Daniel Schönpflug
Kometenjahre
1918: Die Welt im Aufbruch
FISCHER E-Books
Daniel Schönpflug, geboren 1969, ist Professor für Geschichte der Freien Universität Berlin und Wissenschaftlicher Koordinator des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Sein Arbeitsgebiet ist die europäische Geschichte des 18. bis 20.Jahrhunderts. Neben seiner Arbeit als Wissenschaftler hat sich Daniel Schönpflug erfolgreich als Vermittler historischen Wissens in die Öffentlichkeit betätigt. Seine hochgelobte Biographie Luise von Preußen- Königin der Herzen stand mehrere Wochen auf den Bestsellerlisten. Als Autor und Koautor zahlreicher Drehbücher ist er an internationalen Koproduktionen beteiligt und hat so das Genre des Dokudramas für die Geschichtsvermittlung weiterentwickelt.
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Die virtuos erzählte Geschichte eines Moments, da in der Welt alles möglich schien und die Zukunft kometenhell erstrahlte- als der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen war und die Menschen in eine neue Zeit aufbrachen
Der 11.November 1918 ist mehr als nur der letzte Tag eines großen Krieges, der die alte Weltordnung in den Abgrund gerissen hat. Dieser Momentsteht auch für die Erleichterung der Menschen weltweit, die Kriegshölle überstanden zu haben, und für die aufkeimenden Hoffnungen auf ein besseres Leben. Kometenhell leuchten neue Möglichkeiten und Träume auf und ziehen einen Schweif von Visionen einer besseren Zeit hinter sich her: Arbeiter- und Frauenrechte werden in Europa gefordert, Kolonialmächte werden u.a. in Indien bekämpft, Träume von erstarkendem Nationalismus stehen gegen die Vision eines vereinten Europa, eine neue Kunst und Kultur, ein neues Denken werden in die Tat umgesetzt. Doch bald zeigt sich, dass die Träume von einer besseren Welt allzu rasch verglühen, sich in rauchende Trümmer verwandeln, die in immenser Geschwindigkeit auf die Erde zurasen.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2017 S.Fischer Verlag GmbH,
Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hißmann, Hamburg
Coverabbildung: Walter Ophey, Komet. Mit freundlicher Genehmigung der Galerie Paffrath, Düsseldorf
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403561-1
Paul Klee, Der Komet von Paris, 1918/58
»Ein Meteor beschreibt seine Bahn, wird in Erdnähe geführt und durch die Anziehungskraft der Erde von seiner Bahn abgelenkt, schneidet auf kurze, kritische Augenblicke die Atmosphäre, wird durch die Reibung mit der Luft glühende Sternschnuppe; entgeht gerade noch der Gefahr, an der Erde für immer haften zu bleiben, und zieht, im leeren Raum erkaltend und wieder erlöschend, weiter dahin.«
Paul Klee,
Vorlesungsmanuskripte, 30. Januar 1922
Am frühen Morgen des 11. November 1918 wird der deutsche Kaiser zwischen zwei Wolkenkratzern in New York aufgehängt. Leblos baumelt der Monarch an einem langen Seil, um ihn schwebt flirrend Konfetti im Sonnenlicht. Freilich ist es nicht Wilhelm II. persönlich, sondern sein Ebenbild, eine überlebensgroße Stoffpuppe, dekoriert mit mächtigem Schnurrbart und Pickelhaube. An deren Spitze bleiben lange, weiße Papierstreifen hängen, die aus den oberen Stockwerken geworfen werden und in majestätischer Langsamkeit in die Straßenschlucht hinabschweben.
Um 5 Uhr morgens amerikanischer Ostküstenzeit ist der Waffenstillstand zwischen den alliierten Mächten und dem Deutschen Reich in Kraft getreten. Die »Hunnen«, wie die Deutschen in Amerika seit Beginn des Krieges genannt werden, sind nach vier Jahren unerbittlichen Kampfes in die Knie gezwungen. Der Erste Weltkrieg, der sechzehn Millionen Menschen auf der ganzen Welt das Leben gekostet hat, ist gewonnen. Die New Yorker haben es in den Morgenzeitungen gelesen und sind zu Tausenden in die Straßen geströmt. Zwischen den Wolkenkratzern wogt ein Meer von Menschen, festlich herausgeputzt, in Anzügen und Melonen, in Sonntagskleidern, in Uniformen und Schwesterntrachten, Schulter an Schulter, Arm in Arm, salutierend, sich um den Hals fallend. Glocken, Salutschüsse, Marschmusik und Fanfaren verbinden sich mit Millionen lachenden, singenden und Sprechchöre skandierenden Stimmen zu einem Donnern wie von gewaltiger Brandung. Automobile, über deren Dächern enthusiastisch Fahnen geschwenkt werden, rollen hupend im Schritttempo durch die Menge. Die Stadt feiert ein improvisiertes Straßenfest mit handgemalten Plakaten, selbsternannten Volkstribunen, Kapellen, ausgelassenen Tänzen auf dem Pflaster. Die Arbeit steht still an diesem Tag des Sieges in New York, der, davon sind die Menschen überzeugt, bald zu Frieden in der Welt führen wird.
Moina Michael ist kurz zuvor von ihrem Dienst als Hausmutter und Lehrerin eines Mädchencolleges in Georgia beurlaubt worden. Seit einigen Wochen arbeitet die stämmige, fast fünfzigjährige Dame in einem Ausbildungscamp des »Christlichen Vereins Junger Frauen« – des weiblichen Pendants der YMCA. In den Gebäuden der Columbia University in Manhattan hilft Michael, junge Frauen und Männer auf ihren Einsatz in Europa vorzubereiten. Wenig später werden die Fähigsten unter ihnen als zivile Helfer über den Atlantik reisen, um dort Versorgungsstationen für Soldaten hinter der Front aufzubauen. Zwei Tage vor dem Waffenstillstand ist Moina Michael eine Ausgabe des Ladies Home Journal in die Hände gefallen, in dem das Kriegsgedicht In Flanders Fields des kanadischen Leutnants John McCrae abgedruckt ist: »Auf Flanderns Feldern wogt der Mohn / Zwischen den Kreuzen …« Die Seite ist reich verziert mit heroischen Soldatenfiguren, die den Blick zum Himmel richten. Sie liest gebannt bis zur letzten Zeile, in der McCrae das Bild von einem sterbenden Soldaten beschwört, dessen schwächer werdende Hände den Überlebenden die Fackel des Kampfes weiterreichen. Während die Worte und Bilder in ihrem Inneren nachklingen, ist ihr, als wäre das Gedicht für sie geschrieben, als sprächen die Stimmen der Toten durch die Zeilen direkt zu ihr. Sie ist gemeint! Sie muss ihre Hand ausstrecken und die sinkende Fackel von Frieden und Freiheit ergreifen! Sie muss das Werkzeug von »Treue und Glauben« werden, und sie muss dafür Sorge tragen, dass die Erinnerung an Millionen Opfer nicht verblasst, dass sie nicht umsonst gekämpft haben und dass ihr Tod nicht sinnlos war!
