Kathleen Glasgow
Mädchen in Scherben
FISCHER E-Books
Kathleen Glasgow lebt und schreibt in Tucson, Arizona. Girl in Pieces ist ihr erstes Jugendbuch. Mehr Informationen unter kathleenglasgowbooks.com oder auf Twitter @kathglasgow und Instagram @Kathglasgow.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Ein zutiefst bewegendes Porträt einer jungen Frau, die sich zurück ins Leben kämpft.
Kurzer Textauszug
Charlotte wurde zerbrochen, sie will sich aufgeben und umbringen. Doch gerade noch rechtzeitig erkennt sie, dass das Leben mehr ist als die Summe ihrer Verluste. Es ist Freude, Licht, Wärme und die Gewissheit, stärker zu sein als das Schicksal.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel ›Girl in Pieces‹bei Delacorte Press, an imprint of Random House Children's Books, a division of Penguin Random House LLC, New York
© 2016 by Kathleen Glasgow
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: MT Vreden, Vreden; Jacket art copyright © 2016 by Jennifer Heuer
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-5061-2
Meiner Mutter M.E. und
meiner Schwester Weasie
I can never win with this body I live in.
Belly, »Star«
Ich bin so weiß wie ein Sattelrobbenbaby. Meine Unterarme sind dick verbunden und schwer wie Knüppel. Auch meine Oberschenkel sind bandagiert; weiße Mullbinden spitzen unter den Shorts hervor, die Schwester Ava aus der Fundkiste hinter der Schwesternstation gefischt hat.
Wie ein Waisenkind bin ich hergekommen, ohne jede Kleidung. Wie ein Waisenkind bin ich in ein Bettlaken gewickelt und auf dem mit Schneematsch bedeckten Rasen vor dem Regions Hospital abgelegt worden. Blutblüten breiteten sich auf dem geblümten Laken aus.
Der Wachmann, der mich fand, war in eine Duftwolke aus Mentholzigaretten und dem flachen Gestank von Automatenkaffee gehüllt. In seinen Nasenlöchern wucherten weiße Kraushaarwälder.
»Heilige Mutter Gottes, was haben sie denn mit dir gemacht?«, sagte er.
Meine Mutter kam nicht, um mich abzuholen.
Aber: Ich erinnere mich an die Sterne in jener Nacht. Wie Salzkristalle funkelten sie am Himmel, als hätte jemand den Streuer auf einem sehr dunklen Stoff ausgekippt.
Das zählte für mich, diese Zufallsschönheit. Schließlich dachte ich, sie wäre das Letzte, was ich sehen würde, bevor ich auf dem kalten, nassen Gras sterbe.
Die Mädchen hier versuchen mich zum Reden zu bringen. Erzähle deine Geschichte, heißt es, Du darfst nichts verhehlen – du musst alles berichten. Jeden Tag höre ich ihre Geschichten, in den Gruppenstunden, beim Mittagessen, bei der Kunsttherapie, beim Frühstück, beim Abendessen, egal. Immer sprudeln die Wörter aus ihnen heraus, schwarze Erinnerungen, denen sie nicht Einhalt gebieten können. Ihre Geschichten fressen sie bei lebendigem Leib auf, drehen sie auf links. Sie können einfach nicht aufhören zu reden.
Ich hab alle meine Wörter rausgeschnitten. Mein Herz war zu voll davon.
Ich teile mir ein Zimmer mit Louisa. Louisa ist älter als ich, und ihre Haare sind wie ein rot goldener, rauschender Ozean, der ihr den Rücken hinunterfließt. Da sind so viele Haare, kein Flechtzopf, kein Dutt, kein Haargummi hält sie im Zaum. Und sie riechen nach Erdbeeren. Louisa riecht besser als jedes andere Mädchen, das mir je begegnet ist. Ich könnte sie immerzu inhalieren.
An meinem ersten Abend hier, als sie ihre Bluse ausgezogen hat, um ihr Nachthemd anzulegen, in der Sekunde, bevor ihre irren Haare ihren Körper wie ein Schutzmantel einhüllten, da hab ich sie gesehen, alle, und hab scharf die Luft eingesogen.
»Brauchst keine Angst haben, Kleines«, sagte Louisa.
Ich hatte keine Angst. Ich hatte nur noch nie ein Mädchen mit so einer Haut wie meiner gesehen.
Jeder Augenblick des Tages ist fest verplant. Wir stehen um sechs Uhr auf. Bis Viertel vor sieben trinken wir lauwarmen Kaffee oder verwässerten Saft. Wir haben dreißig Minuten, um Frischkäse auf Bagels aus Pappkartonteig zu schmieren, uns blasse Eier in den Mund zu schieben oder klumpigen Haferbrei zu löffeln. Ab Viertel nach sieben dürfen wir auf dem Zimmer sein und uns waschen. Die Duschkabinen haben keine Türen und Schläuche, und woraus auch immer die Spiegel bestehen mögen, Glas ist es jedenfalls nicht. Jedes Mal, wenn man sich die Zähne putzt oder die Haare kämmt, sieht das eigene Gesicht ganz wolkig und verloren aus. Wenn man sich die Beine rasieren will, geht das nur in Anwesenheit einer Krankenschwester oder Nonne, und da keiner sich das antun will, haben wir alle dicht behaarte Jungsbeine. Um acht Uhr dreißig gehen die Gruppengespräche los, und da strömen die Geschichten raus, strömen die Tränen raus, manche Mädchen schreien und manche stöhnen, aber ich sitze nur da, sitze und sitze, und dieses grässliche ältere Mädchen, Blue, die mit den kaputten Zähnen, sagt jeden Tag: Willst du heute nicht auch mal reden, Stumme Sue? Ich würde heute gerne die Stumme Sue reden hören, du nicht auch, Casper?
Casper sagt, sie soll’s bleiben lassen. Casper sagt, wir sollen atmen, uns in ein Akkordeon verwandeln, indem wir die Arme weit, weit zur Seite ausstrecken und dann an den Körper ranziehen, ran, ran, und dann wieder raus, raus, raus, und man fühlt sich doch gleich viel besser, wenn man richtig atmet, stimmt’s? Nach der Gruppe kommt Medikamentöse Therapie, dann Stillstunde, dann Mittagessen, dann Kunsttherapie, dann Einzelgespräch, wo man mit seinem Arzt allein dahockt und noch mehr heult, und dann gibt’s um fünf schon Abendessen, wo man noch mehr nicht-richtig-warmes Essen bekommt, und noch mehr Blue: Magst du Makkaroni mit Käse, Stumme Sue? Wann kriegst du die Verbände abgenommen, Stumme Sue? Und dann Abendunterhaltung. Nach Abendunterhaltung folgt Telefonanruf und noch mehr Heulen. Und dann ist es neun Uhr abends, es gibt wieder Medikamente und dann Schlafenszeit. Die Mädchen zischeln und tuscheln, dass ihnen der Stundenplan nicht passt, das Essen, die Gruppengespräche, die Medikamente, alles, doch mir ist das egal. Es gibt Essen und ein Bett, es ist warm, ich habe ein Dach überm Kopf, und ich bin in Sicherheit.
Ich heiße nicht Sue.
