Fjodor Dostojewskij
Ein grüner Junge
Roman
Aus dem Russischen von Swetlana Geier
FISCHER E-Books
Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart
Coverabbildung: Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch,»Zwei männliche Figuren«
Swetlana Geiers Neuübersetzung von »Ein grüner Junge« erschien erstmals im September 2006 im Ammann Verlag & Co., Zürich.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401888-1
Ich habe es doch nicht länger ausgehalten und habe mich nun hingesetzt, um diese Geschichte meiner ersten Schritte auf dem Schauplatz des Lebens niederzuschreiben, wiewohl ich das eigentlich auch lassen könnte. Eines weiß ich bestimmt: Niemals werde ich mich noch einmal hinsetzen, um meine Autobiographie zu schreiben, und sollte ich auch hundert Jahre alt werden. Man muß schon allzu erbärmlich selbstverliebt sein, um über die eigene Person schreiben zu können, ohne sich zu schämen. Ich kann mich nur damit entschuldigen, daß ich nicht deshalb schreibe, weshalb alle schreiben, das heißt, nicht, um vom Leser gelobt zu werden. Wenn ich plötzlich darauf gekommen bin, Wort für Wort alles niederzuschreiben, was mir in diesem letzten Jahr widerfuhr, so bin ich darauf gekommen aus einem inneren Bedürfnis: So tief hat mich alles Geschehene betroffen. Ich schreibe nur die Ereignisse nieder und vermeide nach Möglichkeit alles Nebensächliche und vor allem – alles literarische schmückende Beiwerk; ein Literat schreibt dreißig Jahre lang und weiß zu guter Letzt überhaupt nicht mehr, weshalb er so viele Jahre geschrieben hat. Ein Literat bin ich nicht, ich will kein Literat sein und würde es für Erbärmlichkeit und Niedertracht halten, wollte ich das Innerste meiner Seele und eine gefällige Beschreibung meiner Gefühle auf ihrem Literaturmarkt feilbieten. Verdrossen ahne ich jedoch voraus, daß sich auf eine Schilderung von Gefühlen und Reflexionen (vielleicht sogar trivialen) nicht gänzlich verzichten läßt: So verderblich wirkt sich jede literarische Betätigung auf den Menschen aus, selbst wenn sie ausschließlich zu privaten Zwecken ausgeübt wird. Die Reflexionen können allerdings sehr wohl trivial sein, weil das, was man am höchsten schätzt, für den Außenstehenden absolut wertlos sein kann. Aber dies alles sei nur am Rande bemerkt. Überdies reicht es für eine Vorrede; mehr von dieser Art wird es nicht geben. Zur Sache; wiewohl es nichts Kniffligeres gibt, als zur Sache zu kommen – vielleicht gilt das sogar für jede Sache.
Ich beginne, das heißt, am liebsten möchte ich meine Notizen mit dem neunzehnten September des vorigen Jahres beginnen, das heißt genau mit dem Tag meiner ersten Begegnung mit …
Aber wenn ich einfach so, ohne weiteres, erklären würde, wem ich begegnete, bevor auch nur ein einziger Mensch etwas weiß, wäre es trivial; ich glaube sogar, schon dieser Ton ist trivial: Nachdem ich mir geschworen habe, alles literarische Beiwerk zu vermeiden, verfalle ich von der ersten Zeile an diesem schmückenden Beiwerk. Außerdem scheint es mir, daß der bloße Vorsatz, vernünftig zu schreiben, nicht ausreicht. Ferner sei bemerkt, daß es sich in keiner europäischen Sprache so mühsam schreiben läßt wie in der russischen. Ich habe gerade durchgelesen, was ich vorhin geschrieben habe, und sehe, daß ich viel klüger bin als das Geschriebene. Wie kommt es nur, daß bei einem klugen Menschen das Ausgesprochene viel dümmer ist als das, was in ihm zurückbleibt? Ich habe das mehr als einmal an mir selbst und in meinem sprachlichen Umgang mit anderen Menschen während dieses ganzen letzten, verhängnisvollen Jahres beobachtet und sehr darunter gelitten.
Wiewohl ich mit dem neunzehnten September beginnen will, möchte ich dennoch ein paar Worte darüber vorausschicken, wer ich bin, wo ich bis dahin war, wie es, wenigstens andeutungsweise, in meinem Kopf an jenem Vormittag des neunzehnten September ausgesehen hat, um mich dem Leser und vielleicht auch mir selbst verständlicher zu machen.
Ich habe die Gymnasiumsjahre hinter mir und stehe schon in meinem einundzwanzigsten Lebensjahr. Mein Familienname ist Dolgorukij, mein gesetzlicher Vater, Makar Iwanowitsch Dolgorukij, einstiger leibeigener Bedienter der Herren Werssilow. Auf diese Weise bin ich ehelich geboren, wiewohl ich ein mit Sicherheit unehelicher Sohn bin und meine Herkunft nicht dem geringsten Zweifel unterliegt. Die Sache verhielt sich so: Vor zweiundzwanzig Jahren war der Gutsherr Werssilow, das heißt mein eigentlicher Vater, damals fünf- undzwanzig Jahre alt, auf seiner Besitzung im Gouvernement Tula aufgetaucht. Ich nehme an, daß er zu jener Zeit keine ausgeprägte Persönlichkeit war. Es ist interessant, daß dieser Mann, der auf mich seit meiner frühesten Kindheit einen derart kapitalen Eindruck gemacht hat, meine seelische Konstitution und vielleicht sogar für lange Zeit meine Zukunft infiziert hat, daß dieser Mann, selbst heute noch, in vielerlei Hinsicht für mich ein völliges Rätsel geblieben ist. Aber dies soll erst später an die Reihe kommen. Es läßt sich nicht einfach so erzählen. Von diesem Menschen wird ohnehin in meinem ganzen Heft die Rede sein.
