Britta Sabbag
Blackwood
Briefe an mich
FISCHER E-Books
Als Britta Sabbag die Idee zu »Blackwood« über die Nordsee entgegengeweht kam, wusste sie sofort, dass diese Geschichte etwas Besonderes ist. Sie folgte ihrer Idee über das Meer nach Irland, wo sie von der Magie des Landes und seiner Bewohner vollkommen verzaubert wurde. Die Bestsellerautorin hat bereits erfolgreich für Kinder und Erwachsene geschrieben und vereint diese Talente nun in einem großen und mitreißenden All-Age-Roman. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn in der Nähe von Bonn.
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Stell dir vor, du bekommst einen Brief von deinem zukünftigen Ich. Würdest du ihn lesen?
Für Gesine ist das keine Frage. Natürlich würde sie. Denn nach dem Tod ihrer Mutter muss sie alleine zu einer Verwandten nach Irland ziehen. In dem kleinen, verschlafenen Dörfchen Blackwood hat sie niemanden, mit dem sie so richtig über ihren Kummer sprechen kann. Auch nicht über Arian Mary, den unverschämt gutaussehenden Sohn der örtlichen Butterdynastie. Noch dazu machen sie die Dorfbewohner mit Geschichten über allerlei übernatürliches Zeug verrückt. Alles Quatsch, denkt sich Gesine. Bis sie in einem geheimnisvollen alten Schreibtisch einen Brief von ihrem zukünftigen Ich findet, der ihre Welt ganz schön durcheinanderbringt …
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2019 by Britta Sabbag
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Für die deutschsprachige Originalausgabe:
© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung und -abbildung: bürosüd, München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490388-0
For whatever we lose (like a you or a me),
It’s always ourselves we find in the sea.
E. E. Cummings
Für alle Mutigen da draußen.
Besonders für die,
die ihrem Schicksal ab
und an mal ein Schnippchen schlagen.
Lasst eure Träume der Kompass
eures Lebens sein.
B. S.
Radio Blackwood
»Guten Morgen, liebe Blackwood-Gemeinde, da sind wir wieder, so verlässlich wie unser irisches Wetter! Gut, dieser Vergleich hinkt in etwa so wie der alte Bauer O’Sullivan, der im Übrigen auf dem Weg der Besserung ist, gutes Heilfleisch also von uns noch mal! Hier im Sender hinkt schon mal keiner, was ja eine gute Nachricht ist, und das ist immerhin besser als keine, nur schlechte Nachrichten sind Nachrichten, oder? Mist, jetzt habe ich meine eigene Frage nicht verstanden. Whatever! Es spricht für euch wie immer euer Bran Foley ohne Punkt und Komma, wie ihr wisst, redet selbst meine alte Mutter nicht so viel, aber sie wird ja auch nicht dafür bezahlt, ha! Das hab’ ich ihr schon als kleiner Hosenscheißer verzapft, irgendwann verdien’ ich mal meine Kohle damit, Mum! Sie wollte es ja nicht glauben, aber wer glaubt schon irgendwas, außer natürlich es wird hier berichtet.
Heute habe ich wahrhaft brisante News, einen Neuankömmling betreffend. Natürlich spann’ ich euch auf die Folter, wie sollte es anders sein, ich bin der Master of Cliffhanger, und dieser hier ist mindestens so steil wie unsere Cliffs in Doolin – ihr erfahrt noch früh genug, wer es sein wird. Erst einmal sind Blackwoods Bonnie und Clyde, die beiden Deckbullen aus dem Hause O’Connor, Tyree und Tyran, schon wieder tatkräftig unterwegs, ergreift also die notwendigen Maßnahmen und passt auf eure Kühe auf! Auf das Bonnie-und-Clyde-Konto gehen dieses Jahr 23 ungewollte Schwangerschaften, die O’Conners kriegen die Jungs einfach nicht in den Griff, wobei ich natürlich ganz und gar auf deren Seite stehe, wer sollte sich so ein Vergnügen auch entgehen lassen? Ich jedenfalls nicht.
So, die tierischen News sind abgehakt, dann wäre noch von der Swanton-Familie zu erzählen, holt eure Stifte raus, ach was, geht direkt hin: Das Swanton Irish-Crystal expandiert weiter, es wird eine Produktionshallenvergrößerung geben, wer also noch auf der Suche nach einem Sommerjob ist, kann sich da ab sofort melden. Und wo wir gerade bei den Reichen und Schönen sind: Die Marygold-Butter-Aktie steht übrigens nach wie vor gut, ich weiß zwar, ihr seid alle versorgt, aber denkt an eure Enkel und Urenkel, die sollen doch auch noch genügend Butter auf dem Brot haben, richtig?
So, nun zu meinem Cliffhanger: Breaking News! Mir ist da aus beinahe erster Hand zu Ohren gekommen, dass wir ein neues Mitglied in unserem schönen Ort begrüßen dürfen. Und zwar nicht als Gast, liebe Leute, nein, diese junge Dame hat vor, länger zu bleiben. Gesine Nowak ist ihr Name, und die Neue wird in das Stone Cottage von Wanda einziehen. Und zwar noch heute! Glaubt es oder glaubt es nicht, das kam auch für uns wirklich überraschend! Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen, und so, wie ich euch kenne, kriegt ihr vor Aufregung den Pulled Pork Pie, den es heute zum Lunch in Mimis Café gibt, nicht runter. Von unserer Cookfairy soll ich übrigens schöne Grüße ausrichten, der Lunch startet heute eine Stunde später, denn unsere Pummelfee muss den Neuling noch aus der Stadt abholen, und da braucht man noch nicht mal ein detektivisches Gespür für, um darauf zu tippen, dass Wandas Schrottkarre die Ursache dafür ist. Das kommt davon, wenn man seinem Auto einen Namen gibt und sein Geld lieber für massenweise Schlamm raushaut statt für einen anständigen Mechaniker. Nicht, dass wir in Blackwood einen hätten! Zurück zum Neuankömmling: Es ist ein Mädchen, fünfzehn Jahre alt und, ja, ihr erinnert euch an Wandas jüngere Schwester? Ein tragischer Autounfall, crash boom bang, der liebe Gott hab sie selig, das Kind steht nun ganz alleine da. Wir wären ja nicht die stolzen Einwohner von Blackwood, die wir sind, wenn wir so ein armes Mädchen nicht mit offenen Armen aufnehmen würden, no? Sie kommt aus Wien, da ist es doch sowieso viel zu voll von Touristen, und immer diese öden Schnitzel. Da ist uns ein gutes Irish Stew doch viel lieber. Mimi macht ihr irgendwas mit viel Butter, dann geht’s ihr gleich besser. Ich bin sicher, wenn die Kleine sich erst mal eingelebt hat, will sie gar nicht mehr weg!
Ich halte euch auf dem Laufenden, macht’s gut, bis später, euer Bran Foley.«
»Da bist du ja!«
Eine kurvige Frau um die dreißig mit rundlichem Gesicht, in dem auffallende Grübchen wie zwei warme, weiche Versprechen auf ein ›Alles wird gut‹ wirkten, kam mir mit wild fuchtelnden Händen entgegen. Unter ihre Arme hatte sie je ein riesiges Paket Mehl geklemmt, beide in etwa in der Größe meines Schulrucksacks, so dass ihre Wangen ganz rot vor Anstrengung waren. Ihre blonden, schulterlangen Locken wippten dabei genau wie ihr üppiges Dekolleté, das unübersehbar und rosa in einem figurbetonten Sommerkleid steckte.
