Ein grüner Junge

Fjodor Dostojewskij

Ein grüner Junge

Roman

Aus dem Russischen von Swetlana Geier

FISCHER E-Books

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Inhalt

Impressum

Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart

Coverabbildung: Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch,»Zwei männliche Figuren«

Swetlana Geiers Neuübersetzung von »Ein grüner Junge« erschien erstmals im September 2006 im Ammann Verlag & Co., Zürich.

 

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011

 

Unsere Adressen im Internet:

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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-401888-1

I

Ich habe es doch nicht länger ausgehalten und habe mich nun hingesetzt, um diese Geschichte meiner ersten Schritte auf dem Schauplatz des Lebens niederzuschreiben, wiewohl ich das eigentlich auch lassen könnte. Eines weiß ich bestimmt: Niemals werde ich mich noch einmal hinsetzen, um meine Autobiographie zu schreiben, und sollte ich auch hundert Jahre alt werden. Man muß schon allzu erbärmlich selbstverliebt sein, um über die eigene Person schreiben zu können, ohne sich zu schämen. Ich kann mich nur damit entschuldigen, daß ich nicht deshalb schreibe, weshalb alle schreiben, das heißt, nicht, um vom Leser gelobt zu werden. Wenn ich plötzlich darauf gekommen bin, Wort für Wort alles niederzuschreiben, was mir in diesem letzten Jahr widerfuhr, so bin ich darauf gekommen aus einem inneren Bedürfnis: So tief hat mich alles Geschehene betroffen. Ich schreibe nur die Ereignisse nieder und vermeide nach Möglichkeit alles Nebensächliche und vor allem – alles literarische schmückende Beiwerk; ein Literat schreibt dreißig Jahre lang und weiß zu guter Letzt überhaupt nicht mehr, weshalb er so viele Jahre geschrieben hat. Ein Literat bin ich nicht, ich will kein Literat sein und würde es für Erbärmlichkeit und Niedertracht halten, wollte ich das Innerste meiner Seele und eine gefällige Beschreibung meiner Gefühle auf ihrem Literaturmarkt feilbieten. Verdrossen ahne ich jedoch voraus, daß sich auf eine Schilderung von Gefühlen und Reflexionen (vielleicht sogar trivialen) nicht gänzlich verzichten läßt: So verderblich wirkt sich jede literarische Betätigung auf den Menschen aus, selbst wenn sie

II

Ich beginne, das heißt, am liebsten möchte ich meine Notizen mit dem neunzehnten September des vorigen Jahres beginnen, das heißt genau mit dem Tag meiner ersten Begegnung mit …

Aber wenn ich einfach so, ohne weiteres, erklären würde, wem ich begegnete, bevor auch nur ein einziger Mensch etwas weiß, wäre es trivial; ich glaube sogar, schon dieser Ton ist trivial: Nachdem ich mir geschworen habe, alles literarische Beiwerk zu vermeiden, verfalle ich von der ersten Zeile an diesem schmückenden Beiwerk. Außerdem scheint es mir, daß der bloße Vorsatz, vernünftig zu schreiben, nicht ausreicht. Ferner sei bemerkt, daß es sich in keiner europäischen Sprache so mühsam schreiben läßt wie in der russischen. Ich habe gerade durchgelesen, was ich vorhin geschrieben habe, und sehe, daß ich viel klüger bin als das Geschriebene. Wie kommt es nur, daß bei einem klugen Menschen das Ausgesprochene viel dümmer ist als das, was in ihm zurückbleibt? Ich habe das mehr als einmal an mir selbst und in meinem sprachlichen Umgang mit anderen Menschen während dieses ganzen letzten, verhängnisvollen Jahres beobachtet und sehr darunter gelitten.

Wiewohl ich mit dem neunzehnten September beginnen will, möchte ich dennoch ein paar Worte darüber

III

Ich habe die Gymnasiumsjahre hinter mir und stehe schon in meinem einundzwanzigsten Lebensjahr. Mein Familienname ist Dolgorukij, mein gesetzlicher Vater, Makar Iwanowitsch Dolgorukij, einstiger leibeigener Bedienter der Herren Werssilow. Auf diese Weise bin ich ehelich geboren, wiewohl ich ein mit Sicherheit unehelicher Sohn bin und meine Herkunft nicht dem geringsten Zweifel unterliegt. Die Sache verhielt sich so: Vor zweiundzwanzig Jahren war der Gutsherr Werssilow, das heißt mein eigentlicher Vater, damals fünf- undzwanzig Jahre alt, auf seiner Besitzung im Gouvernement Tula aufgetaucht. Ich nehme an, daß er zu jener Zeit keine ausgeprägte Persönlichkeit war. Es ist interessant, daß dieser Mann, der auf mich seit meiner frühesten Kindheit einen derart kapitalen Eindruck gemacht hat, meine seelische Konstitution und vielleicht sogar für lange Zeit meine Zukunft infiziert hat, daß dieser Mann, selbst heute noch, in vielerlei Hinsicht für mich ein völliges Rätsel geblieben ist. Aber dies soll erst später an die Reihe kommen. Es läßt sich nicht einfach so erzählen. Von diesem Menschen wird ohnehin in meinem ganzen Heft die Rede sein.