Er war damals, das heißt in seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr, gerade verwitwet. Verheiratet war er mit einer Fanariotowa gewesen, die, wenn auch nicht besonders reich, zu den besten Kreisen gehörte und die ihm einen Sohn und eine Tochter geschenkt hatte. Meine Kenntnisse von dieser ihm allzu früh verstorbenen Gattin waren recht unvollständig und sind in meinen Papieren untergegangen; außerdem sind mir sehr viele Details aus Werssilows Privatleben einfach entgangen, so stolz, so hochmütig, so verschlossen und herablassend hat er mich immer behandelt, trotz der verblüffenden Sanftmut, mit der er in manchen Augenblicken mir gegenübertrat. Ich erwähne im voraus, zum besseren Verständnis, daß er im Laufe seines Lebens drei Familienvermögen durchgebracht hat, und zwar sogar sehr bedeutende, im ganzen über vierhunderttausend Rubel, vielleicht sogar mehr. Jetzt besitzt er natürlich nicht eine Kopeke mehr …
Auf sein Gut war er damals gekommen, »Gott mag wissen, warum«, jedenfalls hat er sich mir gegenüber später so geäußert. Seine kleinen Kinder hatte er, wie üblich, nicht mitgebracht, sie waren bei Verwandten. So pflegte er in seinem ganzen Leben mit seinen Kindern zu verfahren, den legitimen und den illegitimen. Das Gesinde auf diesem Landgut war besonders zahlreich; dazu gehörte auch der Gärtner, Makar Iwanowitsch Dolgorukij. An dieser Stelle möchte ich einfügen, damit es ein für alle Male gesagt ist: Selten dürfte jemand seinen Familiennamen so gehaßt haben wie ich den meinen, lebenslang. Natürlich war das dumm, aber es war so. Jedesmal, ob ich nun irgendwo in eine Schule eintrat oder Personen begegnete, denen ich aufgrund meiner Jugend eine Antwort schuldig war, kurz, jeder noch so kümmerliche Gymnasiallehrer, Hauslehrer, Schulinspektor, Pope – alle, jeder beliebige hielt es für unbedingt nötig, sobald er nach meinem Familiennamen gefragt und gehört hatte, daß ich ein Dolgorukij sei, aus irgendeinem Grunde hinzuzufügen:
»Fürst Dolgorukij?« und jedesmal war ich verpflichtet, diesem müßigen Frager zu erklären:
»Nein, einfach Dolgorukij.«
Dieses einfach brachte mich schließlich beinahe um den Verstand. Hier sei bemerkt, als eine Art Phänomen, daß ich mich an keine einzige Ausnahme erinnere: So haben alle gefragt. Einigen war es offensichtlich völlig egal; und ich weiß auch gar nicht, warum zum Teufel es für irgend jemand nicht hätte egal sein sollen? Aber alle haben so gefragt, einer wie der andere. Hatte nun der Frager gehört, daß ich einfach ein Dolgorukij sei, maß er mich gewöhnlich mit einem stumpfsinnigen und gleichgültigen Blick, dadurch gleichsam bestätigend, daß er selbst nicht wußte, wozu er gefragt hatte, und ließ mich stehen. Die Mitschüler fragten am kränkendsten. Wie fragt der Schüler einen Neuen? Der eingeschüchterte und verlegene Neue ist am ersten Tag in der neuen Schule (in welcher auch immer) das allgemeine Opfer: Ihm wird befohlen, er wird geneckt, er wird wie ein Lakai behandelt. Ein vor Gesundheit strotzender fetter Bengel pflanzt sich plötzlich vor seinem Opfer auf und heftet eine Weile lang einen strengen und hochmütigen Blick beobachtend darauf. Der Neue steht schweigend vor ihm da, schielt, wenn er kein Feigling ist, aus den Augenwinkeln nach ihm und wartet, was kommen wird.
»Wie heißt du?«
»Dolgorukij.«
»Fürst Dolgorukij?«
»Nein, einfach Dolgorukij.«
»Aha, einfach Dolgorukij! Schwachkopf!«
Und er hat recht: Es gibt nichts Dümmeres, als Dolgorukij zu heißen, ohne Fürst zu sein. Und diese Dummheit haftet an mir ohne eigene Schuld. Später, als ich mich bereits darüber erboste, antwortete ich auf die Frage »Bist du Fürst?« stets:
»Nein, ich bin der Sohn eines Gesindeknechts, eines ehemaligen Leibeigenen.«
Später noch, als meine Wut bereits den Siedepunkt erreicht hatte, antwortete ich einmal auf die Frage »Sind Sie Fürst?« mit fester Stimme:
»Nein, einfach Dolgorukij, unehelicher Sohn meines einstigen Gutsherrn, des Herrn Werssilow.«
Ich hatte mir das bereits in der sechsten Klasse des Gymnasiums zurechtgelegt, und obwohl ich mich sehr bald von meiner zweifellosen Dummheit überzeugt hatte, gab ich dennoch meine dumme Floskel nicht so bald auf. Ich erinnere mich, daß einer der Lehrer – übrigens blieb er der einzige – meinte, ich sei »von einer rachsüchtigen sozialen Idee erfüllt«. Im allgemeinen wurde dieser Einfall mit einer kränkenden Nachdenklichkeit quittiert. Schließlich sagte mir einer meiner Mitschüler, ein Junge mit einer sehr spitzen Zunge, mit dem ich mich höchstens einmal im Jahr unterhielt, mit ernster Miene, aber den Blick an mir vorbeigerichtet:
»Solche Gefühle machen Ihnen natürlich Ehre, und Ihr Stolz ist zweifellos nicht unbegründet; aber ich an Ihrer Stelle hätte trotzdem nicht so feierlich verkündet, daß ich ein unehelicher Sohn bin … Als hätten Sie Namenstagsfeier!«
Darauf hörte ich auf, mit meiner illegitimen Herkunft zu prahlen.
Ich wiederhole, daß es ausgesprochen schwer ist, russisch zu schreiben: Nun habe ich drei Seiten darüber vollgeschrieben, wie ich mich mein Leben lang über meinen Familiennamen ärgerte, währenddessen der Leser bestimmt den Schluß gezogen hat, ich ärgere mich gerade darüber, daß ich nicht Fürst, sondern einfach Dolgorukij bin. Eine nochmalige Erklärung und Rechtfertigung betrachte ich als erniedrigend.