»Ich hab’ schon befürchtet, dass ich dich nicht erkenne. Aber du bist ihr ja wie aus dem Gesicht geschnitten.«
Sie schielte über den einen Mehlsack auf ein Foto, das sie in der Hand hielt, dann sah sie mich an.
»Obwohl du dich seit dieser Aufnahme schon ein kleines bisschen verändert hast!«
Ohne Vorwarnung ließ sie die Säcke auf den Boden plumpsen, und augenblicklich standen wir beide inmitten einer Mehlwolke. Sie verstaute das Foto hektisch in einer ihrer Rocktaschen, dann nahm sie mir mein Gepäck aus der Hand und umarmte mich überschwänglich.
»Ich bin Mimi!«
»Hallo«, antwortete ich zögerlich, denn sie schien genau zu wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Im Gegensatz zu mir – ich hatte noch nie etwas von einer Mimi gehört.
»Deine Tante hat es leider nicht geschafft«, erklärte Mimi, die mich wieder losgelassen hatte und nun mit den zwei Mehlsäcken unter dem einen Arm und meinem Gepäck unter dem anderen voranschritt.
Ein Koffer – und darin war mein ganzes Leben.
»Joe hat wieder Zicken gemacht. Ich habe ihr gleich gesagt, dass ein Männername nur für Probleme sorgen wird. Ich meine, ich bitte dich, es gibt doch weitaus originellere Namen als ›Joe‹!«
Mimi rümpfte ihre Stupsnase und lachte. Ihre wasserblauen Augen strahlten dabei, als hätte sie nicht diesen Trauerkloß vor sich, der ich nun mal war, sondern mindestens einen Kobold mit Regenbogen und Goldtopf an dessen Ende.
»Aber bitte, sie wollte es so«, plauderte Mimi weiter, während wir den Bahnsteig entlanggingen, »… jetzt hat sie den Salat. Joe ist dermaßen dickköpfig, dass er glatt ein irisches Fabrikat sein könnte.«
Ich sah sie fragend an.
»Dabei kommt er sogar aus Deutschland!«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht so ganz«, sagte ich.
Sie zeigte auf einen weißen Pick-up vor uns, der am Straßenrand stand.
»Da lang!«
Mimi wankte vor mir her. Vollkommen überladen erinnerte sie mich an einen fröhlichen Packesel, der irgendwie auch ein bisschen betrunken war.
»Ich kann meinen Koffer doch auch …«
»Nichts da!«
Ihr Ton ließ keine Fragen offen.
»Hach, was freue ich mich, dich endlich kennenzulernen! Ich meine, den Anlass hätten wir uns bei Gott anders gewünscht … mein herzliches Beileid, Mäuschen.«
Sie hatte die Türen geöffnet und deutete mir an einzusteigen, doch ich blieb unbeirrt stehen. Ich wusste weder, wer Mimi war und warum sie mich anstelle meiner Tante Wanda abholte, noch, wer dieser sture Joe sein sollte. Ein starker Windstoß wehte mir meine Haare ins Gesicht, so dass ich fast gar nichts mehr sehen konnte und wie angewurzelt stehen blieb.
»Ganz schön windig hier!«, murmelte ich in das Haarnest, das sich vor meinem Gesicht gebildet hatte.
»Das ist noch gar nichts!«, winkte Mimi ab. »Wenn die Schafe keine Locken mehr haben – dann ist es windig!«
»Na los, hüpf rein!«
Ich sah sie fragend an. »Wo ist Wanda? Und wer ist Joe? Und wer bist du überhaupt?«
Mimi, die eben noch dabei war, die Mehlsäcke unter lautem Stöhnen auf die Vordersitze des Wagens zu hieven, hielt schlagartig inne.
»Ach, das tut mir leid, das muss alles viel zu viel für dich sein!«
Sie ging wieder um den Wagen herum und kam auf mich zu. Sogar ohne Mehlsäcke glühten ihre Wangen rosarot, und ihre Locken wippten, als ob sie hüpfte. Dann drückte sie mich an sich, so dass ich mit dem Gesicht wie auf zwei weiche Kissen gepresst wurde.
»Ich habe deiner Tante angeboten, dich abzuholen, weil ich sowieso Einkäufe für den Laden machen musste. Wanda wartet zu Hause mit einem warmen Essen auf dich. Also, in deinem neuen Zuhause, meine ich. Das hat sie sich nicht nehmen lassen, obwohl ich ihr angeboten habe, dass ihr auf Kosten des Hauses bei mir essen könnt. Nein, hat sie gesagt, Mimi, das ist ab heute meine Aufgabe, misch dich da nicht ein, das Kind muss erst mal in Ruhe ankommen. Genau das hat sie gesagt.«
Mimi ließ mich los, legte ihre Arme auf meine Schultern, presste ihre Lippen zusammen und sah mich an. Ihr Gesicht war so offen und warm, dass ich das Gefühl hatte, sie nicht erst vor wenigen Minuten kennengelernt zu haben.
»Und Joe ist ein Mercedes.«
»Joe ist ein … Mercedes?«, wiederholte ich ungläubig.
Mimi nickte.
»Kein Mensch weiß, warum Wanda so an ihm hängt. Eigentlich ist er nicht mehr als eine alte Schrottkarre. Aber sie weigert sich, ihn abzugeben. Wir haben schon alles Mögliche versucht. Einmal hat ihr ein Tourist, der solche Autos sammelt, sogar fünftausend Euro geboten! Kannst du dir das vorstellen? Fünftausend für einen Haufen Schrott! Aber Wanda …«
Mimi schüttelte seufzend den Kopf. »Diese Sturheit liegt wohl in der Familie. Deine Mutter war ja auch so …«
Abrupt brach sie ab.
»Tut mir leid.«
»Schon gut«, erklärte ich, obwohl ich sofort einen Kloß im Hals spürte, als Mimi meine Mutter erwähnte. Es fühlte sich immer noch alles vollkommen unreal an, erst recht hier in dieser seltsam fremden Umgebung. Ich packte den Haltegriff über dem Fenster und zog mich hoch in den Wagen.
»Willst du fahren?«, fragte Mimi und lächelte mich mit verschränkten Armen an.
Ich sah hoch: Das Lenkrad hing direkt vor mir. Ich war es einfach gewohnt, rechts einzusteigen, und hatte gar nicht darüber nachgedacht, dass es hier Linksverkehr gab und man als Beifahrer entsprechend auch auf der linken Seite saß.
»Nein, nein«, winkte ich ab.
»Wegen mir kannst du«, sagte Mimi und pfiff durch die hübsche Lücke ihrer Vorderzähne.
»Hier kontrolliert dich sowieso keiner.«
»Nein, danke«, wiederholte ich und wechselte die Seite.
»Oh, warte kurz!«, rief Mimi hektisch, »Du sitzt sonst auf dem Puderzucker!«
Sie schob zwei kleinere Pakete zur Seite und klopfte auf den Sitz. Sofort pufften weiße Mehlwolken auf, und ich musste husten.
