Catherine Fisher

Stella und der Mondscheinvogel

Aus dem Englischen von Ulrike Köbele

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Catherine Fisher

Catherine Fisher (*1957) ist die Autorin vieler fantastischer Kinder- und Jugendbücher sowie preisgekrönter Gedichtbände. Sie lebt und schreibt in Wales.

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Als das Waisenmädchen Stella auf einem zugigen Bahnhof ein seltsames Paket mit einem alten Spielzeugvogel in die Hand gedrückt bekommt, ist das der Beginn eines großen Abenteuers. Stella ist auf dem Weg in ein neues Leben bei entfernten Verwandten. Doch in der Familie herrschen Kälte und Trauer, denn ihr Sohn Tomos ist auf mysteriöse Weise verschwunden. Zusammen mit dem Spielzeugvogel, der magisch zum Leben erwacht und bewaffnet mit einer machtvollen Schneekugel, macht Stella sich auf die Suche nach Tomos. Und betritt eine fantastische Welt aus Eis und Schnee …

 

Eine atmosphärisch bezaubernde und packende Geschichte für lange Winterabende.

Impressum

Deutsche Erstausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© Catherine Fisher 2018

 

Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2021, Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Hedderichstrasse 114, D-60596 Frankfurt am Main

Covergestaltung: Dahlhaus & Blommel Media Design GmbH, Vreden, nach einer Idee von Anne Glenn

Coverabbildung: Anne Glenn

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-7336-0418-9

Stella Rhys friert

Im weißen Frost die Stunde schlägt,
Derweil die Nacht ihr Sternkleid trägt.

Der Bahnhof war wie ausgestorben. Das Einzige, was sich in den stillen, dunklen Winkeln bewegte, war der große Zeiger der Uhr, die Stück für Stück auf die achte Stunde zukroch.

Wie hypnotisiert starrte Stella hinauf. Es war ermüdend. Wie konnte die Zeit so langsam vergehen? Wartete sie wirklich erst seit einer halben Stunde? Für sie fühlte es sich wie eine Ewigkeit an.

Sie war in einen dicken Mantel, eine Wollmütze, mehrere Schals und ein wärmendes Schultertuch eingemummelt und doch hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie

Sie stapfte vierzehn Schritte bis zur Mauer.

Vierzehn Schritte zurück.

Wieder zur Mauer.

Und zurück.

Um sie herum war alles – die Bänke, das Dach, die Aushänge der Bahnlinie – mit einer dünnen Frostschicht überzogen, die im Licht der Laterne wie Diamantsplitter funkelte. Die Stille war so durchdringend, dass es beinahe unheimlich war. Stella stieß eine dichte Atemwolke aus und wirbelte dann erschrocken herum, als hinter ihr die Tür zum Büro des Bahnhofsvorstehers aufging. Ein großer Mann in Uniform kam heraus und auf sie zu.

»Ganz allein, junge Dame?«

Was für eine blöde Frage. Mühsam verbiss sie sich all die patzigen Antworten, die ihr auf der Zunge lagen, und sagte bloß: »Ja.«

»Wartest wohl auf den Zwanzig-Uhr-Vierziger?«

»Gibt es noch einen anderen?«

Der Mann hatte ein rotes Gesicht und trug eine Schirmmütze, die den Eindruck vermittelte, dass schon mehr als einmal jemand darauf gesessen hatte. Er sah von hoch oben auf Stella herab, als versuchte er, ein Rätsel zu lösen. Schließlich sagte er: »Es ist ungewöhnlich kalt heute. Du könntest in den Wartebereich gehen, aber der ist nur für die erste Klasse. Reist du erster Klasse?«

Natürlich nicht. Niemand gab jemals so viel Geld für sie aus. Trotzdem zog sie ihr Ticket hervor und warf einen schnellen Blick darauf. DRITTE KLASSE stand dort in großen Buchstaben. Sie stopfte es zurück in ihre Tasche, bevor der Mann es sehen konnte, straffte die Schultern und erwiderte: »O ja. Jawohl. Erste Klasse. Bitte zeigen Sie mir den Wartebereich.«

