Slavoj Žižek
Lacan
Eine Einführung
Aus dem Englischen von Karen Genschow und Alexander Roesler
FISCHER E-Books
Slavoj Žižek, geboren 1949, ist Philosoph, Psychoanalytiker und Kulturkritiker. Er lehrt Philosophie an der Universität von Ljubljana in Slowenien und an der European Graduate School in Saas-Fee und ist derzeit International Director am Birkbeck Institute for the Humanities in London. Seine zahlreichen Bücher sind in über 20 Sprachen übersetzt. Im S.Fischer Verlag sind zuletzt erschienen ›Was ist ein Ereignis?‹ (2014) und ›Das Jahr der gefährlichen Träume‹ (2013).
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Der Psychoanalytiker Jacques Lacan gilt als ein so einflußreicher wie schwieriger Denker. Der bekannte Kulturkritiker Slavoj Žižek hat sich daher die Aufgabe gestellt, Lacan einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Dies gelingt ihm, indem er die zentralen Begriffe anschaulich und amüsant mit Hilfe von bekannten Hollywood-Filmen erklärt. Eine Zeittafel sowie eine kommentierte Bibliographie zur weiterführenden Lektüre runden den Band ab.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »How To Read Lacan« im Verlag Granta Publications, England, Series Editor: Simon Critchley
© Slavoj Žižek, 2006
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2008 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Buchholz / Hinsch / Hensinger
Coverfoto: Picture-Alliance / akg-images / Georgette Chadourne
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490432-0
Jacques Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse, Das Seminar Buch VII, Weinheim/Berlin: Quadriga 1996, S. 301 [die englische Übersetzung dieses Fragments lautet: »Let’s try to practise a little brain-washing on ourselves«, Lacan, The Ethics of Psychoanalysis, London: Routledge 1992, S. 307; A.d.Ü.]
Siehe Todd Dufresne, Killing Freud: 20th Century Culture and the Death of Psychoanalysis, London: Continuum books 2004.
Le livre noir du communisme, Paris: Robert Lafont 2000.
Le livre noir de la psychanalyse: vivre, penser et aller mieux sans Freud, Paris: Athe`nes 2005.
Ein letzter Hinweis: Da dieses Buch eine Einführung in Lacan ist, die sich auf einige seiner grundlegenden Begriffe konzentriert, und da dieses Thema im Fokus meiner eigenen Arbeiten der letzten Dekade steht, gab es keine Möglichkeit, eine gewisse »Kannibalisierung« meiner bereits erschienenen Bücher zu vermeiden. Um dies zu kompensieren, habe ich großen Wert darauf gelegt, jeder dieser geliehenen Passagen hier eine neue Wendung zu geben.
Jacques Lacan, Schriften 1, Weinheim/Berlin: Quadriga, 1991, S. 112; »Danaer« ist die Bezeichnung Homers für die Griechen, die Troja belagerten. Das Geschenk war das Trojanische Pferd, das es den Griechen ermöglichte, in Troja einzufallen und es zu zerstören. Im Altertum wurde die Wendung »Griechische Geschenke« zum Inbegriff für Gefälligkeiten, die zwar vorteilhaft zu sein scheinen, dem Empfänger aber Schaden zufügen werden; nach dem Vers von Vergil: »Timeo Danaos et dano ferentes« – »Ich fürchte die Danaer, auch wenn sie Geschenke bringen«.
Janet Malcolm, The Silent Woman, London: Picador 1994, S. 172.
Adam Morton, On Evil, London: Routledge 2004, S. 51.
Lacan, Schriften 1, S. 127.
Ebenda.
Jacques Lacan, Ethik, S. 303. [Der letzte Satz des Zitats lautet in der offiziellen deutschen Übersetzung allerdings: »Das Emotionale wird kommentiert«; wir haben diesen Satz nach der englischen Übersetzung übertragen, die Slavoj Žižek verwendet; A.d.Ü.]
Ich nehme hier Bezug auf Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003.
Vgl. Michel de Certeau, »What we do when we believe«, in: Marshall Blonsky (Hg.), On Signs, Baltimore: The Johns Hopkins University Press 1985, S. 200.