Er war damals, das heißt in seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr, gerade verwitwet. Verheiratet war er mit einer Fanariotowa gewesen, die, wenn auch nicht besonders reich, zu den besten Kreisen gehörte und die ihm einen Sohn und eine Tochter geschenkt hatte. Meine Kenntnisse von dieser ihm allzu früh verstorbenen Gattin waren recht unvollständig und sind in meinen Papieren untergegangen; außerdem sind mir

Auf sein Gut war er damals gekommen, »Gott mag wissen, warum«, jedenfalls hat er sich mir gegenüber später so geäußert. Seine kleinen Kinder hatte er, wie üblich, nicht mitgebracht, sie waren bei Verwandten. So pflegte er in seinem ganzen Leben mit seinen Kindern zu verfahren, den legitimen und den illegitimen. Das Gesinde auf diesem Landgut war besonders zahlreich; dazu gehörte auch der Gärtner, Makar Iwanowitsch Dolgorukij. An dieser Stelle möchte ich einfügen, damit es ein für alle Male gesagt ist: Selten dürfte jemand seinen Familiennamen so gehaßt haben wie ich den meinen, lebenslang. Natürlich war das dumm, aber es war so. Jedesmal, ob ich nun irgendwo in eine Schule eintrat oder Personen begegnete, denen ich aufgrund meiner Jugend eine Antwort schuldig war, kurz, jeder noch so kümmerliche Gymnasiallehrer, Hauslehrer, Schulinspektor, Pope – alle, jeder beliebige hielt es für unbedingt nötig, sobald er nach meinem Familiennamen gefragt und gehört hatte, daß ich ein Dolgorukij sei, aus irgendeinem Grunde hinzuzufügen:

»Fürst Dolgorukij?« und jedesmal war ich verpflichtet, diesem müßigen Frager zu erklären:

»Nein, einfach Dolgorukij.«

Dieses einfach brachte mich schließlich beinahe um den Verstand. Hier sei bemerkt, als eine Art Phänomen, daß ich mich an keine einzige Ausnahme erinnere: So haben alle gefragt. Einigen war es offensichtlich völlig egal; und ich weiß auch gar nicht, warum zum Teufel es für irgend jemand nicht

»Wie heißt du?«

»Dolgorukij.«

»Fürst Dolgorukij?«

»Nein, einfach Dolgorukij.«

»Aha, einfach Dolgorukij! Schwachkopf!«

Und er hat recht: Es gibt nichts Dümmeres, als Dolgorukij zu heißen, ohne Fürst zu sein. Und diese Dummheit haftet an mir ohne eigene Schuld. Später, als ich mich bereits darüber erboste, antwortete ich auf die Frage »Bist du Fürst?« stets:

»Nein, ich bin der Sohn eines Gesindeknechts, eines ehemaligen Leibeigenen.«

Später noch, als meine Wut bereits den Siedepunkt erreicht hatte, antwortete ich einmal auf die Frage »Sind Sie Fürst?« mit fester Stimme:

»Nein, einfach Dolgorukij, unehelicher Sohn meines einstigen Gutsherrn, des Herrn Werssilow.«

Ich hatte mir das bereits in der sechsten Klasse des Gymnasiums zurechtgelegt, und obwohl ich mich sehr bald von meiner zweifellosen Dummheit überzeugt hatte, gab ich dennoch meine dumme Floskel nicht so bald auf. Ich erinnere

»Solche Gefühle machen Ihnen natürlich Ehre, und Ihr Stolz ist zweifellos nicht unbegründet; aber ich an Ihrer Stelle hätte trotzdem nicht so feierlich verkündet, daß ich ein unehelicher Sohn bin … Als hätten Sie Namenstagsfeier!«

Darauf hörte ich auf, mit meiner illegitimen Herkunft zu prahlen.

Ich wiederhole, daß es ausgesprochen schwer ist, russisch zu schreiben: Nun habe ich drei Seiten darüber vollgeschrieben, wie ich mich mein Leben lang über meinen Familiennamen ärgerte, währenddessen der Leser bestimmt den Schluß gezogen hat, ich ärgere mich gerade darüber, daß ich nicht Fürst, sondern einfach Dolgorukij bin. Eine nochmalige Erklärung und Rechtfertigung betrachte ich als erniedrigend.