So tief berührt ist Moina von dem Gedicht und ihrer Mission, dass sie einen Bleistift zur Hand nimmt und auf einem gelben Briefumschlag ihre eigenen Zeilen an den Mohn, »an die Blume, die über den Toten blüht«, niederschreibt. Wie in einem gereimten Schwur gelobt sie, die »Lektion aus den Feldern von Flandern« an die Überlebenden weiterzugeben: »Jetzt tragen wir die Fackel und die rote Mohnblüte / zu Ehren unserer Toten. / Fürchtet nicht, dass Ihr umsonst gestorben seid; / wir werden die Lektion weitergeben, die ihr geschmiedet habt / in Flanderns Feldern.«
Während sie diese Worte zu Papier bringt, tritt eine Abordnung von jungen Männern an ihren Schreibtisch. Zehn Dollar haben sie als Dank für Moinas Unterstützung bei der Ausstattung ihres YMCA-Quartiers gesammelt. Als sie den Scheck entgegennimmt, fügt sich plötzlich alles in ihrem Kopf zusammen: Sie will es nicht bei Worten belassen, und seien sie noch so schön gereimt. Das Gedicht soll Wirklichkeit werden! »Ich werde rote Mohnblüten kaufen. (…) Ich werde von jetzt an immer rote Mohnblüten tragen«, verkündet sie den verblüfften Männern. Dann zeigt sie ihnen McCraes Gedicht, und nach kurzem Zögern liest sie ihnen auch ihr eigenes vor. Die Männer sind begeistert. Sie wollen sich auch Mohnblüten an die Kleider stecken, und Moina verspricht, ihnen welche zu besorgen. So verbringt sie die verbleibenden Stunden bis zum Waffenstillstand damit, in den New Yorker Geschäften nach künstlichen Mohnblüten zu suchen. Es stellt sich heraus, dass es im reichen Angebot der Weltmetropole zwar künstliche Blumen in allen Farben und Formen gibt, doch die Auswahl an der in den Gedichten besungenen klatschroten Spezies Papaver rhoeas ist begrenzt. Bei Wanamaker’s, einem der turmhohen New Yorker Warenhäuser, wo es von Kurzwaren bis hin zu Automobilen einfach alles und sogar eine kristallene Teestube gibt, wird sie schließlich fündig. Sie ersteht eine große Kunstmohnblume für ihren Schreibtisch und zwei Dutzend kleine vierblättrige Seidenblüten. Zurück bei der YMCA, heftet sie die Blüten an die Revers der jungen Männer, die bald zu ihrem Dienst nach Frankreich aufbrechen werden. Es ist der bescheidene Anfang des Siegeszugs eines Symbols. Wenige Jahre später schon sollen die Remembrance Poppies in der gesamten englischsprachigen Welt zum Inbegriff der Erinnerung an die Toten des Weltkriegs werden.
Der Mohnblütenkult ist aus einem außergewöhnlichen historischen Augenblick geboren, in dessen weltumspannender Gegenwart Millionen Menschen feierten, innehielten, trauerten oder Rache schworen. Doch aus dem Moment heraus verweisen die Mohnblüten in die Vergangenheit, und ebenso in die Zukunft. Sie mahnen einerseits, sich einer gerade erst vergangenen Wirklichkeit zu stellen, sie nicht zu vergessen. In diesem Sinne sind sie Teil einer weltweiten Gedenkkultur, in deren Rahmen Zeremonien abgehalten, Denkmäler errichtet und in Schulen, Behörden und Kasernen die Namen der Gefallenen in Steintafeln gemeißelt werden. Andererseits weist Moina Michaels Idee auch nach vorn, denn für sie bedeuten das vergossene Blut und die massenhaften Opfer eine Verpflichtung für das Kommende: Auf den Gräbern sollen Blumen blühen, so ihre zunächst naive, aus einer spontanen Eingebung und ihrer tiefen Religiosität geborene Zukunftshoffnung. Nicht nur für sie, sondern für viele Zeitgenossen wirft das Kriegsende die drängende Frage nach der Zukunft auf. Es setzt Visionen eines besseren Lebens frei, aber auch Ängste; es gebiert umstürzlerische Ideen, Träume und Sehnsüchte, aber auch Alpdrücke.
Paul Klee hat 1918 in seinem gleichermaßen ironischen wie emblematischen Bild Der Komet von Paris genau jene Zwischenstellung zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Realität und Projektionen aufs Korn genommen. Die aquarellierte Federzeichnung des Soldaten der Königlich Bayerischen Fliegerschule zeigt bei näherem Hinsehen nicht einen, sondern zwei Kometen: einen grünen mit einem langen geschwungenen Schweif und einen zweiten in der Form eines Davidsterns. Beide umkreisen den Kopf eines Seiltänzers, der, eine Stange in den Händen haltend, hoch über dem Pariser Eiffelturm auf einem unsichtbaren Seil balanciert. Es ist eines von vielen Blättern Paul Klees aus dieser Zeit, die Gestirne über Städten zeigen, und wie so häufig betätigt sich der Künstler als »Illustrator von Ideen«. In der Zeichnung erscheint das ferne Paris – Hauptstadt des Feindes, aber Heimat der Kunst – als ein modernes Bethlehem. Gleichzeitig gilt der Komet – seit jeher und auch in der fragilen, aufgeladenen Atmosphäre des frühen 20. Jahrhunderts – als Zeichen des Unvorhersehbaren, als ein Vorbote von großen Ereignissen, tiefgreifenden Veränderungen, gar Katastrophen. Er steht für das Aufleuchten ungeahnter Möglichkeiten am Horizont, für unbekannte Zukünfte. Die kleine Schwester des Kometen, die Sternschnuppe, lädt zum Wünschen ein. Eine verwandte Himmelserscheinung jedoch, der Meteorit, der auf die Erde stürzt, erschreckt durch seine Zerstörungskraft. Die Welt hatte zuletzt im Jahr 1910 innerhalb weniger Monate den Durchgang des Johannesburger und des Halleyschen Kometen erlebt, und die Ängstlichen unter den Erdenbürgern aller Kontinente hatten sich auf den Weltuntergang vorbereitet. Dies und die Berichte über den Einschlag des Himmelskörpers »Richardton« in North Dakota vom 30. Juni 1918 mögen Klee zu diesem Blatt inspiriert haben.
Klees Seiltänzer balanciert auf halbem Weg zwischen dem irdischen Wunderwerk, dem Eiffelturm, und den gleichermaßen verheißenden wie bedrohlichen Himmelskörpern. Er hält sich in der Schwebe, gehört keiner der Sphären ganz an, hat den Kopf in den Wolken und ist doch immer in Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren und abzustürzen. Mit den um seinen Kopf tanzenden Sternen sieht er mehr wie ein Betrunkener als wie ein Beseelter aus. Fast scheinen seine verdrehten Augen anzudeuten, dass ihn die Leuchtkörper, die seine Stirn umkreisen, schwindlig und so den Absturz wahrscheinlicher machen.