Dasselbe gilt für das Heiraten: die implizite Voraussetzung (oder eher Verfügung) der Ideologie der Ehe besteht genau darin, daß in ihr keine Liebe sein soll. Die Pascalsche Formel der Ehe ist daher nicht »Du liebst deinen Partner nicht? Dann heirate ihn, vollzieht das Ritual des gemeinsamen Lebens, und die Liebe wird von selbst kommen!«, sondern im Gegenteil: »Liebst du jemanden zu sehr? Dann heiratet, ritualisiert eure Liebesbeziehung, als ob ihr eure Leidenschaft kurieren wolltet, und ersetzt sie durch langweilige Routine – und wenn du der Versuchung nicht widerstehen kannst, dann sind außereheliche Affären immer möglich …«
»Signifikant« ist ein technischer Begriff, der von Saussure geprägt wurde und den Lacan auf ganz spezifische Weise verwendet: Es ist nicht einfach der materielle Aspekt eines Zeichens (im Gegensatz zum »Signifikat«, seiner Bedeutung), sondern eine Eigenschaft, eine Markierung, die das Subjekt repräsentiert. Ich bin, was ich bin, durch Signifikanten, die mich repräsentieren und die meine symbolische Identität konstituieren.
Lacan identifiziert die Hysterie mit der Neurose. Die andere Hauptform der Neurose, die Zwangsneurose, ist für ihn ein »Dialekt der Hysterie«.
William Shakespeare, König Richard II., IV, 1, übersetzt von August Wilhelm Schlegel, in: ders., Sämtliche Werke, Essen: Magnus 2003, S. 498.
Augustinus, Bekenntnisse, übersetzt von Otto F. Lachmann, Buch I, Kap. 7.
Jean-Pierre Dupuy, Avions-nous oublié le mal? Penser la politique après le 11 septembre, Paris: Bayard 2002.
Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975.
Vgl. Friedrich Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, München: Olzog 2003.
Jacques Lacan, Die Psychosen. Das Seminar Buch III, Weinheim/Berlin: Quadriga 1997, S. 48.
Jacques Lacan, Schriften II, Weinheim/Berlin: Quadriga, 1986, S. 190.
Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: ders., Gesammelte Werke in fünf Bänden, Frankfurt am Main/Leipzig: Insel 2003, Band 4, S. 249.
Guillermo Arriaga, 21 Grams, London: Faber & Faber 2003, S. 107.
Das Verbindungsglied zwischen Lacan und J.L. Austin, dem Schöpfer des Begriffs der Performative, war Emile Benveniste.
Daniel C. Dennett, Philosophie des menschlichen Bewußtseins, Hamburg: Hoffmann und Campe 1994, S. 178.
Das ist auch der Grund, warum Männer, die wirklich vergewaltigen, nicht darüber phantasieren – im Gegenteil, sie phantasieren darüber, sanft zu sein, eine geliebte Partnerin zu finden; Vergewaltigung ist eher ein gewalttätiger passage à l’acte, eine Umsetzung in die Tat, die aus ihrer Unfähigkeit entsteht, einen solchen Partner im wirklichen Leben zu finden.
Sigmund Freud, Bruchstücke einer Hysterie-Analyse, in: ders., Gesammelte Werke, Band V, S. 273.
Der naheliegende feministische Standpunkt wäre natürlich, daß Frauen in ihren alltäglichen Liebeserfahrungen eher das gegenteilige Szenario erleben: Sie küssen einen wunderschönen jungen Mann, und nachdem sie ihm zu nahe gekommen sind, d.h., wenn es schon zu spät ist, entdecken sie, daß er eigentlich ein Frosch ist, vielleicht sogar ein Alkoholiker-Frosch.
Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI, Olten: Walter 21980, S. 64.
Lacan, Vier Grundbegriffe, S. 207. Hier haben wir ein Beispiel dafür, wie man beim Lesen von Lacan von einem Seminar zu dem entsprechenden Écrit übergehen sollte – der Seminar XI entsprechende Écrit ist »Die Position des Unbewußten«, der eine sehr dichte, aber auch präzisere Formulierung des Mythos der Lamelle enthält. L’objet petit a (das Objekt klein a, bei dem »a« für »den anderen« steht, »das Objekt des kleinen anderen«) ist Lacans Wortschöpfung mit mehrfacher Bedeutung. In der Hauptsache bezeichnet es die Objekt-Ursache des Begehrens: nicht direkt das Objekt des Begehrens, sondern dasjenige daran, was uns das begehrte Objekt begehren läßt.
Lewis Carroll, Alice im Wunderland, Frankfurt am Main: Insel 1973, S. 68f.
