Jennifer Niven
Stell Dir vor,
dass ich
Dich liebe
Aus dem Amerikanischen
von Maren Illinger
FISCHER E-Books
Jennifer Niven wuchs in Indiana auf und lebt heute mit ihrem Verlobten in Los Angeles. Ihr internationaler und New-York-Times-Bestseller »All die verdammt perfekten Tage« stürmte in Deutschland sofort die SPIEGEL-Bestsellerliste und wird derzeit verfilmt.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Jack ist der Coolste, der Schönste, von allen geliebt und begehrt. Doch er hat ein Geheimnis: Er ist gesichtsblind. Auf Partys fällt es ihm schwer, seine Freundin unter all den anderen Frauen zu erkennen. Für ihn sieht ein Gesicht wie das andere aus. Dass er schon mal einer vollkommen Fremden ein »Hey Baby« ins Ohr raunt, halten alle für Coolness. Doch Jacks ganzes Leben besteht aus Strategien und Lügen, um sein Problem zu vertuschen: Immer cool bleiben, auch wenn er mal die Falsche küsst. Jedes Fettnäpfchen eine Showbühne! Und dann kommt Libby, die in den Augen vieler so unperfekt ist, wie man nur sein kann. Denn Libby ist übergewichtig. Keine Strategie der Welt kann das vertuschen. Libby ist die Einzige, die erkennt, was hinter Jacks ewigem Lächeln steckt. Bei ihr kann Jack zum ersten Mal einfach er selbst sein. Aber hat einer wie Jack den Mut, eine wie Libby zu lieben?
Eine Geschichte über die eine wahre Liebe, die dir das wunderbare Gefühl schenkt, mit all deinen verdammten Fehlern perfekt zu sein.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel ›Holding up the universe‹ bei Alfred A. Knopf, an imprint of Random House Children's Books, a division of Penguin Random House LLC, New York
Text copyright © 2016 by Jennifer Niven
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: bürosüd
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-5020-9
für Kerry,
Louis,
Angelo und Ed,
die mein Universum gehalten haben
und für meine Leser,
die mir die Welt bedeuten
»Er war nett, Atticus, so nett …«
»Das sind die meisten Menschen, Scout, wenn man sie endlich zu Gesicht bekommt.«
Harper Lee, Wer die Nachtigall stört
Ich bin kein mieser Typ, aber ich bin kurz davor, etwas Mieses zu tun. Du wirst mich dafür hassen, und andere werden mich dafür hassen, aber ich werde es trotzdem tun, zu deinem Schutz und auch zu meinem.
Das soll keine Entschuldigung sein, aber ich habe eine Krankheit, die Prosopagnosie heißt. Das bedeutet, dass ich keine Gesichter erkennen kann. Nicht mal die Gesichter der Menschen, die ich liebe. Nicht mal das meiner Mom. Nicht mal mein eigenes.
Stell dir vor, du kommst in einen Raum voller Fremder, Leute, die dir nichts bedeuten, weil du ihre Namen und ihre Geschichten nicht kennst. Dann stell dir vor, du gehst in die Schule oder zur Arbeit, oder, noch schlimmer, nach Hause, wo du die Leute eigentlich kennen solltest, aber selbst da sehen sie für dich wie Fremde aus.
So fühlt sich mein Leben an: Ich betrete einen Raum und kenne niemanden. Und so ist es mit jedem Raum, überall. Ich kann Menschen an ihrem Gang erkennen. An Gesten. Stimmen. Frisuren. Ich kann mir Menschen durch besondere Kennzeichen merken. Ich sage mir: Dusty hat abstehende Ohren und einen rotbraunen Afro, und dann präge ich mir diese Informationen ein, damit sie mir helfen, meinen kleinen Bruder zu finden, aber ich habe keine Vorstellung von seinem Gesicht mit den großen Ohren und dem Afro, solange er nicht vor mir steht. Leute wiederzuerkennen ist wie eine Superkraft, die alle haben außer mir.
Ob ich eine offizielle Diagnose bekommen habe? Nein. Und zwar nicht nur, weil dieses Spezialgebiet vermutlich die Tarifklasse der Kinderärzte in unserer Stadt übersteigt. Nicht nur, weil meine Eltern in den vergangenen zwölf Jahren genug Mist hatten, mit dem sie fertig werden mussten. Nicht nur, weil es besser ist, kein Freak zu sein. Sondern weil ein Teil von mir hofft, dass es nicht stimmt. Dass es vielleicht ganz von selbst wieder verschwindet. Bis dahin schlage ich mich folgendermaßen durch:
Alle grüßen/anlächeln.
Liebenswürdig sein.
Immer am Start sein.
Irre witzig sein.
Party machen, aber nicht trinken. Nie die Kontrolle verlieren (das passiert schon nüchtern oft genug).
Wachsam sein.
Tun, was immer nötig ist. Das Oberarschloch sein. Alles, bloß kein Opfer sein. Es ist immer besser zu jagen, als gejagt zu werden.
Ich sage das alles nicht als Entschuldigung für das, was ich tun werde. Aber vielleicht kannst du es im Hinterkopf behalten. Es ist der einzige Weg, um meine Freunde daran zu hindern, etwas noch Schlimmeres zu tun, und es ist der einzige Weg, um dieses wahnsinnige Spiel zu beenden. Ich will niemanden verletzen. Das ist nicht meine Absicht. Auch wenn es das ist, was passieren wird.
Jack
PS: Du bist der einzige Mensch, der weiß, was mit mir los ist.
Prosopagnosie (…), Subst.: 1. die Unfähigkeit, Gesichter bekannter Menschen zu erkennen, oft in Folge einer Gehirnverletzung. 2. wenn alle Fremde sind.
Wenn meine Nachttischlampe funktionieren würde wie Aladins Wunderlampe, würde ich mir diese drei Dinge wünschen: dass meine Mutter noch am Leben wäre, dass nie wieder etwas Schlimmes oder Trauriges passiert und dass ich ein Mitglied der Martin-van-Buren-Highschool-Darlings wäre, dem besten Tanzteam in der Region.
Aber was, wenn die Darlings dich nicht wollen?
Es ist 3.38 Uhr, und meine Gedanken flitzen so wild umher wie mein Kater George, als er klein war. Plötzlich klettert mein Gehirn an den Vorhängen hoch und schwingt sich aufs Bücherregal. Und dann sitzt es vorm Aquarium, die Pfoten auf dem Glasrand und die Nase unter Wasser.
Ich liege auf dem Bett und starre in die Dunkelheit, und meine Gedanken turnen durchs Zimmer.
Was, wenn du wieder in die Falle gerätst? Wenn sie die Tür der Cafeteria oder die Wand im Waschraum einreißen müssen, um dich zu befreien? Was, wenn dein Dad wieder heiratet und dann stirbt und du bei seiner neuen Frau und den Stiefgeschwistern bleiben musst? Was, wenn du selbst stirbst? Was, wenn es keinen Himmel gibt und du deine Mom nie wiedersiehst?