Also, unter dem Hofgesinde, das, wie erwähnt, sehr zahlreich war, befand sich außer Makar Iwanowitsch auch eine Magd, die bereits in ihrem achtzehnten Lebensjahr stand, als der fünfzigjährige Makar Dolgorukij plötzlich die Absicht kundtat, sie zu ehelichen. Die Ehen des Hofgesindes durften, wie bekannt, zur Zeit der Leibeigenschaft nur mit Billigung der Gutsherrschaft und mußten gelegentlich auch auf deren Befehl geschlossen werden. Auf dem Gut lebte damals nur die Tante; das heißt, sie war keineswegs meine Tante, sondern ebenfalls eine Gutsbesitzerin; aber aus irgendeinem Grunde wurde sie von allen ihr Leben lang Tante genannt, nicht nur von mir, sondern allgemein, auch seitens der Familie Werssilows, mit dem sie tatsächlich über sieben Ecken verwandt war. Das ist Tatjana Pawlowna Prutkowa. Damals besaß sie im selben Gouvernement und im selben Kreis fünfunddreißig eigene Seelen. Sie hatte als Nachbarin Werssilows Gut (mit fünfhundert Seelen) nicht eigentlich verwaltet, sondern als gute Nachbarin ein Auge darauf gehabt, und dieses Ein-Auge-darauf-Haben soll, wie ich hörte, der Aufsicht eines professionellen Verwalters in nichts nachgestanden haben. Übrigens gehen mich ihre Kenntnisse überhaupt nichts an; ich will nur, den leisesten Gedanken an Schmeichelei oder Lobhudelei von mir weisend, hinzufügen, daß diese Tatjana Pawlowna ein edel gesinntes und sogar originelles Wesen ist.
Und nun hatte Tatjana Pawlowna die Heiratsabsichten des düsteren Makar Dolgorukij (er soll damals düster gewesen sein) keineswegs abgelehnt, sondern sie, ganz im Gegenteil, im höchsten Maße gefördert. Sofja Andrejewna (diese achtzehnjährige Gesindemagd, das heißt meine Mutter) war schon seit einigen Jahren Vollwaise: Ihr seliger Vater, der für Makar Dolgorukij höchste Achtung empfunden haben muß und ihm auch zu Dank verpflichtet zu sein schien, ebenfalls Hofknecht, hatte vor sechs Jahren, wie man sich erzählte, als er auf seinem Totenbett lag, eine Viertelstunde bevor er den Geist aufgab (man hätte seine Worte auch für die Phantasien eines Sterbenden halten können, zumal ihm als Leibeigenem keinerlei Verfügungsgewalt zustand), Makar Dolgorukij zu sich gerufen und ihm vor dem versammelten Gesinde und dem Geistlichen laut und deutlich, mit Blick auf seine Tochter, gesagt: »Zieh sie groß und heirate sie.« Alle haben das gehört. Und was Makar Iwanowitsch betrifft, so weiß ich nicht, in welchem Sinne er später heiratete, ob mit Vergnügen oder nur aus Pflichterfüllung. Wahrscheinlich hat er einen völlig ungerührten Eindruck gemacht. Er war ein Mensch, der sich auch schon damals »darstellen« konnte. Nicht, daß er bibelkundig und im Lesen und Schreiben besonders bewandert gewesen wäre (obwohl er sich in der Liturgie gut auskannte, wie auch im Leben einiger Heiliger, letzteres aber mehr vom Hörensagen), nicht, daß er die Rolle eines Gesinde-Raisonneurs spielte, er war einfach ein hartnäckiger Charakter, der vor keinem Risiko zurückschreckte, er drückte sich ambitiös aus, urteilte stets unwiderruflich und führte ein, nach seinen eigenen erstaunlichen Worten, »ehrwürdiges Leben« – so war er damals. Natürlich wurde er allgemein hochgeschätzt, war aber, wie es heißt, für alle ziemlich unerträglich. Das soll sich, als er den Hof verlassen hatte, geändert haben: Von da an wurde von ihm nicht anders als von einem Heiligen und Dulder gesprochen. Darüber bin ich genauestens unterrichtet.
Über den Charakter meiner Mutter läßt sich nur sagen, daß sie bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr unter der Obhut von Tatjana Pawlowna in deren Nähe gelebt hatte (obwohl der Gutsverwalter ständig darauf drängte, sie nach Moskau in eine Lehre zu schicken) und die ihr einiges an Erziehung angedeihen ließ, das heißt, sie lehrte sie Nähen und Zuschneiden, die Manieren eines jungen Mädchens und sogar ein wenig Lesen. Ordentlich Schreiben hat meine Mutter niemals gelernt. In ihren Augen war diese Ehe mit Makar Dolgorukij eine längst beschlossene Sache, und alles, was mit ihr damals geschah, fand sie wunderbar und das Beste; vor den Traualtar trat sie mit der ruhigsten Miene, die man bei einer solchen Gelegenheit nur haben kann, so daß selbst Tatjana Pawlowna sie damals einen Fisch schalt. Dies alles über den damaligen Charakter meiner Mutter vernahm ich aus dem Munde von Tatjana Pawlowna persönlich. Werssilow besuchte das Gut genau ein halbes Jahr nach der Hochzeit.