Stephen Mulhall, On Film, London: Routledge 2001, S. 9.
Herman Melville, Moby Dick oder Der Wal, Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg 1968, S. 423.
Jacques Lacan, Le triomphe de la religion, précédé de Discours aux catholiques, Paris: Editions du Seuil 2005, S. 93f.
Lacan, Triomphe, S. 96f.
William Shakespeare, König Richard II., II, 5, übersetzt von August Wilhelm Schlegel, in: Sämtliche Werke, Essen: Magnus 2003, S. 484.
Shakespeare, Richard II., III, 3, S. 491.
Shakespeare, Richard II., IV, 3, S. 497.
Joseph Campbell, Die Kraft der Mythen, Zürich/München: Artemis 1989, S. 247f.
Brian Greene, Das elegante Universum, Berlin: Siedler 2000, S. 143.
Brian Greene, Universum, S. 147f.
Jacques Lacan, Encore. Das Seminar Buch XX, Weinheim/Berlin: Quadriga 21991, S. 9.
Lacan, Ethik, S. 369.
Lacan, Ethik, S. 380.
Ich beziehe mich hier auf Richard Maltby, »›A Brief Romantic interlude‹: Dick and Jane go to 31/2 Seconds of the Classic Hollywood Cinema«, in: David Bordwell und Noel Carroll (Hg.), Post-Theory, Madison: University of Wisconsin Press 1996, S. 434–459.
Maltby, S. 443.
Maltby, S. 441.
F. Scott Fitzgerald, Der letzte Taikun, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1962, S. 61.
[Bezeichnung für die oftmals besondere Redeweise von George W. Bush, von seinem Spitznamen »Dubya« abgeleitet, der sich der südstaatlichen Aussprache von »W«, englisch: »Double-U«, verdankt. Siehe auch www. dubyaspeak.com; A.d.Ü.]
William Shakespeare, Troilus und Cressida, übersetzt von Wolf Graf von Baudissin, I, 3, in: Sämtliche Werke, Essen: Magnus 2003, S. 835.
Shakespeare, Troilus, III, 3, S. 841
Lacan, Vier Grundbegriffe, S. 65.
Wenn man diesen Traum mit dem Traum aus Kapitel 3 verbindet, dem Traum von dem toten Sohn, der seinem Vater mit der schrecklichen Klage erscheint »Vater, siehst du denn nicht, daß ich verbrenne?«, dann kann Lacans Behauptung auch als Vorwurf an den Gott-Vater paraphrasiert werden: »Vater, siehst du denn nicht, daß du tot bist?«
Jacques Lacan, Das Seminar Buch II. Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Weinheim/Berlin: Quadriga 1991, S. 166.
Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Band 1, Berlin: Dietz 1962, S. 85.
Zitiert nach Max Brod, Über Franz Kafka, Frankfurt am Main: Fischer 1974, S. 198.
Der Anfang der Geschichte beinhaltet ein seltsames Dementi von Rimbauds Je est un autre: »Ich bin es nicht; das ist eine ganz andere Person.«
Fjodor M. Dostojewski, »Bobok. Aufzeichnungen einer gewissen Person«, in: ders., Traum eines lächerlichen Menschen. Eine phantastische Erzählung, Frankfurt am Main: Fischer 1995, S. 65f.
Dostojewski, Bobok, S. 70.
[In der deutschen Übersetzung eigentlich: »und dann – Schluß«; in der englischen Übersetzung, auf die sich der Autor bezieht, heißt es jedoch wie oben angegeben; A.d.Ü.]
Dostojewski, Bobok, S. 92.
Dostojewski, Bobok, S. 94.
Dostojewski, Bobok, S. 98.
Lacan, Vier Grundbegriffe, S. 194.
Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München: Piper 81992, S. 140.
Eine englische Übersetzung des Briefs findet sich unter http://www. militantislammonitor.org/article/id/320.
Siehe Janet Avery und Kevin B. Anderson, Foucault and the Iranian Revolution, Chicago: The University of Chicago Press 2005.
William Shakespeare, Ende gut, alles gut, III, 7, übersetzt von Wolf Graf Baudissin, in: Sämtliche Werke, Essen: Magnus 2003, S. 330.
Siehe Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: ders., Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Band 1, S. 173, Berlin: Dietz 1985.