Ich befehle mir zu schlafen.
Ich schließe die Augen und liege ganz still.
Ganz still.
Minutenlang.
Ich lege meine Gedanken neben mich und sage zu ihnen: Schlaft, schlaft, schlaft. Aber sie kommen nicht zur Ruhe. Was, wenn du zur Schule gehst und merkst, dass alles anders ist, dass deine Mitschüler anders sind, und, egal, wie sehr du dich anstrengst, du nie so gut sein wirst wie sie?
Ich öffne die Augen.
Mein Name ist Libby Strout. Ihr habt wahrscheinlich schon von mir gehört. Vielleicht habt ihr das Video gesehen, wie ich aus meinem eigenen Haus befreit wurde. Als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, hatten 6345981 Menschen das Video gesehen. Die Chancen stehen also nicht schlecht, dass ihr dabei seid. Vor drei Jahren war ich Amerikas fettester Teenager. Ich wog zu meinen schwersten Zeiten 296 Kilo, mit anderen Worten: Ich hatte etwa 226 Kilo Übergewicht. Ich war nicht immer fett. Die Kurzfassung der Geschichte ist: Meine Mutter starb, und ich wurde fett. Aber im Gegensatz zu ihr bin ich immer noch da. Die Schuld meines Vaters ist mein Gewicht jedenfalls nicht.
Zwei Monate, nachdem ich aus unserem Haus befreit wurde, zogen wir in ein anderes Viertel auf der anderen Seite der Stadt. Heute kann ich das Haus wieder allein verlassen. Ich habe 140 Kilo abgenommen. Das Gewicht von zwei vollständigen Menschen. Ich habe immer noch knapp 90 Kilo vor mir, aber das ist in Ordnung. Ich mag, wer ich bin. Erstens kann ich jetzt rennen. Und Auto fahren. Und Klamotten im Einkaufszentrum kaufen, statt sie irgendwo bestellen zu müssen. Und ich kann mich schnell im Kreis drehen. Abgesehen davon, dass ich keine Angst mehr vor Organversagen haben muss, ist das vielleicht das Beste im Vergleich zu damals.
Morgen ist mein erster Schultag seit der fünften Klasse. Mein neuer Titel lautet Elftklässlerin, was wesentlich besser klingt als Amerikas fettester Teenager. Aber es fällt mir schwer, irgendetwas anderes zu sein als VOLLKOMMEN VERÄNGSTIGT.
Ich rechne schon mit der nächsten Panikattacke.
Caroline Lushamp ruft mich auf dem Handy an, kurz bevor mein Wecker klingelt, aber ich lasse die Mailbox antworten. Ich weiß, was es auch ist, es ist nichts Gutes, und es ist meine Schuld.
Sie versucht es dreimal, hinterlässt aber nur eine Nachricht. Ich bin drauf und dran, sie zu löschen, ohne sie mir anzuhören, aber was ist, wenn sie eine Panne hatte und Hilfe braucht? Immerhin haben wir seit vier Jahren eine On/Off-Beziehung. (Die Art Paar sind wir. So ein Zusammen-getrennt-zusammen-Paar, von dem alle sagen, dass es früher oder später vor dem Traualtar landen wird.)
Jack, ich bin’s. Ich weiß, wir machen gerade Pause, aber sie ist meine Cousine. Meine COUSINE. Also echt, sie ist MEINE COUSINE, JACK! Wenn du dich an mir rächen wolltest, weil ich Schluss gemacht habe, dann herzlichen Glückwunsch, du Pisser, du hast es geschafft. Wenn du mich heute auf dem Gang oder in der Cafeteria oder IRGENDWO SONST AUF DER WELT siehst, sprich mich bloß nicht an! Weißt du was, tu mir den Gefallen und fahr zur Hölle.
Drei Minuten später ist eine Nachricht von besagter Cousine auf der Mailbox, und erst denke ich, sie weint, aber dann ist Caroline im Hintergrund zu hören, und die Cousine fängt an zu kreischen, und Caroline kreischt zurück. Ich lösche die Nachricht.
Zwei Minuten später schreibt Dave Kaminski, um mich zu warnen, dass Reed Young mir die Fresse polieren will, weil ich mit seiner Freundin rumgemacht habe. Ich antworte: Du hast was bei mir gut, Mann. Und das meine ich auch so. Ich zähle den Punktestand: Dave hat mir weit öfter geholfen als ich ihm.
So ein Aufstand wegen eines Mädchens, das Caroline ehrlich gesagt so ähnlich sieht, dass ich – wenigstens anfangs – dachte, sie sei es. Und das heißt doch auf irgendeine seltsame Art, dass Caroline sich geschmeichelt fühlen sollte. Es war wie ein Geständnis an die Welt, dass ich wieder mit ihr zusammen sein will, obwohl sie mich in der ersten Ferienwoche abserviert hat, um was mit Zach Higgins anzufangen.
Ich überlege, ob ich ihr das schreiben soll, aber dann schalte ich mein Handy aus und schließe die Augen und versuche, mich in die Zeit Anfang Juli zurückzuversetzen. Als ich nichts anderes zu tun hatte, als meine Arbeit bei Masselins Spielwaren zu machen, auf dem Schrottplatz herumzustöbern, an (umwerfenden) Projekten in meiner (grandiosen) Werkstatt zu basteln und mit meinen Brüdern abzuhängen. Das Leben wäre so viel einfacher, wenn es nur Jack + Schrottplatz + grandiose Werkstatt + umwerfende Projekte gäbe.
Du hättest niemals auf diese Party gehen dürfen. Du hättest niemals etwas trinken dürfen. Du weißt, dass du dir nicht vertrauen kannst. Meide Alkohol. Meide Menschenmengen. Meide Menschen. Am Ende bringst du sie doch nur gegen dich auf.
Es ist 6.33 Uhr, ich bin gerade aufgestanden und stehe vor dem Spiegel. Es gab eine Zeit, vor etwas mehr als zwei Jahren, als ich mich selbst nicht ansehen konnte oder wollte. Ich sah nur das verkniffene Gesicht von Moses Hunt, der mir über den Schulhof hinweg zubrüllte: »Dich wird nie einer lieben, weil du fett bist!« Und die Gesichter der anderen Fünftklässler, als sie zu lachen anfingen. »Du verdeckst den Mond mit deinem Fett, Fetti Plauz, bleib doch im Bett …«
Heute sehe ich hauptsächlich mich selbst – hübsches dunkelblaues Kleid, Turnschuhe, halblange braune Haare, deren Farbe meine liebe, aber leicht demente Großmutter einmal als »genau wie das Fell von Hochlandrindern« beschrieben hat. Und das Spiegelbild eines riesigen struppigen Wattebauschs von einer Katze.
George starrt mich mit seinen weisen goldenen Augen an, und ich versuche mir vorzustellen, was er zu mir sagen würde. Vor vier Jahren wurde bei ihm ein Herzfehler diagnostiziert, und man gab ihm noch sechs Monate. Aber ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass George ganz allein entscheiden wird, wann es Zeit für seinen Abgang ist. Er blinzelt mich an.