»So, jetzt kannst du.«
»Danke.«
Ich hatte die begründete Befürchtung, an einer Mehlwolke zu ersticken, noch bevor wir an Wandas Haus ankommen würden.
»Entschuldige das Chaos hier«, erklärte Mimi und hielt mir mit einem breiten Lächeln einen der beiden Mehlsäcke entgegen.
»Könntest du?«
Ich nahm den Sack auf den Schoß und schloss die Autotür.
»Einmal in der Woche muss ich in die Stadt, den Großeinkauf erledigen. Und weil man bei unserem Wetter ja nie weiß, lasse ich das Mehl lieber hier vorne.«
Ich sah durch den kleinen Spalt hinter uns, der den Blick auf die Ladefläche freigab. Eine vollkommen durchlöcherte Plastikplane war mit einigen Seilen an den Seiten festgemacht –, wenn es regnete, würde Mimi anstatt mit zwei Säcken mit zwei riesigen Klumpen Mehlpampe zu Hause ankommen. Sie startete den Wagen, der sofort zu rumpeln und zu vibrieren begann. Ich drehte mich wieder um und sah aus dem Fenster. Der Himmel war graublau und dramatisch bewölkt, aber selbst zwischen den ganz großen Wolkenschichten kamen einige Sonnenstrahlen hervor, die sich wie ein Fächer auf die grüne Landschaft legten.
»Dann wollen wir mal«, sagte Mimi fröhlich, und es klang so, als würden wir einen schönen Ausflug unternehmen, auf den man sich freuen konnte. Ich stützte meinen Arm auf den Mehlsack auf meinem Schoß, neben mir quetschte sich noch der zweite Sack zusammen mit den beiden Paketen Puderzucker. Hier, eingeklemmt zwischen kiloweise weißem Staub, fühlte sich alles noch viel unwirklicher an, als es das ohnehin schon die ganze Zeit tat.
Mit der freien Hand tastete ich in meine Jackeninnentasche. Ja, er war noch da.
Das Papier fühlte sich mittlerweile nicht mehr so hart an, wie am Anfang, als ich den Brief in meine Brusttasche gestopft hatte. Vom vielen Herumtragen hatte es sich schon ein wenig verbogen und sicher schon einige Knicke bekommen. Der Brief meiner Mutter war alles, was mir noch von ihr geblieben war, und ich hütete ihn wie einen Schatz. Obwohl ich nicht wusste, was darin stand, musste ich alle paar Minuten kontrollieren, ob er noch da war. Ich hatte es nach ihrem Unfall einfach nicht fertiggebracht, ihn zu öffnen, es war, als würde ich damit das letzte bisschen, das mir von ihr geblieben war, aufbrauchen.
Im Grunde hatte ich seitdem gar nichts mehr fertiggebracht, sondern ging, wie eingetaucht in eine seltsam abgepufferte Wattewelt, ziellos denen hinterher, die mir sagten, was ich tun sollte.
»Du wirst vom Glauben abfallen, wenn du gleich Wandas Haus siehst. Das Stone Cottage ist zwischen zwei Felsen gebaut und eine echte Attraktion in Blackwood. Manche Touristen kommen nur her, um das zu sehen.«
Dann zwinkerte sie mir zu. »Na ja, und für meinen berühmten Shepherd’s Pie vielleicht auch.«
»Du hast also einen Laden?«, begann ich, weil mir nichts Besseres einfiel.
»Ja, Mimis Café auf dem Birdhill, mitten in Blackwood. Der Birdhill ist eigentlich gar kein richtiger Berg, mehr so ein Hügel. Na ja, ein sehr kleiner Hügel. Ich glaube, unsere Vorfahren wollten unbedingt einen Berg im Ort ihr Eigen nennen, und da haben sie einfach eine Menge Sand herangekarrt und aufgeschüttet, und schwupps!, hatte Blackwood einen Berg.«
Ich sah Mimi skeptisch an. »Ihr macht eure Berge selber?«
Mimi lachte.
»Du wirst dich über die irische Seele noch öfter wundern. Wir machen alles, sagen wir mal so, auf unsere eigene Art. The irish way, weißt du?«
»Hm.«
»Bis nach Blackwood brauchen wir ungefähr eine Dreiviertelstunde. Es sei denn, wir kommen in eine oder mehrere Schafherden. Dann dauert es natürlich länger.«
Mimi strahlte mich an, während sie den großen Wagen auf eine kleine Seitenstraße lenkte, die einen spektakulären Blick auf die grüne Landschaft freigab.
»Genug Zeit also, dass du mir was von dir erzählen kannst.«
»Was möchtest du denn wissen?«, fragte ich zögerlich. Eigentlich war ich nicht in Plauderstimmung und hätte es vorgezogen, weiterhin stumm aus dem Fenster zu starren. Schafe. Überall Schafe. Mehr Schafe als Menschen. Das war das Einzige, was ich je über Irland gehört hatte. Und jetzt saß ich hier mit nichts als einem Koffer in einem Land, von dem ich sonst rein gar nichts wusste.
Die Straßen waren ganz anders als in Wien. Viel enger und kurviger, und ständig rumpelte der Wagen, weil wir in ein Schlagloch fuhren. Anstelle von Zäunen gab es überall Mauern aus alten Steinen, und die Landschaft wirkte seltsam entrückt, wie aus einer anderen Zeit gefallen.
»Alles natürlich!«
Mit einem lauten Rumms landeten wir im nächsten Schlagloch. »Diese verflixten Dinger«, schimpfte Mimi wie ein Rohrspatz, »… dass sie die nicht reparieren können. Eines Tages verschwindet einer in so einem Loch und ward nie wieder gesehen.«
Dann lachte Mimi wieder. »Na ja, bei dem einen oder anderen wäre es gar nicht mal so schade.«
Ich musste schmunzeln, obwohl ich gar nicht wollte. Ich konnte mir gut vorstellen, dass die herzliche Mimi auch eine andere, explosive Seite hatte.
»Na, komm schon, erzähl mir ein bisschen von dir. Was hast du in Wien so alles getrieben? Es ist sicher eine aufregende Stadt, oder? Du hast bestimmt viele Freunde dort? Aber keine Sorge, hier wirst du schnell neue finden. Was die Gastfreundschaft angeht, sind wir unschlagbar. Da können sich selbst die feinen Engländer eine ordentliche Scheibe von uns abschneiden, mein’ ich!«
Ich überlegte. Was konnte ich zu Wien überhaupt erzählen? Alles wirkte immer noch wie in einem Albtraum, aus dem ich nicht aufzuwachen schien.
»Fangen wir doch mit dem Anfang an, Gesine«, half Mimi, die anscheinend merkte, dass ich feststeckte.
»Wie bist du an diesen großartigen Namen gekommen? Er ist einfach so … besonders!«
»Ja, leider«, seufzte ich. »Eigentlich nennt mich kaum jemand Gesine. Mama hat mich immer …«
Ich brach ab.
»Eher Ge.«
»Ge?«, fragte Mimi.
»Ja, ausgesprochen wie Gigi Hadid, nur ohne das zweite -gi und ohne das Hadid, na ja und auch ohne das i, dafür aber mit e …«
Ich merkte beim Reden, wie absurd sich meine Ausführungen wohl anhören mussten.
