen war. Wann immer ein starker Wind die Dunstschwaden zeitweilig vertrieb, zogen aus dem nächsten geplünderten Dorf oder vom jüngsten Waldbrand her neue heran. Tagsüber glich die Sonne einer schwachen Laterne, die durch braunes Packpapier leuchtete; nachts zeigten sich die Sterne längst ebenso selten wie eine glückbringende Sternschnuppe.

Über die Jahre hatte die Märchenwelt zahlreiche schwere Zeiten durchlebt, doch das gegenwärtige Ausmaß an Schrecken überstieg alles. Zum ersten Mal in der Geschichte schien ein glückliches Ende in unerreichbarer Ferne.

Im Verlauf einer einzigen Nacht hatte die Winkiearmee der bösen Hexe des Westens das Königreich des Gläsernen Schuhs und auch das Revier der Trobolde überfallen; ihre fliegenden Affen hatte sie ausgeschickt, um das Reich der Elfen und das

Die Soldaten und Bewohner der einzelnen Reiche, die einst geschlossen die Grande Armée in die Flucht geschlagen hatten, waren diesen Eindringlingen hoffnungslos unterlegen. Ihre Häuser und Städte wurden geplündert und dem Erdboden gleichgemacht, Farmen und Ställe zerstört, dazu das Nutzvieh wie auch sämtliche Pferde geraubt.

Von den Feen wurde angenommen, dass sie allesamt tot waren oder sich versteckt hielten; die Königinnen und Könige hatten ihren jeweiligen Thron verloren, und von ihren Schlössern, Burgen und Palästen waren kaum mehr als Ruinen übrig. Ein Wald nach dem anderen wurde langsam und genüsslich abgebrannt, wodurch den Tieren und Flüchtlingen immer weniger Verstecke blieben.

Das magische Land, wie es einst einmal gewesen war, gab es nicht mehr. Die komplette Märchenwelt war zu einem einzigen großen Imperium vereinigt worden, über das der berüchtigte Maskenmann mit seiner neuformierten Schurkenarmee herrschte.

Die Elfen, Trolle, Kobolde und Menschen aus allen Teilen des Reichs wurden im Nördlichen Königreich zusammengetrieben und dort in die Grube des Schwanensees gleich neben

Zwei Flügeltüren dahinter schwangen auf, und der Maskenmann trat hindurch. Sein gesamter Kopf wurde von einer Maske aus Rubinen und anderen Edelsteinen verhüllt; nur für die Augen waren zwei Schlitze ausgespart. Anstelle der einstigen zerschlissenen Lumpen trug er nun einen maßgeschneiderten Anzug, dazu einen langen schwarzen Umhang mit einem Stehkragen, der finster und bedrohlich über seinen Kopf hinausragte.

Endlich glich er auch äußerlich dem furchteinflößenden Herrscher, der er von Kindesbeinen an hatte werden wollen.

Sein Auftritt wurde mit tumultartigen Schmährufen und Pfiffen quittiert, deren Lautstärke nur noch zunahm, als die Herzkönigin, die böse Hexe des Westens und Captain Hook sich zu ihm auf den Balkon gesellten. Der Maskenmann breitete die Arme aus und badete in dem Lärm, als handelte es sich um donnernden Applaus.

»Na, na, na«, machte er. »Empfangt ihr so etwa euren neuen Kaiser

Diese Betitelung wurde von dem eingepferchten Publikum wenig gnädig aufgenommen. Viele der Bürger hatten Lebensmittel in ihren Kleidern verborgen, ehe sie aus ihren Häusern gejagt worden waren, und statt das Essen aufzusparen,

Die Umstehenden brüllten vor Lachen, und sogar die böse Hexe des Westens konnte sich angesichts der peinlichen Szene ein Kichern nicht verkneifen. Doch der Maskenmann hatte nicht vor, sich schon in seinen ersten Momenten als Kaiser lächerlich machen zu lassen.

»RUHE, ODER ICH BRINGE EUCH ALLE UM!«, brüllte er über den Krater hinweg.

Die letzten Lebensmittel fielen zu Boden, und eine angespannte Stille senkte sich über die Menge im ausgetrockneten See. Der Maskenmann hatte bereits ihre Häuser und Dörfer zerstört – abzuschätzen, wie weit er gehen würde, um sich Respekt zu verschaffen, war unmöglich. Ein geflügelter Affe brachte dem selbstgekrönten Kaiser einen Lappen, und er wischte sich die Essensreste von den Kleidern.