Ich glaube, jetzt würde er mir befehlen zu atmen.
Ich bin richtig gut im Atmen geworden.
Ich schaue auf meine Hände. Die Fingernägel sind zwar bis zur Nagelhaut abgekaut, aber meine Hände sind ruhig. So erstaunlich das auch ist, ich bin tatsächlich ziemlich ruhig, in Anbetracht der Umstände. Ich stelle fest: Die Panikattacke ist nicht gekommen. Wenn das kein Grund zum Feiern ist. Ich lege eine der alten Platten meiner Mom auf und fange an zu tanzen. Tanzen liebe ich mehr als alles andere, und Tanzen ist das, was ich in meinem Leben machen will. Ich hatte keinen Unterricht mehr, seit ich zehn war, aber Tanzen liegt mir im Blut, und kein Trainingsrückstand kann etwas daran ändern.
Ich sage mir: Vielleicht kannst du dieses Jahr bei der Aufnahmeprüfung für die Darlings mitmachen.
Mein Gehirn zischt die Wand hoch, wo es zitternd hängen bleibt. Was, wenn es nie dazu kommt? Was, wenn du stirbst, bevor du irgendetwas Gutes oder Wundervolles oder Aufregendes erlebt hast?
In den letzten zweieinhalb Jahren habe ich mich einzig und allein um mein Überleben gekümmert. Der Fokus jedes Menschen in meinem Leben, einschließlich mir selbst, war: Wir müssen dafür sorgen, dass es dir bessergeht. Und jetzt geht es mir besser. Also was, wenn ich jetzt alle enttäusche, nachdem sie so viel Zeit und Energie in mich gesteckt haben?
Ich tanze wilder, um diese Gedanken zu verdrängen, bis mein Dad an die Tür klopft. Sein Kopf erscheint im Türspalt.
»Du weißt ja, dass ich Pat Benatar bei voller Lautstärke so früh am Morgen liebe, aber die Frage ist: Wie sehen das die Nachbarn?«
Ich stelle die Musik etwas leiser, aber ich tanze weiter. Als der Song vorbei ist, krame ich einen Edding hervor und verziere einen meiner Schuhe mit einem Zitat.
»Irgendwas kommt doch immer auf einen zu. Und selbst wenn es was Schlimmes ist, und du weißt, dass es was Schlimmes ist, was willst du machen? Man kann nicht einfach aufhören zu leben.« Truman Capote, »Kaltblütig«
Dann nehme ich den knallroten Lippenstift, den meine Großmutter mir zum Geburtstag geschenkt hat, beuge mich näher zum Spiegel und schminke mir die Lippen.
Ich höre das Rauschen der Dusche und Stimmen im Erdgeschoss. Ich ziehe mir das Kissen über den Kopf, aber es ist zu spät – ich bin wach.
Ich stelle mein Handy an und schreibe erst Caroline, dann Kam, dann Reed Young. Ich sage, dass ich sehr betrunken war (eine Übertreibung), dass es sehr dunkel war (war es) und dass ich mich an nichts mehr erinnere, weil ich nicht nur betrunken, sondern auch total fertig war. Bei mir zu Hause ist gerade die Kacke am Dampfen, ich kann jetzt nicht drüber reden, aber wenn ihr großzügig sein und mir vergeben könnt, werde ich euch das nie vergessen. Der Teil mit der Kacke bei mir zu Hause ist jedenfalls nicht gelogen.
Für Caroline werfe ich ein paar Komplimente dazu und bitte sie, sich bei ihrer Cousine für mich zu entschuldigen. Ich sage, ich will es nicht selber tun, weil ich schon so ein Chaos angerichtet habe und zwischen Caroline und mir nicht alles noch schlimmer machen will. Auch wenn es Caroline war, die mich verlassen hat, und auch wenn wir gerade gar nicht zusammen sind und auch wenn ich sie seit Juni nicht mal mehr gesehen habe, krieche ich zu Kreuze. Das ist der Preis, den ich dafür zahle, dass ich alle glücklich machen will.
Ich schleppe mich über den Flur ins Bad. Was ich mehr brauche als alles andere, ist eine lange heiße Dusche, doch ich bekomme nur ein warmes Rinnsal, gefolgt von isländischer Kälte. Sechzig Sekunden später – länger halte ich es nicht aus – verlasse ich die Dusche, trockne mich ab und stehe vor dem Spiegel.
Das also bin ich.
Das denke ich jedes Mal, wenn ich mein Spiegelbild sehe. Nicht im Sinne von Wow, das bin ich, sondern eher Aha. Okay. Wen haben wir denn da? Ich beuge mich vor und versuche, die Einzelheiten meines Gesichts zusammenzusetzen.
Der Typ im Spiegel sieht nicht schlecht aus – hohe Wangenknochen, kräftiger Kiefer, ein hochgezogener Mundwinkel, als hätte er gerade einen Witz erzählt. Vielleicht fast irgendwie attraktiv. So, wie er den Kopf zurücklegt und durch halbgeöffnete Lider in die Welt schaut, wirkt er, als sei er es gewohnt, auf andere herabzusehen, als wäre er schlau und wüsste das auch, und dann geht mir auf, dass er in Wahrheit aussieht wie ein Arschloch. Abgesehen von den Augen. Sie sind zu ernst, und es sind Ringe darunter, als hätte er nicht geschlafen. Er trägt dasselbe Superman-Shirt, das ich den ganzen Sommer lang anhatte.
Was bedeutet dieser Mund (die Leute sagen, den hätte ich von Mom) zusammen mit dieser Nase (auch von Mom) und diesen Augen (eine Mischung aus Mom und Dad)? Meine Augenbrauen sind dunkler als meine Haare, aber nicht so dunkel wie die von Dad. Meine Haut ist mittelbraun, nicht so dunkel wie Moms und nicht so hell wie Dads.
Und noch etwas passt nicht: die Haare. Ein verdammter Löwenmähnenafro, der so aussieht, als hätte er ein Eigenleben. Aber wenn dieser Typ im Spiegel irgendwas mit mir gemein hat, dann überlässt er nichts dem Zufall. Er hat seine Haare wachsen lassen, obwohl sie nicht zu bändigen sind. Und zwar aus einem bestimmten Grund: Damit er sich selbst wiederfindet.
Etwas an der Art, wie sich diese Gesichtszüge zusammensetzen, macht es möglich, dass die Menschen sich auf der Welt finden. Etwas an der Kombination lässt sie sagen: Da ist ja Jack Masselin.
»Was ist dein Erkennungszeichen?«, frage ich mein Spiegelbild, und ich meine das wahre Erkennungszeichen, nicht den riesigen Afro. Für mich ein richtig ernster Moment, aber dann höre ich ein gedämpftes Kichern, und ein großer, schlaksiger Wirbelwind fegt vorbei. Das wäre dann wohl mein Bruder Marcus.