»Ich kenne zwar keine Gigi, aber ich nenne dich gern so«, antwortete Mimi, und ihre Stimme klang tröstlich.
Die Geschichte, wie ich zu meinem Namen gekommen war, war nämlich genauso speziell wie der Name selbst. Er ist das Einzige, was noch von meinem Vater übrig geblieben war. Wäre es nach meiner Mutter gegangen, hieße ich heute Magdalena Wanda Dala Nowak, was sicherlich kein Himmelsgeschenk, aber doch im Vergleich zu Gesine Rosine, wie ich überall melodisch gesungen gerufen wurde, einen enormen Fortschritt darstellen würde.
Unmittelbar nach meiner Geburt, die angeblich dreißig Stunden gedauert hatte, wie mich meine Mutter regelmäßig hatte wissen lassen – »Iss bitte deinen Obstsalat auf, Gesine, ich lag nicht dreißig Stunden in den schlimmsten Wehen, die das Universum je gesehen hat, damit dich am Ende eine Erkältung dahinrafft!« –, war es an meinem Vater, mich geburtsurkundlich anzumelden.
Mein Vater, ein Spring-ins-Feld ohne Ausbildung, aber mit großem Optimismus dem Leben gegenüber ausgestattet, war der Familie mütterlicherseits immer ein Dorn im Auge. Meine Mutter selbst bezeichnete die Liaison mit ihm als kurzfristig zufriedenstellend. Zur Anmeldung seines ersten Kindes gab sie ihm einen Zettel mit, auf dem Magdalena Wanda Dala Nowak stand. Auf dem Weg dahin traf er einen alten Bekannten, der ihn nicht lange dazu überreden musste, zur Feier meines Geburtstages die Biergartensaison zu eröffnen. Einige Biere und unzählige Trinksprüche später kam mein Vater genau fünf Minuten vor Büroschluss beim Standesamt an. Doch als er in seine Jackentasche griff, war der Zettel mit meinem Namen verschwunden. Und da mein Vater über kein besonders gutes Gedächtnis verfügte, gewaltig angetrunken war und die Beamtin die letzten Sekunden bis zu ihrem aus ihrer Sicht wohlverdienten Feierabend laut abzählte, musste er irgendwas in dieses Anmeldeformular schreiben. Und da er sich nicht mehr an die Auswahl meiner Mutter erinnern konnte, wählte er das Naheliegendste: den Namen seiner Mutter. Gesine.
Es ist unbekannt, ob sie eine ähnliche Tragödie wie mich mit diesem Namen ereilte, denn als mein Vater mit der Anmeldung zurück ins Krankenhaus kam, brach ein mittelschweres Drama aus. Die Hebammen hatten ihre liebe Mühe damit, den Kindsvater heil aus dem Wochenbettzimmer herauszuholen, waren aber darüber nicht sonderlich schockiert, denn zu solchen Zwischenfällen käme es nach ihrer Erfahrung immer mal wieder so frisch nach den Geburten, da sei einfach noch nicht alles wieder an seinem Platz. Mein Vater jedenfalls wurde nach diesem Zwischenfall nie wieder gesehen, und meine Mutter verlor kaum ein Wort über ihn. So wurde die Rosine sein einziges Erbe, das ich gerne ausgeschlagen hätte. Ich konnte nicht verhindern, dass die Rosine sich immer wieder an die Gesine hängte. In der Schule wurde ich seit der ersten Klasse damit aufgezogen, und je älter ich war, umso mehr störte mich der fiese Singsang, der mir wie ein unliebsamer Rattenschwanz hinterherlief. Einmal rief irgendjemand quer über den Schulhof: »Ge-sine, Ge-sine, hat zwischen den Beinen ’ne Ro-sine«, und ab dem Moment war alles vorbei. Die Rosine ließ meine Wangen hochrot erglühen, und ich wäre am liebsten gar nicht mehr auf den Pausenhof gegangen.
Da dies aber nun nicht mehr zu ändern war, tat ich alles, um diesem mittelprächtigen Start möglichst viel entgegenzusetzen: Ich lernte, was das Zeug hielt. Ich träumte davon, später Nobelpreisträgerin zu werden, oder mindestens Professorin, denn dann würde jeder meinen Namen mit Ehrfurcht aussprechen, und niemals wieder würde er gesungen werden. Ich hatte bis vor wenigen Tagen einen genauen und bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Plan gehabt, wie mein Leben aussehen sollte. Meine Mutter war immer meine Verbündete bei diesem Plan gewesen.
»Wir waren die zwei Musketiere, die keinen dritten im Bund brauchten«, erklärte ich mit dünner Stimme, und Mimi nickte wissend.
Ich wollte also einen Einser-Abschluss machen und studieren und in Wien eine beispiellose Karriere hinlegen, die meinen Namen in Stein meißelte, so dass sich niemand mehr an die Rosine von einst erinnern konnte.
»Na ja, und nun bin ich hier«, schloss ich seufzend meine Ausführungen und wunderte mich über meine Offenheit Mimi gegenüber. Es musste wohl an ihrer hoffnungsvollen Art liegen, der man einfach nicht widerstehen konnte. Sie hatte in Blackwood sicher reihenweise Verehrer.
»Jetzt hier zu landen war also nicht ganz der Plan, den ich mir zurechtgelegt hatte.«
Mimi nickte zustimmend.
»Niemand weiß, wo eine Geschichte beginnt oder wo sie aufhört. Vielleicht gibt es auch nie ein Ende, und wir schreiben sie jeden Tag neu. In jedem Fall ist das hier ein Beginn, mein Kleines. Und wir werden alles dafür tun, dass du dich bei uns wohl fühlst, das verspreche ich dir.«
Mit Schwung nahmen wir die nächste Kurve. Die Straßen hier waren nicht nur schlangenlinienförmig und voller Schlaglöcher, sondern auch vollkommen hubbelig, so dass mich das Ganze an eine Achterbahnfahrt erinnerte. Da Mimis Wagen die Straße fast komplett ausfüllte, fragte ich mich, was wir täten, wenn uns ein Auto entgegenkäme. Prompt bekam ich meine Antwort. Ein Wagen, der fast frontal auf uns zuraste, versetzte mir einen Schock. Sofort hielt ich mich an der Armatur fest.
»Mimi!«
Doch Mimi drehte sich unbeeindruckt um, legte den Rückwärtsgang ein und setzte den Wagen gekonnt ein paar Meter auf einem Stück Wiese zur Seite. Der entgegenkommende Wagen fuhr an uns vorbei, allerdings nicht ohne dass sich der Fahrer mit der flachen Hand grüßend bedankte. Mimi grüßte auf ihre Weise zurück: mit ihrem unschlagbaren Lächeln.
»Wir sind gleich da«, sagte Mimi und sah zu mir herüber. »Jetzt kommt erst mal die Magic Road. Das ist die einzige Straße, die nach Blackwood führt.«
»Eine magische Straße?«, fragte ich nach und dachte an einen Touristentrick, der mit Sicherheit hier seinen Ursprung gefunden hatte.