Siehe Lacan, Vier Grundbegriffe, S. 109 u. 118f.
Lacan, Schriften II, S. 202.
Lacan, Vier Grundbegriffe, S. 106.
Einer der lächerlichen Exzesse dieses Gemeinschaftsunternehmens von religiösem Fundamentalismus und wissenschaftlicher Herangehensweise findet heute in Israel statt, wo eine religiöse Gruppe von der buchstäblichen Wahrheit der alttestamentarischen Prophezeiung überzeugt ist, daß der Messias kommen wird, wenn ein vollständig rotes Kalb geboren wird, und nun enorme Summen an Zeit und Energie verschwendet, um ein solches Kalb mittels Genmanipulation herzustellen.
Jonathan Brent und Vladimir P. Naumov, Stalin’s Last Crime, New York: HarperCollins 2003, S. 307.
Brent/Naumov, Stalin, S. 297.
Samuel Beckett, Der Namenlose, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 176 [in der englischen Übersetzung lautet die Passage: »in the silence you don’t know, you must go on, I can’t go on, I’ll go on.« Samuel Beckett, Trilogy, London: Calder Publications 2003, S. 418; A.d.Ü.].
Für Tim,
den jüngsten dialektischen Materialisten der Welt!
»Versuchen wir doch, uns ein wenig diesen ganzen Lärm aus dem Hirn zu spülen.«[1]
Zum hundertsten Jahrestag der Veröffentlichung von Freuds Traumdeutung im Jahr 2000 wurde wieder einmal der Tod der Psychoanalyse triumphal gefeiert; mit dem Fortschritt der Hirnforschung habe sie nun endlich dort ihre Ruhestätte gefunden, wo sie schon immer hingehört hat: in die Rumpelkammer obskurer vorwissenschaftlicher Erforschung verborgener Bedeutungen, neben religiösen Eiferern und Traumdeutern. Wie Todd Dufresne es ausdrückt,[2] lag keine Gestalt in der Geschichte des menschlichen Denkens falscher in bezug auf ihre Grundannahmen – mit der Ausnahme von Marx, wie einige wohl hinzufügen würden. Es war zu erwarten, daß dem berüchtigten Schwarzbuch des Kommunismus,[3] das alle kommunistischen Verbrechen auflistet, im Jahr 2005 das Schwarzbuch der Psychoanalyse folgte,[4] das alle theoretischen Irrtümer und klinischen Täuschungen der Psychoanalyse zusammenträgt. In dieser Ablehnung wenigstens ist jetzt die tiefe Solidarität von Marxismus und Psychoanalyse für jedermann offensichtlich.
An dieser Grabrede ist etwas dran. Als Freud vor einem Jahrhundert seine Entdeckung des Unbewußten in der Geschichte des modernen Europas verorten wollte, entwickelte er die Idee von drei aufeinanderfolgenden Demütigungen des Menschen, den »Narzißtischen Kränkungen«, wie er sie nannte. Zuerst bewies Kopernikus, daß die Erde sich um die Sonne dreht, und vertrieb damit uns Menschen aus dem Zentrum des Universums. Dann bewies Darwin unsere Entstehung durch blinde Evolution und nahm uns dadurch den Ehrenplatz unter den Lebewesen. Als Freud schließlich die vorherrschende Rolle des Unbewußten im psychischen Prozeß enthüllte, zeigte sich, daß unser Ich nicht einmal Herr im eigenen Hause ist. Heute, ein Jahrhundert später, zeichnet sich ein öderes Bild ab: Die neuesten wissenschaftlichen Durchbrüche scheinen dem narzißtischen Bild des Menschen eine Reihe weiterer Demütigungen zuzufügen: unser Geist ist eine reine Rechenmaschine, die Daten prozessiert; unser Gefühl von Freiheit und Autonomie ist die Illusion des Nutzers dieser Maschine. Weit davon entfernt, subversiv zu sein, scheint die Psychoanalyse im Licht der heutigen Hirnforschung selbst dem traditionellen humanistischen Feld zuzugehören, das durch die jüngsten Demütigungen bedroht wird.