So gelingt Paul Klee mit dem Blatt Der Komet von Paris ein ironisierendes Sinnbild für das Leben im Jahr 1918, das zwischen Enthusiasmus und Defätismus vibriert, zwischen Hoffnungen und Befürchtungen, zwischen hochfliegenden Visionen und harten Realitäten. Wer an die Zeichenhaftigkeit von Kometen glaubte, der konnte den 11. November 1918, den Tag des Waffenstillstands, an dem das alte Europa gleichzeitig in Trümmern lag und feierte, in dessen unmittelbarem Umfeld Revolutionen stattfanden, große Reiche stürzten und die Weltordnung ins Wanken geriet, als das Eintreffen stellarer Prophezeiungen deuten. Gleichzeitig fiel in diesem Moment des Umbruchs ein Sternschnuppenregen von Zukunftsentwürfen. Selten erschien die Geschichte so offen, so kontingent, so in Menschenhand gelegt. Selten schien es so nötig, die Schlüsse aus den Fehlern der Vergangenheit rasch in Konzepte für die Zukunft umzumünzen. Selten schien es, angesichts einer Welt im Umbruch, so unvermeidlich, sich einzubringen und für seine Visionen zu kämpfen. Neue politische Ideen, eine neue Gesellschaft, eine neue Kunst und Kultur, ein neues Denken wurden entworfen. Ein neuer Mensch, der Mensch des 20. Jahrhunderts, geboren in den Feuern des Krieges und befreit von den Fesseln der alten Welt, wurde proklamiert. Wie Phönix sollte sich Europa, ja die ganze Welt aus der Asche erheben. So schnell drehte sich das Karussell der Möglichkeiten, dass viele Zeitgenossen von einem Schwindelgefühl erfasst wurden.
Die Menschen, von denen auf den folgenden Seiten die Rede ist, sind allesamt Seiltänzer. Ihre ganz subjektive Sicht auf das Geschehen ist ihren Selbstdarstellungen in Autobiographien, Memoiren, Tagebüchern und Briefen entnommen. Die Wahrheit dieses Buches ist die Wahrheit dieser Dokumente. Sie kann mit derjenigen der Geschichtsbücher kollidieren, und manchmal lügen unsere Augenzeugen sogar. Sie erleben staunend das Aufleuchten von Träumen am Firmament, aber auch deren rasches Verglühen und den Aufprall ausgekühlten kosmischen Gesteins in der Wirklichkeit. Tastend schreiten sie voran auf jenem schmalen Grat, der über den Abgrund führt. Manchen gelingt es, so wie Moina Michael, in der Höhe die Balance zu halten, andere stürzen ab wie Kaiser Wilhelm II., für den das dünne Seil – zumindest in effigie – zum Galgenstrick wird.
Gleichzeitig zeigen die dokumentierten Erlebnisse und Erinnerungen der Zeitgenossen auch die fast unerträgliche Spannung, mit der die Nachkriegszeit aufgeladen ist. Denn Visionen, Träume und Sehnsüchte beflügeln die Menschen im Umbruch zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert nicht nur, sondern entzweien sie zugleich. Manche Zukunftsentwürfe stehen diametral gegeneinander, schließen einander – so behaupten es zumindest viele der neuen Heilsverkünder – gar aus und können nur in der Zerstörung des jeweils anderen realisiert werden. So erzeugt das erbitterte Ringen um die bessere Zukunft statt des sehnsüchtig erwarteten Friedens neue Gewalt, und es fordert neue Opfer.
»Ob rechts, ob links,
vorwärts oder rückwärts,
bergauf oder bergab –
man hat weiterzugehen,
ohne zu fragen,
was vor oder hinter einem liegt.
Es soll verborgen sein:
ihr durftet, musstet es vergessen,
um die Aufgabe zu erfüllen.«
Arnold Schönberg, Die Jakobsleiter, 1917
Die Dämmerung ist bereits über die belgische Landschaft gesunken, als sich am Nachmittag des 7. November 1918 eine Kolonne aus fünf schwarzen Staatskarossen im deutschen Hauptquartier in Spa in Bewegung setzt. In der letzten Karosse sitzt Matthias Erzberger, dreiundvierzig Jahre alt, korpulent, Nickelbrille über akkurat gestutztem Schnauzer, das Haar penibel in der Mitte gescheitelt. Die Regierung des Deutschen Reichs hat den Staatssekretär mit einer dreiköpfigen Delegation auf Mission ins Feindesland geschickt. Mit einer Unterschrift soll er einen Krieg beenden, der mehr als vier Jahre gedauert und fast den ganzen Erdball erfasst hat.
Um 9 Uhr 20 abends, inzwischen hat ein feiner Regen eingesetzt, passiert die Kolonne nahe beim nordfranzösischen Örtchen Trelon die deutsche Frontlinie. Hinter der letzten Reihe der deutschen Schützengräben, von denen aus bis eben noch die französischen Truppen unter tödliches Feuer genommen wurden, beginnt das Niemandsland. Im Schritttempo schleicht die Kolonne, sich in der Dunkelheit vorantastend, auf die feindlichen Linien zu. Auf das erste Auto ist eine weiße Fahne gepflanzt. Ein Trompeter bläst regelmäßig kurze Signale. Die vereinbarte Waffenruhe hält; kein Schuss fällt während der Fahrt der Abgesandten durch das umkämpfte Terrain bis zu den vordersten französischen Schützengräben, die nur einhundertfünfzig Meter von den deutschen entfernt sind. Den Empfang auf der anderen Seite erlebt Erzberger als kühl, aber respektvoll; auf die bei solchen Gelegenheiten übliche Augenbinde für die Unterhändler wird verzichtet. Zwei Offiziere geleiten die Wagen in das Örtchen La Chapelle, wo bei der Ankunft Soldaten und Zivilisten zusammenströmen und die Abgesandten des Feindes mit Händeklatschen und einer laut gerufenen Frage empfangen: »Finie la guerre?«
Mit französischen Karossen geht Erzbergers Fahrt weiter. Wo der Mond zwischen den Wolken hindurchscheint, fällt sein fahles Licht auf ein apokalyptisches Panorama. Die Picardie, vier Jahre lang Schauplatz des Weltkriegs, hat sich in ein Totenreich verwandelt. An den Straßenrändern rosten zerstörte Geschütze und Wracks von Militärfahrzeugen. Daneben verwesen Tierkadaver. Auf den Feldern wuchert Stacheldraht. Der Boden ist von tausendfachen Explosionen aufgerissen, verseucht von Tonnen scharfer Munition, verpestet vom Geruch der unzähligen Leichen, vom Gas. Regen sammelt sich in Schützengräben und Granattrichtern. Von den Wäldern sind nur verkohlte Baumstümpfe geblieben, deren Silhouetten sich gegen den Nachthimmel abzeichnen. Die Kolonne durchquert Dörfer und Städte, die von deutschen Truppen auf ihrem Rückzug dem Erdboden gleichgemacht wurden. Über das Örtchen Chauny berichtet Erzberger erschüttert: »Kein einziges Haus stand mehr; eine Ruine reihte sich an die andere. Bei Mondschein ragten die Überreste gespensterhaft in die Luft; kein Lebewesen zeigte sich.«