Kurz fürchtete sie, dass er ihr nicht glaubte. Vielleicht glaubte er ihr auch wirklich nicht, doch er lächelte, nahm ihren Koffer und lief ihr den Bahnsteig entlang voraus. In seiner Hand erschien der Koffer geradezu winzig, obwohl er Stella furchtbar schwer vorgekommen war. Sie eilte hinter ihm her zu einer Tür, auf deren Milchglasscheibe Wartebereich erste Klasse geschrieben stand. Er öffnete sie und sagte: »Bitte schön. Immer rein in die gute Stube. So ist es doch gleich gemütlicher.«

Sie schob sich an ihm vorbei ins Warme. Fast

Der Raum war klein. An jeder Wand stand eine Bank; außerdem gab es einen großen Tisch mit einer Öllampe darauf. Aber das Allerbeste war das Feuer hinter dem Kaminrost. Unter einer dünnen Ascheschicht glomm ein Haufen glühend roter Kohlen.

Sie marschierte schnurstracks darauf zu und beugte sich darüber.

»Bist ja mächtig durchgefroren.« Der Bahnhofsvorsteher trat einen Schritt zurück und musterte sie neugierig. »Ich hab dich hier noch nie gesehen. Kommst wohl von weither, was?«

»Ich habe früher in Indien gelebt.«

»Na, da brat mir einer ’nen Storch! Ich möcht wetten, dort war’s wärmer.«

Unwillkürlich huschte ein Lächeln über ihre Lippen. »Ein bisschen.«

»Also, für mich wär das ja nix. All die Fliegen und Moskitos und erst die Tiger! Na, jetzt setz dich erst mal und mach’s dir gemütlich. Hast den Raum ganz für dich. Den Zug hörst du dann schon.«

Er ging wieder nach draußen, wodurch ein Schwall eiskalter Luft hereinströmte. Stella streifte die Handschuhe ab. Ihre Finger waren blau und gefühllos. Sie

Das war gleich viel besser! Die Wärme taute ihre Nase, ihre Ohren und ihre Finger auf. Es prickelte schmerzhaft, war aber irgendwie auch herrlich. Sie gähnte. Am liebsten hätte sie die Augen zugemacht und ein wenig geschlafen, doch sie durfte nicht riskieren, den Zug zu verpassen.

Stattdessen sah sie dem Feuer zu, das behaglich vor sich hin knisterte. Was sie dem Bahnhofsvorsteher erzählt hatte, war nicht gelogen – sie hatte tatsächlich in Indien gelebt, wenn auch nur als kleines Baby. Um ehrlich zu sein, konnte sie sich kaum daran erinnern. Alles, was ihr im Gedächtnis geblieben war, waren ein paar vage Eindrücke von Hitze und einem strahlend blauen Himmel.

Und von jemandem, der sich über sie beugte und ihr einen Kuss gab.

Sie schüttelte den Gedanken ab. Ihre Eltern waren beide dort gestorben. Stella war mit dem Schiff hierhergeholt worden und hatte die nächsten zwölf Jahre ihres Lebens im Waisenhaus von St. Mary’s zugebracht. Es fiel ihr jetzt noch schwer zu glauben, dass sie es da wieder rausgeschafft hatte. Ihre Großtante Grace hatte sie gefunden und bei sich aufgenommen. Doch das Glück

Der Brief raschelte in ihrer Tasche. Sie holte ihn heraus und rückte näher an die Lampe, um ihn noch einmal zu lesen.

Liebe Stella,

hier ist dein Zugticket. Wie ich dir auf der Beerdigung deiner Tante erzählt habe, hat sich Captain Arthur Jones, ein langjähriger Freund deines Vaters, bereiterklärt, dich bei sich aufzunehmen. Captain Jones ist dein Taufpate. Merkwürdig, dass du ihm nie begegnet bist. Er hat eine Frau –  Lady Mair – und einen Sohn namens Tomos. Sie alle leben in Wales, in einer prächtigen alten Villa namens Plas-y-Fran. Der Zug bringt dich nach Trefil, das ist der nächstgelegene Bahnhof. Dort wird dich sicher jemand abholen.