Ist die Psychoanalyse heute also wirklich ein Auslaufmodell? Auf drei miteinander verbundenen Ebenen scheint sie es zu sein: 1. auf der Ebene der wissenschaftlichen Erkenntnis, wo das kognitivistisch-neurobiologische Modell des menschlichen Geistes allem Anschein nach das freudianische Modell verdrängt; 2. auf der Ebene der Psychiatrie, wo die psychoanalytische Behandlung rapide an Boden gegenüber Pillen und Verhaltenstherapie verliert; und 3. im sozialen Kontext, wo das Freudsche Bild der Gesellschaft und der sozialen Normen, die die Sexualtriebe des Individuums unterdrücken, nicht mehr länger eine gültige Beschreibung der heutzutage vorherrschenden hedonistischen Freizügigkeit zu sein scheint.
Dennoch könnte sich im Fall der Psychoanalyse der Gedenkgottesdienst als etwas voreilig erweisen, für einen Patienten begangen, der noch ein langes Leben vor sich hat. Im Gegensatz zu den »evidenten« Wahrheiten der Freudkritiker ist es mein Ziel, zu zeigen, daß die Zeit der Psychoanalyse gerade erst gekommen ist. Denn durch die Augen Lacans, durch das, was er seine »Rückkehr zu Freud« genannt hat, erscheinen die wesentlichen Einsichten Freuds endlich in ihrer wahren Dimension. Lacan hat diese Rückkehr nicht als Rückkehr zu dem verstanden, was Freud gesagt hat, sondern als Rückkehr zum Kern der Freudschen Revolution, deren sich Freud selbst nicht voll bewußt war.
Lacan begann seine »Rückkehr zu Freud« mit der linguistischen Deutung des gesamten psychoanalytischen Gebäudes, was in seiner wohl bekanntesten Formel zusammengefaßt ist: »Das Unbewußte ist strukturiert wie eine Sprache.« Nach der vorherrschenden Auffassung ist das Unbewußte der Bereich der irrationalen Triebe, etwas, das dem rationalen bewußten Selbst entgegengesetzt ist. Für Lacan gehört dieser Begriff des Unbewußten zur romantischen Lebensphilosophie und hat nichts mit Freud zu tun. Das Freudsche Unbewußte hat nicht durch die Behauptung, das rationale Selbst sei dem viel größeren Bereich der irrationalen blinden Instinkte untergeordnet, einen solchen Skandal verursacht, sondern weil es deutlich gemacht hat, wie das Unbewußte selbst seiner eigenen Grammatik und Logik folgt: Das Unbewußte spricht und denkt. Das Unbewußte ist nicht das Reservat wilder Triebe, die vom Ich gezähmt werden müssen, sondern der Ort, an dem sich eine traumatische Wahrheit äußert. Darin besteht Lacans Version von Freuds Motto »Wo Es war, soll Ich werden«: nicht »das Ich soll das Es besiegen«, den Ort der unbewußten Triebe einnehmen, sondern »Ich muß es wagen, mich dem Ort meiner Wahrheit zu nähern«. Was mich »dort« erwartet, ist keine tiefe Wahrheit, mit der ich mich identifizieren muß, sondern eine unerträgliche Wahrheit, mit der zu leben ich lernen muß.
Wie unterscheiden sich nun Lacans Ideen von der Hauptströmung der psychoanalytischen Schulen und von Freud selbst? Im Hinblick auf andere Schulen springt zunächst die philosophische Grundhaltung der Lacanschen Theorie ins Auge. Für Lacan ist die Psychoanalyse auf ihrer grundlegendsten Ebene keine Theorie und Technik der Behandlung psychischer Störungen, sondern eine Theorie und Praxis, die die Individuen mit der radikalsten Dimension der menschlichen Existenz konfrontiert. Sie zeigt einem Individuum nicht den Weg, sich den Anforderungen der sozialen Realität anzupassen, sondern erklärt im Gegenteil, wie sich so etwas wie »Realität« zuallererst konstituiert. Sie befähigt einen Menschen nicht nur, die unterdrückte Wahrheit über sich zu akzeptieren, sie erklärt auch, wie sich die Dimension der Wahrheit in der menschlichen Realität zeigt. Aus Lacans Sicht haben pathologische Strukturen wie Neurosen, Psychosen oder Perversionen die Würde fundamentaler philosophischer Haltungen gegenüber der Realität. Wenn ich an einer Zwangsneurose leide, dann färbt diese »Krankheit« meine gesamte Beziehung zur Realität und bestimmt die allgemeine Struktur meiner Persönlichkeit. Lacans Hauptkritikpunkt an anderen psychoanalytischen Zugängen betrifft deren klinische Ausrichtung: Für Lacan besteht das Ziel der psychoanalytischen Behandlung nicht im Wohlbefinden, in einem erfolgreichen Sozialleben oder in persönlicher Erfüllung des Patienten, sondern darin, den Patienten dazu zu bringen, sich mit den elementaren Koordinaten und Blockaden seines Begehrens zu konfrontieren.