Ich sage nur, daß es mir niemals gelang, definitiv zu erfahren oder auch zu erraten, womit es eigentlich zwischen ihm und meiner Mutter angefangen hat. Ich bin vollkommen bereit, ihm das zu glauben, was er mir im vergangenen Jahr persönlich gestanden hat, schamrot, obwohl er das alles im ungezwungensten und »geistreichsten« Plauderton erzählte, nämlich, daß es einen Roman überhaupt nicht gegeben habe und daß alles einfach so gekommen sei. Ich glaube ihm, daß es stimmte, und dieses kleine russische Wort »so« ist einfach reizend; dennoch hätte ich schon immer gern gewußt, wie das alles ausgerechnet zwischen ihnen geschehen konnte. Ich selbst habe alle diese Widerwärtigkeiten mein ganzes Leben lang gehaßt und hasse sie immer noch. Selbstverständlich handelt es sich in meinem Fall nicht nur um schamlose Neugier. Ich möchte bemerken, daß ich meine Mutter bis zum vergangenen Jahr kaum gekannt habe; von meiner frühesten Kindheit an bin ich unter fremden Menschen gewesen, um Werssilows Komfort willen, wovon übrigens später die Rede sein wird; deshalb kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, wie ihr Gesicht damals gewesen sein könnte. Wenn sie aber nicht besonders schön gewesen wäre, wie hätte damals ein solcher Mann wie der damalige Werssilow sich in sie verlieben können? Diese Frage ist für mich deshalb so bedeutend, weil dieser Mann sich darin von einer außerordentlich interessanten Seite zeigt. Deswegen frage ich, nicht aus Lüsternheit. Er selbst, dieser düstere und verschlossene Mensch, sagte mir mit jener reizenden Treuherzigkeit, die er weiß der Teufel woher nahm (wie aus der Rocktasche), sobald er merkte, daß es sich nicht vermeiden ließ – er sagte mir, daß er damals ein ziemlich »dummer junger Hund« gewesen sei, nicht einmal sentimental, nur so und unmittelbar vorher »Anton Goremyka« und »Polinka Sachs« gelesen habe, zwei literarische Werke, die einen immens zivilisierenden Einfluß auf die damals heranwachsende Generation ausgeübt haben. Er fügte jedesmal hinzu, daß es vielleicht an »Anton Goremyka« gelegen habe, daß er damals sein Landgut aufsuchte – und fügte dies sehr ernst hinzu. In welcher Form also hat dieser »dumme junge Hund« mit meiner Mutter beginnen können? Ich stelle mir heute vor, daß ein Leser, wenn ich auch nur einen einzigen haben sollte, bestimmt in lautes Lachen ausbrechen müßte, wie über den lächerlichsten grünen Jungen, der, immer noch im Besitz seiner törichten Unschuld, sich zu Überlegungen und Entscheidungen über Dinge versteigt, von denen er keine Ahnung hat. Ja, tatsächlich, ich habe keine Ahnung, obwohl ich das keineswegs aus Überheblichkeit zugebe, denn ich weiß, wie töricht ein solcher Mangel an Erfahrung bei einem zwanzigjährigen langen Lulatsch ist: Allerdings würde ich einem solchen Herrn entgegnen, daß er selbst keine Ahnung hat, und ich kann es ihm beweisen. Stimmt, von Frauen verstehe ich gar nichts, und ich will auch nichts von ihnen verstehen, weil ich mir geschworen habe, mir aus ihnen, solange ich lebe, nichts zu machen. Aber eines weiß ich gewiß, daß manche Frau durch ihre Schönheit, oder wodurch auch immer, in einem einzigen Augenblick einen Menschen berücken kann; an einer anderen dagegen muß man ein halbes Jahr lang herumkauen, um zu verstehen, was in ihr steckt; um sie zu durchschauen und sich in sie zu verlieben, genügt es nicht, sie nur anzusehen, und auch nicht die Willfährigkeit zu allem, was sie wünscht, sondern man müßte darüber hinaus noch eine besondere Gabe besitzen. Davon bin ich überzeugt, ungeachtet dessen, daß ich ahnungslos bin, und wenn dies nicht stimmte, müßte man sämtliche Frauen umgehend auf die Stufe einfacher Haustiere zurückversetzen und sie nur in dieser Form um sich dulden. Vielleicht hätten sehr viele nichts dagegen.
Ich weiß von verschiedener Seite positiv, daß meine Mutter keine Schönheit war, auch, wenn ich ihr Porträt aus jenen Jahren, das noch irgendwo existiert, noch nicht gesehen habe. Also, von Liebe auf den ersten Blick konnte nicht die Rede sein. Für die einfache »Liebelei« hätte Werssilow eine andere Wahl treffen können, und eine solche hatte sich damals geboten, sogar eine Unverheiratete, Anfissa Konstantinowna Saposchkowa, ein Stubenmädchen. Und ein Mensch, der mit »Anton Goremyka« gekommen war, wäre in einen heftigen Konflikt mit sich selbst geraten, wenn er aufgrund seiner Gutsherrenrechte gegen das Sakrament der Ehe gefrevelt hätte, auch wenn es dabei um den eigenen Gesindeknecht gegangen wäre, weil er, ich wiederhole, von diesem »Anton Goremyka« höchstens vor ein paar Monaten, also nach über zwanzig Jahren, noch mit größtem Ernst gesprochen hat. Aber diesem Anton hatte man ja nur das Pferd genommen, hier aber ging es um die Ehefrau! Es mußte also etwas Ungewöhnliches vorgelegen haben, weshalb Mademoiselle Saposchkowa das Spiel verlor (meiner Meinung nach – gewann). Ich habe im vergangenen Jahr bei günstiger Gelegenheit (weil eine Unterhaltung mit ihm nur bei günstiger Gelegenheit möglich war) ihm mit allen diesen Fragen in den Ohren gelegen und dabei gemerkt, daß er, ungeachtet seiner weltmännischen Allüren und der zwanzigjährigen Distanz, irgendwie unübersehbar das Gesicht verzog. Aber ich gab nicht nach. Jedenfalls hatte er mit der vornehmen Herablassung, die er damals mir gegenüber an den Tag legte, irgendwie eigentümlich genuschelt: Meine Mutter habe zu der Sorte der Unbehüteten gehört, in die man sich nicht eigentlich verliebt – o nein, ganz im Gegenteil –, die einen aber plötzlich irgendwie dauert, sei es um ihrer Sanftmut willen oder vielleicht aus einem anderen Grunde? – das bliebe immer für jeden ein Rätsel, aber sie dauert einen lange; und schließlich werde aus dem Bedauern eine Beziehung … »Kurz, mein Lieber, manchmal kommt es auch so, daß man sich nicht wieder entziehen kann.« Das war es, was er mir sagte; und wenn das wirklich so gewesen wäre, sähe ich mich gezwungen, ihn keinesfalls für einen solchen dummen jungen Hund zu halten, als den er sich damals selbst bezeichnete. Und das war es ja, was ich brauchte.