»Mein Name ist Jack, und ich bin so schön«, singt er den ganzen weiten Weg die Treppe hinunter.
von Jack Masselin
Als meine Mutter mich von der Vorschule abholte (nachdem sie beim Friseur gewesen war) und ich sie vor meinen Lehrern, den anderen Kindern, den anderen Eltern und dem Schulleiter beschuldigte, mich kidnappen zu wollen.
Als ich bei einem spontanen Fußballspiel im Reynolds Park mitmachte (ohne Trikots), jeden Ball an die gegnerische Mannschaft schoss und den Rekord für die katastrophalste und demütigendste Spielerleistung aller Zeiten setzte.
Als ich dem Mann, den ich für meinen Baseballtrainer hielt, mitten im Supermarkt erklärte, ich könne mal wieder eine Massage gebrauchen, nur um hinterher zu merken, dass es Mr Temple war, Moms Boss.
Als ich meinte, Jesselle Vellegas aus der Elften anzubaggern, und sich herausstellte, dass es Miss Arbulata war, eine Vertretungslehrerin.
Als ich mit Caroline Lushamp rumknutschte und es in Wahrheit ihre Cousine war.
Da ich keinen Führerschein habe, fährt Dad mich. Eine der vielen, vielen Sachen, auf die ich mich in diesem Schuljahr freue, ist der Fahrunterricht. Ich warte darauf, dass mein Vater mir weise Ratschläge gibt oder eine saftige Anfeuerungsrede hält, aber ihm fällt nur ein: »Du packst das, Libby. Ich werde hier sein und dich abholen, wenn es vorbei ist.«
So wie er es sagt, klingt es unheilverkündend, als spielten wir die Anfangsszene eines Horrorfilms. Dann lächelt er mich an, die Art Lächeln, die zuversichtlich wirken soll. Ein nervöses Lächeln, das in den Mundwinkeln hochgezogen ist.
Ich lächle zurück.
Was, wenn ich irgendwo steckenbleibe? Was, wenn ich allein zu Mittag essen muss und für den Rest des Jahres keiner mit mir redet?
Mein Dad ist ein großer, gutaussehender Typ. Das Salz der Erde. Schlau (er kümmert sich um die IT-Sicherheit eines großen Computerunternehmens). Weiches Herz. Nachdem ich aus unserem Haus befreit werden musste, hatte er es sehr schwer. So schrecklich es für mich war, ich glaube, für ihn war es noch schlimmer, vor allem die Vorwürfe, mich vernachlässigt oder misshandelt zu haben. Die Journalisten konnten sich keinen anderen Grund vorstellen, warum ich so fett geworden war. Sie wussten nichts von den Ärzten, zu denen er mich gebracht hatte, und von den Diäten, mit denen wir es versuchten, während er selbst um seine Frau trauerte. Sie sahen nicht das Essen, das ich unter meinem Bett und in den Tiefen meines Kleiderschranks vor ihm versteckte. Sie konnten nicht wissen, dass ich, wenn ich mir einmal etwas in den Kopf gesetzt habe, es auch durchziehe. Und ich hatte mir in den Kopf gesetzt zu essen.
Anfangs weigerte ich mich, mit den Leuten von der Presse zu sprechen, aber irgendwann musste ich der Welt zeigen, dass mit mir alles in Ordnung und dass Dad nicht der Schurke war, als den sie ihn darstellten, dass er mich nicht mit Süßigkeiten und Kuchen vollstopfte, um mich ans Haus zu fesseln und abhängig von ihm zu machen wie die Mädchen aus The Virgin Suicides. Deshalb habe ich gegen den Willen meines Vaters einem Nachrichtensender in Chicago ein Interview gegeben, und dieses Interview ging einmal um den Globus.
Verstehen Sie, meine ganze Welt ist zusammengebrochen, als ich zehn war. Meine Mom starb, was schon traumatisch genug war, doch dann begann das Mobbing. Hinzu kam, dass mein Körper sich früh entwickelte und sich plötzlich zu groß für mich anfühlte. Ich will damit nicht sagen, dass ich meinen Mitschülern die Schuld gebe. Wir waren schließlich Kinder. Aber ich will deutlich machen, dass verschiedene Faktoren damit zu tun hatten – das Mobbing zusammen mit dem Verlust des wichtigsten Menschen in meinem Leben, gefolgt von den Panikattacken, wenn ich das Haus verlassen sollte. Bei alldem war Dad derjenige, der mir Halt gab.
Ich frage meinen Dad: »Wusstest du, dass Pauline Potter, die schwerste Frau der Welt, fünfzig Kilo allein durch Marathon-Sex abgenommen hat?«
»Kein Sex für dich, bevor du dreißig bist, junge Dame.«
Ich denke: Wir werden sehen. Schließlich geschehen jeden Tag Wunder. Vielleicht sind die Kids, die auf dem Schulhof so gemein zu mir waren, erwachsen geworden und haben ihre Fehler erkannt. Vielleicht sind sie ja sogar ganz nett geworden. Vielleicht sind sie aber auch noch gemeiner geworden. Jedes Buch, das ich lese, und jeder Film, den ich sehe, scheinen dieselbe Botschaft zu haben: Die Highschool ist die schlimmste Erfahrung, die du jemals machen kannst.
Was, wenn ich aus Versehen jemanden anschnauze und die schnippische Fette werde? Was, wenn irgendein wohlmeinendes dünnes Mädchen mich adoptiert und ich ihre fette beste Freundin werde? Was, wenn sich herausstellt, dass ich nach der langen Zeit, in der ich zu Hause unterrichtet wurde, auf dem Niveau der achten statt der elften Klasse bin?
Dad sagt: »Du musst einfach nur den heutigen Tag überstehen, Libby. Wenn es ganz schrecklich wird, unterrichten wir dich wieder zu Hause. Schenk mir nur einen Tag. Das heißt, schenk ihn nicht mir. Schenk ihn dir.«
Ich sage mir: heute. Ich sage mir: Davon hast du geträumt, als du zu viel Angst hattest, um das Haus zu verlassen. Davon hast du geträumt, als du sechs Monate lang im Bett gelegen hast. Das ist es, was du wolltest – draußen in der Welt sein wie alle anderen. Ich sage mir: Du hast zweieinhalb Jahre Diätcamps und Beratung und Therapie und ärztliche Behandlung und Verhaltenstraining gebraucht, um dich darauf vorzubereiten. In den letzten zweieinhalb Jahren bist du jeden Tag zehntausend Schritte gegangen. Jeder einzelne von ihnen hat dich zu diesem Moment geführt.
Ich kann nicht Auto fahren.
Ich bin noch nie auf einer Party gewesen.
Ich habe fünf Schuljahre verpasst.
Ich hatte noch nie einen Freund, aber ich habe einmal im Diätcamp mit einem Typen geknutscht. Er hieß Robbie und wiederholt gerade die zwölfte Klasse irgendwo in Iowa.