In bezug auf Freud fällt als erstes auf, daß der Schlüssel, den Lacan bei seiner »Rückkehr zu Freud« verwendet, von außerhalb des psychoanalytischen Feldes stammt: um den geheimen Schatz von Freud zu heben, nimmt Lacan eine bunte Mischung von Theorien in seinen Dienst, von der Linguistik Ferdinand de Saussures über Claude Lévi-Strauss’ strukturale Anthropologie zur mathematischen Mengenlehre und den Philosophien von Platon, Kant, Hegel und Heidegger. Daraus folgt, daß die meisten von Lacans Schlüsselbegriffen keine Entsprechung in Freuds eigener Theorie haben: Freud erwähnt niemals die Triade aus Imaginärem, Symbolischem und Realem, er redet nie vom »großen Anderen« als der symbolischen Ordnung, er spricht vom »Ich«, nicht vom »Subjekt«. Lacan benutzt diese Begriffe aus anderen Disziplinen als Werkzeuge, um Unterscheidungen zu treffen, die bei Freud schon implizit vorhanden sind, auch wenn er sich ihrer nicht bewußt gewesen ist. Wenn die Psychoanalyse zum Beispiel eine »Redekur« ist, wenn sie pathologische Störungen nur mit Worten behandelt, dann ist sie auf einen bestimmten Begriff von Rede angewiesen. Lacans These ist, daß Freud sich des Begriffs der Rede nicht bewußt war, der in seiner eigenen Theorie und Praxis impliziert ist, und daß wir diesen Begriff nur erschließen können, wenn wir uns auf die Saussuresche Linguistik, die Sprechakttheorie und die Hegelsche Dialektik der Anerkennung beziehen.
Lacans »Rückkehr zu Freud« stellte eine neue theoretische Begründung der Psychoanalyse bereit mit immensen Konsequenzen auch für die analytische Behandlung. Kontroversen, Krisen und sogar Skandale begleiteten Lacan in seiner gesamten Karriere. Er war 1953 nicht nur gezwungen, die Verbindung mit der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung aufzulösen (siehe Zeittafel), sondern verstörte mit seinen provokanten Ideen viele fortschrittliche Denker von kritischen Marxisten bis zu Feministinnen. Auch wenn er von der westlichen akademischen Welt für gewöhnlich als eine Art Postmoderner oder Dekonstruktivist wahrgenommen wird, ragt er weit aus dem Feld heraus, das diese Etiketten bezeichnen. Sein ganzes Leben lang entwuchs er den Etiketten, die seinem Namen angeheftet wurden: Phänomenologe, Hegelianer, Heideggerianer, Strukturalist, Poststrukturalist; kein Wunder, da das hervorstechendste Merkmal seiner Lehre permanente Selbstbefragung ist.
Lacan war ein unersättlicher Leser und Interpret; Psychoanalyse selbst war für ihn eine Methode, Texte zu lesen, seien sie mündlich (die Rede der Patienten) oder schriftlich. Welch besseren Weg gibt es also, Lacan zu lesen, als seine Art des Lesens zu praktizieren, andere Texte mit Lacan zu lesen. Daher wird jedes Kapitel dieses Buchs eine Passage von Lacan mit einem anderen Fragment konfrontieren (aus Philosophie, Kunst, Popkultur und Ideologie). Lacans Position wird durch das Lacansche Lesen anderer Texte erläutert. Ein weiteres Merkmal dieses Buches ist ein umfassender Ausschluß: Es ignoriert beinahe vollkommen Lacans Theorie über dasjenige, was in der psychoanalytischen Behandlung geschieht. Vor allem anderen war Lacan ein Kliniker, und klinische Belange durchziehen alles, was er schrieb und tat. Selbst wenn er Platon, Thomas von Aquin, Hegel oder Kierkegaard liest, versucht er immer ein präzises klinisches Problem zu erhellen. Diese Allgegenwart erlaubt uns aber auch, diesen Aspekt auszuschließen: gerade weil das Klinische überall ist, kann man den Prozeß umgehen und sich statt dessen auf seine Effekte konzentrieren, auf die Art und Weise, wie es alles färbt, was nicht klinisch erscheint – das ist der wahre Test seiner zentralen Stellung.