Jen S. ist ein Strauch, wegen der kurzen, verästelten Narben, die ihr an den Armen und Beinen hochranken. Sie trägt glänzende Sport-Shorts und ist größer als alle anderen hier, mit Ausnahme von Doc Dooley. Sie dribbelt einen unsichtbaren Basketball den beigefarbenen Flur rauf und runter. Sie wirft auf einen unsichtbaren Korb.
Francie ist ein Nadelkissen in Menschengestalt. Sie sticht sich mit Stricknadeln, Stöcken, Reißzwecken in die Haut, mit allem, was sie auftreiben kann. Sie hat zornige Augen, und sie spuckt auf den Fußboden.
Sasha ist ein dicker Wasserschlauch, aus dem die Tränen ohne Unterlass herausfließen, in der Gruppe, bei den Mahlzeiten, in ihrem Zimmer. Als könnte sie nie austrocknen. Sie ist eine stinknormale Ritzerin, blassrote Schnitte kreuzen sich auf ihren Unterarmen. Sie schneidet nie tief.
Isis dagegen verbrennt sich, punktet sich die Arme mit schorfigen, runden Brandhügeln. In der Gruppe gab’s ihre Geschichte zu hören, irgendwas mit einem Strick und ein paar Vettern und einem Keller, aber ich hab meine Ohren verschlossen und meine innere Musik lauter gedreht.
Blue ist ein schickes Vögelchen, das in seiner Schmerzpfütze plantscht, sie hat von allem ein bisschen was: böser Vater, Meth-Zähne, Zigarettennarben, Klingenschnitte. Linda/Katie/Cuddles trägt nur Oma-Kittelschürzen und stinkende Hauspuschen. In ihr sind zu viele Leute, als dass man sie zählen oder auseinanderhalten könnte. Ihre Narben sind alle innerlich, bei ihren Bewohnern. Keine Ahnung, warum sie bei uns ist, aber sie ist eben da. Beim Abendessen schmiert sie sich Kartoffelpüree ins Gesicht, und manchmal kotzt sie, einfach so, ohne Grund. Selbst wenn sie vollkommen still dasitzt, weiß man, dass in ihrem Inneren ganz ganz viel passiert, und dass das gar nicht gut ist.
Ich kenne Leute wie sie von draußen. Ich halte mich von ihr fern.
Manchmal kann ich an diesem Scheißort nicht atmen, meine Brust fühlt sich an, als wäre sie voller Sand. Ich versteh nicht, was hier geschieht. Ich war zu lange da draußen, hab zu lange gefroren. Ich versteh die sauberen Laken nicht, die süßlich duftende Überdecke, das Essen, das im Speisesaal vor mir steht, warm und voller Magie. Ich gerate in Panik, zittere, würge, und dann ist da Louisa, sie kommt mir in unserem Zimmer ganz nah, wenn ich mich in die Ecke gekauert hab. Ihr Atem riecht nach Teeminze. Sie nimmt mein Gesicht in die Hände, und davon zucke ich zusammen. »Kleines«, sagt sie, »hier bist du unter deinesgleichen.«
Es ist zu still im Zimmer, also spaziere ich nachts über den Flur. Meine Lungen schmerzen. Ich bewege mich nur langsam.
Alles hier ist zu still. Ich fahre mit einer Fingerspitze über die Wände. Stundenlang. Ich weiß, dass sie überlegen, mir Schlafmittel zu verordnen, wenn meine Wunden erst mal verheilt sind und die Antibiotika abgesetzt werden können, aber ich will das nicht. Ich muss wach sein, ich muss aufpassen.
Er könnte überall sein. Er könnte hier sein.
Louisa ist wie die Königin. Sie ist irgendwie schon ewig hier. »Ich war das allererste Mädchen, das aufgenommen wurde, nachdem sie das Ding hier eingerichtet haben, verdammt«, sagt sie. Sie schreibt ständig in so ein schwarzweißes Aufsatzheft und kommt nie zur Gruppenstunde. Die meisten Mädchen tragen Jogginghosen und T-Shirt, so schluderige Sachen halt, Louisa dagegen brezelt sich jeden Tag auf: schwarze Leggings, glänzende Ballerinas, glamouröse Vierziger-Jahre-Kleider aus dem Secondhandladen, und die Haare stylt sie sich täglich neu, aber immer wieder dramatisch. Sie hat ganze Koffer voller Tücher, hauchdünner Nachthemden, Schminketuben und blutroter Lippenstifte. Louisa ist wie ein Hotelgast, der nicht vorhat, je wieder auszuchecken.
Sie erzählt mir, dass sie eigentlich in einer Band singt. »Aber meine Nerven …«, sagt sie leise. »Mein Problem … steht mir dabei immer im Weg.«
Louisa hat konzentrische Brandnarben auf dem Bauch. Und wurzelartige Wucherungen auf der Innenseite ihrer Arme. Ihre Beine sind mit sauber gemusterten, kunstvollen Brandnarben verziert, wie geschnitzt. Tattoos bedecken ihren ganzen Rücken.
Langsam geht ihr der Platz aus.
Casper beginnt die Gruppenstunde immer auf die gleiche Art. Mit der Akkordeon-Übung, Atmen, Nacken strecken, zu den Zehen greifen. Casper ist winzig und weich. Sie trägt elfengleiche Clogs mit gedämpfter Sohle. Alle anderen Ärzte haben klappernde, schwere Schuhe an, die immer und überall zu hören sind, selbst auf Teppichboden. Casper ist blass. Ihre Augen sind riesengroß, rund und extrem blau. An Casper ist nichts Scharfes, Kantiges.
Sie schaut in die Runde, und ihr Gesicht macht es sich mit einem sanften Lächeln gemütlich. »Eure Aufgabe hier ist es, ihr selbst zu sein. Wir sind doch alle hier, um wieder in Ordnung zu kommen, nicht wahr?«, sagt sie.
Was so viel heißt, dass wir im Augenblick total scheiße sind.
Aber das wissen wir schon längst.
In Wirklichkeit heißt sie gar nicht Casper. Sie wird nur wegen ihrer großen blauen Augen so genannt, und weil sie so leise ist. Wie ein Geist taucht sie manchmal morgens an meinem Bett auf, um meine Vitalwerte zu messen, und ihre warmen Finger gleiten nur einen Zentimeter oder so unter meinen Verband, um meinen Puls zu fühlen. Sie biegt den Hals zu einem bezaubernden Doppelkinn, wenn sie zu mir herunterschaut. Wie ein Geist taucht sie manchmal auf dem Flur hinter mir auf und lächelt, wenn ich überrascht herumwirbele: Wie geht es dir?
In ihrem Büro steht ein riesiges Becken mit einer fetten, trägen Schildkröte darin, die immer paddelt und paddelt und paddelt, ohne je richtig voranzukommen. Immer wenn ich da bin, muss ich auf diesen armen Schlucker von Schildkröte starren, stundenlang, tagelang könnte ich mir den anschauen, wie er mit unendlicher Geduld sein Tun verrichtet, das im Endeffekt so gar nichts zu bedeuten hat, schließlich wird er ja in absehbarer Zukunft wohl kaum je aus diesem Wasserbecken rauskommen.
Und Casper schaut mir einfach zu, wie ich der Schildkröte zuschaue.