In aufrichtiger Verbundenheit,

G.R. Freeman

Rechtsanwalt

Staple Inn

London

Gedankenverloren knüllte Stella das Schreiben zusammen. Eine prächtige Villa! Sie zog die Knie an die Brust und begann zu träumen. Gewiss wartete dort ein Bad mit fließend warmem Wasser auf sie und dazu ein großes Schlafzimmer, in dem eins von diesen Betten mit Vorhängen stand, die man ringsherum zuziehen konnte. Hausmädchen und Laufburschen würden ihr jeden Handgriff abnehmen und sie könnte sich vor funkelnden Kronleuchtern und köstlichen Kuchen kaum retten. Neue Kleider würde sie natürlich auch bekommen. Captain Jones war ein großer, gutaussehender Mann mit einem stattlichen Schnurrbart und Lady Mair war bildschön. Gemeinsam würden sie auf der Türschwelle stehen und ihre Ankunft ungeduldig erwarten. Und einen Jungen gab es dort auch! Tomos. In ihrer Vorstellung hatte er dunkle Haare und ein intelligentes, fröhliches Gesicht. Er streckte die Hand aus und sagte: »Hallo, Stella, wie schön, dass du endlich hier bist!«

Es klang beinahe zu schön, um wahr zu sein.

Sie gähnte erneut. Das Feuer knisterte so warm und behaglich, dass ihr die Augen einfach zufielen. Eine Zeitlang war alles ganz friedlich.

Bis plötzlich jemand hustete.

Genau genommen war es eher ein leises Hüsteln, vielleicht das unauffälligste Geräusch, das sie jemals gehört hatte. Trotzdem schlug sie erschrocken die Augen auf. Ihr Blick fiel auf die andere Seite des Tisches und mit einem Mal war sie hellwach.

Da war ein Mann bei ihr im Wartebereich!

Er saß zurückgelehnt am äußersten Ende der Bank, das fast vollständig im Schatten lag. Nur mit Mühe konnte Stella einige Einzelheiten ausmachen. Der Mann war sehr groß und dünn und seine Kleidung war schwarz wie die Nacht. Er trug einen Hut, der seine Augen verdeckte, doch sie wusste auch so, dass er sie ansah. Auf seinem Schoß lag ein Paket aus Zeitungspapier, das mit Bindfaden umwickelt war. Er hielt es mit beiden Händen fest. Seine Finger waren lang und knochig und an einem davon blitzte ein grünes Funkeln auf: ein Smaragdring.

Sie war überzeugt, dass er nicht schon dagesessen hatte, als sie eingetreten war. Der Raum war eindeutig leer gewesen. Aber die Tür war auch nicht aufgegangen. Und selbst wenn sie tatsächlich eingenickt war, konnten höchstens ein paar Sekunden verstrichen sein.

»Hallo«, grüßte der Mann leise.

»Hallo«, erwiderte sie höflich. Als sie an sich herabsah, stellte sie fest, dass sie ihre Finger ineinander gekrallt hatte. Sie nahm die Füße von der Bank und setzte sich aufrecht hin. Wovor hatte sie Angst? Das hier war ein Warteraum. Jeder konnte reinkommen, um zu warten. Dennoch fühlte sie sich höchst unwohl dabei.

Ein Stück Kohle glitt ins Feuer.

Die Stimme des Mannes war kaum mehr als ein Flüstern. »Wartest du auf einen Zug?«

»Ja.«

Er richtete sich auf. Irgendetwas schien ihn zu beunruhigen. »Ich auch. Vielleicht warten wir ja auf den gleichen. Aber er verspätet sich – ich bin mir sicher, er verspätet sich.«

Allzu furchterregend wirkte er nun nicht gerade. Sie war noch nie jemandem begegnet, der so dürr und überängstlich war.

»Es ist noch Zeit«, versicherte sie.

Sie starrte ihn ratlos an. »Was gehört?«

»Na … das!«

Stella lauschte angestrengt. Sie hörte den Wind. Das Ticken der Bahnhofsuhr. Und möglicherweise den Hauch von etwas anderem. Es klang wie ein weit entfernter Schrei.

Die Wirkung, die das Geräusch auf den Mann hatte, war erstaunlich. Er sprang panisch auf. »Da sind sie! Ich bin mir sicher, dass sie es sind. Glaubst du, die Tür lässt sich verriegeln?« Er eilte hinüber, doch es gab keinen Schlüssel. Vorsichtig öffnete er sie einen Spaltbreit und lugte hinaus. »Ich kann nichts sehen. Es ist so dunkel!«

Er trat von der Tür zurück und begann, aufgebracht auf und ab zu laufen.