IV

Also, unter dem Hofgesinde, das, wie erwähnt, sehr zahlreich war, befand sich außer Makar Iwanowitsch auch eine Magd, die bereits in ihrem achtzehnten Lebensjahr stand, als der fünfzigjährige Makar Dolgorukij plötzlich die Absicht kundtat, sie zu ehelichen. Die Ehen des Hofgesindes durften, wie bekannt, zur Zeit der Leibeigenschaft nur mit Billigung der Gutsherrschaft und mußten gelegentlich auch auf deren Befehl geschlossen werden. Auf dem Gut lebte damals nur die Tante; das heißt, sie war keineswegs meine Tante, sondern ebenfalls eine Gutsbesitzerin; aber aus irgendeinem Grunde wurde sie von allen ihr Leben lang Tante genannt, nicht nur

Und nun hatte Tatjana Pawlowna die Heiratsabsichten des düsteren Makar Dolgorukij (er soll damals düster gewesen sein) keineswegs abgelehnt, sondern sie, ganz im Gegenteil, im höchsten Maße gefördert. Sofja Andrejewna (diese achtzehnjährige Gesindemagd, das heißt meine Mutter) war schon seit einigen Jahren Vollwaise: Ihr seliger Vater, der für Makar Dolgorukij höchste Achtung empfunden haben muß und ihm auch zu Dank verpflichtet zu sein schien, ebenfalls Hofknecht, hatte vor sechs Jahren, wie man sich erzählte, als er auf seinem Totenbett lag, eine Viertelstunde bevor er den Geist aufgab (man hätte seine Worte auch für die Phantasien eines Sterbenden halten können, zumal ihm als Leibeigenem keinerlei Verfügungsgewalt zustand), Makar Dolgorukij zu sich gerufen und ihm vor dem versammelten Gesinde und dem Geistlichen laut und deutlich, mit Blick auf seine Tochter, gesagt: »Zieh sie groß und heirate sie.« Alle haben das gehört. Und was Makar Iwanowitsch betrifft, so weiß ich nicht, in welchem Sinne er später heiratete, ob mit Vergnügen oder nur aus Pflichterfüllung. Wahrscheinlich hat er einen völlig ungerührten Eindruck gemacht. Er war ein Mensch, der sich auch schon damals »darstellen« konnte. Nicht, daß er bibelkundig und im Lesen und Schreiben besonders bewandert

Über den Charakter meiner Mutter läßt sich nur sagen, daß sie bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr unter der Obhut von Tatjana Pawlowna in deren Nähe gelebt hatte (obwohl der Gutsverwalter ständig darauf drängte, sie nach Moskau in eine Lehre zu schicken) und die ihr einiges an Erziehung angedeihen ließ, das heißt, sie lehrte sie Nähen und Zuschneiden, die Manieren eines jungen Mädchens und sogar ein wenig Lesen. Ordentlich Schreiben hat meine Mutter niemals gelernt. In ihren Augen war diese Ehe mit Makar Dolgorukij eine längst beschlossene Sache, und alles, was mit ihr damals geschah, fand sie wunderbar und das Beste; vor den Traualtar trat sie mit der ruhigsten Miene, die man bei einer solchen Gelegenheit nur haben kann, so daß selbst Tatjana Pawlowna sie damals einen Fisch schalt. Dies alles über den damaligen Charakter meiner Mutter vernahm ich aus dem Munde von Tatjana Pawlowna persönlich. Werssilow besuchte das Gut genau ein halbes Jahr nach der Hochzeit.

V

Ich sage nur, daß es mir niemals gelang, definitiv zu erfahren oder auch zu erraten, womit es eigentlich zwischen ihm und

Ich weiß von verschiedener Seite positiv, daß meine Mutter keine Schönheit war, auch, wenn ich ihr Porträt aus jenen Jahren, das noch irgendwo existiert, noch nicht gesehen habe. Also, von Liebe auf den ersten Blick konnte nicht die Rede sein. Für die einfache »Liebelei« hätte Werssilow eine andere Wahl treffen können, und eine solche hatte sich damals geboten, sogar eine Unverheiratete, Anfissa Konstantinowna Saposchkowa, ein Stubenmädchen. Und ein Mensch, der mit

Übrigens begann er im selben Augenblick, mir zu versichern, daß meine Mutter ihn aus »Unterwerfung« liebgewonnen habe: Es fehlte nicht viel, und er hätte alles durch die Leibeigenschaft erklärt! Er gab es vor, um des Chics willen,