Casper riecht gut. Sie ist immer sauber und ihre Klamotten rascheln leise. Sie erhebt nie die Stimme. Sie streicht Sasha über den Rücken, wenn die so heftig schluchzt, dass sie schier dran erstickt. Sie legt Linda/Katie/Cuddles einen Arm um die Schultern, wie ein Torhüter oder so, wenn eine ihrer bösen Gestalten ausbricht. Ich hab sie sogar schon mal in Blues Zimmer gesehen, an dem Tag, als Blue eine riesige Bücherkiste von ihrer Mutter gekriegt hat, und Casper saß da und blätterte die Taschenbücher durch und schenkte Blue ein Lächeln, das diese ein bisschen, nur ein kleines bisschen, zum Schmelzen brachte.
Casper sollte die Mutter von jemandem sein. Sie sollte meine Mutter sein.
Dunkel ist es hier nie. In jedem Zimmer sind Lampen in die Wände eingelassen, die um vier Uhr nachmittags an- und um sechs Uhr morgens ausplingen. Kleine, aber helle Lampen. Louisa mag kein Licht. Vor den Fenstern hängen kratzige Gardinen, und sie legt Wert darauf, sie ordentlich zuzuziehen, jeden Abend vor dem Schlafengehen, um die gelben Lichtquadrate vom Bürogebäude gegenüber auszublenden. Dann drapiert sie sich zusätzlich das Bettlaken übers Gesicht.
Heute trete ich, kaum dass sie eingeschlafen ist, mein Bettzeug beiseite, springe auf und ziehe die Gardinen auf. Vielleicht suche ich nach den Salzstreuersternen, ich weiß nicht.
Während ich ins Metallklo pinkele, schaue ich zu dem stillen Stoffhügel hin, zu dem Louisa sich unter ihrem Laken verschanzt hat. In dem seltsamen Spiegel sehen meine Haare wie Schlangen aus. Ich reibe die verfilzten Strähnen zwischen den Fingern. Mein Haar stinkt nach Erde und Zement, nach staubigem Dachboden, mir wird übel davon.
Wie lange bin ich schon hier? Ich wache aus irgendwas auf. Aus einem finsteren Ort.
Die Glühbirnen in den Lampen im Flur sind wie grelle, langgewundene Flüsse. Ich spähe in jedes Zimmer, während ich mich voranschiebe. Nur Blue liegt wach, das Taschenbuch nah an die Pling-Lampe gereckt, um genug Licht zum Lesen zu haben.
Keine Türen, keine Hängeleuchten, kein Glas, keine Rasierer, nur weiches, löffelbares Essen und lauwarmer Kaffee. Man bekommt hier keinerlei Möglichkeit, sich selbst zu verletzen.
Ich fühle mich ganz lose geschraubt und klapperig von innen, wie ich da vor der Krankenstation warte und mit den Fingern auf den Tresen trommele. Als ich auf das Glöckchen drücke, echot es entsetzlich laut durch den stillen Flur.
Barbero kommt mit seinem Stuhl um die Ecke gerollt, den Mund voll mit irgendwas Knusprigem. Er runzelt die Stirn, als er mich sieht. Barbero ist ein stiernackiger früherer Ringer aus Menominee, dem immer noch ein Hauch Wundsalbe und selbstklebender Verbandstreifen anhaftet. Er mag nur hübsche Mädchen. Das weiß ich, Jen S. ist nämlich sehr hübsch, mit ihren langen Beinen und den Sommersprossen auf der Nase, und die lächelt er immer an. Sie ist die Einzige, die er überhaupt anlächelt.
Er legt die Füße auf den Tresen und stopft sich Kartoffelchips in den Mund. »Du«, sagt er und kleine Salzscherben fliegen ihm dabei von den Lippen auf den blauen Kittel. »Was zum Teufel willst du hier, mitten in der Nacht?«
Ich greife mir den Stapel Klebezettel und einen Stift vom Tresen. Ich schreibe schnell, dann halte ich das Papier hoch. WIE LANGE BIN ICH SCHON HIER?
Er schaut auf den Zettel. Dann schüttelt er den Kopf. »M-hm. Frag.«
NEIN. SAGEN SIE ES MIR, schreibe ich.
»Keine Chance, Stumme Sue.« Barbero zerknüllt die Chipstüte und schmeißt sie in den Mülleimer. »Da wirst du schon dein verdammtes Mündchen aufreißen und deine Stimme einsetzen müssen wie ein großes Mädchen.«
Barbero denkt, ich hab Angst vor ihm, aber das stimmt nicht. Es gibt nur einen Menschen, vor dem ich Angst habe, und der ist weit weg, ganz da drüben auf der anderen Seite des Flusses, und er kann nicht zu mir rein.
Zumindest glaube ich, dass er nicht zu mir rein kann.
SAGEN SIE’S MIR EINFACH, SIE ARSCH, kritzele ich auf einen neuen Zettel. Aber meine Hände zittern ein bisschen, als ich ihn hochhalte.
Barbero lacht. In seinen Zahnzwischenräumen kleben Chipsklümpchen.
Hinter meinen Augen explodieren Funken, meine innere Musik wird auf einmal ganz laut. Meine Haut ist ganz taub, als ich mich wegdrehe und davonstapfe. Ich würde gern atmen, so wie Casper es immer vormacht, aber ich kann nicht, das geht nicht und wird niemals gehen, nicht für mich, jedenfalls nicht, sobald ich wütend werde und die Musik in mir angeht. Jetzt ist meine Haut nicht mehr taub, sondern kribbelt, während ich mit den Augen suche, suche, suche, und als ich es finde und herumwirbele, lacht Barbero nicht mehr. Sondern formt mit den Lippen O Scheiße und duckt sich.
Der Plastikstuhl prallt vom Tresen ab. Der Behälter mit den Stiften, an die Plastikblumen geklebt sind, scheppert zu Boden, die Stifte zerfließen auf dem endlosen beigen Teppichboden zu einem Fächer. Auf diesem endlosen, endlos beigen Teppich. Ich trete gegen den Empfangstresen, was echt übel ist, weil ich keine Schuhe anhabe, aber der Schmerz fühlt sich so gut an, dass ich immer weitermache. Barbero ist inzwischen aufgestanden, und als ich wieder nach dem Stuhl greife, streckt er die Arme aus, Beruhig dich mal, du scheiß Verrückte. Aber das sagt er ganz weich, als hätte er jetzt doch ein bisschen Angst vor mir. Und ich weiß nicht warum, aber das macht mich noch ein bisschen wütender.
Ich hole gerade wieder mit dem Stuhl aus, als Doc Dooley auftaucht.
Wenn Casper von mir enttäuscht ist, lässt sie es sich nicht anmerken. Sie schaut mir einfach zu, wie ich der Schildkröte zuschaue, und die Schildkröte macht einfach ihr Ding. Ich wünschte, ich wäre diese Schildkröte, unter Wasser, still, keiner da. Diese Scheißschildkröte hat ein verdammt friedliches Leben.
»Um die Frage zu beantworten, die du Bruce gestern Nacht gestellt hast: Du bist seit sechs Tagen im Creeley Center«, sagt Casper. Du warst erst im Krankenhaus, wo man dich behandelt und eine Woche zur Beobachtung dabehalten hat, dann wurdest du hierher verlegt. Wusstest du eigentlich, dass du eine schwere Lungenentzündung hattest? Na ja, hast du immer noch, aber die Antibiotika sollten dem bald ein Ende machen.«
Sie nimmt was Klobiges von ihrem Schreibtisch und schiebt es mir zu. Es ist so ein Tischkalender. Im ersten Moment weiß ich nicht, wonach ich suchen soll, aber dann sehe ich es, ganz oben auf der aufgeschlagenen Seite.