Abgesehen von meiner Mom hatte ich nie eine beste Freundin oder einen besten Freund, wenn man die Freunde nicht mitzählt, die ich mir ausgedacht habe – drei Brüder, die auf der anderen Straßenseite unseres alten Hauses wohnten. Ich nannte sie Dean, Sam und Castiel, weil sie auf eine Privatschule gingen und ich ihre richtigen Namen nicht kannte. Ich tat so, als wären sie meine Freunde.
Dad sieht so angespannt und erwartungsvoll aus, dass ich meine Tasche nehme und aussteige, und dann stehe ich vor der Schule, und die Leute strömen an mir vorbei.
Was, wenn ich zu jeder Stunde zu spät komme, weil ich nicht schnell genug bin, und dann nachsitzen muss, wobei ich die einzigen Typen kennenlerne, die mir Beachtung schenken – Übeltäter und Delinquenten –, mich in einen von ihnen verliebe, schwanger werde, die Schule verlassen muss, bevor ich meinen Abschluss habe, und den Rest meines Lebens bei meinem Dad wohne oder zumindest, bis das Baby achtzehn ist?
Ich würde am liebsten wieder ins Auto steigen, aber Dad sitzt noch immer mit seinem hoffnungsvollen Lächeln da. »Du schaffst das.« Diesmal sagt er es lauter und – ich schwöre – zeigt mir den erhobenen Daumen.
Also mische ich mich in die Menge und lasse mich von ihr weiterschieben, bis ich am Eingang stehe, meine Tasche für die Kontrolle des Wachmanns öffne, durch die Metalldetektoren gehe und einen langen Gang mit vielen Abzweigungen betrete, und die ganze Zeit über werde ich von Armen und Ellbogen angestoßen. Ich denke: Irgendwo in dieser Schule könnte ein Junge sein, in den ich mich verliebe. Einer dieser edlen jungen Männer könnte derjenige sein, der mein Herz und meinen Körper erobert. Ich werde die Pauline Potter der Martin-Van-Buren-Highschool sein. Ich werde den Rest meines Übergewichts durch Sex loswerden. Ich betrachte die Typen, die an mir vorbeigehen. Der da könnte es sein, oder der. Das ist die Schönheit dieser Welt. Im Augenblick bedeutet dieser Typ mir gar nichts, aber bald werden wir uns kennenlernen, und unsere Begegnung wird die Welt verändern, seine und meine.
»Mach schneller, Fettarsch«, sagt eine Stimme hinter mir. Ich spüre den Stachel der Beleidigung wie eine Reißzwecke, als würde das Wort mich stechen, so wie es meine Gedankenblase zersticht. Ich beschleunige meinen Schritt. Der Vorteil an meiner Figur ist, dass ich mir überall einen Weg bahnen kann.
Wie meine Frisur ist auch mein Auto Teil meines Images. Ein aufgemotzter 1986er Land Rover, den Marcus und ich einem alten Herrn abgekauft haben. Er wurde ursprünglich in der Landwirtschaft genutzt, bevor er vierzig Jahre lang in einer Scheune vor sich hin rostete, aber jetzt ist er halb Jeep, halb Geländewagen und zu hundert Prozent eine Wahnsinnskarre.
Marcus sitzt auf dem Beifahrersitz und schmollt. »Arschloch.« Das sagt er leise und ans Fenster gerichtet. Zu meinem Pech hat er seit einem Monat seinen Führerschein.
»Wie süß von dir. Ich hoffe, die Elfte verdirbt dir nicht deinen jugendlichen Charme. Du kannst nächstes Jahr fahren, wenn ich auf dem College bin.«
Falls ich auf dem College bin. Falls ich je hier wegkomme.
Er zeigt mir den Mittelfinger.
Von hinten tritt unser kleiner Bruder Dusty gegen den Sitz. »Hört auf zu streiten.«
»Wir streiten nicht, kleiner Mann.«
»Ihr klingt wie Mom und Dad. Mach die Musik lauter.«
Vor ein paar Jahren haben sich meine Eltern noch ziemlich gut verstanden. Doch dann bekam Dad die Krebsdiagnose. Und in der Woche, bevor er die Diagnose bekam, fand ich heraus, dass er meine Mom betrog. Er weiß nicht, dass ich es weiß, und ich bin nicht sicher, ob Mom es weiß, aber manchmal habe ich den Verdacht. Er hat den Krebs übrigens besiegt, aber es war nicht leicht, am wenigsten für Dusty, der erst zehn ist.
Ich drehe den Song lauter, ein Oldie – Sexy Back von Justin Timberlake –, und ich fühle, wie sich meine Stimmung hebt. Es gibt genau vier Songs, die meinetwegen immer losgehen können, wenn ich einen Raum betrete, und das ist einer von ihnen.
Wir halten vor Dustys Schule, und Dusty springt aus dem Wagen, bevor ich ihn aufhalten kann. Ich laufe ihm hinterher und nehme den Autoschlüssel mit, damit Marcus mich nicht stehen lässt.
In den Sommerferien hat Dusty angefangen, eine Handtasche mit sich herumzutragen. Niemand hat etwas dazu gesagt – weder Mom noch Dad noch Marcus.
Dusty hat die Hälfte des Wegs zurückgelegt, als ich ihn einhole. Ich darf ihn nicht aus den Augen lassen, damit ich ihn nicht verliere. Er hat die dunkelste Haut von uns dreien, und seine Haare haben die Farbe eines Kupferpfennigs. Mom ist halb schwarz, halb Louisiana-kreolisch, und Dad ist weiß und jüdisch. Dusty ist so dunkel wie Mom. Marcus dagegen könnte nicht heller sein. Und ich? Ich bin nur Jack Masselin, wer zur Hölle auch immer das ist.
Dusty sagt: »Ich will nicht zu spät kommen.«
»Wirst du nicht. Ich wollte nur … Bist du dir sicher mit der Tasche, kleiner Mann?«
»Ich mag sie. Da krieg ich alle meine Sachen rein.«
»Ich mag sie auch. Das ist eine ziemlich coole Handtasche. Aber ich weiß nicht, ob die anderen sie auch so toll finden wie wir. Vielleicht gibt es hier ein paar Kids, die auf deine Tasche neidisch sind und sich über dich lustig machen.« Ich sehe etwa zehn von dieser Sorte gerade auf uns zukommen.
»Sie werden nicht neidisch sein. Sie werden sie bescheuert finden.«
»Ich will nur nicht, dass irgendwer gemein zu dir ist.«
»Wenn ich eine Handtasche tragen will, dann trage ich sie auch. Ich werde sie nicht nicht tragen, bloß weil das irgendwem nicht passt.«
In diesem Moment ist der dürre kleine Kerl mit den großen Ohren mein Held. Als er weitergeht, beobachte ich seinen Gang, gerade wie ein Pfeil, hoch erhobenes Kinn. Ich würde ihn am liebsten bis in die Schule begleiten und aufpassen, dass ihm nichts passiert.
von Jack Masselin
Schäfer (vorausgesetzt, dass Gesichtsblindheit nicht auch für Hunde und Schafe gilt).
