Ilija Trojanow
Nach der Flucht
FISCHER E-Books
Ilija Trojanow, geboren 1965 in Sofia, floh mit seiner Familie 1971 über Jugoslawien und Italien nach Deutschland, wo sie politisches Asyl erhielt. 1972 zog die Familie weiter nach Kenia. Unterbrochen von einem vierjährigen Deutschlandaufenthalt lebte Ilija Trojanow bis 1984 in Nairobi. Danach folgte ein Aufenthalt in Paris. Von 1984 bis 1989 studierte Trojanow Rechtswissenschaften und Ethnologie in München. Dort gründete er den Kyrill & Method Verlag und den Marino Verlag. 1998 zog Trojanow nach Bombay, 2003 nach Kapstadt, heute lebt er, wenn er nicht reist, in Wien. Seine bekannten Romane wie z.B. ›Die Welt ist groß und Rettung lauert überall‹, ›Der Weltensammler‹ und ›Eistau‹ sowie seine Reisereportagen wie ›An den inneren Ufern Indiens‹ sind gefeierte Bestseller und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt erschienen bei S. Fischer sein großer Roman ›Macht und Widerstand‹ und sein Sachbuch-Bestseller ›Meine Olympiade: Ein Amateur, vier Jahre, 80 Disziplinen‹.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
»Es gibt ein Leben nach der Flucht, doch die Flucht wirkt fort, ein Leben lang.« Ilija Trojanow ist als Kind zusammen mit seiner Familie aus Bulgarien geflohen, eine Erfahrung, die ihn bis heute nicht mehr los lässt.
Virtuos, poetisch und klug reflektierend erzählt Ilija Trojanow von seinen eigenen Prägungen als lebenslang Geflüchteter. Von der Einsamkeit, die das Anderssein für den Flüchtling tagtäglich bedeutet. Davon, wie wenig die Vergangenheit des Geflüchteten am Ort seines neuen Daseins zählt. Was das Existieren zwischen zwei Sprachen mit ihm macht. Welche Lügengeschichten man als Geflüchteter den Daheimgebliebenen auftischt. Und dass man vor der Flucht wenigstens wusste, warum man unglücklich war.
Ilija Trojanow erzählt von sich selbst, zugleich ist er eine exemplarische Figur. So gelingt ihm eine behutsame und genaue Topographie des Lebens nach der Flucht, das existentielle Porträt eines Menschenschicksals, das unser 21. Jahrhundert bestimmt.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Coverabbildung: Jacob Lawrence, In the North the Negro had better educational facilities © VG Bild-Kunst, Bonn, 2016. Foto: Museum of Modern Art, New York/Scala, Florenz
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Bild im Innenteil: Jacob Lawrence, aus dem Zyklus The Migration Series (1940–1941) © 2017. Digital Image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence/VG Bild-Kunst, Bonn 2017
ISBN 978-3-10-490438-2
Meinen Eltern, die mich mit der Flucht beschenkten
Dieser Text wurde inspiriert durch den Zyklus
»The Migration Series«
des Künstlers Jacob Lawrence.
Der Flüchtling ist meist Objekt.
Ein Problem, das gelöst werden muss. Eine Zahl. Ein Kostenpunkt. Ein Punkt. Nie ein Komma. Weil er nicht mehr wegzudenken ist, muss er Ding bleiben.
Es gibt ein Leben nach der Flucht. Doch die Flucht wirkt fort, ein Leben lang. Unabhängig von den jeweiligen individuellen Prägungen, von Schuld, Bewusstsein, Absicht, Sehnsucht.
Der Geflüchtete ist eine eigene Kategorie Mensch.
Die Flucht rechtfertigt sich selbst, das Leben danach stellt immer wieder neue Fragen.
Nichts an der Flucht ist flüchtig. Sie stülpt sich über das Leben und gibt es nie wieder frei.