Die von der französischen Armeeführung bestimmte Route des deutschen Emissärs führt durch jene Gebiete im Norden Frankreichs, die unter dem Krieg am meisten gelitten haben und die so aussehen, als hätte ein Meteor eingeschlagen. Der grausige Anblick der später auf Landkarten als »rote Zone« ausgewiesenen Landstriche soll Erzberger auf die bevorstehenden Waffenstillstandsverhandlungen einstimmen. Jene Areale, in denen nach Ansicht der damaligen Fachleute nie wieder Landwirtschaft möglich sein würde, sollen ihn daran gemahnen, was die Deutschen den Franzosen angetan haben. Der Zivilist Erzberger wird die Kriegswüsten Nordfrankreichs, die ein zentrales Argument der Kriegspropaganda sind, vermutlich vorher schon auf Fotografien, in Zeitungen, auf Postkarten und in den Wochenschauen gesehen haben. Als gebildeter und interessierter Mann hat er gewiss den Weltkriegsroman Das Feuer von Henri Barbusse gelesen, in dem die »Felder der Sterilität« in eindringlichen Worten beschrieben werden. Vielleicht kennt er auch einige der zahlreichen Gemälde seiner Zeit, die sich einer ganz neuen Form der Landschaftsmalerei zugewandt haben: So hat der Brite Paul Nash seine Kriegserlebnisse zu einem ikonischen Werk verarbeitet, in dem er über einem gänzlich zerschossenen Wald eine fahle Sonne aufgehen lässt. We are Making a New World ist der Titel des Gemäldes, das zwischen Sarkasmus und Hoffnung changiert. Doch die trostlosen Wüsten, das verheerende Erbe des Weltkriegs, mit eigenen Augen zu sehen ist etwas anderes: »Diese Fahrt«, schreibt Erzberger in seinen Erinnerungen, »war für mich noch erschütternder als die drei Wochen zuvor ausgeführte an das Sterbebett meines einzigen Sohnes.«
Der amerikanische Offizier Harry S. Truman hat sich schon länger an den Anblick der Kriegslandschaften gewöhnt. Er beschreibt sie seiner Freundin Bess Wallace in einem Brief: »Bäume, die einst ein schöner Wald waren, sind jetzt Stümpfe mit nackten Zweigen, die sie ausstrecken und die sie wie Geister aussehen lassen. Der Boden besteht nur aus Granattrichtern. (…) Dieses verwüstete Land muss einst so kultiviert und schön wie der Rest Frankreichs gewesen sein, jetzt würden die Sahara oder Arizona wie der Garten Eden daneben aussehen. Wenn der Mond hinter diesen Bäumen aufgeht, von denen ich erzählt habe, dann kann man sich vorstellen, wie die Geister der halben Million Franzosen, die hier geschlachtet wurden, eine traurige Parade zwischen den Ruinen abhalten.«
Truman, ein Farmer aus Missouri, im Weltkrieg Offizier einer Artillerieeinheit, befindet sich einhundertfünfzig Kilometer östlich von der Ruinenstadt Chauny, die Matthias Erzberger in jener Nacht des 7. November 1918 durchfährt. In den hügeligen Wäldern der Argonnen, wo Truman seit Ende September 1918 im Einsatz gestanden hat, wüten die letzten Schlachten des Krieges zwischen dem Deutschen Reich und den Alliierten. Der französische Oberbefehlshaber Marschall Foch hat die bewaldeten Hügel im Dreieck zwischen Frankreich, Deutschland und Belgien zum Schauplatz der entscheidenden Offensive bestimmt. Die »Siegfriedstellung«, von den Alliierten auch »Hindenburglinie« genannt, die letzte ausgebaute Verteidigungsposition der deutschen Armee, ist schon in den ersten Tagen der Offensive Ende September 1918 gefallen. Doch die französische Armee und die American Expeditionary Forces, die größte Streitmacht, welche die USA bis dahin in einen Krieg außerhalb des Landes geschickt haben, rücken unerbittlich weiter nach Osten vor, in Richtung Rhein. In seinem Unterstand nahe Verdun schreibt Truman: »Die Aussicht ist trostlos. Franzosen sind in meinem Vorgarten begraben und Hunnen hinter meinem Haus, und beide sind über die Landschaft verstreut, so weit das Auge reicht. Immer wenn eine deutsche Granate in ein Feld westlich von hier einschlägt, dann gräbt sie ein Stück von jemandem aus. Gut, dass ich nicht an Gespenster glaube.«
Wilhelm von Preußen, Thronfolger des Deutschen Reichs, trug, anders als der Kaiser, keinen Bart. Wie um sich von der übergroßen Vaterfigur abzugrenzen, zeigte er unter der Nase, wo beim Kaiser eine stolze Gesichtsbehaarung in Form eines im Sturzflug befindlichen Reichsadlers prangte, nur glattrasierte Haut. Im Vergleich zur imposanten Erscheinung Wilhelms II. sah der Kronprinz damit, selbst im höheren Alter, immer ein wenig jungenhaft, ein wenig nackt aus. Aber so musste der im Potsdamer Marmorpalais geborene älteste Sohn der preußischen Hohenzollern nicht wie Tausende deutscher Soldaten – unter anderem auch Adolf Hitler – seine Gesichtszierde stutzen, als diese sich mit der Einführung des Gaskriegs und der Gasmaske als Quelle tödlicher Gefahr entpuppte. Im Jahr 1918, mit sechsunddreißig Jahren, leitete Wilhelm von Preußen die Heeresgruppe Deutscher Kronprinz, die zu diesem Zeitpunkt noch aus vier Armeen bestand. Dass er sie leitete, hieß allerdings nicht, dass er sie tatsächlich kommandierte. Streng hatte ihm der Vater, der ihn seit Kindesbeinen nur von der Ferne am Regierungsgeschäft teilhaben ließ, eingeschärft, sämtliche Entscheidungen dem Generalstabschef Graf Friedrich von der Schulenburg zu überlassen. Von ihm sprach der Kronprinz daher doppeldeutig als »mein Chef«. Seit dem Sommer 1918, in dem die letzte deutsche Offensive ins Stocken geriet, befand sich indes die Heeresgruppe Deutscher Kronprinz in kontinuierlicher Rückwärtsbewegung.