»Von diesem Tag an seid ihr nicht länger Einwohner eurer erbärmlichen Reiche, sondern Eigentum meines Imperiums«, verkündete er. »Jeder zukünftigen Respektlosigkeit werde ich nicht mehr mit dem gleichen Erbarmen begegnen wie eure schwachen Könige und zarten Königinnen. Jeder, der es wagt, mich zu verärgern, wird nicht nur sein eigenes Leben verlieren, sondern zunächst dabei zusehen, wie ich seine gesamte Familie ebenfalls ermorde!«

Etliche Kinder im Seekessel begannen zu weinen, und ihre Eltern drückten sie fest an sich. Es schien, als sollten die schlimmsten Tage noch vor ihnen liegen.

»Ich habe euch alle hier versammelt, damit ihr der Geburt einer neuen Ära beiwohnen könnt«, salbaderte der Maskenmann weiter. »Doch ehe wir in eine neue Zukunft

Der Maskenmann gestikulierte zu einer hölzernen Plattform unter dem Balkon, auf dem Rasen zwischen dem Palast und der Grube des Sees. Ein bemerkenswert hochgewachsener Mann in langem schwarzem Umhang stieg die Stufen des bühnenartigen Aufbaus hinauf und platzierte in seiner Mitte einen großen Holzblock.

Nun zerrte ein Dutzend geflügelter Affen einen Karren hinter dem Palast hervor. Darin verbarrikadiert waren sämtliche ehemaligen Könige und Königinnen des magischen Landes: Cinderella und König Chance, Dornröschen und König Chase, Schneewittchen und König Chandler, Trollbella, Kaiserin Elvina, Rapunzel und Sir William und sogar die kleinen Prinzessinnen Hope und Ash. Sämtlichen Majestäten waren die Hände gefesselt worden, sie trugen Augenbinden und Knebel aus weißen Stoffstreifen.

Der große Mann auf der Plattform zog eine gewaltige silberne Axt aus seinem Umhang. Die Untertanen im ausgetrockneten See brachen in entsetzte Schreie und Rufe aus, sobald ihnen klarwurde, worauf das Spektakel hinauslaufen sollte – der Maskenmann hatte vor, alle königlichen Familien enthaupten zu lassen!

Obwohl sie nichts sehen konnten, verriet der Lärm der panischen Menge den Königinnen und Königen, was sie erwartete. Sie kämpften gegen ihre Fesseln an, doch die Seile saßen zu stramm. Verzweifelt versuchten unterdessen einzelne Bürger, aus der Grube zu klettern, um ihren Herrschern zu Hilfe zu eilen, doch sie wurden zurück in den Schlamm gestoßen. Rings um den See hatten die Spielkartensoldaten Stellung bezogen, einander untergehakt und so eine undurchdringliche Mauer gebildet.

»Fang mit den Männern an – danach sind die Frauen an der Reihe, zuletzt die Kinder«, ordnete der Maskenmann an. »Euer Majestät, ich erteile Euch das Wort …«

Die Herzkönigin trat an die Brüstung des Balkons. Mit weitaufgerissenen Augen und verschlagenem Lächeln gierte sie zu den verzweifelten Adeligen hinunter, als hätte sie einen köstlichen Snack vor sich.

»HEEEERRRRUUUNTER MIT IHREN KÖÖÖÖÖPFEN!«, röhrte sie.

In der Grube des Sees erhob sich lautstarker Protest: Die Frauen flehten verzweifelt darum, die Hinrichtung zu stoppen, während die Männer dem Maskenmann für seine Grausamkeit wüste Beschimpfungen entgegenschleuderten. Derweil drängten sich die verängstigten königlichen Familien zitternd in einer Ecke der Bühne zusammen.

Der Henker sonderte König Chance als erstes Opfer aus; er packte den einstigen Herrscher über das Nördliche Königreich am Arm und schleifte ihn hinüber zu dem Holzblock. Cinderella und Hope schrien darüber verzweifelt durch ihre Knebel hindurch.

Der Mann im dunklen Umhang zwang den König auf die Knie und drückte seinen Kopf auf das Holz. Er hob die Axt über seinen Nacken und schwang sie versuchsweise ein paarmal hin und her. Jedes Mal, wenn das Blatt sich dem Hals des