Übrigens begann er im selben Augenblick, mir zu versichern, daß meine Mutter ihn aus »Unterwerfung« liebgewonnen habe: Es fehlte nicht viel, und er hätte alles durch die Leibeigenschaft erklärt! Er gab es vor, um des Chics willen, er gab es vor, gegen sein eigenes Gewissen, gegen Ehre und Anstand!
Das alles hört sich natürlich so an, als wollte ich meine Mutter loben und preisen und habe doch bereits erklärt, daß ich sie, wie sie damals war, überhaupt nicht gekannt habe. Mehr noch, ich kenne gerade die Borniertheit jenes Milieus und jener kargen Anschauungen, in denen sie in ihrer Kindheit verdorren und die sie ihr Leben lang beibehalten mußte. Aber das Unheil trat dennoch ein. Übrigens muß ich mich korrigieren: In meinen Wolken schwebend, habe ich eine Tatsache außer acht gelassen, die im Gegenteil als erste hervorgehoben werden mußte, nämlich: Angefangen hat es bei ihnen direkt mit dem Unheil (ich hoffe, der Leser wird nicht so tun, als ob er nicht sofort begriffe, was ich meine). Mit einem Wort, angefangen bei ihnen hatte es gerade nach Gutsherrenart, ungeachtet dessen, daß Mademoiselle Saposchkowa verschmäht worden war. Aber da möchte ich für mich eintreten und sogleich erklären, daß ich mir keineswegs widerspreche. Denn worüber hätte in jener Zeit ein solcher Mann wie Werssilow (oh, mein Gott!) mit einer solchen Frau wie meiner Mutter reden können, selbst im Falle unbezwingbarer Neigung? Ich habe von den lasterhaftesten Menschen gehört, daß ein Mann, der mit einer Frau zusammenkommt, sehr oft in völligem Schweigen zu Werke geht, was natürlich der Gipfel des Monströsen und Ekelhaften ist; und doch hätte Werssilow bei bestem Willen, glaube ich, mit meiner Mutter nicht anders anfangen können. Sollte er denn mit einer Auslegung von »Polinka Sachs« anfangen? Und überdies ging es ihnen überhaupt nicht um russische Literatur; im Gegenteil, nach seinen eigenen Worten (an diesem Tag war er gesprächig) versteckten sie sich in dunklen Ecken, warteten im Treppenhaus aufeinander, prallten wie Gummibälle puterrot auseinander, wenn jemand vorbeikam, und der »Tyrann« von Gutsherr zitterte vor der letzten Scheuermagd, ungeachtet aller seiner Herrschaftsrechte. Wenn auch der Anfang nach Gutsherrenart verlief, so geriet doch alles ganz anders, es blieb eigentlich trotzdem völlig unerklärlich. Und in ein noch tieferes Dunkel gehüllt. Allein das Ausmaß, in dem sich ihre Liebe entwickelte, ist ein Rätsel, weil die erste Bedingung Werssilows und seinesgleichen darin bestand, sich sofort aus dem Staub zu machen, sobald das Ziel erreicht war. Aber dazu kam es nicht. Eine Affäre mit einer hübschen, willfährigen Magd (und meine Mutter war keine willfährige Magd) war für einen liederlichen »jungen Hund« (und sie waren alle liederlich, einer wie der andere, sowohl die Progressisten als auch die Regressisten) nicht nur möglich, sondern sogar unvermeidlich, insbesondere in der romantischen Stimmung eines jungen Witwers und seines Müßiggangs. Aber eine Liebe fürs ganze Leben – das war zuviel. Ich will mich nicht dafür verbürgen, daß er sie geliebt hat, aber daß er sie sein ganzes Leben lang überallhin mitgeschleppt hat – das stimmt.
Die Fragen, die ich gestellt habe, waren sehr zahlreich, aber es gibt eine Frage, die allerwichtigste, die ich, zugegeben, nicht direkt an meine Mutter zu stellen wagte, ungeachtet dessen, daß wir beide seit dem vergangenen Jahr uns so nahegekommen sind und daß ich darüber hinaus als ein grober und undankbarer junger Hund, der überzeugt war, daß man vor ihm schuldig war, mit ihr überhaupt keine Umstände machte. Folgende Frage: Wie hat sie es fertiggebracht, sie selbst, die bereits seit einem halben Jahr in einer Ehe lebte, und auch noch erdrückt von all den Begriffen von der Rechtmäßigkeit der Ehe wie eine kraftlose Motte, sie, die ihren Makar Iwanowitsch nicht weniger als eine Gottheit verehrte, wie hatte sie es fertiggebracht, in ein paar Wochen eine solche Sünde auf sich zu nehmen? Sie war doch kein loses Frauenzimmer, meine Mutter? Im Gegenteil, ich kann jetzt vorwegnehmend behaupten, daß eine reinere Seele, und zwar das ganze folgende Leben hindurch, kaum vorstellbar ist. Eine Erklärung könnte man höchstens darin finden, daß sie diesen Schritt gleichsam außer sich getan hat, allerdings nicht in dem Sinne, wie jetzt die Anwälte von ihren Mandanten, Mördern und Dieben, behaupten, sondern im Bann eines überwältigenden Eindrucks, der bei einer gewissen Naivität des Opfers sich verhängnisvoll und tragisch auswirkt. Vielleicht hatte sie sich unsterblich in den … Schnitt seiner Kleider verliebt, den Pariser Scheitel, sein Französisch, gerade das Französisch, von dem sie kein Wort verstand, in jene Romanze, die er selbst am Klavier begleitete, sie hatte sich in etwas verliebt, das sie noch nie gesehen und noch nie gehört hatte (überdies war er auch noch sehr schön), und schon liebte sie, vor Liebe vergehend, alles zusammen, ihn ganz, samt Façon und Romanzen. Ich habe gehört, daß so etwas manchmal den Mädchen aus dem Gesinde zustieß, noch zur Zeit der Leibeigenschaft, und sogar den allerehrbarsten. Ich kann das verstehen und halte jeden für einen Schurken, der so etwas allein durch die Leibeigenschaft und das »Unterwerfen« erklären will! Also mußte doch diesem jungen Mann eine so unwiderstehliche Verführungsmacht innewohnen, daß er ein bis dahin reines Wesen anzog, ein vor allem so völlig andersartiges Wesen, so ganz und gar aus einer anderen Welt und von einem anderen Planeten, um es in ein sicheres Verderben mitzureißen? Daß es ein Verderben war – das hat meine Mutter hoffentlich ihr ganzes Leben lang gewußt; höchstens damals, als sie zu ihm ging, da gab es für sie kein Verderben; aber so sind sie immer, diese »Unbehüteten«: Sie wissen um das Verderben und lassen sich doch nicht beirren.