Im September 1918 kommen dem Kronprinzen angesichts der unverminderten Wucht der alliierten Angriffe zum ersten Mal Zweifel am deutschen Sieg: »Wir hatten das Empfinden, im Hochpunkt der konzentrischen feindlichen Offensive zu stehen und (…) im großen und ganzen bei Hingabe aller Kräfte doch noch standzuhalten. (…) Wie lange noch?« Wenig später, bei einem Besuch der von seinem Bruder Eitel Friedrich kommandierten ersten Garde-Division, muss er sich endgültig eingestehen, dass der deutsche Kampf gegen die alliierten Verbände inzwischen hoffnungslos ist. Der sonst so optimistische Fritz empfängt ihn grau und gramgebeugt. Seine ganze Division besteht aus nur noch fünfhundert Mann. Die Verpflegung der Soldaten ist miserabel. Die Geschütze sind »ausgeschossen«, Ersatz wird nicht mehr geliefert. Zwar sind die Angriffe der amerikanischen Infanterie, die »ganz unkriegsmäßig« in Kolonnen erfolgen, mit flächendeckendem Maschinengewehrfeuer in den Griff zu bekommen. Aber mit der neuesten Waffentechnologie der Alliierten, den Panzern, haben die deutschen Truppen große Schwierigkeiten. Amerikanische Panzerbrigaden überrollen die deutschen Schützengräben, die nur noch alle zwanzig Meter von einem Mann besetzt sind, und nehmen sie dann von hinten unter Beschuss. Auch scheinen die Amerikaner, im Gegensatz zu den Deutschen, über unerschöpfliche Reserven an schwerer Artillerie und an Männern zu verfügen. Jeder ihrer Angriffe wird von so heftigem Feuer vorbereitet, wie es dies selbst in Verdun und an der Somme nicht gegeben hat. Die Prinzenbrüder waren aufgewachsen mit Geschichten von soldatischem Heldentum, von Feldern der Ehre, auf denen sich Aufstieg und Fall ganzer Reiche entschieden, von Feldherren, die ihren Truppen mit gezogenem Säbel und wehendem Federbusch voranritten, und finden sich nun inmitten von grauer Logistik und blutrotem Fleisch.
Angesichts der Übermacht des Gegners beschleicht Wilhelm ein Gefühl der Ohnmacht. Ermüdet, schlecht ausgestattet, mit abgenutzten Waffen und knapper werdender Munition stemmen sich die ihm verbliebenen Soldaten – diejenigen, die nicht die Kriegsgefangenschaft dem Tod vorgezogen haben – gegen die anstürmenden Feinde. Jeder feindliche Angriff verstärkt das Gefühl der Machtlosigkeit. »Die Lüfte bebten im Feuer, ein dumpfes Schlagen, Brüllen, Rollen, das nicht wieder schwieg.« Ende September ist dem Kronprinzen klar, dass es nicht mehr lange so weitergehen kann: »Wo lag in den von Hunger, Qualen und Entbehrungen verwirrten Köpfen dieser Männer, die tausendmal ihr Leben tapfer für das Vaterland eingesetzt hatten, jetzt die Grenze zwischen Können und Wollen?«
Alvin C. York war nach langem Zweifeln zur amerikanischen Infanterie gekommen. Der Naturbursche, hochgewachsen, rothaarig, breitschultrig, stammte aus dem Dorf Pall Mall in den Bergen Tennessees und war gläubiger Methodist. Die Bibel galt für ihn Wort für Wort, und das fünfte Gebot – »Du sollst nicht töten« – war ihm heiliges Argument gegen den Dienst an der Waffe. Als York der Einberufungsbefehl zugestellt wurde, stürzte ihn dies in tiefe Zerrissenheit zwischen seinen Pflichten als Christ und seinen Pflichten als Amerikaner. Immer wieder las er in der Heiligen Schrift, auf der Suche nach Passagen, die ihm Orientierung bieten konnten. Er betete, sprach mit seinem Pastor und kam schließlich zu dem Schluss, die Entbindung von der Kriegspflicht zu beantragen. Seine schriftliche Begründung war schlicht: »Ich möchte nicht kämpfen.« Doch seine Gesuche wurden abgelehnt, und schließlich fügte sich York in das Unvermeidliche, hoffend, dass er nicht bei der kämpfenden Truppe eingesetzt würde. Seine Ausbildung erhielt er im Camp Gordon in Georgia, dann reiste er über New York nach Boston, wo er sich am 1. Mai 1918 um 4 Uhr morgens einschiffte. York, der bis dahin seine heimatlichen Berge nie verlassen hatte, kreuzte nun den großen Ozean auf dem Weg in einen Krieg im fernen Europa. Heimweh, Seekrankheit und die Angst, vom Torpedo eines deutschen U-Boots getroffen zu werden, machten die Überfahrt zu einer qualvollen Erfahrung: »Es war zu viel Wasser für mich.«
Nach einer Zwischenlandung in England erreichte York am 21. Mai 1918 die französische Hafenstadt Le Havre an der Kanalküste. Dort wurden Waffen und Gasmasken ausgegeben: »Das brachte den Krieg eine ganze Ecke näher«, erinnerte er sich später. Ab Juli 1918 diente seine Einheit unter französischem Oberkommando, zunächst in ruhigen Abschnitten der Front, um Erfahrung zu sammeln. Die erste Schlacht erlebte York in den Tagen nach dem 12. September, beim Vorstoß auf St. Mihiel. Die verlustreiche Auseinandersetzung endete mit einem amerikanischen Sieg, und sie war von weltpolitischer Bedeutung: Es war das erste Mal, dass das US-Expeditionsheer unter dem Kommando des amerikanischen Generals John Pershing selbständig agierte. Seit dem Kriegseintritt der USA hatten die amerikanischen Truppen stets dem französischen Kommando unterstanden. So steht St. Mihiel für ein neues amerikanisches Selbstverständnis, und zugespitzt könnte man sagen, dass Amerika in diesem nordfranzösischen Örtchen begonnen hat, eine Rolle auf der Weltbühne zu spielen.
Anfang Oktober wird Yorks Einheit in die Argonnen verlegt, zehn Tage nachdem dort die entscheidende Schlussoffensive begonnen hat. Nun sieht auch er die zerklüfteten Kriegslandschaften, die ihm scheinen, »als hätte ein fürchterlicher Wirbelsturm durch sie hindurchgefegt«. Schon auf dem Vormarsch zur Front hängt Yorks Leben am seidenen Faden. Die Deutschen bombardieren die Heerstraßen, und deutsche Flugzeuge richten ihre Maschinengewehre aus der Luft auf die marschierenden Truppen. Den 7. Oktober verbringt York in der Deckung eines Granattrichters am Straßenrand nahe dem Dörfchen Chatel-Chéhéry. In unmittelbarer Nähe fällt Geschossregen, der seine Kameraden zerfrisst. Schreiende Verwundete werden von Sanitätern auf Bahren vorbeigetragen. Tote mit offenen Mündern und starren Augen bleiben unbeachtet am Straßenrand liegen. Dazu der andauernde Regen, der das schützende Erdloch zu füllen beginnt.