»Das kannst du selbst beurteilen«, antwortete Mimi und schaltete den Wagen aus, als wir auf einer kleinen Anhöhe angekommen waren. Vor uns lag eine lange, einspurige Landstraße, die alles andere als magisch auf mich wirkte. Mimi nahm den Gang raus, die Füße vom Pedal und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.
Langsam rollte der Wagen an – nur nicht die Anhöhe hinab, sondern rückwärts hoch.
»Was hast du gemacht?«, fragte ich leicht panisch, obwohl wir im Schneckentempo rollten. Trotzdem fand ich die Tatsache, rückwärts eine Anhöhe hochzurollen, ohne dass Mimi etwas sichtbar dazu beigetragen hatte, höchst merkwürdig.
»Gar nichts«, sagte Mimi grinsend. »Ich hab dir doch gesagt, dass das die Zauberstraße ist.«
»Aber wie kann das sein?«
Ich kurbelte das Fenster herunter und sah aus dem Auto. Irgendwas musste uns doch ziehen – unsichtbare Schienen etwa? Aber es war rein gar nichts zu sehen.
»Wie …?«
Ich brach ab. Das war ganz und gar unmöglich!
Mimi grinste immer noch, als sie den Wagen wieder anließ.
»Manche sagen, es hat mit dem Erdmagnetfeld zu tun. Andere halten es für eine optische Täuschung. Ich für meinen Teil glaube lieber an die Kraft der Feen, die uns zeigt, dass wir hier nicht alleine sind, auf sie achtgeben sollen und nicht zu schnell fahren.«
»Aha.«
Mimis Erklärung verwirrte mich nur noch mehr, als ich es ohnehin schon war. Sie hatte soeben eine Glanzleistung vollbracht: Ich war noch nicht mal richtig angekommen, und schon hielt ich das Land und seine Einwohner für nicht ganz zurechnungsfähig.
Als wir wieder wie normale Menschen die Straße entlangfuhren, bemerkte ich Mimis Blick auf meinem Körper, und obwohl er ganz sicher wohlwollend war, war es mir unangenehm.
»Eigentlich bist du gar kein Mauerblümchen«, resümierte sie ihre eingehende Betrachtung.
»Wie meinst du das?«, fragte ich irritiert.
»Na dein Mauerblümchen-Outfit«, antwortete Mimi lachend und warf den Kopf in den Nacken, »das täuscht mich nicht.«
Ich sah an mir herunter. Ich trug Turnschuhe, eine einfache Jeans und eine Bluse aus hellblauer Baumwolle. Darüber hatte ich meinen ausgeleierten Cardigan gezogen, von dem ich mich einfach nicht trennen konnte. Ma hatte ihn schon letztes Jahr aussortieren wollen, und ich war nachts heimlich auf Zehenspitzen zu den Kleidersäcken im Flur gelaufen, um ihn wieder herauszuklauben.
»Du bist eine von diesen ganz besonderen Schönheiten«, erklärte sie weiter und grinste verschmitzt vor sich hin. »Man sieht dich nicht auf den ersten Blick, weil du dich nicht laut und übertrieben in den Vordergrund drängst. Aber beim zweiten Blick dann in deine dunkelblauen Augen ist man hoffnungslos verloren.«
Ich musste schmunzeln. »Du klingst wie einer dieser Jungen, die glauben, jedes Mädchen mit ihren unglaublich charmanten Sprüchen einwickeln zu können.«
»Ich glaube, es ist eher andersrum, Kleines«, spottete Mimi. »Und du brauchst bestenfalls noch nicht mal einen Spruch dafür.«
Ich schüttelte den Kopf. »Mit Jungs habe ich nichts zu tun. Die Schule geht vor.«
Mimi lachte. »Verstehe.«
Ich sah wieder stumm aus dem Fenster. Mimis Einschätzung konnte ich ganz und gar nicht verstehen. Bis jetzt war noch niemand hoffnungslos verloren, dem ich in die Augen gesehen hatte. Außer vielleicht Herr Krautbart, mein Mathelehrer, der weniger seine Augen als vielmehr seine Nerven mit mir in dem einzigen Fach, in dem ich nicht brillieren konnte, verloren hatte.
»Da vorne ist es«, sagte Mimi jetzt und deutete mit dem Kinn auf eine Straße vor uns. Wobei die Bezeichnung »Straße« wohl etwas zu viel gesagt wäre, denn der hügelige Weg bestand größtenteils aus Rasen, auf dem sich die Spuren vorangegangener Besucher in einer Art Trampelpfad wiederfanden.
»Diese Straße hat keinen Namen, aber jeder weiß trotzdem, wo das Stonecot ist. Außer Wanda wohnt nur noch Mrs Bangert-Wokittel hier. Bei ihr musst du aufpassen, sie taucht immer und überall ungefragt auf und ist eine echte Klatschbase. Na ja, hier weiß sowieso jeder alles, daran kannst du dich direkt schon mal gewöhnen. Schwer, in Blackwood Geheimnisse zu bewahren.«
Ich presste meine Hand auf meine Brusttasche.
»Ich habe keine Geheimnisse.«
»So was kommt mit der Zeit«, murmelte Mimi, und es klang so, als würde sie es eher zu sich selbst sagen.
Mimi hielt den Wagen direkt vor dem Haus. Sie hatte recht gehabt, mit dem, was sie über das Stone Cottage gesagt hatte: Zwei riesige Felsen umschlossen ein leicht schiefes, freundliches Steinhaus, aus dessen Kamin silbergrauer Rauch emporstieg. Die Steinriesen umarmten das Haus nahezu und überragten es um Längen, so dass das Cottage noch viel kleiner wirkte, als es sicherlich war. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich geglaubt, vor einer Filmkulisse zu stehen. Die Felsen waren erstaunlich hell, fast weiß, und wurden von wildwachsenden Bäumen und Büschen umsäumt, die sich im Wind wiegten. Vor dem Eingangsbereich waren unzählige weiße Kieselsteine aufgeschüttet, unter denen nun der Staub durch die Wagenräder aufgewirbelt wurde. Direkt daneben stand ein schwarzer Oldtimer Mercedes, wie ich ihn aus alten Hitchcock-Filmen kannte, die ich immer gerne mit Ma zusammen unter eine Decke gekuschelt angesehen hatte. Es war ein zierlicher, eleganter Wagen mit silbernen Griffen und Radkappen. Zumindest waren sie das mal, denn der Glanz war einem matten Grauton gewichen, der davon zeugte, dass sich länger niemand um den Wagen gekümmert hatte. Ob das Joe war? Ich öffnete die Autotür, und schon wehte mir eine kühl-salzige Luft entgegen. Das Meer konnte nicht weit entfernt sein. Mimi hingegen bewegte sich nicht, sondern drückte dreimal kräftig auf die rostige Hupe des Pick-up.
Eine zierliche Frau mit jungem Gesicht, das im starken Kontrast zu ihren grauen, leicht gelockten, schulterlangen Haaren stand, öffnete die dunkelgrün lackierte Holztür. Mit den ebenso grünen Fensterläden, die rechts und links von den kleinen Strebenfenstern angebracht waren und von denen einige etwas windschief hingen, wirkte es seltsam verwunschen. Das winzige Haus passte zu der aus der Zeit gefallenen Umgebung – es war unvorstellbar, dass es irgendwo anders stehen konnte. Als sie mich entdeckte, hielt sie die Hand vor ihren Mund. Ich erkannte die dunkelblauen Augen, an deren Rändern sich Lachfältchen gebildet hatten – oder Sorgenfalten.