Mautstationsmitarbeiter (vorausgesetzt, dass niemand, den du kennst, an deiner Station vorbeikommt).
Rockstar/Mitglied einer Boygroup, NBA-Spieler oder irgendetwas anderes in der Art (was ein so großes Ego vermuten lässt, dass die Leute nicht überrascht sind, wenn du dich nicht an sie erinnerst).
Schriftsteller (der empfehlenswerteste Job für Menschen mit sozialen Angststörungen).
Hundesitter/trainer (siehe Nr. 1).
Einbalsamierer (solange du die Leichen nicht verwechselst).
Eremit (ideal, nur leider schlecht bezahlt).
Ich bahne mir meinen Weg bis zu meinem Kursraum, wo ich mich in die Reihe setze, die der Tür am nächsten ist, nur für den Fall, dass ich irgendwann fliehen muss. Ich passe gerade so auf den Stuhl. Mein Rücken unter meinem T-Shirt ist feucht, und mein Herzschlag setzt kurz aus. Aber Schweißflecken sind nicht zu sehen. Wenigstens hoffe ich das, denn nichts wäre schlimmer, als die verschwitzte Fette zu sein. Meine Mitschüler kommen nach und nach herein, und einige von ihnen starren mich an. Ein paar kichern. Ich erkenne in diesen Teenagergesichtern keins der elfjährigen Kinder von damals wieder.
Aber die Schule ist genauso, wie ich erwartet habe, und gleichzeitig noch mehr. Erstens hat die Martin-Van-Buren-Highschool etwa zweitausend Schüler, deshalb wimmelt es nur so von Menschen. Zweitens sieht niemand so glänzend und poliert aus wie in den Filmversionen einer Highschool. Echte Teenager sind nicht 25. Wir haben schlechte Haut und schlechte Haare und gute Haut und gute Haare, und es gibt uns in allen möglichen Größen und Formen. Ich mag uns lieber als unsere Film-Ichs, obwohl ich mich, wie ich hier sitze, selbst wie eine Schauspielerin fühle, die eine Rolle spielt. Ich bin der Fisch auf dem Trockenen, die Neue. Was wird meine Geschichte sein?
Ich beschließe, das, was ich vor mir habe, wie eine leere Tafel zu sehen. Ich mache einen Neuanfang, und was passiert ist, als ich elf, zwölf, dreizehn war, existiert nicht mehr. Ich bin anders. Sie sind anders, zumindest von außen. Vielleicht haben sie längst vergessen, dass ich dieses Mädchen war. Ich habe nicht vor, sie daran zu erinnern.
Ich sehe ihnen in die Augen und schenke ihnen das neue Markenzeichenlächeln meines Vaters, das Lächeln mit den leicht hochgezogenen Mundwinkeln. Es scheint sie zu überraschen. Einige von ihnen lächeln zurück. Der Junge neben mir streckt die Hand aus.
»Ich bin Mick.«
»Libby.«
»Ich komme aus Kopenhagen. Ich mache ein Austauschjahr.« Tatsächlich sieht er trotz seiner krähenschwarzen Haare wie ein Wikinger aus. »Bist du aus Amos?«
Ich würde am liebsten sagen: Ich bin auch eine Austauschschülerin. Ich bin aus Australien. Ich bin aus Frankreich. Aber die einzigen Jungs, mit denen ich in den letzten fünf Jahren geredet habe, waren die Typen aus den Diätcamps, und deshalb nicke ich nur.
Er erzählt mir, dass er sich erst nicht sicher gewesen sei, ob er hierher nach Indiana kommen sollte, doch dann sei er zu dem Schluss gekommen, dass es eine gute Erfahrung sein würde, ins Herz der USA zu reisen und zu sehen, »wie der Großteil der Amerikaner so lebt«. Was auch immer das heißen soll.
Ich bringe heraus: »Was gefällt dir hier am besten?«
»Dass ich irgendwann wieder nach Hause kann.«
Er lacht, also lache ich auch, und dann kommen zwei Mädchen in den Raum. Ihre Augen richten sich sofort auf mich. Die eine flüstert der anderen etwas ins Ohr, und sie setzen sich auf die freien Plätze vor uns. Irgendetwas an ihnen kommt mir bekannt vor, aber ich kann sie nicht zuordnen. Vielleicht kannte ich sie früher. Meine Haut kribbelt, und ich habe wieder dieses Horrorfilmgefühl. Ich schaue zur Decke, als könnte mir gleich ein Klavier auf den Kopf fallen. Weil ich weiß, dass irgendwo schon eins darauf wartet. Das tut es immer.
Ich rede mir gut zu, Mick eine Chance zu geben, diesen Mädchen eine Chance zu geben und vor allem mir selbst eine Chance zu geben. Ich sehe es so: Ich habe meine Mom verloren, mich beinahe zu Tode gefressen, wurde aus meinem Haus gesägt, während das ganze Land zusah, habe Diäten und Ernährungspläne und die Enttäuschung der Nation ausgehalten und Hassmails von Wildfremden bekommen. Es ist ekelhaft, dass du dich so gehenlässt, und es ist ekelhaft, dass dein Vater nichts dagegen tut. Ich hoffe, du überlebst und bittest Gott um Verzeihung. Es gibt auf der Welt Menschen, die hungern müssen, und es ist eine Schande, dass du so viel isst, während andere nicht genug haben.
Also was kann die Highschool mir antun, was mir nicht bereits angetan wurde?
Eine Minute vor Unterrichtsbeginn rollen wir auf den Parkplatz und in die letzte Lücke in der ersten Reihe. Marcus lässt sein Handy fallen, und als er wieder aufrecht sitzt, ist er ein neuer Mensch. Einfach so ist die Zaubertafel in meinem Kopf gelöscht worden, und ich muss die Teile von neuem zusammensetzen.
Zottelige Haare + spitzes Kinn + zwei Meter lange Giraffenbeine = Marcus.
Der Land Rover steht kaum still, als er auch schon aus der Tür ist und ein paar Leuten etwas zuruft. Ich würde gern sagen: Warte auf mich. Lass mich nicht allein da draußen. Ich würde ihn gerne am Arm packen und mich an ihm festhalten, damit ich ihn nicht verliere. Stattdessen halte ich meine Augen auf ihn gerichtet und blinzle nicht, weil er sonst verschwindet. Und dann verschwindet er trotzdem in der Menge und bewegt sich als Teil der Herde auf die Schule zu.
Das Tierreich hat schon verrückte Bezeichnungen für Tiergruppen. Eine Rotte Wildschweine. Ein Schwarm Bienen. Eine Sippe Mäuse. Und, meine liebste, ein Trupp Paviane. Wie würde man diese Gruppe nennen? Eine Meute Schüler? Eine Brut Teenager? Zum Spaß scanne ich die vorübergehenden Gesichter auf der Suche nach meinem Bruder. Aber es ist, als würde ich versuchen, meine Lieblingsameise inmitten einer ganzen Ameisenkolonie zu finden.