Am 8. Oktober, um 3 Uhr morgens, kommt der Befehl zu Yorks gefährlichstem Kriegseinsatz. Um 6 Uhr soll von der nahe gelegenen »Höhe 223« aus eine von den Deutschen zum Nachschub genutzte Eisenbahnlinie eingenommen werden. York setzt sich inmitten seiner Truppe in Bewegung, die – mit den Gasmasken vor dem Gesicht – durch Regen und Schlamm vorwärtsstapft. Um 6 Uhr 10 beginnt mit leichter Verspätung der Angriff. Ein Grabenmörser soll die Deutschen in Schach halten. Doch das Tal, in das die Amerikaner im Laufschritt vorrücken, wird zur Todesfalle. Von einer versteckten Stellung aus wird die Senke mit Maschinengewehrfeuer bedeckt. Die erste Welle der Angreifer fällt wie »Gras unter der Mähmaschine«. Die Überlebenden ducken sich so tief wie möglich hinter jedes Hindernis, jede Bodenwelle, gar hinter ihre Kameraden, um Deckung zu finden. Unmöglich, im Kugelhagel auch nur den Kopf zu heben. Als offensichtlich wird, dass angesichts solchen Feuers der Frontalangriff chancenlos ist, fasst der Offizier, unter dessen Kommando Alvin York steht, einen neuen Plan. Er befiehlt den Überlebenden aus drei Gruppen, sich rückwärts zu bewegen. Siebzehn Männer, darunter auch York, kriechen mit den Füßen voran und arbeiten sich dann seitlich durch dichtes Unterholz direkt in Richtung auf die knatternden Mündungen vor.
Bis auf wenige Steinwürfe an ihr Ziel herangekrochen, stoßen die amerikanischen Soldaten unvermittelt auf eine Lichtung, in der gut ein Dutzend deutsche Soldaten gerade ihr Frühstück einnehmen. Die Deutschen haben Waffen und Helme abgelegt. Beide Seiten sind von dieser unerwarteten Begegnung gänzlich überrascht und erstarren für einen Moment wie vom Donner gerührt. Doch die Amerikaner halten ihre Waffen im Anschlag, während die Deutschen in Hemdsärmeln dasitzen und kauen. Außerdem glauben die Soldaten des Deutschen Reichs es mit dem Vortrupp eines größeren amerikanischen Verbands zu tun zu haben. Sie strecken die Hände in die Luft, um sich zu ergeben.
Rasch jedoch haben die deutschen MG-Schützen die Lage erkannt und drehen die tödlichen Mündungen ihrer Gewehre in Richtung der Szene. York sieht sechs seiner Kameraden im Kugelhagel sterben. »Corporal Savage (…) muss über hundert Kugeln in seinem Körper gehabt haben. Seine Kleider waren komplett zerfetzt.« Deutsche und Amerikaner werfen sich zu Boden; die Angreifer suchen Schutz zwischen den Körpern der Angegriffenen. York liegt kaum zwanzig Meter vom deutschen Maschinengewehrnest entfernt. Im Kugelhagel verlässt sich der Jäger aus den Bergen von Tennessee auf sein gutes Auge und seine ruhige Hand. Wann immer ein Deutscher den Kopf aus der Deckung steckt, versetzt er ihm eine sauber gezielte Kugel. Wie beim Truthahnschießen bei den heimischen Schützenfesten sei es gewesen, nur dass die Ziele hier größer gewesen seien.
Schließlich springt ein deutscher Offizier mit fünf Soldaten aus dem Schützengraben. Der Stroßtrupp stürmt mit aufgepflanzten Bajonetten auf York zu. Doch auf den wenigen Metern bis zu seiner Position streckt er die Männer einen nach dem anderen mit der Pistole nieder. Er beginnt mit dem hintersten, damit die vorderen ihm weiter in die Schusslinie laufen.
Inzwischen hat York über zwanzig deutsche Soldaten getötet und schreit dem Rest zu, sie sollten sich ergeben. Ein deutscher Major bietet ihm an, seine Kameraden zum Aufgeben zu bewegen. Seine Pfeife schrillt, und die Deutschen kommen, einer nach dem anderen, aus ihrem Graben, werfen ihre Waffen fort und heben die Hände. York lässt Zweierreihen bilden. Seine verbleibenden Männer werden zur Bewachung abgestellt, und nun beginnt der Rückmarsch, bei dem sie doppelter Gefahr ausgesetzt sind: Einerseits gibt es weitere deutsche Stellungen in unmittelbarer Nähe, andererseits besteht die Möglichkeit, dass die lange Reihe marschierender Soldaten für einen deutschen Gegenangriff gehalten und von den Amerikanern beschossen wird. Doch York bringt die Gefangenen – und weitere, die ihm unterwegs in die Hände fallen – ins Quartier zurück. Dort werden die Besiegten gezählt. Es sind 132, die der einstige Pazifist York fast im Alleingang gefangen genommen hat.
Während dieser letzten entscheidenden Offensiven an der Westfront, die noch mehr als einer Million Soldaten Freiheit, Gesundheit oder Leben kosten sollten, haben sich die Räder der internationalen Diplomatie längst in Gang gesetzt, um die Möglichkeit eines Kriegsendes auszuloten. Bereits am 4. Oktober sandte die deutsche Regierung ein Telegramm nach Washington an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, Woodrow Wilson, in dem sie ihn um Verhandlungen über einen Waffenstillstand ersuchte. Es war ein taktisches Manöver mit dem Ziel, dem mit versöhnlichen Worten auftretenden amerikanischen Staatsoberhaupt eine prägende Rolle im Friedensprozess zu verschaffen und damit einen Gegenpol zu den europäischen Westmächten zu gewinnen, insbesondere zu Frankreich, das nichts sehnlicher wünschte, als den »Erzfeind« für seine Aggression hart zu bestrafen. Wilson hingegen hatte bereits am 8. Januar 1918 in einer Rede vor dem Kongress der Vereinigten Staaten vierzehn Punkte angeführt, welche die amerikanischen Kriegsziele und die Grundlagen für eine zukünftige Friedensordnung formulierten: Er hatte öffentliche Friedensverhandlungen verlangt, Freiheit der Meere, Handelsfreiheit, Rüstungsbegrenzung, eine abschließende Regelung kolonialer Ansprüche. Die durch den Krieg verflüssigten Grenzen in Europa und dem Nahen Osten sollten, so der amerikanische Präsident, durch den Rückzug der deutschen Truppen und eine neue territoriale Ordnung stabilisiert werden. Ein Bund von Nationen, die gegenseitig für ihre Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit bürgten, sollte gegründet werden. Später fügte Wilson noch die Forderung hinzu, dass Deutschland eine Parlamentarisierung seines politischen Systems bewerkstelligen müsse; dazu gehörte für ihn auch die Abdankung des deutschen Kaisers. Diese Initiative, die dem amerikanischen Präsidenten im Jahr 1919 den Friedensnobelpreis einbringen sollte, war nicht mit den europäischen Verbündeten abgesprochen. Die Vereinigten Staaten von Amerika hielten sich nun, da sie ihren Zoll im großen Krieg bezahlten, für berechtigt, dem Kreis der Weltmächte nicht nur anzugehören, sondern ihm voranzuschreiten.