April. Wir haben Mitte April.
»Du hast das Osterfest im Creeley verpasst«, sagt Casper. »Warst noch nicht so ganz da. Aber ehrlich gesagt, viel ist dir nicht entgangen. Auf einer psychiatrischen Station können wir ja schlecht einen riesigen Osterhasen rumhüpfen lassen, oder?« Sie lächelt. »Sorry. Psychofritzen-Humor. Berufskrankheit. Aber wir haben eine Ostereiersuche veranstaltet. Thanksgiving ist allerdings wesentlich netter – trockener Truthahn, klumpige Bratensoße … Echt toll.«
Ich weiß, dass sie mich aufzumuntern versucht, damit ich rede. Ich schiebe mein Gesicht in ihre Richtung, aber sobald ich ihrem Blick begegne, spüre ich, wie mir Scheißtränen in die Augen steigen, und ich schaue schnell wieder zu der blöden Schildkröte hin. Ich hab das Gefühl, als wäre ich am Aufwachen, aber gleichzeitig auch wieder dabei, in meine Dunkelheit zu versinken.
Casper beugt sich vor. »Kannst du dich überhaupt dran erinnern, im Regionskrankenhaus gelegen zu haben?«
Ich erinnere mich an den Wachmann und den Haarwald in seinen Nasenlöchern. Ich erinnere mich an Lichter über mir, grell wie Sonnen, und an schrilles Gepiepe, das nie aufhörte. Ich erinnere mich, dass ich um mich treten wollte, als Hände mich berührten, als sie mir die Klamotten vom Leib und die Stiefel von den Füßen schnitten. Ich erinnere mich, wie schwer sich meine Lunge angefühlt hat, als wäre sie voller Schlamm.
Ich erinnere mich, wie viel Angst ich hatte, Fucking Frank könnte auf der Türschwelle aufkreuzen und mich wieder mitnehmen, zurück ins Seed House, in das Zimmer mit den Mädchen, die immer schreien.
Ich erinnere mich, geschrien zu haben. Ich erinnere mich an meinen Kotzeschwall, der auf den Schuhen einer Krankenschwester landete, und dass ihr Gesicht vollkommen unverändert blieb, sie zuckte nicht mal, als würde ihr so was jeden Tag passieren, und ich schickte ihr ein Tut mir leid mit den Augen, weil ich keine Worte hatte, und auch da veränderte sich ihr Gesichtsausdruck kein bisschen.
Und dann nichts mehr. Nichts. Bis zu Louisa.
»Ist schon okay, wenn du dich nicht erinnern kannst«, sagt Casper. »Unser Unterbewusstsein ist was ganz Erstaunliches. Es spürt, dass es uns manchmal entführen muss, als eine Art Schutz. Ich hoffe, ich drücke mich halbwegs verständlich aus.«
Ich wünschte, ich könnte ihr erklären, dass mein Unterbewusstsein kaputt ist, weil es mich nie entführt hat, wenn Fucking Frank mich bedrohte, oder das eine Mal, als dieser Typ in der Unterführung versucht hat, mir weh zu tun.
Mein gebrochener großer Zeh pulsiert unter seiner Schiene und dem seltsamen Gipsschuh, in den Doc Dooley mich gesteckt hat. Jetzt seh ich beim Laufen echt wie ein verrückter Freak aus, mit dem Vogelnesthaar und den schlackernden Armen und dem Gipsgehumpel.
Was passiert jetzt mit mir?
Casper sagt: »Ich glaube, du brauchst ein Projekt.«
Es stimmt nicht, dass ich gern die Schildkröte wäre, so ganz allein. Die Wahrheit ist, dass ich Ellis zurückwill, aber sie kann nie, nie, nie wieder zurückkommen. Jedenfalls nicht so, wie sie mal war. Und die Wahrheit ist auch, dass ich Mikey und DannyBoy vermisse, und sogar Evan und Dump, und manchmal vermisse ich meine Mutter, auch wenn das Vermissen sich in ihrem Fall mehr wie Wut als wie Traurigsein anfühlt. Traurig bin ich, wenn ich an Ellis denke, aber auch das stimmt nicht wirklich, denn wenn ich traurig sage, dann meine ich eigentlich Da ist ein schwarzes Loch in mir, das mit Nägeln und Steinen und Glasscherben gefüllt ist, und mit den Worten, die ich nicht mehr habe.
Ellis, Ellis.
Und während es stimmt, dass meine Klamotten aus der Fundgrube stammen, ist es nicht so ganz wahr, dass ich gar nichts hätte, denn ich habe sehr wohl was, das mir aber vorenthalten wird. Ich hab’s einmal gesehen, als Doc Dooley mich vom abendlichen Filmegucken wegholte mit der Anweisung, ins Schwesternzimmer zu kommen. Als ich dort ankam, zog er einen Rucksack, meinen Rucksack, unter dem Tresen hervor. Doc Dooley ist total groß und gut aussehend, auf so eine Art, dass man sofort merkt, er weiß, dass er gut aussieht und dass das Leben für ihn einfacher ist deswegen, und darum neigt er dazu, uns anderen, die Nicht-Gutaussehenden, locker-lässig zu behandeln. Und so war ich, als er sagte: »Den haben zwei Jungs hier abgegeben. Kommt er dir bekannt vor?«, erst mal vom Weiß seiner Zähne geblendet und von dem samtenen Look seiner Bartstoppeln fasziniert.
Ich schnappte mir meinen Rucksack, ließ mich auf die Knie fallen, machte den Reißverschluss auf und schob meine Hände rein. Da war sie. Ich umklammerte sie und atmete erleichtert auf, denn Doc Dooley hatte gerade gesagt: »Reg dich nicht auf. Wir haben alles rausgeholt.«
Dann zog ich sie raus, meine Notfallbox, den Army-Verbandskasten, den ich mit vierzehn entdeckt hatte, als ich mit Ellis durch den St.-Vincent-de-Paul-Secondhandladen an der West Seventh Street stöberte. Die Metallbox war schon ziemlich eingedellt, das große rote Kreuz auf dem Deckel ganz zerkratzt, die Farbe abgesplittert.
In meiner Notfallbox war alles drin: Salbe, Verbandszeug, meine Einweckglasscherben in einem blauen Samtbeutel, Zigaretten, Streichhölzer und ein Feuerzeug, meine Anstecker, meine Armbänder, mein Geld, meine in ein Leinentuch eingeschlagenen Fotos.
Die Box blieb stumm, als ich sie schüttelte. Ich tauchte tiefer in den grünen Rucksack ab, aber auch dort war alles leer und dunkel. Keine Extrasocken und Unterwäsche, keine Rolle Klopapier, keine Filmrollendose mit erbetteltem Kleingeld, keine Tabletten im Frischhaltebeutel, keine fest zusammengerollte Wolldecke. Mein Skizzenblock war auch weg. Mein Stiftemäppchen und meine Zeichenkohle auch. Und meine Polaroidkamera. Ich sah Doc Dooley an.