Die gleichen dunkelblauen Augen, wie Ma sie gehabt hatte. Die gleichen Augen, wie ich sie hatte.
»Da ist unser Goldstück«, rief Mimi ihr aus dem Wagen zu. »Und wehe ihr kommt mich nicht gleich diese Woche im Laden besuchen! Ich weiß genau, dass der Kleinen eine ordentliche Portion Butter guttun wird.«
Dann zog Mimi die Tür hinter mir zu, wendete den Wagen, indem sie zweimal mit der Ladefläche halb in den Büschen versank, und brauste davon. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass es Staub gewesen sein musste, ich wäre sicher gewesen, dass sie in einer Mehlwolke verschwand.
Wanda nickte und kam stumm auf mich zu. Kurz vor mir blieb sie stehen, so dass ich ihre feuchten Augen sehen konnte. Dann zog sie mich vorsichtig an sich, bis nur noch wenige Zentimeter zwischen uns waren.
»Es tut mir so leid.«
Ich war nicht imstande, etwas darauf zu antworten, denn im Grunde gab es keine Antwort darauf. Es war ja noch nicht einmal eine Frage. Wir standen beide einige Sekunden unbeweglich voreinander, bis Wanda ihre Fassung wiedererlangt hatte. Sie lächelte mich an, und ich sah, wie sie sich schnell eine Träne mit dem Handrücken aus dem Augenwinkel wischte.
»Komm erst mal rein.«
Sie schob mich sanft durch die Tür in einen großen Raum, dessen Wände auch von innen aus weiß getünchtem Stein bestanden, an der Decke bildeten dunkle Holzstreben das Gewölbe. Aus dieser Perspektive wirkte das Haus gar nicht mehr so winzig wie von außen. Wir befanden uns direkt in einer Art Wohnküche, in deren Mitte ein großer Holztisch stand. Im Kamin neben uns, der aus unterschiedlich großen, alten Steinen gemauert war, brannte ein Feuer.
»Du musst völlig ausgehungert sein«, sagte Wanda, nahm mir meinen Koffer ab und stellte ihn neben die Tür.
Ich schüttelte den Kopf.
»Eigentlich habe ich gar keinen Appetit.«
Es stimmte – ich merkte zwar, dass ich hungrig war, denn ich hatte seit Stunden nichts mehr gegessen –, aber ich verspürte überhaupt keinen Appetit. Den hatte ich, wie so vieles in letzter Zeit, in Wien verloren.
»Der kommt schon wieder«, sagte Wanda zuversichtlich. »Die Meerluft hier macht ständig hungrig. Das liegt an dem hohen Sauerstoffgehalt.«
»Hm.«
»Setz dich doch erst mal. Komm, ich nehme dir deine Jacke ab.«
Doch als sie ihre Hand ausstreckte, wich ich zurück. Blitzschnell hatte sich meine Hand wieder auf die Brusttasche gelegt.
Ja, er war noch da.
»Ich lasse sie lieber an.«
»Natürlich.«
Wanda nahm einen kupferfarbenen Topf vom Herd. »Ich habe uns eine Suppe gemacht. Die wärmt von innen.«
Sie hatte die Ärmel ihres übergroßen Hemdes umgekrempelt, und ihre Hände wirkten im Gegensatz zu ihrer zierlichen Statur seltsam rau.
»Verzeih meinen Aufzug, ich war bis eben noch im Garten.«
Sie füllte einen tiefen Tonteller mit der Suppenkelle.
»Du findest mich eigentlich immer im Garten. Oder in der Pottery.«
Dann stellte sie einen Teller vor mich. »Lass es dir schmecken.«
»Du hast also eine Pottery?«, fragte ich.
Wanda nickte. »Die Teller hier sind auch von mir. Gefallen sie dir?«
Ich sah auf die efeuartigen Verzierungen, die den Tellerrand schmückten. Sie waren grün- und blaulackiert, und Wandas Teller sah meinem zwar ähnlich, war aber doch ein wenig anders. Hätte ich diese Teller in einem Laden in Wien gesehen, hätte ich ihnen sicher keinen zweiten Blick geschenkt. Wir hatten zu Hause eher praktische Sachen geschätzt, keinen Schnickschnack, wie Ma es immer nannte. Aber hier, in dieses Haus, passten sie irgendwie.
»Sie sind hübsch«, sagte ich, und Wanda lächelte fast erleichtert.
»Wenn du magst, zeige ich sie dir gleich. In der Pottery mache ich Tassen, Teller und Vasen. Ach, eigentlich alles, was man so braucht.«
Sie zwinkerte mir zu. »Oder auch nicht braucht. Im Dorfladen wird vieles verkauft, hauptsächlich an Touristen. Manche kommen sogar hierher. Und Mimi hat in ihrem Laden auch viele meiner Sachen.«
»Töpfern ist dann sozusagen dein Job?«, fragte ich und nahm aus Höflichkeit einen Löffel Suppe, die warm und samtig war und nach etwas schmeckte, das ich nicht kannte.
»Genau. Und das Gemüse für die Suppe kommt aus dem Garten hinter dem Haus.«
Das war es: Die Suppe schmeckte erdig. Es war ein Geschmack, den man sicher schätzen lernen konnte. Ein Geschmack, der wie Heimat war. Wenn man eine hatte.
Ich legte den Löffel ab. »Ich habe wirklich keinen Hunger. Darf ich auf mein Zimmer?«
Ich wollte nicht so unfreundlich klingen, wie es sich anhörte, aber ich merkte, wie mir alles zu viel wurde. Was sollte ich hier? Keine Suppe der Welt würde helfen, mich hier zu Hause zu fühlen! Das war nicht mein Zuhause und das würde es auch nie werden.
Wanda sah enttäuscht aus, und augenblicklich machte sich ein schlechtes Gewissen in mir breit.
Sie nahm einen neuen Anlauf. »Wie wäre es, wenn ich dir direkt alles zeige? Die Suppe kann ich dir dann später noch mal warm machen.«
Jetzt lächelte sie mich an. »Gärten machen alle Menschen glücklich. Außerdem kannst du dann gleich unsere Mitbewohner kennenlernen.«
Ich konnte mich weder erinnern, dass mich je ein Garten glücklich gemacht hatte – aber wir hatten in unserer Stadtwohnung in Wien auch nur einen Balkon gehabt –, noch hatte ich gewusst, dass Wanda Untermieter in diesem kleinen Haus hatte, was angesichts der Übersichtlichkeit des Cottage schwer vorstellbar schien.
Ich folgte Wanda durch die Hintertür, die direkt in den Garten führte. Im Haus hatte sie nur Socken getragen, und neben dem Türabsatz standen mehrere Paar Gartenschuhe, von denen sie nun eins in die Hand nahm. Aber anstatt die Schuhe anzuziehen, hielt sie sich beide nacheinander vor den Mund und flüsterte etwas Unverständliches. Dann erst schlüpfte sie hinein.