Ich sitze dreißig Sekunden lang da und genieße die Einsamkeit: 30.29.28.27 …
Das war es dann für heute, bis ich wieder zu Hause bin. In diesen dreißig Sekunden erlaube ich mir alle Gedanken, die ich mir in den nächsten acht Stunden verbieten werde. Die Leier fängt immer gleich an:
Ich habe ein total abgefucktes Gehirn …
Schon zwanzig Minuten Unterricht, und niemand starrt mich an. Unsere Lehrerin, Mrs Belk, redet, und bislang kann ich folgen. Mick raunt mir clevere Kommentare zu, was ihn wahlweise zu meinem neuen besten Kumpel oder meinem zukünftigen Lover macht – vielleicht ja sogar zu dem Typen, mit dem ich den Rest meines Übergewichts loswerde.
Du gehörst genauso hierher wie jeder andere. Niemand weiß, wer du bist. Niemand kümmert sich darum. Du schaffst das, Mädchen. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, aber ich glaube, du schaffst das.
Dann muss ich über einen von Micks Kommentaren lachen, und irgendetwas fliegt aus meiner Nase und landet auf seinem Buch.
Mrs Belk sagt: »Ruhe, bitte.« Und redet weiter.
Ich hefte meinen Blick mit Superkleber auf die Tafel, aber ich kann Mick immer noch aus den Augenwinkeln sehen. Ich weiß nicht, ob er das Ding bemerkt hat, das ich gerade auf ihn geschossen habe, und ich traue mich nicht, nachzusehen. Bitte nichts merken.
Er flüstert einfach weiter, als wäre nichts passiert, als würde die Welt nicht untergehen, aber ich will nur noch die Augen schließen und sterben. Auf diese Art will ich hier nicht anfangen. So habe ich es mir nicht vorgestellt, als ich letzte Nacht wach lag und mir meinen großen Auftritt in der Welt der Teenager ausgemalt habe.
Vielleicht glaubt er ja, dass es irgendeine sonderbare amerikanische Tradition ist. Ein seltsamer Brauch, um Fremde in unserem Land willkommen zu heißen.
Ich verbringe den Rest der Stunde damit, nach vorne zu schauen und mich angestrengt auf Mrs Belks Worte zu konzentrieren.
Als es zur Pause läutet, drehen sich die beiden bekannten Gesichter zur mir um und starren mich an, und ich sehe, dass es Caroline Lushamp und Kendra Wu sind, die ich seit der ersten Klasse kenne. Nachdem ich aus unserem Haus gerettet wurde, nannte die Presse sie enge Freundinnen des bedauernswerten jungen Mädchens. Das letzte Mal, als ich sie persönlich gesehen habe, war Caroline eine unscheinbare Elfjährige, die jeden Tag denselben Harry-Potter-Schal trug, egal, wie heiß es war. Ihre anderen Erkennungsmerkmale waren der Umstand, dass sie im Kindergartenalter aus Washington DC hergezogen war und dass sie Komplexe wegen ihrer Füße hatte, deren lange Zehen sich wie Papageienklauen krümmten. Bei Kendra erinnere ich mich daran, dass sie Percy-Jackson-Fanfiction auf ihre Jeans schrieb und jeden verdammten Tag wegen irgendetwas heulte – Jungs, Hausaufgaben, Regen.
Jetzt ist Caroline natürlich zwei Meter groß und so schön, dass sie Werbung für Shampoo machen könnte. Sie trägt einen Rock und eine kurze enge Jacke wie die Schülerinnen einer Privatschule. Kendra – deren Lächeln wie auftätowiert wirkt – ist ganz in Schwarz gekleidet und gerade noch hübsch genug, um Kellnerin in einem Kettenrestaurant auf der besseren Seite der Stadt zu sein.
Caroline sagt zu mir: »Ich habe dich schon mal gesehen.« Sie starrt mich an und versucht, mich einzuordnen.
»Ich kann dir auf die Sprünge helfen: Ich werde ständig mit Jennifer Lawrence verwechselt, aber wir sind nicht verwandt.«
Ihre Augenbrauen schnellen in die Höhe wie Gummibänder.
»Wahnsinn, oder? Es ist unglaublich, aber ich habe es auf einer Ahnenforschungsseite im Internet überprüft.«
»Du bist das Mädchen, das in seinem Haus eingesperrt war.« Sie sagt zu Kendra: »Die Feuerwehr musste sie rausholen, erinnerst du dich? Wir waren in den Nachrichten!«
Nicht etwa: Du bist Libby Strout, das Mädchen, das wir seit der ersten Klasse kennen, sondern: Du bist das Mädchen, das in seinem Haus eingesperrt war, und der Grund, warum wir ins Fernsehen gekommen sind.
Mick aus Kopenhagen verfolgt die ganze Szene. Ich sage: »Da verwechselst du mich schon wieder mit Jennifer Lawrence.«
Carolines Stimme wird sanft und mitfühlend. »Wie geht es dir? Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das für dich gewesen sein muss. Aber, krass, du hast ja so viel abgenommen. Stimmt’s, Kendra?«
Kendra lächelt immer noch, aber ihre obere Gesichtshälfte wirkt verkniffen. »Unglaublich.«
»Du siehst echt hübsch aus.«
Kendra kneif-lächelt tapfer. »Ich liebe deine Haare.«
Eins der schlimmsten Dinge, die ein hübsches Mädchen zu einem fetten Mädchen sagen kann, ist: Du siehst echt hübsch aus. Oder: Ich liebe deine Haare. Ich weiß, dass es genauso schlimm ist, alle hübschen Mädchen in einen Topf zu werfen, wie alle fetten Mädchen in einen Topf zu werfen, und ich weiß, dass man gleichzeitig hübsch und fett sein kann (hallo!), aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass Mädchen wie Caroline Lushamp und Kendra Wu solche Sachen sagen, wenn sie eigentlich etwas anderes denken. Das sind Mitleidskomplimente, und ich fühle, wie meine Seele ein bisschen welkt. Wortlos steht Mick aus Kopenhagen auf und verlässt den Raum.
Caroline Lushamp ist für mich das, was einer Freundin am nächsten kommt. Früher war das so, weil sie linkisch und süß war und vor allem schlau. Als ich mich in sie verknallte, war sie die Art schlau, die kein Aufhebens von sich macht – das kam erst später. Sie saß einfach da, lehnte sich zurück und sog alles in sich auf wie ein Schwamm. Wir telefonierten, wenn alle anderen ins Bett gegangen waren, und sie erzählte mir ihren Tag – was sie gesehen hatte, was sie dachte. Manchmal redeten wir die ganze Nacht.
Die Caroline von heute ist groß und wunderschön, aber ihr Hauptmerkmal ist, dass sie die Leute in zwei Lager spaltet. Sie schüchtert alle unglaublich ein, sogar die Lehrer, vor allem, weil sie jetzt den Mund aufmacht – immer – und die Dinge beim Namen nennt. Der Hauptgrund, warum wir immer noch gelegentlich zusammen sind, ist Geschichte. Ich weiß, dass sie noch irgendwo da drin sein muss, auch wenn es kein Zeichen von ihr gibt. Die neue Caroline tauchte ohne Vorwarnung in der zehnten Klasse auf, und das heißt, dass die alte Caroline (vielleicht) jederzeit zurückkommen könnte. Der andere Grund ist der, dass sie normalerweise leicht für mich zu erkennen ist.