»Wir mussten alles rausholen, zu deiner Sicherheit.« Er reichte mir seine Hand, und selbst die sah gut aus, mit den schmalen Fingern und den manikürten Nägeln. Ich ignorierte sie, stand aus eigener Kraft auf und umklammerte meinen Rucksack und meine Notfallbox. »Auch den Rucksack und die Schachtel musst du zurückgeben. Wir bewahren sie für dich auf, bis du wieder entlassen wirst.«
Er streckte die Hand aus, nahm mir den Rucksack weg und dann meine Notfallbox und stopfte sie wieder unter den Tresen. »Aber die hier kannst du haben.«
Er drückte mir das rechteckige Leinenpäckchen in die Hand. Darin lagen, vom weichen Tuch geborgen, Fotos von uns, von mir und Ellis und Mikey und DannyBoy, alle perfekt und alle zusammen, wie wir gewesen waren, bevor die Welt zur Hölle explodierte.
Als ich wegging, die Bilder an die Brust gepresst, rief Doc Dooley mir nach: »Die beiden Jungs … Sie haben gesagt, es tut ihnen leid.«
Ich ging weiter, aber innerlich hielt ich inne, nur für mich, nur für eine Sekunde.
Als Jen S. zu mir kommt in der Nacht nach dem Zeh-Vorfall, bin ich gerade mit meinen Fotos beschäftigt: Ich blättere den Stapel durch, gierig wie immer, wenn ich mir erlaube, an Ellis zu denken, brüte über den Schwarzweißbildern von uns vieren auf dem Friedhof, wo wir alberne Rockstar-Posen machen, Zigarette im Mundwinkel, DannyBoys Hasenscharte kaum zu erkennen, Ellis’ Akne kaum zu sehen. DannyBoy hat immer gesagt, in Schwarzweiß sieht man besser aus, und er hatte recht. Die Fotos sind klein und quadratisch; die Kamera war alt, noch aus den Sechzigern, die erste Polaroid-Generation. Meine Großmutter hatte sie mir geschenkt. Besonders den Faltenbalg fand ich richtig cool. Im Fotoladen beim Macalester College entdeckten wir ein paar passende Filme. Das waren so Patronen, die musste man in die Kamera einschieben, dann machte man das Foto, schälte den Filmstreifen von der Seite ab und stellte den kleinen runden Timer. Wenn der summte, drehte man den Film zurück, und da waren wir, ganz altmodisch und schick in Schwarzweiß, Ellis so wunderschön mit ihrem schwarzen Haar. Und da war ich kleiner dummer Wicht, die Arme vor der Brust verschränkt, mit meinem löchrigen Pullover und den verlotterten Haaren, die ich mir in der echten, farbigen Welt rot und blau gefärbt hatte, aber in Schwarzweiß sahen sie einfach nur schmutzig und verfilzt aus. Aber neben Ellis konnte man gar nicht anders aussehen als ekelhaft.
»Cool.« Jen S. streckt die Hand nach den Fotos aus, aber ich schlage sie wieder in das Leinentuch ein und stopfe sie unter mein Kissen.
»Zicke.« Sie seufzt. »Ach, egal. Komm mit, Barbero wartet im Gemeinschaftsraum. Wir haben eine Überraschung für dich.«
Im Gemeinschaftsraum klebt noch der Geruch nach Popcorn von dem Film, den wir uns am Abend angeschaut haben; die leere Schüssel steht auf einem runden Tisch. Jen leckt sich den Finger an und wischt damit die Schüssel aus, saugt noch die letzten Krümel Salz und geronnene Butter auf. Dann grunzt sie. Barbero schürzt die labberigen Lippen. »Schumacher«, sagt er. »Du machst mich fertig.« Jen zuckt mit den Schultern und schnipst mit dem feuchten Finger an den Saum ihres grünen Schlabber-T-Shirts.
Dann taucht sie in eine der »Mischmasch«-Kisten ab, auf der Suche nach ihrem Lieblingskartendeck. Die bunten Boxen stehen gestapelt entlang der elfenbeinfarbenen Wände des Gemeinschaftsraums und beherbergen Spielkarten, ausgefranste Buntstiftpackungen, Filzstifte, Spiele und so was.
An der einen Wand steht eine Dreiertruppe Computer. Barbero schaltet einen ein und scheucht mich mit einer Handbewegung weg, während er das Passwort eintippt.
»So, jetzt kommt’s, du Verrückte.« Barbero schmeißt mir einen Prospekt zu. Ich muss mich bücken, um ihn aufzufangen. Barbero tippt was ein, und auf dem Bildschirm erscheint ALTERNA-LERN. DER RICHTIGE ORT FÜR DICH. »Die liebe Tante Doktor meint, du brauchst was, das gegen deine Aggro-Attacken hilft, die du ja offenbar mit Vorliebe fährst, und gegen deine merkwürdige Gewohnheit, auf Schlaf zu verzichten. Tja, du Freak, für dich heißt es dann wohl, zurück auf die Schulbank.«
Ich schaue zu Jen S. rüber, die mit einem wilden Grinsen die Karten durchmischt. »Und ich bin deine Lehrerin«, sagt sie kichernd.
Barbero schnipst mir mit den Fingern vor der Nase herum. »Kon-zen-tra-tion! Hier bin ich!«
Ich funkele ihn an.
Barbero zählt an den Fingern ab. »Also: Du darfst nur die Schul-Website aufrufen. Kein Facebook, kein Twitter, keine E-Mail, gar nichts, nur die Schulseite. Deine liebe Freundin Schumacher hat sich freiwillig bereit erklärt, dich zu unterrichten und deine Tests und so weiter am Ende der Lektionen zu korrigieren.«
Er starrt mich an. Ich starre zurück. »Wenn du nicht mitmachst«, sagt er, »dann müssen wir anfangen, dir für nachts Medikamente zu geben, sagt die Tante Doktor, und ich hab so das Gefühl, dass du darauf keinen Bock hast. Sie sieht dich lieber hier drin als auf dem Flur – ist ja auch voll krank, wie du nachts durch die Gegend geisterst.«
Ich will keine Medikamente, vor allem nachts nicht, wo ich am meisten Angst habe und unbedingt wachsam sein muss. Von meinem achten bis zum dreizehnten Lebensjahr haben mich Ärzte mit Zeug vollgepumpt. Ritalin hat nichts gebracht. Ich bin gegen Wände gekracht und habe Alison Jablonsky mit einem Bleistift in ihren wolkenweichen Wabbelbauch gestochen. Von Adderall hab ich mir in der achten Klasse die Hosen vollgeschissen, so dass meine Mutter mich den Rest des Schuljahres zu Hause behalten hat. Das Mittagessen hat sie mir immer unter Folie in den Kühlschrank gelegt: schwammige Frikadellen-Brötchen, stinkender Eiersalat, matschiger Toast. Auf Zoloft hatte ich das Gefühl, bleischwere Luft zu schlucken und tagelang nicht richtig ausatmen zu können. Die meisten Mädchen hier sind bis Oberkante Unterlippe gedopt und nehmen ihre Pillenbecherchen angepisst, aber resigniert entgegen.
Ich setze mich an den Computer und tippe meinen Namen in das Kästchen, wo HIER NAMEN EINGEBEN steht.
»Schlaue Entscheidung, du Freak.«
»Meine Güte, Bruce«, stößt Jen genervt hervor. »Hast du in der Ausbildung gefehlt, als ›Verhalten am Krankenbett‹ auf dem Lehrplan stand?«
»Ach, ›Verhalten am Krankenbett‹ hab ich perfekt drauf, Baby. Sag einfach Bescheid, wenn ich’s dir beweisen soll.« Er fläzt sich auf die ächzende Couch und zieht seinen iPod aus der Hosentasche.