Die Festlegung der militärischen Einzelheiten des Waffenstillstands hatte Wilson den alliierten Militärführern überlassen. So kam es, dass der französische Marschall Ferdinand Foch, Oberbefehlshaber der alliierten Truppen, am 1. November 1918 in Paris den Regierungsvertretern der wichtigsten Gegner Deutschlands seine Vorstellungen von einem Waffenstillstand darlegte. Es müsse, so Foch, ein Waffenstillstand sein, der einer Kapitulation gleichkomme. Nur so sei der Krieg ohne jene letzte tödliche Entscheidungsschlacht zu gewinnen, auf die er innerlich so lange gebrannt hatte. Vor allem sei es unverzichtbar, in den bevorstehenden Verhandlungen auf der Besetzung des rechten Rheinufers zu bestehen. Im Schutz des Rheins und einer Waffenruhe wären die Deutschen sonst in der Lage, ihre Truppen zu sortieren und so entweder einen neuen Angriff zu führen oder zumindest die bevorstehenden Friedensverhandlungen unter erheblichen Druck zu setzen. Auch für Foch spielten Kriegslandschaften eine zentrale Rolle. Doch hatte er nicht die Geisterwälder im Sinn, die der Krieg hinterlassen hatte, sondern jene »gerichtete Landschaft«, über die Kurt Lewin 1918 schrieb. Der Berliner Sozialpsychologe zeigte, wie die Strategien militärischer Auseinandersetzungen die Natur mit Grenzen und Richtungen, mit Zonen und Korridoren, mit »vorne« und »hinten« versahen. Dies war exakt die Vorstellung, die sich Ferdinand Foch von Landschaft machte. In seinem Hauptquartier, das eher der Zentrale einer großen Firma oder einem Ingenieurbüro ähnelte als einem Feldherrenhügel, verwaltete er den Raum und wies ihm menschliche und taktische Ressourcen zu. Derart in Begriffen militärischer Logistik denkend, beharrte Foch darauf, mit der alliierten Armee den Rhein zu überschreiten. Für ihn war es eine Frage von Massen und Möglichkeiten. Würde man einen strategischen und taktischen, einen modernen Krieg auch mit einem modernen, einem logistischen Frieden beenden können? Seine Antwort: Täte man dies nicht, würde man die Zukunft gefährden, die man nach den so hart errungenen Siegen gestalten könne.
Bis zum 4. November stehen die Bedingungen der Alliierten fest. Sie entsprechen weitgehend Fochs Vorstellungen und werden umgehend nach Washington gemeldet. Am selben Tag trifft die Anfrage der deutschen Waffenstillstandskommission zur Aufnahme von Verhandlungen in Paris ein. Foch gibt die Anweisungen für den Empfang der deutschen Abgesandten. Wenige Tage später, in der Nacht vom 6. zum 7. November, erreicht ihn ein Radiotelegramm, in dem die Namen der deutschen Bevollmächtigten präzisiert werden.
Das 129. Artillerieregiment, das Harry S. Truman kommandiert, hat die Aufgabe, die vorrückenden alliierten Bodentruppen vor deutschem Beschuss zu schützen. Anfang November berichtet er an seine geliebte Bess, er habe in fünf Stunden 1800 Granaten auf die »Hunnen« geschossen. Am Anfang der Offensive musste seine Einheit noch auf der Hut sein. Sobald sie mit dem Einschießen der Geschütze begannen, wurden sie für den Gegner sichtbar und waren ihrerseits den tödlichen Explosionen und dem Gas ausgesetzt. Sie führten einen merkwürdigen Krieg, bestimmt von Technik, Taktik, Strategie, Ballistik und Logistik, bei dem sie den Feind fast nie zu Gesicht bekamen. Seit Ende Oktober aber ist die deutsche Gegenwehr schwächer geworden. Die Deutschen »scheinen keine Kraft mehr zu haben, um zurückzuschießen. (…) Einer ihrer Piloten stürzte gestern direkt hinter meiner Batterie ab und verstauchte sich den Knöchel, seine Maschine war Schrott und wurde dann von den Franzosen und Amerikanern aus der Umgebung vollständig ausgeplündert. Sie wollten ihm sogar seine Jacke wegnehmen. (…) Einer unserer Offiziere, ich schäme mich, es zu schreiben, nahm die Stiefel von dem Piloten mit dem verstauchten Knöchel und behielt sie. (…) ›La guerre finie‹«, habe der Pilot geschrien, um wenigstens sein Leben zu retten.
Die Offensive verlangt den Männern dennoch alles ab. Unentwegt gilt es, der sich rasch verschiebenden Front hinterherzuziehen. Dazu müssen die Geschütze im matschigen Terrain, teils mit Pferde- und Menschenkraft, mühsam vorwärtsbewegt werden. Nachtmärsche zermürben die Truppe. »Jeder von uns war fast schon ein nervöses Wrack und wir alle hatten Gewicht verloren, bis wir wie Vogelscheuchen aussahen.«
Doch je greifbarer die deutsche Niederlage wird, je länger Trumans Regiment gegen den unsichtbaren Feind vorrückt, ohne entscheidende Verluste zu erleiden, desto mehr erscheint ihm der Krieg, in den die Vereinigten Staaten im April 1917 eingetreten sind, als »a terrific experience«. Die wechselnden Unterstände, in denen er als Offizier nächtigt – provisorisch mit Ofen, Telefon und einer mobilen Küche ausgestattet –, werden ihm zur Heimat auf Zeit. Er sei nun so daran gewöhnt, unter der Erde zu schlafen, dass er zu Hause wohl im Keller nächtigen werde, bemerkt er ironisch. In den letzten Wochen des Krieges, als der Sieg unmittelbar bevorzustehen scheint, wird der Ton von Trumans Briefen zusehends heiterer. Immer häufiger erlaubt er sich Gedanken an die Heimat: Wenn er jemals nach Hause zurückkehre, dann werde er froh sein, sein restliches Leben hinter einem Esel durch ein Maisfeld zu laufen. Er findet sogar die Zeit, mit galanten Worten zwei Blumen als Souvenir an seine geliebte Bess zu schicken.
So fühlt man sich bei der Lektüre von Trumans Briefen aus den letzten Tagen des Krieges an Charlie Chaplins Weltkriegsfilm Shoulder Arms erinnert, der am 20. Oktober 1918 am Broadway in New York Premiere hatte. In dem Streifen, in Auftrag gegeben, um Kriegsspenden einzuwerben, treibt der kleine Mann mit dem schmalen Schnurrbart seinen Schabernack in ebenjenen Schützengräben Nordfrankreichs, in denen auch Truman die letzten Wochen des Krieges verbringt. Am Ende gelingt es dem Filmhelden, ein schönes Mädchen aus deutscher Gefangenschaft zu befreien. Dabei trifft er auf den deutschen Kaiser höchstpersönlich, erklärt ihn zum Gefangenen und führt ihn mit vorgehaltener Waffe ab. Der Tramp beendet den Weltkrieg, »a terrific experience«.