Ich biege in den von mir am wenigsten geschätzten Gang ein, den vor der Bücherei, in dem sich Carolines Schließfach befindet. In der neunten Klasse habe ich eine Zeitlang in der Bücherei ausgeholfen, und wenn ich einer der Büchereifrauen über den Weg laufe, grüßen sie mich immer und fragen, wie es meiner Familie geht, und erwarten natürlich, dass ich weiß, wer sie sind.
Während ich gehe, werde ich ständig angesprochen, und auch das ist ein Albtraum. Ich hebe den Kopf noch ein bisschen höher und lächle alle lässig an, aber ich scheine jemanden übersehen zu haben, denn ich höre: »Arschloch.«
Diese Gewässer sind tückisch. Und launisch. Das ist das Erste, was ich über die Highschool gelernt habe. In der einen Minute haben dich alle gern, in der nächsten bist du ein Ausgestoßener. Man muss nur Luke Revis fragen, das abschreckendste Beispiel an der MVB. Luke war in der Neunten der Star, bis irgendjemand herausfand, dass sein Dad im Gefängnis saß. Jetzt sitzt Luke auch im Gefängnis, und ihr wollt nicht wissen, warum.
In diesem Augenblick ist der Gang voll potentieller Lukes. Irgendjemand wird in einen Spind gesperrt. Jemand anders stolpert über ein ausgestrecktes Bein und prallt gegen einen Typen, der ihn schubst, bis er vom einen zum anderen gestoßen wird wie ein menschlicher Volleyball. Ein paar Mädchen sagen fiese Sachen über ein anderes Mädchen, das direkt vor ihnen steht, so dass es sich mit Tränen in den Augen abwendet. Eine Zehntklässlerin läuft mit einem großen roten A auf dem Rücken herum, und alle, die sie sehen, kichern, weil alle außer ihr über den Scherz Bescheid wissen. Auf jede lachende Person auf diesem Gang kommen fünf, die verängstigt oder traurig aussehen.
Ich versuche mir vorzustellen, wie es wäre, wenn meine Mitschüler über mich Bescheid wüssten – sie könnten mir vor meinen Augen meine Sachen oder mein Auto klauen und dann wiederkommen und mir beim Suchen helfen. Jeder Typ und jedes Mädchen könnten sich als jemand anders ausgeben, und es wäre entsetzlich. Alle wüssten Bescheid außer mir.
Ich will am liebsten weitergehen bis zum Haupteingang und dann nichts wie raus hier.
Ich höre: »Hey, warte mal, Mass!«, und gehe schneller.
»Mass!«
Verdammte Scheiße. Verpiss dich, wer auch immer du bist.
»Mass! Mass! Warte doch mal, du Wichser!«
Der Typ rennt hinter mir her. Er hat etwa meine Größe und ist stämmig. Seine Haare sind braun, und er trägt ein nichtssagendes T-Shirt. Ich mustere seinen Rucksack, das Buch in seiner Hand, seine Schuhe, alles, was mir einen Hinweis darauf geben könnte, wer er ist. Unterdessen redet er weiter.
»Alter, du solltest mal deine Ohren untersuchen lassen.«
»Sorry. Bin mit Caroline verabredet.« Wenn er sie kennt, wird das wirken.
»Scheiße.«
Er kennt sie. Wenn es um Caroline Lushamp geht, gibt es zwei Möglichkeiten – man liebt sie, oder man hat Angst vor ihr.
»Kein Wunder, dass du mit den Gedanken woanders bist.«
Sein Tonfall verrät mir, dass er zum Angst-Lager gehört.
»Ich dachte bloß, du wolltest es mir ins Gesicht sagen.«
Das ist noch so ein Albtraum – wenn sie dir nicht genügend Infos geben, um etwas damit anfangen zu können.
»Was denn?«
»Machst du Witze?« Er bleibt mitten auf dem Gang stehen und läuft rot an. »Sie ist meine Freundin, Mann. Du hast gewaltiges Glück, dass ich dich nicht fertigmache.«
Das ist also höchstwahrscheinlich Reed Young, aber es besteht auch der Hauch einer Möglichkeit, dass es jemand anders ist. Ich beschließe, es allgemein zu halten, während ich versuche, so spezifisch wie möglich zu klingen. »Du hast recht. Ich habe Glück, und ich habe es eigentlich nicht verdient. Ich bin dir was schuldig, Mann.«
»Definitiv.«
Ich höre Stimmen den Gang entlangkommen, laut und johlend wie ein marodierender Mob. Die Leute springen aus dem Weg, und schon kommen ein paar Typen daher, breit wie Kleiderschränke. Sie sagen: »Was geht ab, Mass? Du scheinst ja viel Spaß bei der Party gehabt zu haben.« Und lachen hysterisch. Ich erkenne sie nicht, aber sie sind anscheinend Freunde von mir. Einer von ihnen rammt seine Schulter gegen irgendein armes Schwein, das vorbeigeht, und schnauzt es an, besser aufzupassen.
Ich sage zu dem Kleiderschrank: »Alter, etwas mehr Respekt.« Und nicke Reed zu. Dann sage ich zu ihm: »Echt, Mann, du bist ein wahrer Freund.« Das stimmt nicht ganz, aber immerhin sind er und ich seit der Neunten zusammen im Basketballteam.
»Tja, ich will dir zwar immer noch in den Arsch treten, aber vergessen wir es. Lass das nicht wieder vorkommen.«
»Niemals.«
Er schaut in Richtung Bücherei. Ein Mädchen steht vor den Spinden und telefoniert. Er schüttelt sich. »Ich will gerade nicht in deiner Haut stecken.« Und damit verzieht er sich in die andere Richtung, gefolgt von den menschlichen Kleiderschränken.
Als ich näher komme, sehe ich die hellen Augen vor der dunklen Haut und den Leberfleck, den sie sich immer neben die rechte Augenbraue malt, obwohl jeder weiß, dass er nicht echt ist.
Verschwinde, solange du noch kannst.
Sie blickt auf. »Im Ernst?«, sagt sie, und ja, es ist Caroline. Ohne mich zu Wort kommen zu lassen, steuert sie auf die Bücherei zu, wo ich die Büchereifrauen an ihrer Theke sehen kann, wie sie nur darauf warten, dass ich hereinkomme, damit sie mich lächerlich machen können.
Ich packe Caroline am Arm und drehe sie zu mir um, und obwohl ich gar nicht will, ziehe ich sie an mich und küsse sie, bis sie atemlos ist. »Das hätte ich Samstag tun sollen«, sage ich, als ich sie wieder loslasse. »Das hätte ich den ganzen Sommer lang tun sollen.«