Was für ein riesiger Mann. Stella beobachtete ihn fasziniert. Seine Hände, die immer noch das Paket hielten, waren lang und feingliedrig wie die Hände des Prinzen aus einem ihrer Bücher. Was auch immer in dem Paket war, schien wertvoll zu sein. Er presste es so fest an sich, dass das Zeitungspapier raschelte.

Niemand kam herein. Nur der Wind strich säuselnd über die Tür. Stella wünschte sich, der

Und dann hörte sie es auch. Deutlicher jetzt und sehr viel näher. Ein fremdartiges Kreischen, kalt, durchdringend und erkennbar wütend. Als würde ein Polarvogel am eisigen Nachthimmel seine Kreise ziehen.

Der Mann gab einen leisen Schreckenslaut von sich und erstarrte.

Er drückte das Gesicht gegen die Scheibe und blickte hinaus, doch draußen herrschte finsterste Schwärze. Stella sah sein Spiegelbild im Fenster. Unter dem tief in die Stirn geschobenen Hut war sein Gesicht bleich und müde. Mit einem Ruck schloss er die Jalousie und fuhr zu ihr herum. Stella zuckte erschrocken zusammen.

»Hast du das gehört?«

»Ja«, antwortete sie. »War das eine Möwe?«

Sein Lachen klang hohl. »Nein, das war keine Möwe. Ich wünschte, es wäre eine … Hör zu …« Er warf einen Blick auf das Paket, dann richtete er die Augen auf sie. »Ich muss da raus. Ich muss nachsehen, ob sie es sind. Kann ich dir vertrauen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ja, schon, aber ich …«

»Bist du ein ehrliches Mädchen? Du siehst zumindest so aus.« Mit einer plötzlichen, entschlossenen Bewegung streckte er ihr das Paket hin. »Sei so gut und pass kurz darauf auf. Es dauert nicht lange.«

»Ich bin gleich wieder zurück. Begreifst du es denn nicht? Ich kann es nicht mit nach draußen nehmen. Die Gefahr ist zu groß, dass sie es sehen! Es dauert wirklich nicht lange, nur ein paar Augenblicke. Bitte.«

Widerstrebend nahm sie es ihm ab. Er wirkte zutiefst erleichtert. »Geh nicht weg. Ich bin gleich wieder da.«

Er war bereits an der Tür, doch bevor er hinausstürmte, drehte er sich noch einmal um. Seine langen Finger umklammerten das Holz. In seiner Stimme schwang ein gehetzter Unterton mit. »Falls sie mich erwischen, lass es auf keinen Fall alleine hier zurück. Egal, was passiert. Versprichst du mir das?«

Völlig überrumpelt nickte sie.

Im nächsten Moment war er verschwunden.

Stella betrachtete das Paket in ihren Händen. Es war schwer und so groß wie ein Laib Brot. Kurz glaubte sie, etwas darin krächzen zu hören. Vor Schreck stellte sie es hastig auf dem Tisch ab und setzte sich, doch die friedvolle Ruhe von vorhin war verflogen. Sie fühlte sich ängstlich und angespannt.

Der Zeiger der Bahnhofsuhr rückte unbeirrt weiter. Eine Minute.

Zwei.

Fünf.

Zehn.

Sie stand auf, lief zur Tür und lugte hinaus. »Hallo?«, fragte sie. »Sind Sie noch da?«

Der Bahnsteig war kalt und menschenleer.

Um 20.40 Uhr war er immer noch nicht zurück. Stella stand vor dem Tisch und schaute ratlos auf das Paket hinab. Was, wenn ihr Zug jetzt kam?

Wie aufs Stichwort gellte ein schriller Pfeifton durch die Nacht.

Was sollte sie nur tun? Das Paket einfach liegen lassen und riskieren, dass jemand es stahl? Den Bahnhofsvorsteher um Hilfe bitten? Ja! Das war die beste Lösung!

Sie schnappte sich ihren Koffer und schleppte ihn zur Tür.

Der Zug rumpelte bereits heran. Die Schienen gaben ein hohes Summen von sich, während die Lokomotive langsam die Geschwindigkeit verringerte. Die Räder klickerten und klackerten über die Gleise. Funken stoben. Bremsen kreischten. Eine gewaltige Wolke quoll zischend aus dem Dampfkessel und erfüllte die Nachtluft mit dem beißenden Gestank von Öl und Kohlen.