Mir fiel direkt auf, dass der Rasen so leuchtend grün war, dass er fast künstlich wirkte. Es roch nach feuchtem Moos, und überall wuchsen Büsche und wildangelegte Beete, die von vielen, unterschiedlich großen Natursteinen umrandet waren. Auf den ersten Blick herrschte eine chaotische Ordnung, aber trotzdem schienen jede Pflanze, jeder Busch und sogar jeder Zweig an seinem Platz zu sein. Auch die Pflanzen leuchteten in dem grünsten Grün, das ich je gesehen hatte. Die feuchten Blätter glänzten in der Sonne, und alles hatte etwas Magisches.
»Und das ist Catan.«
Zu meinen Füßen hatte sich ein Kater herangeschlichen, der sich nun kreisend um meine Beine schmiegte. Eigentlich hätte ich meine Hand ausgestreckt, um ihn zu streicheln. Er war schwarzweiß-gefleckt, aber die weißen Stellen waren vor lauter Schmutz ganz grau. Ich hatte noch nie einen so schmutzigen Kater gesehen. Reflexartig steckte ich meine Hände in die Jeanstaschen.
»Ach, das meintest du mit Mitbewohner«, sagte ich erleichtert. Ich war doch ganz froh, heute keine weiteren fremden Menschen mehr um mich zu haben.
Wanda lachte. »Catan ist auch ein Mitbewohner, das stimmt. Allerdings kommt und geht er, wann er will. Die anderen sind eigentlich immer da.«
Wanda ließ ihren Blick zufrieden durch den Garten schweifen.
»Außer, sie feiern ihre Feste. Dann treffen sie sich an bestimmten heiligen Orten, die man dann auf keinen Fall stören sollte.«
»Ich verstehe nicht ganz?«, fragte ich.
»Na, die Fairies. Und natürlich auch die Leprechauns. Ganz entzückende Wesen! Du wirst begeistert sein, wie freundlich sie sind. Die eine oder der andere fremdelt vielleicht ein wenig, weil sie anfangs noch scheu sind, aber das legt sich schnell, du wirst sehen.«
Hatte ich richtig gehört? Sprach meine Tante da gerade von Feen? Und von …?
»Leprechauns sind unsere Waldgeister. Sie waren schon hier, bevor wir alle kamen, und haben großzügig ihr Land mit uns geteilt. Sie sind besonders flink, deswegen oft schwer zu sehen. Aber wenn du mal kaputte Schuhe hast, kannst du sie hier in den Garten stellen. Wenn sie einen guten Tag haben, sind sie am nächsten Tag repariert.«
Ich glaubte nicht, was ich da hörte.
»Bitte?«
»Du darfst nie vergessen, sie höflich zu bitten herauszukommen, wenn du diese Gartenschuhe hier anziehst«, erklärte meine Tante bestimmt. »Sonst besteht die Gefahr, dass du einen von ihnen zerquetschst!«
»Das ist doch ein Scherz, oder?«, versicherte ich mich.
Jetzt sah Wanda mich an, als hätte ich gerade davon erzählt, dass wir in Wien ein Einhorn auf dem Balkon gehabt hätten, und hielt eilig ihren Finger vor den Mund.
»Psst! Lass sie das nicht hören. Immerhin haben sie auch ihren Stolz!«
Jetzt musste ich wirklich lachen. »Das kannst du einfach nicht ernst meinen.«
»Natürlich meine ich das ernst! Damit macht man keine Scherze!«
Ich hatte ja schon das eine oder andere über die Iren gehört, und auch, dass sie als eigentümliches Völkchen galten. Aber dass selbst meine eigene Tante so verrückt war, an Feen in ihrem Garten zu glauben und mit Leprechauns in ihren Gartenschuhen zu sprechen, konnte ich kaum fassen. Das schien mir noch fremder als diese seltsam verlassene Landschaft, die so gar nichts mit dem Stadttrubel in Wien zu tun hatte, den ich gewohnt war.
»Und jetzt zeige ich dir die Pottery!«, sagte Wanda und schritt voran.
Catan hatte es anscheinend aufgegeben, eine Krauleinheit einzufordern. Ich nahm mir vor, ihn, sobald ich mich etwas ausgeruht hatte, ordentlich abzuschrubben, damit ich seiner Aufforderung nachkommen konnte.
»Wanda«, sagte ich und lief ihr schnell nach. »Wärst du böse, wenn wir das auf später verschieben würden? Ich bin müde und würde mich gerne ein bisschen ausruhen.«
Es stimmte, ich war wirklich müde. Aber in erster Linie wollte ich alleine sein. Für den ersten Tag hatte ich genug gehabt, und ich hatte die begründete Befürchtung, dass noch einige Überraschungen dieser Art auf mich warteten.
»Natürlich, du musst ja völlig erschöpft sein. Wir machen den Rest später. Komm, ich bringe dich auf dein Zimmer.«
Wir gingen zurück in die Wohnküche, ich nahm meinen Koffer und folgte meiner Tante eine schmale, knirschende Holztreppe hoch. Sie öffnete eine Tür, die mir höchstens bis zum Kinn ging.
»Hier musst du aufpassen, dass du dir nicht deinen Kopf stößt«, sagte sie lächelnd. »Bei diesem Türrahmen hat man schneller ein Brett vorm Kopf, als man denken kann.«
Ich bückte mich und trat in das Zimmer. Es war winzig, gerade so groß, dass ein Bett, ein schmaler Kleiderschrank und ein Schreibtisch darin Platz fanden. Die Möbel aus dunklem, altem Holz stammten sicherlich aus dem letzten Jahrhundert. Solche Löwenkopffüße, wie der Schreibtisch sie vorzuweisen hatte, wurden heute bestimmt nicht mehr hergestellt. Das Zimmer hatte nur eins der kleinen Fenster, die ich bei meiner Ankunft schon bewundert hatte.
»Das Badezimmer ist direkt nebenan. Wenn du etwas brauchst, sag bitte Bescheid.«
Wanda legte ihre flache Hand an meinen Rücken, ohne mich direkt zu berühren. »Egal was.«
»Danke.«
Als Wanda die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ ich mich auf das schmale Bett sinken. Es war, als wäre soeben der letzte Funken Kraft aus mir entwichen. Ich legte mich auf die Seite, zog meine Beine zum Bauch, schlang meine Arme um sie und legte meine Jacke wie eine Decke darüber. Noch bevor ich einen weiteren Gedanken fassen konnte, war ich eingeschlafen.
Als ich aufwachte, hörte ich ein leises Rumpeln, dann eine schrille Stimme. Tante Wanda musste Besuch bekommen haben. Ich rieb mir die Augen und setzte mich auf. Hatte ich lange geschlafen? Wie spät es wohl war? Immerhin war es noch hell, denn Licht schien durch das winzige Fenster von draußen herein. Jetzt erst fiel mir auf, dass zusätzlich zu den weißen Holzstreben, die das Glas in vier gleichgroße Stücke teilten, diese auch noch durch kleine, rautenförmige Streben unterteilt waren, so dass keine Gardine mehr nötig war. Ich presste meine Nase ans Fenster und sah durch eine dieser Rauten nach unten auf den verrückten Garten. Er war von einer alten Steinmauer umrandet, die hier überall als Abgrenzung dienten. Ich hob meinen Blick und sah über die Mauer hinweg. Gerade in diesem Moment lichtete sich der bewölkte Himmel, und ein heller Sonnenstrahl fiel auf einen silbergrauen Horizont, der sich wildaufschäumend bewegte: das Meer. Dass es so nah war, hatte ich nicht geglaubt, denn bei meiner Ankunft hatte ich kein Rauschen wahrgenommen. Allerdings hätte Mimi das mit ihrem fröhlichen Geplauder ohnehin übertönt, und im Garten stand ich sicherlich unter einer Art Mythologieschock.