Anstatt Lacan durch seinen historischen und theoretischen Kontext zu erklären, wird dieses Buch auf Lacan selbst zurückgreifen, um unsere soziale und triebhafte Lage zu erklären. Anstatt objektive Urteile zu äußern, ist es einer parteiischen Lektüre verpflichtet – es ist Teil der Lacanschen Theorie, daß jede Wahrheit parteiisch ist. In seiner Freudlektüre veranschaulicht Lacan selbst die Kraft eines solchen parteiischen Ansatzes. In seinen Beiträgen zum Begriff der Kultur bemerkt T.S. Eliot, daß es Momente gibt, in denen die einzige Wahl die zwischen Sektierertum und Unglaube ist, daß es kritische Augenblicke gibt, in denen der einzige Weg, eine Religion am Leben zu erhalten, in einer sektiererischen Abspaltung vom Hauptkörper besteht. Durch seine sektiererische Abspaltung, indem er sich von dem verwesenden Leichnam der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung abschnitt, hielt Lacan die Freudsche Lehre lebendig. Fünfzig Jahre später ist es nun an uns, das gleiche mit Lacan zu tun.[5]
Beginnt mit den Gaben [der Danaer] oder eher mit den Losungsformeln, die ihren heilsmächtigen Unsinn dazu tun, die Sprache als Gesetz? Diese rituellen Gaben nämlich sind bereits Symbole in dem Sinne, in dem ›Symbol‹ einen Vertrag bedeutet, und ferner, weil sie zunächst Signifikanten eines Vertrages sind, den sie als Signifikat begründen; denn es ist augenfällig, daß die Gegenstände des symbolischen Tauschs – Gefäße, die leer bleiben müssen, Schilde, die zum Tragen zu schwer sind, Garben, die vertrocknen, Lanzen, die man in den Boden steckt – nicht für den Gebrauch bestimmt und ihrer Fülle wegen sogar überflüssig sind.
Ist diese Neutralisierung des Signifikanten schon das ganze Wesen der Sprache? Wäre dem so, fände man einen Anhaltspunkt am Beispiel der Wasserschwalben in dem Fisch, den sie während ihres Zuges von Schnabel zu Schnabel wandern lassen. Wenn wir das in Übereinstimmung mit dem Ethologen als ein Instrument ansehen, die Gruppe wie bei einem Fest in eine reigenförmige Bewegung zu bringen, so könnte man darin mit voller Berechtigung ein Symbol erkennen.[6]
Mexikanische Seifenopern werden in einem so rasanten Tempo gedreht (jeden Tag läuft eine fünfundzwanzigminütige Folge), daß die Schauspieler nicht einmal mehr das Drehbuch bekommen, um ihren Text im voraus zu lernen; sie tragen kleine Empfänger im Ohr, die ihnen sagen, was zu tun ist, und sie lernen, das zu spielen, was sie hören (»jetzt gib ihm eine Ohrfeige, und sag ihm, daß du ihn haßt! Dann umarme ihn! …«). Dieses Verfahren stellt uns ein Bild für das zur Verfügung, was Lacan nach allgemeiner Auffassung mit dem »großen Anderen« meint. Die symbolische Ordnung, die ungeschriebene Verfassung der Gesellschaft, ist die zweite Natur von jedem sprechenden Wesen: Sie ist hier und leitet und kontrolliert meine Handlungen; sie ist das Meer, in dem ich schwimme, doch sie bleibt letzten Endes unzugänglich – ich kann sie nie vor mich hinstellen und zu fassen bekommen. Es ist, als würden wir, die Subjekte der Sprache, wie Puppen reden und interagieren, als würden unser Reden und unsere Gesten von einer namenlosen, alles durchdringenden Kraft bestimmt. Heißt das, daß wir menschlichen Individuen Lacan zufolge bloße Epiphänomene sind, Schattenwesen ohne eigene Macht, daß unsere Selbstwahrnehmung als autonom und frei Handelnde eine Art User-Illusion ist, die uns für die Tatsache blind macht, daß wir Werkzeuge in den Händen des großen Anderen sind, der sich hinter dem Bildschirm versteckt und die Strippen zieht?