Die eine Wand des Gemeinschaftsraums besteht praktisch nur aus Fenster. Die Gardinen sind aufgezogen, es ist nach zehn Uhr und draußen richtig dunkel. Unsere Abteilung liegt im vierten Stock; ich kann das Wuuuuusch der Autos hören, die unten die Riverside Avenue entlangbrausen. Casper ist bestimmt stolz auf mich, wenn ich jetzt wieder was lerne. Das letzte Mal, dass ich auf einer Schule war, bin ich mitten im elften Schuljahr rausgeflogen. Fühlt sich an wie in einem anderen Leben.
Ich schiele auf den Bildschirm und versuche einen Abschnitt zu entziffern, aber alles, was ich sehe, sind die Wörter fick dich und Schlampe, die jemand auf mein Schließfach gekritzelt hat. Ich schmecke das Kloschüsselwasser auf der Zunge, spüre, wie ich um mich schlage, um freizukommen, fühle die Hände auf meinem Nacken, höre das Gelächter. In meinen Fingerspitzen kribbelt’s, meine Brust ist wie zugeschnürt. Nachdem ich von der Schule geflogen bin, ist alles den Bach runtergegangen, noch schlimmer als vorher.
Ich schaue mich im Gemeinschaftsraum um. Die Frage, wer das alles hier bezahlt, knabbert wie eine kleine Spitzmaus an meinem Gehirn, aber ich schiebe den Gedanken beiseite. Meine Mutter hat mal in einem Diner gearbeitet, hat Hackbraten mit Zwiebeln und Ketchup und bergeweise Kartoffelpüree serviert, jahrelang, bis auch das ein Ende fand. Wir sind keine Leute mit Geld, wir sind Leute, die auf dem Grund von Handtaschen und Rucksäcken nach Kleingeld kramen und vier Abende die Woche Billignudeln mit Butter essen. Der Gedanke, wer mir den Aufenthalt hier wohl ermöglicht, macht mir Angst.
Ich sitze hier warm und trocken, denke ich. Ich schaff das schon, wenn es bedeutet, dass ich dafür hier bleiben kann. Und nur das zählt im Moment. Ich muss die Regeln befolgen, damit ich hier drin bleiben darf.
Jens Finger lassen die Karten rauschen und flattern. Es klingt, als würde sich ein Vogelschwarm von einem Baum erheben.
Casper fragt: »Wie geht’s dir?«
Jeden Tag fragt sie mich das. Einmal die Woche fragt mich das jemand anders – Doc Dooley manchmal, wenn er die Tagschicht erwischt hat, oder die heisere Ärztin mit der dicken Wimperntusche und den borstigen Haaren. Ich glaube, sie heißt Helen. Ich mag sie nicht, irgendwie wird mir von ihr ganz kalt innen drin. Einmal die Woche, und zwar sonntags, fragt uns niemand, wie es uns geht und warum sich einige von uns so verloren fühlen. Und dann sagt Jen S. verächtlich: »Ich muss unbedingt jemandem sagen, wie es mir geht! Meine Gefühle stauen sich sonst an, die müssen raus!«
Casper wartet. Ich spüre, wie sie wartet. Ich treffe eine Entscheidung. Ich schreibe auf, wie es mir geht, und schiebe Casper den Zettel über den Tisch. Mein Körper steht die ganze Zeit in Flammen, das Feuer verzehrt mich, Tag und Nacht. Ich muss die schwarze Hitze rausschneiden. Wenn ich mich saubermache, mich wasche und verarzte, geht es mir besser. Innerlich abgekühlt und ruhig. Wie sich Moos anfühlt, ganz tief drin im Wald.
Was ich nicht aufschreibe: Dass ich mich so mutterseelenallein fühle, dass ich mir am liebsten das ganze Fleisch in Streifen abziehen würde und so, nur aus Knochen und Knorpel bestehend, ins Wasser gehen möchte, damit der Fluss mich verschluckt, wie meinen Vater auch.
Bevor er krank wurde, nahm mich mein Vater oft auf lange Autofahrten Richtung Norden mit. Dann stellten wir das Auto irgendwo ab und folgten den Wanderpfaden bis tief zwischen die duftenden Tannen und schlanken Fichten, so tief, dass es sich manchmal anfühlte, als wäre es Nacht, weil die Bäume so eng standen, dass man kaum noch den Himmel sehen konnte. Damals war ich noch klein und stolperte oft, fiel hin und landete auf dicken Moospolstern. Die Erinnerung daran, wie sich das kühle, tröstliche Moos unter meinen Fingern anfühlte, trage ich immer noch in meinem Inneren. Mein Vater konnte stundenlang wandern, ohne müde zu werden. »Ich hab’s gern ruhig«, sagte er. Und wir liefen und liefen auf der Suche nach dem stillen Ort, den er brauchte. Es ist im Wald nicht so ruhig, wie alle denken.
Nach seinem Tod war meine Mutter wie eine Strandkrabbe, hat alles in sich reingestopft und ist kaum je aus ihrem Panzer hervorgekrochen.
Casper liest den Zettel, dann faltet sie ihn sorgfältig zusammen und schiebt ihn in eine Mappe, die auf ihrem Schreibtisch liegt. »Kühles Moos.« Sie lächelt. »Gar kein schlechtes Gefühl. Ich wünschte, wir könnten dich dorthin bringen, ohne dass du dich selbst verletzt. Was meinst du, wie könnten wir das schaffen?«
Casper hält immer leere weiße Blätter für mich bereit. Ich kritzele eins voll und schiebe es ihr hin. Stirnrunzelnd holt sie eine Mappe aus ihrer Schublade und lässt den Zeigefinger eine Liste hinunterwandern.
»Nein, da war kein Skizzenbuch unter den Sachen, die sich in deinem Rucksack befanden.« Sie schaut mich an.
Ich mache ein leises Geräusch. Mein Skizzenbuch war alles für mich, meine eigene kleine Welt. Zeichnungen von Ellis, von Mikey, kleine Comics, die ich über das Leben auf der Straße gemacht habe, über mich und Evan und Dump.
Es kribbelt mir in den Fingern. Ich muss zeichnen. Ich muss mich vergraben. Ich mache noch ein Geräusch.
Casper schlägt die Mappe zu. »Ich rede mal mit Miss Joni. Vielleicht kann sie ja was besorgen.«
Mein Vater war Zigaretten und rot-weiße Bierdosen. Er war schmutzige weiße T-Shirts und ein brauner Schaukelstuhl und blaue Augen und kratzige Bartstoppel und »Oh, Misty«, wenn meine Mutter ihn missbilligend beäugte. Er war ganze Tage, in denen er diesen Schaukelstuhl nicht verließ, in denen ich neben seinen Füßen am Boden kauerte und ein Blatt nach dem anderen mit Sonnen, Häusern, Katzengesichtern füllte, mit Blei- und Bunt- und Filzstiften. Er war ganze Tage, in denen er das T-Shirt nicht wechselte, er war manchmal Stille und manchmal zu viel Gelächter, ein seltsames Lachen, das von innen aus ihm auszubrechen schien, bis es kein Lachen, sondern Weinen war, er war Tränen, die mir das Gesicht vollbluteten, wenn ich auf seinen Schoß kletterte, um mit ihm zu schaukeln, vor und zurück, vor und zurück, Herzbumm Herzbumm Herzbumm, während das Licht draußen sich veränderte, während die Welt um uns herum immer dunkler wurde.