Das Meer wirkte schwer und das Wasser in dem Licht fast silbern wie flüssiges Blei. Ich zog an dem weißlackierten Metallgriff des Fensters, doch es ließ sich nicht öffnen. Wie verflucht noch mal ließ sich dieser Hebel bewegen? Ich kannte diese Art von Fenstergriff nicht und versuchte es wieder, diesmal in die andere Richtung, und mit einem leisen Klack! öffnete sich endlich der Verschluss. Der starke Wind blies mir das Fenster beinahe ins Gesicht, ich konnte gerade noch ausweichen. Da war sie wieder, diese kühl-salzige Luft, und jetzt konnte ich auch das Rauschen laut und deutlich hören. Ich nahm einen tiefen Atemzug, so dass sich meine Lungen komplett mit Luft füllten. Schwer vorzustellen, aber dieser Ort wäre unter anderen Umständen sicher toll gewesen, für einen Familienurlaub vielleicht. Ma hatte nie über ihren Heimatort gesprochen, so wie über das meiste nicht. Ihr Testament, in dem festgelegt war, dass ich im Falle ihres Ablebens zu Wanda nach Blackwood kommen würde, war ein Schock für mich gewesen. Sie hatte nie von Wanda oder dem Stone Cottage erzählt, und für mich war es, als wäre dieser Ort mit Mas Tod wie aus dem Nichts aufgetaucht. Zusammen mit dem Notar noch hatte ich den Wikipedia-Eintrag von Blackwood aufgerufen, der einzig und allein einen dürftigen Halbsatz zu verzeichnen hatte: ›Keine nennenswerten Sehenswürdigkeiten oder Persönlichkeiten‹.
Erneut kam ein Windstoß zum Fenster herein und wehte mir meine Haare vor die Augen. Ich strich mir eine Strähne aus dem Gesicht und schloss das Fenster, was angesichts des starken Windes eine echte Herausforderung darstellte. Ich musste mit meinem ganzen Gewicht dagegenhalten.
Plötzlich war es kurz still, das Rauschen war ausgesperrt, und dann hörte ich die schrille Stimme wieder. Und ich spürte meinen Magen knurren, jetzt hatte ich wirklich Hunger. Vorsichtig ging ich die Holztreppe hinab und achtete auf jeden Schritt, denn sie wirkte nicht vertrauenerweckend stabil.
»Ich sag’s dir, Wanda, du musst jetzt eine strenge Hand beweisen. Dieses Kind muss geführt werden, und zwar an der ganz kurzen Leine. Mitten am Tag schlafen, wer macht denn so was?«
Sprach die schrille, unbekannte Stimme etwa über mich? Abrupt blieb ich auf dem Treppenabsatz stehen.
»Sie ist müde und erschöpft, Meredith. Kein Wunder, nach dem, was sie in den letzten Tagen erlebt hat« – das war Wanda. Dann wieder die andere Stimme: »So ist das Leben. Nun ist sie hier, und es geht weiter. So wie es immer weitergeht.«
Ich hörte Wanda seufzen. Ich hatte an ihren immerwährend glänzendnassen Augen seit meiner Ankunft hier erkannt, dass ihr der Tod von Ma sehr zu schaffen machte, und ich spürte, wie sie sich in meiner Gegenwart zusammenriss.
»Ich denke, für sie sieht es gerade so aus, als würde gar nichts weitergehen. Sie wirkte so schrecklich blass und traurig, als sie vorhin hier ankam. Ich weiß gar nicht, wie ich ihr helfen soll …«
Ja, sie sprachen eindeutig über mich.
»Helfen wird ihr eine gehörige Portion Strenge, Disziplin und Vernunft. Wenigstens eine muss hier ja die Nerven behalten. Ich habe dir immer gesagt, dass deine Schwester nicht in der Lage ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Dieser Nacht-und-Nebel-Umzug nach Wien war schon so eine Fehlentscheidung, und das Kind mit diesem Spalpeen erst recht.«
Ich wusste nicht genau, was das Wort Spalpeen bedeutete, aber das musste ich auch nicht, denn die Art, wie es ausgesprochen wurde, sagte alles.
Was erlaubte sich diese Person, so über meine Eltern zu sprechen?
Ich merkte, wie eine innere Hitze in mir aufstieg. Am liebsten wäre ich sofort runtergelaufen und hätte wem auch immer meine Meinung gesagt. Aber ich fühlte mich noch müde und ausgelaugt, so dass ich auf dem Treppenabsatz kehrtmachte. Dabei hatte ich vergessen, dass hier alles alt war und altes Holz nun mal knarzte.
»Gesine? Bist du das?«
Ich hielt inne.
»Ja, ich wollte gerade …«
Schlagartig war der Hunger verschwunden.
»Komm doch zu uns.«
Tante Wandas Stimme klang im Gegensatz zu diesen fremden, schrillen Tönen gleich wie eine Wohltat in meinen Ohren.
»Na gut.«
Ich ging die letzten Stufen der Treppe hinab in die Wohnküche. Wanda saß am Tisch, neben ihr eine weitaus ältere Frau mit hoch zusammengebundenem Dutt, der ihre weißen Haare wie einen gepuderten Nistplatz wirken ließ. Ihr Gesicht war faltig und schlaff, und ihre winzigen, zusammengekniffenen Augen waren hinter den runden, zierlichen Brillengläsern kaum zu erkennen. Sie trug ein langes, erdfarbenes Kleid, das ihre schlaksige Figur betonte, und saß kerzengerade auf ihrem Stuhl.
»Das ist Mrs Meredith Bangert-Wokittel, unsere Nachbarin«, stellte Wanda uns vor, »und das ist meine liebe Nichte, Gesine.«
»Eigentlich Llewely ap Dafydd ap Leuan ap Griffit ap Meredith«, korrigierte Mrs Bangert-Wokittel meine Tante, »das ist mein original walisischer Name.«
Das war sogar für mich unmöglich zu merken. Langsam wunderte ich mich über die Leute hier nicht mehr.
»Meredith kommt eigentlich aus Wales, sie ist vor zwanzig Jahren zu unserem Peter, Gott hab ihn selig, ins Nachbarhaus gezogen.«
»Ganz genau zwanzig Jahre ist das her, dass ich meine geliebte Heimat verlassen habe«, bestätigte Mrs Bangert-Wokittel, und es klang wie ein Vorwurf.
Dann musterte sie mich durch ihre Brille, die sie mit abgespreiztem kleinen Finger ganz vorne auf ihre Nasenspitze schob.
»Ich hab schon viel über dich gehört.«
»Ich auch über Sie«, antwortete ich und merkte, wie die Wut über das, was sie vorhin so achtlos über meine Eltern gesagt hatte, wieder in mir aufstieg.