Am späten Nachmittag des 7. November besteigt der Oberkommandierende Ferdinand Foch in Senlis, nordöstlich von Paris gelegen, einen Sonderzug. Er wird begleitet vom Chef seines Generalstabs, Maxime Weygand, drei Offizieren des Generalstabs sowie Vertretern der britischen Flotte unter Admiral Wemyss. Die Fahrt ist kurz. Hinter dem Örtchen Compiègne, auf einer Waldlichtung nahe der Stadt Rethondes, kommt die Bahn zum Stehen. Es folgt eine lange Nacht des Wartens. Erst am folgenden Morgen um 7 Uhr trifft der Zug ein, den der deutsche Abgesandte Erzberger und seine Mitreisenden nach Mitternacht in den Ruinen des Bahnhofs von Tergnier bestiegen hatten.
Zwei Stunden später, am 8. November 1918 um 9 Uhr, findet ein erstes Treffen in einem als Arbeitszimmer eingerichteten Waggon in Fochs Sonderzug statt. Die Atmosphäre ist eisig. Die deutsche Delegation betritt zuerst den Raum und setzt sich auf bezeichnete Plätze am Verhandlungstisch. Dann tritt die französische Abordnung unter Leitung von Marschall Foch ein, den Matthias Erzberger als »kleinen Mann mit harten, energischen Zügen« beschreibt, »die auf den ersten Blick die Gewohnheit zu befehlen verrieten«. Statt eines Handschlags wird nur ein militärischer Gruß oder von den Zivilisten eine knappe Verbeugung ausgetauscht. Die Delegationen stellen sich gegenseitig vor: Erzberger, Alfred von Oberndorff, Detlof von Winterfeldt und Ernst Vanselow müssen ihre Vollmachten vorlegen.
Dann eröffnet Foch die Verhandlungen mit gespielter Unwissenheit: »Was führt die Herren hierher? Was wünschen Sie von mir?« Matthias Erzberger erwidert, dass die Delegation gekommen sei, um die Vorschläge der Alliierten für einen Waffenstillstand zu erfahren. Foch erklärt trocken, dass er keine Vorschläge zu machen habe. Daraufhin fragt ihn Oberndorff, wie der Marschall wünsche, dass man sich ausdrücke. Der deutschen Seite gehe es nicht um eine bestimmte Strategie, sondern allein darum, die Bedingungen der Alliierten für den Waffenstillstand zu erfragen. Foch erklärt bestimmt, dass er keine Bedingungen zu stellen habe. Daraufhin verliest Erzberger die letzte Note des Präsidenten Wilson, in der es ausdrücklich heißt, dass Marschall Foch autorisiert sei, die Bedingungen des Waffenstillstands bekanntzugeben. Jetzt endlich lässt Foch die Katze aus dem Sack: Er sei zur Mitteilung der Bedingungen nur autorisiert, wenn die deutsche Seite um einen Waffenstillstand nachsuche. Auf keinen Fall will er den Deutschen diesen erniedrigenden Akt ersparen.
Erzberger und Oberndorff erklären also in aller Form, dass sie im Namen der Regierung des Deutschen Reichs um einen Waffenstillstand ersuchen. Erst dann beginnt General Weygand, die wichtigsten Klauseln des Beschlusses der Alliierten vom 4. November zu verlesen. »Marschall Foch saß mit steinerner Ruhe am Tisch.« Der Vertreter Großbritanniens, Admiral Rosslyn Wemyss, versucht, ebenso gleichgültig zu erscheinen, doch das nervöse Spiel mit seinem Monokel und seiner großen Hornbrille verrät seine innere Erregung.
Die deutschen Abgesandten hören, wie sich Weygand später erinnert, das Ablesen der Bedingungen mit blassen, steinernen Mienen an. Dem jungen Kapitän zur See, Ernst Vanselow, sollen Tränen über die Wangen gelaufen sein. Der Vertrag fordert nicht nur den sofortigen Rückzug der deutschen Truppen aus sämtlichen besetzten Gebieten Belgiens, Frankreichs und Luxemburgs sowie aus dem Reichsland Elsass-Lothringen, nicht nur – wie Foch beharrlich gefordert hatte – die Besetzung der linksrheinischen Gebiete und von Neutralitätszonen rund um die Brückenköpfe Mainz, Koblenz und Köln, er regelt auch die Übergabe von Waffen, Flugzeugen, der Kriegsflotte, von Eisenbahnen sowie die Annullierung des Friedens, den das Deutsche Reich im Jahr 1917 mit Russland geschlossen hatte.
»Es ist ein herzzerreißender Moment«, erinnert sich Weygand. General Winterfeld unternimmt dennoch, nachdem Weygand geendigt hat, einen Versuch, die Bedingungen zu erleichtern: Man möge zumindest die Frist bis zur Unterschrift verlängern, so dass er sich mit der Regierung abstimmen könne, und man solle während der Prüfung der Bedingungen durch die deutsche Seite die Waffen ruhen lassen. Doch Foch lehnt beides ab. Für die Annahme gelte ein Ultimatum bis zum 11. November 1918, 11 Uhr französischer Zeit. Eine Waffenruhe trete erst nach Unterzeichnung ein. Zugleich schickt der Marschall am selben Tag per Telegramm den Befehl an die Kommandeure, in der Intensität der Angriffe in keiner Weise nachzulassen. Es gehe darum, noch während der Waffenstillstandsverhandlungen zu »entscheidenden Ergebnissen« zu kommen. Zu verhandeln, so betont er gegenüber Erzberger, gebe es nichts. Die Deutschen könnten das Angebot, so wie es sei, annehmen oder ablehnen. Immerhin gesteht er zu, dass »private« Gespräche zwischen den rangniedrigeren Mitgliedern der beiden Delegationen stattfinden können. Erzberger hofft, Milderungen zu erreichen, zumindest bei den Fristen und den zu liefernden Mengen, und argumentiert mit der Notwendigkeit, eine Hungersnot und den vollständigen Zusammenbruch der Ordnung in Deutschland zu verhindern.
Nach dem Ende der ersten Sitzung wird Hauptmann von Helldorf mit der Liste der alliierten Konditionen zurück zum deutschen Hauptquartier nach Spa geschickt. Die »Privatgespräche« beginnen am Nachmittag und ziehen sich über zwei Tage hin, während die Stunden des Ultimatums unaufhaltsam ablaufen. Am Abend des 10. November, gegen 21 Uhr, vierzehn Stunden vor dem Ablauf der Frist, erreicht eine chiffrierte telegraphische Anweisung des deutschen Reichskanzlers die Waldlichtung. Darin wird Erzberger autorisiert, die Waffenstillstandsbedingungen in allen Punkten zu akzeptieren. Ungeachtet dieses Schreibens gelingt es der deutschen Delegation, die offenbar in einzelnen Punkten Überzeugungsarbeit geleistet hat, eine Schlussverhandlung zu erwirken. In den frühen Morgenstunden des 1125200017003000025000