Louisa sagt: »Du bist so still. Ich bin froh, dass sie mir jemand Leises zugeteilt haben. Du kannst dir nicht vorstellen, wie anstrengend das ist, wenn dich jemand die ganze Zeit laut zuquasselt.«
Sie hatte so lange geschwiegen, dass ich schon dachte, sie wäre eingeschlafen.
Louisa sagt: »Ich meine, ich rede ja auch mit dir, weißt du? In meinem Kopf, meine ich. In meinem Kopf erzähle ich dir alle möglichen Sachen, weil du anscheinend gut zuhören kannst. Aber ich will dir nicht deinen Denkraum zuquatschen. Hoffentlich drücke ich mich halbwegs verständlich aus …«
Sie murmelt schläfrig. Mmmmm. Und dann: »Irgendwann erzähle ich dir meine ganze Geschichte. Du bist echt okay. Ein guter Geheimnishüter.«
Echt okay, guter Geheimnishüter, echt okay, guter Geheimnishüter – das Schlaflied einer Ritzerin.
In der Gruppe mag Casper es nicht, wenn wir von Ritzen oder Schneiden oder Verbrennen sprechen. Sie sagt, es ist egal, was man macht oder wie, es ist alles dasselbe. Ob man säuft, sich schneidet, Meth konsumiert, Koks schnupft, sich verbrennt, ritzt, sticht, aufschlitzt, sich die Wimpern ausreißt oder so lange fickt, bis man blutet, es geht immer nur um das eine: Selbstverletzung. Sie sagt, egal, ob jemand dir weh getan hat oder dir das Gefühl gibt, du wärst böse oder wertlos oder unrein, statt rational zu begreifen, dass derjenige ein Arschloch ist oder ein Psycho und eigentlich erschossen oder aufgeknüpft gehört oder dass du dich zumindest verfickt nochmal von ihm fernhalten solltest, internalisierst du den Missbrauch an dir und fängst an, dir selber die Schuld zu geben und dich zu bestrafen, und das Bescheuerte ist, sobald du anfängst, dich zu ritzen oder zu verbrennen oder dich blutig zu ficken, weil du dich so scheiße und wertlos fühlst, schüttet dein Körper dieses geile Zeug aus, das sich Endorphine nennt, und du fühlst dich so verdammt high, als wäre die Welt aus Zuckerwatte gemacht, aus Zuckerwatte vom geilsten, farbenprächtigsten Jahrmarkt des Universums, nur halt blutig und vollgestopft mit Krankheitserregern. Aber der Scheißhaken daran ist, sobald du einmal anfängst, dich selbst zu verletzen, kannst du nie wieder kein Scheißfreak mehr sein, weil dein ganzer Körper sich in ein Schlachtfeld aus Narben und Brandwunden verwandelt und niemand sieht so was gern an einem Mädchen, niemand wird dich so lieben, und so sind wir alle, jede Einzelne von uns, auf immer und ewig kaputt, innerlich und äußerlich. Waschen, schneiden … nein, verfickt. Wiederholen.
Ich versuche, mich an die Regeln zu halten. Ich versuche, dahin zu gehen, wo ich hinsoll, und wann ich hinsoll, und versuche dort sitzen zu bleiben wie ein braves Mädchen, auch wenn ich nichts sage, weil meine Kehle voller Nägel ist. Ich versuche, die Regeln zu befolgen, weil sie nicht zu befolgen das Risiko bedeuten würde, rauszumüssen.
Als Doc Dooley mir erzählt hat, dass zwei Jungs meinen Rucksack hier abgeliefert haben? Diese Jungs haben mir wohl das Leben gerettet, einmal, zweimal. Und als er sagte, er sollte mir ausrichten, es täte ihnen leid? Der Gedanke beschäftigt mich immer noch.
Evan und Dump. Tut es ihnen leid, dass sie mich vor dem Kerl in der Unterführung gerettet haben, der mir an die Wäsche wollte? Tut es ihnen leid, dass sie damals, als es im Winter so scheißkalt wurde in diesem Scheiß-Minneee-soooo-taaaa, nicht dafür sorgen konnten, dass Fucking Frank uns NICHT alle drei mit zu sich nahm? Ich war krank. Wir konnten nicht mehr in dem kalten Van wohnen. Evan brauchte seine Drogen. Dump ging immer dahin, wo Evan hinging. Tut es ihnen leid, dass ich das nicht tun konnte, was Fucking Frank wollte? (Was er von allen Mädchen im Seed House wollte, was sie tun mussten, wenn sie bleiben wollten.) Tut es ihnen leid, dass sie mich nicht auf dem Dachboden vom Seed House haben sterben lassen?
Leidtunleidtunleidtunleidtunleidtunleidtun.
Ich schneide das Wort auch raus, aber es wächst jedes Mal wieder nach, und jedes Mal kräftiger und fieser.
Louisa kommt nie zu den Gruppengesprächen. Louisa trifft sich abends mit Casper allein. Louisa kriegt nachts Anrufe; dann lehnt sie sich im Gemeinschaftsraum an die Wand, zwirbelt das Telefonkabel um die Finger und streicht sachte mit der Spitze eines ihrer glitzernden Ballerinas über den Teppich. Louisa kann kommen und gehen, wie sie will, sie braucht keinen Freigangschein. Louisa flüstert im Dunkeln: »Ich muss dir das sagen, du bist anders als wir, verstehst du? Schau dich doch mal um. Die Laken, die Betten, die Medikamente, die Ärzte. Alles hier riecht nach Geld. Hörst du mir überhaupt zu?«
Ihr Bett knarzt, als sie sich auf dem Ellbogen aufstützt, mir zugewandt. Im Zwielicht sind ihre Augen eierförmig und haben tiefe Schatten darunter.
»Du musst dich bereit machen, das will ich damit sagen.«
Aber ich lasse ihre Worte, warm und glatt, über mich hinweggleiten. Sie dreht sich weg. Geld, Geld. Ich will nicht darüber nachdenken, wo es herkommt und wo nicht.
Ich will einfach nur, dass sie sich wieder schlafen legt, damit ich das Truthahnsandwich essen kann, das ich unter dem Bett versteckt habe.
Mit einem Wuuuusch geht die Tür zum Gruppenraum auf. Casper schwebt herein und setzt sich neben Sasha, die freudig erzittert und sie wie ein Welpe angrinst. Casper trägt eine braune Hose und ihre Elfenpantoffeln, und hat sich ein rotes Kopftuch wie ein Stirnband über die gelblichen Haare gebunden. Mondsichelohrringe, rosa Wange, die Frau ist ein ganzer verdammter Regenbogen.
Wie sie wohl auf der Highschool gewesen ist? Bestimmt war sie ein braves Mädchen, so eine, die ihr Buch immer über den Titten hält, immer perfekt gekämmtes Haar hat und sich auf die Lippen beißt, wenn sie eine Prüfungsarbeit schreibt. War bestimmt im Jahrbuch-, oder im Mathe-Team, oder im Debattierclub.