Stets wird der Geflüchtete vorgestellt als einer, der einst von woanders kam. Der spät in einer Winternacht in den Gasthof trat. Der nicht eingeladen war. Ein Mündel, dem ein Teller Suppe vorgesetzt wurde, weil es sich so ziemt. Egal, wie viele Jahre seit seiner Flucht vergangen sind, die Einheimischen kennzeichnen ihn als jemanden, der etwas Essentielles nicht mit ihnen teilt. Selbst die kürzeste Biographie hat Platz für seine Bindestrich-Identität. Ob es daran liegt, fragt er sich, dass er immer noch in seiner Muttersprache zählt?
Im Auffanglager erhalten achtzig Minderjährige in einem Raum Wortsamen. Ein »A« wird ihnen hingeworfen. Seid dankbar, denn dies ist der edelste, ursprünglichste aller laute, aus brust und kehle voll erschallend, den das kind zuerst und am leichtesten hervor bringen lernt.
Einschulung. Er kann einige Wortbrocken, seine Mutter kann einige Wortbrocken. Gemeinsam stehen sie am ersten Schultag vor der Tür der Rektorin. Sie haben sich verspätet. Klasse 1b, sagt die Rektorin, im zweiten Stock. Sie deutet nach oben. Eine breite Treppe. Als sie in den Gang biegen, wird eine Tür zugeschlagen. Die Mutter klopft an die Tür. Herein! Ein Raum voller Kinder in seinem Alter. Er beginnt sich zu schämen. Die Rede seiner Mutter ein Radebrech. Er kann es nicht besser. Nein, nein, nein, wehrt die Lehrerin mit beiden Händen ab, ich habe schon vier Türken in meiner Klasse. Und scheucht Mutter und Sohn davon. Die Treppe hat beim Hinabsteigen mehr Stufen. Er weiß, was passieren wird. Sie werden wieder zur Rektorin gehen müssen. Er schämt sich noch mehr. Die Rektorin erhebt sich. Sie marschiert durch den Gang, die Treppe hinauf, den oberen Gang entlang, zur Klassenzimmertür. Sie reißt die Tür auf und spricht ein kurzes Wort. Er setzt sich in die letzte Reihe. Weil er wenig versteht, schaut er sich verstohlen um. Wer wohl die vier türkischen Kinder sind?
Als er ein Wort so ausspricht, dass es lustig klingt, ziehen die anderen Schüler Grimassen. Die Wörter sind in ihrem Mund Murmeln, denkt er. Nachträglich kommt es ihm vor, als habe er an diesem Tag beschlossen, die fremde Sprache so zu lernen, dass er sich nie wieder schämen muss. Er ahnt noch nicht, was seine Eltern von Anfang an wissen: Sprache ist Ermächtigung. Wer das Alphabet beherrscht, kann sich selbst verteidigen.
How can you allow a foreigner to be better than you? Diesen Vorwurf richtet der Lehrer aus England an das Gros der Klasse, an Kinder unterschiedlichster Herkunft. Fremd ist in diesem Klassenzimmer jener, der die Sprache erst vor kurzem gelernt hat. Die allererste Frage, die im Internat an ihn gerichtet wurde, verstand er nicht. Die Mitschüler lachten. Er wusste nicht, wie er fragen sollte: Worüber lacht ihr?
Liegt es daran, dass der Fremde, wie allseits bekannt, jemand ist, der nicht von hier stammt?
Stamm, der; -[e]s,/: eine Metapher, meist doppelt falsch. 1. Bäume bewegen sich nicht, ihre vegetative Migration heißt Pollenflug. Wer immerzu von Wurzeln spricht, identifiziert sich zu sehr mit Eichen und Eschen. Wenn ein Mensch andersstämmig ist, soll das bedeuten, dass nur seine Blätter ausdeutschen? 2. Der Stamm als Geschlecht. Eine Einheit größer als Familie, Sippe, Clan. Eine Vergangenheit, der er entronnen ist (und sei es als unschuldiges Kind). Ihm eingeritzt als Tätowierung, der er in neuer Sprache nachspürt.
Man hört ja gar nicht, dass Sie nicht von hier sind. Auch unschuldige Fragen können zersetzen. Sie haben ja gar keinen Akzent. Das klingt wie: Sie verheimlichen uns etwas, Sie machen uns etwas vor!Wie haben Sie denn so gut Deutsch gelernt?