Nachdem sie gesündigt hatten, haben sie sofort gestanden. Er erzählte mir nicht ohne Witz, wie er an Makar Iwanowitschs Schulter geschluchzt habe, den er zu diesem Anlaß in sein Kabinett bestellt hätte. Und sie – sie lag währenddessen halb ohnmächtig in ihrer Gesindekammer …
Doch genug der Fragen und peinlichen Details. Werssilow kaufte meine Mutter von Makar Iwanowitsch frei, verreiste bald darauf und, wie bereits oben erwähnt, schleppte sie überallhin, mit Ausnahme jener Gelegenheiten, da er besonders lange wegblieb; dann vertraute er meine Mutter der Fürsorge der Tante an, das heißt Tatjana Pawlowna Prutkowa, die stets in solchen Fällen zur Stelle war. Er lebte mit meiner Mutter bald in Moskau, bald auf verschiedenen anderen Gütern und Städten, sogar auch im Ausland und schließlich in Petersburg. Davon später, wenn es sich denn lohnt. Hier sei nur zu bemerken, daß ich ein Jahr nach dem Abschied von Makar Iwanowitsch das Licht der Welt erblickte, ein Jahr darauf meine Schwester und dann erst – nach zehn oder elf Jahren – ein kränklicher Knabe, mein jüngster Bruder, der nach wenigen Monaten starb. Die schwere Geburt dieses Kindes kostete meine Mutter ihre Schönheit – so wurde mir jedenfalls erklärt: Sie kränkelte und alterte zusehends.
Aber die Beziehung zu Makar Iwanowitsch riß niemals ab. Wo sich die Werssilows auch aufhielten, ob sie mehrere Jahre an einem Ort blieben oder umzogen, Makar Iwanowitsch ließ in jedem Falle der »Familie« eine Nachricht zukommen. Es bildete sich ein seltsames Verhältnis heraus, das zum Teil feierlich und beinahe ernst zu nehmen war. Im gutsherrschaftlichen Alltag hätte dieses Verhältnis einen komischen Beigeschmack erhalten, das weiß ich; aber hier war das nicht der Fall. Die Briefe trafen zweimal jährlich ein, nicht öfter und nicht seltener, und waren alle außerordentlich ähnlich. Ich habe sie gesehen; sie enthielten kaum etwas Persönliches; im Gegenteil, sie beschränkten sich nach Möglichkeit auf feierliche Schilderungen allgemeinster Ereignisse und allgemeinster Gefühle, wenn man Gefühle so nennen darf: Sie begannen mit der Schilderung der eigenen Gesundheit, dann folgten Fragen nach unserem Wohlbefinden, dann gute Wünsche, feierlichste Grüße und Segenswünsche – das war alles. Aber gerade diese Allgemeinheit und das Unpersönliche bedeuteten, schien es, den höchsten Anstand und die wahre Kenntnis der Umgangsregeln in seinem Milieu. »Unserer höchst liebenswerten und ehrsamen Gattin sende ich unseren ergebensten Gruß« … »Unseren liebenswerten Kindlein sende ich den väterlichen Segen, der in alle Zeit währt«. Die »Kindlein« wurden alle namentlich aufgeführt, in der Reihenfolge ihres Erscheinens, und fingen mit mir an. Hierbei sei angemerkt, daß Makar Iwanowitsch klug genug war, niemals »Sein Hochwohlgeboren, unser ehrenwerter Herr Andrej Petrowitsch«, seinen »Wohltäter« zu nennen, wiewohl er in jedem Brief ihm unablässig seinen ergebensten Gruß sandte und ihn um seine Wohlgeneigtheit bat, für ihn selbst aber Gottes Segen herbeiflehte. Die Briefe Makar Iwanowitschs wurden von meiner Mutter postwendend beantwortet, und zwar immer auf die gleiche Art. Es war selbstverständlich, daß sich Werssilow an diesem Briefwechsel nicht beteiligte. Die Briefe Makar Iwanowitschs kamen aus den verschiedensten Gegenden Rußlands, aus Städten und aus Klöstern, in denen er sich manchmal länger aufhielt. Er war ein Strannik, das heißt ein Pilger, geworden. Er hatte nie um irgend etwas gebeten, pflegte aber alle drei Jahre einmal zu Hause zu erscheinen, das heißt bei meiner Mutter, die, wie es sich so ergab, in einer eigenen Wohnung logierte, separat von der Wohnung Werssilows. Darüber werde ich später etwas zu sagen haben. Hier will ich nur erwähnen, daß Makar Iwanowitsch es sich niemals im Salon auf dem Sofa bequem machte, sondern einen bescheidenen Platz, irgendwo in einem Kämmerchen, bezog. Er blieb nicht lange – manchmal fünf Tage, manchmal eine Woche.