Aber da muss noch was anderes sein, irgendwas lauert unter Caspers blankpolierter Oberfläche, das wir nicht sehen können, wie eine abgekapselte Verletzung, ein schmerzempfindliches Geheimnis, irgendwas muss doch da sein, warum sollte sie sonst ausgerechnet uns zu ihrem verfickten Lebensinhalt machen?
Sie teilt Papier und Stifte aus und wir verspannen uns. Die Sitzungen, in denen wir schreiben müssen, sind immer heftig. Dann sagt Casper, wir sollen Papier und Stifte am Boden ablegen und die Akkordeon-Atemübung machen. Ich kann mich nicht konzentrieren. Ich starre auf die Wanduhr. Ich darf heute früher gehen, ich kriege heute die Verbände abgemacht. Der Gedanke daran lässt die Schmetterlinge in meinem Bauch fliegen.
Casper sagt: »Ich möchte, dass ihr aufschreibt, was ihr zu euch sagt, bevor ihr euch selbst verletzt.«
Blue stöhnt laut auf, lässt die Zunge in ihrem Mund Karussell fahren, wackelt mit den nackten Zehen. Sie trägt nie Schuhe. Silberringe glänzen an drei ihrer Zehen. Von meinem Platz ihr gegenüber im Kreis wirkt sie genauso jung wie wir alle, aber wenn man sie aus der Nähe anschaut, beim Essen oder im Gemeinschaftsraum, sieht man die tiefen Furchen in ihren Augenwinkeln. Ich hab schon so lange nicht mehr gezeichnet, ich gehe so gut wie nie in die Kunsttherapiestunden, und Blue anzuschauen ist echt hart, weil sie macht, dass ich mich ganz schlimm nach meinen Stiften und Kohlen sehne. Da ist irgendetwas in ihr, was ich gern auf Papier bannen würde.
Zunächst schreibe ich gar nichts, sondern zeichne nur so kleine Striche mit meinem roten Filzstift, und dann schiele ich verstohlen zu Blue hin, um sie zu skizzieren, nur so ganz leicht, zaghaft. Es fühlt sich gut an, wie meine Finger den Stift umschließen, wie ich mich an Blues katzenhaften Augen, ihrem vollen Mund entlangtaste. Ein bisschen merkwürdig ist es schon, das Papier so auf meine Oberschenkel zu drücken, aber meine Finger scheinen nicht vergessen zu haben, wie es geht. Als hätten sie die ganze Zeit nur darauf gewartet, dass ich zurückkomme.
Blues Mund ist so prall. Meine Lippen sind ganz dünn. Die muss man eben etwas mehr betonen, hat Ellis gesagt. Hat mein Kinn in die Hand genommen, den kalten Lippenstift auf meinen Mund gepresst. Aber funktioniert hat es nie. An mir sah das nie richtig aus. Ich habe mich nicht als einen Menschen mit schönem Mund gesehen. Immer nur als Menschen, der sich Lippenstift auf die Gesichtshaut geschmiert hat.
In meinem Kopf beginnt es sich zu drehen, immer weiter im Kreis, selbst als ich nun Blue zeichne. Da passieren Dinge, an die ich nicht denken will, nicht jetzt. Da passieren Wörter, Wörter wie Leidtun und Dachboden und Unterführung und Wehtun.
Sasha schnieft. Francie räuspert sich.
Mein Stift schreibt RAUS. RAUSSCHNEIDEN. SCHNEIDE ALLES RAUS. Ich male ein großes rotes X über meine Zeichnung von Blues Gesicht, knülle das Blatt zusammen und schiebe es mir unter den Oberschenkel.
»Isis.« Casper faltet die Hände und wartet darauf, dass Isis vorliest, was sie aufgeschrieben hat.
Isis läuft rot an und zupft sich an der Nase. »Okay«, sagt sie schließlich. Sie redet so leise, dass es nur ein Wispern ist. »Wieso kapierst du’s nicht endlich? Wird wohl Zeit für eine weitere Lektion.« Sie kneift die Augen fest zu.
Francie sagt: »Niemand. Leer. Wen juckt’s«, und zerreißt ihr Blatt in zwei Hälften.
Sashas Körper ist so warm vom Weinen, dass sie eine seltsame Hitze ausstrahlt. Ich schiebe meinen Stuhl ein Stück von ihr weg. Ich kann Blues Blick auf mir spüren.
Sasha schaut auf ihr Papier runter und spuckt aus: »Du. Fettsack. Arschloch. Fuck.«
Raubvogelschnell springt Blue auf, hechtet quer durch den Kreis und zerrt mein Blatt unter meinem Bein heraus. Dann steht sie da, mitten im Raum und starrt mich an.
Casper sieht sie ruhig an. »Blue.« Eine Warnung.
Blue faltet das Blatt auseinander, streicht es glatt. Sie schaut es an, und ein Lächeln breitet sich langsam auf ihrem Gesicht aus. »Bin ich das? Echt gut, Stumme Sue. Dass du mich ausge-X-t hast, gefällt mir besonders.«
Sie zeigt das Papier in die Runde. »Sie hat mich ausgelöscht.« Dann knüllt sie es wieder zusammen und wirft es mir auf den Schoß. Ich lasse es zu Boden fallen. Auf dem Weg zurück zu ihrem Stuhl wirft Blue Casper hin: »Sie hat’s besser ausgedrückt, als ich je könnte. Ja, genau das geht mir durch den Kopf, wenn ich mich selbst verletze. Mich auslöschen.«
Casper wendet sich Sasha zu, aber bevor sie etwas sagen kann, geht Blue noch mal dazwischen. »Wissen Sie, Doc, das ist ganz schön unfair.«
»Was ist unfair?« Casper sieht Blue an, und mein Gesicht beginnt sich aufzuheizen. Ich schaue zur Uhr. Nur noch ein paar Minuten, dann kann ich aufstehen und gehen, diesem Haufen hier den Rücken kehren.
»Sie muss nie etwas sagen. Wir müssen immer alles erzählen, unsere ganzen Eingeweide nach außen stülpen, und die muss nie ein Scheißwort sagen. Vielleicht sieht sie in uns ja nur ein nette kleine Comedyshow.«
»Die Teilnahme an den Gruppengesprächen ist freiwillig, Blue. Wer nicht reden will, braucht es nicht zu tun. In Char-«
»Sag doch mal, was du da aufgeschrieben hast, Stumme Sue«, ruft Blue. »Du willst nicht? Okay, dann mach ich das. Raus. Rausschneiden. Schneide alles raus. Das hat sie geschrieben. Was rausschneiden, Sue? Na los, spuck’s aus! Spuck’s endlich aus!«
Fucking Frank hat immer Silberringe getragen, fiese fette Dinger mit Totenköpfen drauf, die er ständig an seinem Hemd rieb, bis sie perfekt glänzten. Seine Finger waren fleckig und vom Feuerzeug angekokelt und bohrten sich in meinen Nacken, als er mich auf dem Dachboden auf die Beine zerrte. Evan und Dump standen hinter ihm und machten Geräusche wie kleine Kätzchen, aber sie waren nur zwei Jungs, die Drogen brauchten. Draußen war es bitterkalt, der April hatte uns einen überraschenden Schneefall beschert, der sich in gefrorenen Eismatsch verwandelt hatte. Das war das denkbar schlechteste Wetter für jemanden, der draußen leben musste: eiskaltes Wasser, das dir auf dem Gesicht gefror und aus deinen Fingern steife Knochenhülsen machte.