Türen gingen auf. Passagiere stiegen aus.

Im Nu wimmelte der Bahnhof von schnatternden, plappernden Menschen. Koffer wurden ausgeladen, vereinzelte Rufe drangen durch das Stimmengewirr. In höchster Eile sah Stella sich nach dem

»Entschuldigung!«, brüllte Stella. »He! Hallo!«

Er konnte sie nicht hören. Sie blickte sich suchend um. Der dürre Fremde war nirgends zu sehen. Das alles ging sie doch eigentlich gar nichts an, oder? Ihre Aufgabe war es, den Zug zu erwischen. Sie zog eine der Waggontüren auf und kämpfte sich mitsamt ihrem Koffer die Trittstufen hoch. Erleichtert ließ sie ihn auf den verblichenen roten Sitz plumpsen.

Dann hielt sie sich gut fest und lehnte sich aus der Tür.

Die kleine Öllampe tauchte den Wartebereich am Rand des Bahnsteigs in sanftes Licht. Auf dem Tisch lag immer noch das Paket aus Zeitungspapier, verlassen und schutzlos.

Stella wedelte wie wild mit dem freien Arm. »He! Können Sie mich hören?«

In der Ferne blies der Bahnhofsvorsteher in seine Pfeife. Er winkte zurück und hob eine grüne Flagge.

Lass es auf keinen Fall alleine hier zurück. Egal, was passiert, hatte der Fremde gesagt. Ach was, er hatte sie förmlich angefleht. Als sei das, was sich in dem Paket befand, unendlich kostbar.

Sie musste etwas tun.

Jemand stieß einen erschrockenen Warnschrei aus. Stella wurde von den Füßen gerissen und hing einen angsterfüllten Moment lang in der Luft, bevor sie die Stufen unter sich ertastete und sich kopfüber in den Waggon stürzte. Die schwere Tür schlug krachend hinter ihr zu. Sie landete bäuchlings auf dem schmutzigen Boden und begrub das Paket unter sich, während draußen das ohrenbetäubende Pfeifen des Zuges ertönte.

Funken flogen am Fenster vorbei.

Der Bahnhof lag bereits eine halbe Meile hinter ihnen.

Der Zug rumpelte donnernd in die Nacht hinaus.

Das geheimnisvolle Paket

Verborgen unter Packpapier
Reise ich – wohin? – mit dir.

 

Stella rappelte sich hoch und ließ sich auf ihren Platz sinken. Sie war außer Atem und ihr tat alles weh. Und als wäre das noch nicht genug, war ihr Mantel – ihr einziger Mantel! – voller Rußflecken. Ihr Gesicht wahrscheinlich auch. Wutentbrannt pfefferte sie das Paket auf den Nachbarsitz, holte ein Stofftaschentuch hervor und versuchte, den Schmutz abzuwischen, doch vergebens. Alles, was sie damit bezweckte, war, dass sie den Dreck erst richtig verrieb und die Flecken noch größer wurden.

Dabei wollte sie bei ihrer Ankunft doch einen besonders guten ersten Eindruck machen!

Das Klügste war es wohl, wenn sie es in Trefil am Bahnhof abgab. Dort hatte man sicher Erfahrung mit Fundsachen. Dann wäre sie es los und der Besitzer konnte kommen und es abholen.

Nun, da sie einen Plan hatte, fühlte sie sich gleich besser. Sie lehnte sich zurück und wandte sich dem Fenster zu, doch alles, was sie sah, war das Spiegelbild einer kleinen zerzausten Person im flackernden Licht der Gaslaterne ihres Zugabteils. Zusammen mit den beiden Bildern von Eseln am Meer, die an den Wänden hingen.

Sie seufzte. Wie weit war es noch bis Trefil? Bestimmt eine Ewigkeit. Und sie hatte solchen Hunger!

Als ihr Blick wieder auf dem Paket landete, bemerkte sie, dass das Zeitungspapier an einer Ecke aufgerissen war. Das musste in ihrer Hast, es rechtzeitig zurück in den Zug zu schaffen, passiert sein. Aus dem Inneren blitzte ihr etwas Kleines, Funkelndes entgegen. Ein Edelstein vielleicht?

Stella trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Am liebsten hätte sie nachgeschaut, aber das gehörte sich nicht. Es war nun mal nicht ihr Paket. Doch schließlich