Ich vergaß zu sagen, daß er seinen Familiennamen »Dolgorukij« über alles liebte und achtete. Selbstverständlich, das war lächerlich und dumm. Das Dümmste war, daß ihm sein Familiennamen gerade deshalb gefiel, weil es das Fürstenhaus Dolgorukij gab. Eine seltsame Vorstellung, richtig auf den Kopf gestellt!
Auch wenn die ganze Familie, wie ich gesagt habe, immer beisammen blieb, war ich die Ausnahme. Ich war der Ausgestoßene und wurde fast gleich nach meiner Geburt bei fremden Menschen untergebracht. Dahinter steckte aber keine besondere Absicht, es geschah irgendwie so, gleichsam von selbst. Als meine Mutter mich zur Welt brachte, war sie noch jung und schön, folglich brauchte er sie, und ein schreiender Säugling wäre häufig nur lästig gewesen, ganz besonders auf Reisen. Und so geschah es, daß ich bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr meine Mutter kaum gesehen habe, höchstens bei zwei, drei flüchtigen Gelegenheiten. Das lag nicht an den Gefühlen meiner Mutter, sondern an Werssilows Hochmut gegenüber den Menschen.
Jetzt von etwas ganz anderem.
Vor einem Monat, das heißt einen Monat vor dem neunzehnten September, habe ich in Moskau beschlossen, mich von ihnen allen loszusagen und mich nun endgültig auf meine Idee zurückzuziehen. Ich halte auch an diesem Ausdruck fest: »Mich auf meine Idee zurückziehen«, weil diese Worte für meinen Hauptgedanken beinahe vollständig zutreffen – für das Eigentliche, um dessentwillen ich auf der Welt bin. Worin diese »eigene Idee« besteht, wird später noch oft zur Sprache kommen. Schon in der Zurückgezogenheit meines verträumten und langjährigen Moskauer Lebens ist sie in mir aufgekeimt, bereits in der sechsten Gymnasialklasse, und hat mich seither nicht einen einzigen Augenblick verlassen. Sie hat mein ganzes Leben absorbiert. Auch vorher hatte ich nur in meinen Träumen gelebt; ich lebte seit meiner Kindheit in einem Traumland besonderer Art; aber mit dem Auftauchen dieser beherrschenden, alles absorbierenden Idee bekamen meine Träume eine Festigkeit, sie schmolzen mit einem Schlag zu einer bestimmten Form: Die törichten verwandelten sich in vernünftige. Das Gymnasium stand den Träumen nicht im Wege; es stand auch der Idee nicht im Wege. Ich muß jedoch hinzufügen, daß ich im letzten Gymnasialjahr schlecht abgeschnitten habe, während ich bis zur siebten Klasse stets zu den Besten gehört hatte, was auf dieselbe Idee zurückzuführen ist, auf eine vielleicht falsche Schlußfolgerung, die ich aus ihr zog. Auf diese Weise verhinderte also nicht das Gymnasium die Idee, sondern die Idee verhinderte das Gymnasium. Und sie verhinderte auch die Universität. Nach dem Verlassen des Gymnasiums habe ich mir sofort vorgenommen, nicht nur mit allen radikal zu brechen, sondern, falls erforderlich, sogar mit der ganzen Welt, ungeachtet des Umstands, daß ich erst neunzehn war. Ich schrieb an den richtigen Adressaten, über die richtige vermittelnde Adresse in Petersburg, daß man mich endgültig in Ruhe zu lassen, mir nicht weiter das Geld für meinen Unterhalt zu schicken und mich endgültig zu vergessen habe (selbstverständlich nur, wenn man sich überhaupt an mich erinnerte), und schließlich, daß ich ein Universitätsstudium »um keinen Preis« zu beginnen gedenke. Ich stand vor einem unausweichlichen Dilemma: Wenn Universität und weitere Ausbildung, dann verschöbe sich die Verwirklichung der Idee um weitere vier Jahre; ohne zu zögern, entschied ich mich für die Idee, die für mich eine nahezu mathematische Überzeugungskraft besaß. Werssilow, mein Vater, den ich nur ein einziges Mal in meinem Leben, im Alter von nur zehn Jahren, einen Augenblick lang gesehen und der auf mich in diesem Augenblick einen überwältigenden Eindruck gemacht hatte, dieser Werssilow antwortete auf meinen Brief, der übrigens gar nicht an ihn gerichtet war, mit einem eigenhändigen Schreiben, in dem er mich aufforderte, nach Petersburg zu kommen, und mir eine private Anstellung versprach. Die Aufforderung dieses trockenen und stolzen, mir gegenüber hochmütigen und nachlässigen Mannes, der, nachdem er mich in die Welt gesetzt, fremden Menschen überlassen und mich überhaupt nicht gekannt hatte, sogar ohne dies je zu bereuen (und, wer weiß, ohne eine klare und genaue Vorstellung von meiner Existenz, denn es sollte sich in der Folge herausstellen, daß das Geld für meinen Unterhalt nicht er selbst, sondern andere zahlten), die Aufforderung dieses Mannes, sage ich, der sich so plötzlich an mich erinnerte und mich eines eigenhändig geschriebenen Briefes würdigte – diese Aufforderung schmeichelte mir und entschied mein Schicksal. Eigentümlicherweise gefiel mir unter anderem ganz besonders an seinem kurzen Briefchen (ein einziger Bogen kleinen Formats), daß er mit keinem Wort die Universität erwähnte oder mir zuredete, meinen Entschluß zu ändern, und mir keine Vorwürfe machte, daß ich nicht studieren wollte, kurz, auf sämtliche üblichen elterlichen Sprüche, die in ähnlichen Fällen unvermeidlich sind, verzichtete; indessen war es gerade schlimm, weil sich darin seine Fahrlässigkeit mir gegenüber um so deutlicher ausdrückte. Ich hatte mich noch aus einem weiteren Grund für Petersburg entschieden, und zwar, weil ich glaubte, daß es meinem Haupttraum nicht schaden könnte. “Mal sehen, wie es wird”, überlegte ich, “in jedem Fall werde ich eine Bindung mit ihnen nur vorübergehend eingehen, vielleicht nur auf eine ganz kurze Zeit. Aber sollte ich merken, daß dieser Schritt, und sei er noch so bedingt und klein, mich von der Hauptsache abhält, werde ich alles stehen- und liegenlassen und mich in meinen Panzer zurückziehen.” Das ist es: Panzer! “Ich ziehe mich in den Panzer zurück, wie eine Schildkröte.” Dieser Vergleich gefiel mir sehr. “Ich werde künftig nicht mehr allein sein”, sinnierte ich, während ich in meinen letzten Moskauer Tagen rastlos durch die Stadt streifte, “ich werde niemals mehr allein sein wie während der vielen schrecklichen Jahre bisher: Mit mir wird immer meine Idee sein, der ich niemals untreu werde, selbst wenn sie mir dort alle sehr gut gefallen, mir Glück bringen sollten und ich mit ihnen sogar zehn Jahre lang zusammenleben könnte!” Diese Stimmung, es sei im voraus gesagt, eben dieses Zwiespältige meiner Pläne und Ziele, das sich bereits in Moskau abgezeichnet hatte und in Petersburg keinen Augenblick von mir wich (denn ich weiß nicht, ob es je einen einzigen Tag in Petersburg gegeben hat, an dem ich mir keine endgültige Frist gesetzt hätte, um mit ihnen zu brechen und zu verschwinden) – dieses Zwiespältige, sage ich, war, wie es mir heute scheint, eine der Hauptursachen, warum ich mich in diesem Jahr so oft unbedacht, ekelhaft, sogar oft gemein und, selbstverständlich, dummdreist benommen habe.
Natürlich, plötzlich hatte ich einen Vater, den es früher niemals gab. Dieser Gedanke berauschte mich während der Reisevorbereitungen in Moskau und während der Eisenbahnfahrt. Daß er mein Vater war, das war nur halb so schlimm, auf Zärtlichkeiten legte ich keinen Wert, aber dieser Mann wollte von mir nichts wissen, er hatte mich erniedrigt, während ich im Laufe aller dieser Jahre von ihm träumte, ohne abzusetzen (wenn es erlaubt ist, diese Metapher für ein anhaltendes Träumen zu benutzen). Jeder meiner Träume seit meiner frühesten Kindheit umschwebte ihn, war ein Echo und endete zu guter Letzt bei ihm. Ich weiß nicht, ob ich ihn liebte oder haßte, aber seine Person erfüllte meine ganze Zukunft und meine gesamten Lebenspläne – das geschah ganz von selbst und begleitete mein Heranwachsen.
Es gab auch noch einen weiteren Grund für meinen Aufbruch aus Moskau, eine übermächtige Versuchung, die bereits damals, das heißt drei Monate vor meinem Aufbruch (folglich zu einem Zeitpunkt, als von Petersburg noch gar keine Rede war), mein Herz höher schlagen ließ! Mich zog dieser unerforschte Ozean auch noch deshalb an, weil ich dort unmittelbar als Herr und Gebieter fremder Geschicke erscheinen konnte, und welcher Geschicke! Aber es waren großmütige und keineswegs despotische Gefühle, die in mir brodelten – das sei vorausgeschickt, damit meine Worte nicht
Und nun, um mit dem Neunzehnten endgültig anzufangen, will ich zunächst in wenigen Worten und gleichsam nebenbei erzählen, daß ich sie alle, das heißt Werssilow, meine Mutter und meine Schwester (letztere sah ich zum ersten Mal in meinem Leben), in einer bedrückenden Lage, beinahe völlig verarmt oder am Vorabend der völligen Verarmung antraf. Davon hatte ich bereits in Moskau gehört, aber keineswegs mit dem gerechnet, was ich nun vor Augen hatte. Seit meinen Kindertagen war ich gewohnt, diesen Mann, meinen »künftigen Vater«, fast in einer Aureole zu sehen und ihn mir nicht anders vorzustellen als stets und überall in der ersten Rolle. Werssilow pflegte niemals die Wohnung mit meiner Mutter zu teilen, sondern stets eine separate zu mieten: Natürlich tat er das nach den üblichen, so niederträchtigen »Anstandsregeln«. Aber nun wohnten sie alle zusammen, in einem Hinterhaus, einem Holzgebäude, in einer Nebengasse des Semjonowskij-Polk. Alles Hab und Gut war bereits versetzt, so daß ich meiner Mutter, heimlich vor Werssilow, sogar meine verheimlichten sechzig Rubel zugesteckt habe. Sie waren tatsächlich verheimlicht, von meinem Taschengeld, von den mir monatlich zugeschickten fünf Rubeln, im Laufe von zwei Jahren zusammengespart; mit dem Sparen begann ich seit dem ersten Tag meiner »Idee«, deshalb durfte Werssilow von diesem Geld nichts wissen. Der bloße Gedanke daran ließ mich zittern.
Indessen war die bittere Armut nur ein zehnter oder zwanzigster Teil seines Mißgeschicks, und ich wußte das nur allzu gut. Außer der bitteren Armut war es noch etwas ungleich Ernsteres – ganz abgesehen davon, daß immer noch die Hoffnung bestand, den Erbschaftsprozeß, den Werssilow vor einem Jahr gegen die Fürsten Sokolskij angestrengt hatte, zu gewinnen und in kürzester Zeit in den Besitz eines Gutes im Wert von siebzigtausend und vielleicht noch einigen tausend Rubeln mehr zu gelangen. Ich habe oben erwähnt, daß dieser Werssilow in seinem Leben bereits drei Erbschaften durchgebracht hatte – nun sollte ihm die nächste Erbschaft wieder einmal Rettung bringen! Der Prozeß sollte in Kürze vor Gericht entschieden werden. Daraufhin wurde ich hierherbestellt. Allerdings ließ die Hoffnung sich nicht in blanker Münze auszahlen, niemand wollte sie beleihen, und so lange mußte man durchhalten.
ausgestoßen