Das alles hört sich natürlich so an, als wollte ich meine Mutter loben und preisen und habe doch bereits erklärt, daß ich sie, wie sie damals war, überhaupt nicht gekannt habe. Mehr noch, ich kenne gerade die Borniertheit jenes Milieus und jener kargen Anschauungen, in denen sie in ihrer Kindheit verdorren und die sie ihr Leben lang beibehalten mußte. Aber das Unheil trat dennoch ein. Übrigens muß ich mich korrigieren: In meinen Wolken schwebend, habe ich eine Tatsache außer acht gelassen, die im Gegenteil als erste hervorgehoben werden mußte, nämlich: Angefangen hat es bei ihnen direkt mit dem Unheil (ich hoffe, der Leser wird nicht so tun, als ob er nicht sofort begriffe, was ich meine). Mit einem Wort, angefangen bei ihnen hatte es gerade nach Gutsherrenart, ungeachtet dessen, daß Mademoiselle Saposchkowa verschmäht worden war. Aber da möchte ich für mich eintreten und sogleich erklären, daß ich mir keineswegs widerspreche. Denn worüber hätte in jener Zeit ein solcher Mann wie Werssilow (oh, mein Gott!) mit einer solchen Frau wie meiner Mutter reden können, selbst im Falle unbezwingbarer Neigung? Ich habe von den lasterhaftesten Menschen gehört, daß ein Mann, der mit einer Frau zusammenkommt, sehr oft in völligem Schweigen zu Werke geht, was natürlich der Gipfel des Monströsen und Ekelhaften ist; und doch hätte Werssilow bei bestem Willen, glaube ich, mit meiner Mutter nicht anders anfangen können. Sollte er denn mit einer Auslegung von »Polinka Sachs« anfangen? Und überdies ging es ihnen überhaupt nicht um russische Literatur; im Gegenteil, nach seinen eigenen Worten (an diesem Tag war er gesprächig) versteckten sie sich in dunklen Ecken, warteten im Treppenhaus aufeinander, prallten wie Gummibälle puterrot auseinander, wenn jemand vorbeikam, und der »Tyrann« von Gutsherr zitterte vor der letzten Scheuermagd, ungeachtet aller seiner Herrschaftsrechte. Wenn auch der Anfang nach

Die Fragen, die ich gestellt habe, waren sehr zahlreich, aber es gibt eine Frage, die allerwichtigste, die ich, zugegeben, nicht direkt an meine Mutter zu stellen wagte, ungeachtet dessen, daß wir beide seit dem vergangenen Jahr uns so nahegekommen sind und daß ich darüber hinaus als ein grober und undankbarer junger Hund, der überzeugt war, daß man vor ihm schuldig war, mit ihr überhaupt keine Umstände machte. Folgende Frage: Wie hat sie es fertiggebracht, sie selbst, die bereits seit einem halben Jahr in einer Ehe lebte, und auch noch erdrückt von all den Begriffen von der Rechtmäßigkeit der Ehe wie eine kraftlose Motte, sie, die ihren Makar Iwanowitsch nicht weniger als eine Gottheit verehrte, wie hatte sie es fertiggebracht, in ein paar Wochen eine solche Sünde auf sich zu nehmen? Sie war doch kein loses Frauenzimmer, meine Mutter? Im Gegenteil, ich kann jetzt vorwegnehmend behaupten, daß eine reinere Seele, und zwar das ganze folgende Leben hindurch, kaum vorstellbar ist. Eine Erklärung könnte man höchstens darin finden, daß sie diesen Schritt gleichsam außer sich getan hat, allerdings nicht in dem Sinne,

Nachdem sie gesündigt hatten, haben sie sofort gestanden. Er erzählte mir nicht ohne Witz, wie er an Makar Iwanowitschs Schulter geschluchzt habe, den er zu diesem Anlaß in sein Kabinett bestellt hätte. Und sie – sie lag währenddessen halb ohnmächtig in ihrer Gesindekammer …

Doch genug der Fragen und peinlichen Details. Werssilow kaufte meine Mutter von Makar Iwanowitsch frei, verreiste bald darauf und, wie bereits oben erwähnt, schleppte sie überallhin, mit Ausnahme jener Gelegenheiten, da er besonders lange wegblieb; dann vertraute er meine Mutter der Fürsorge der Tante an, das heißt Tatjana Pawlowna Prutkowa, die stets in solchen Fällen zur Stelle war. Er lebte mit meiner Mutter bald in Moskau, bald auf verschiedenen anderen Gütern und Städten, sogar auch im Ausland und schließlich in Petersburg. Davon später, wenn es sich denn lohnt. Hier sei nur zu bemerken, daß ich ein Jahr nach dem Abschied von Makar Iwanowitsch das Licht der Welt erblickte, ein Jahr darauf meine Schwester und dann erst – nach zehn oder elf Jahren – ein kränklicher Knabe, mein jüngster Bruder, der nach wenigen Monaten starb. Die schwere Geburt dieses Kindes kostete meine Mutter ihre Schönheit – so wurde mir jedenfalls erklärt: Sie kränkelte und alterte zusehends.

Aber die Beziehung zu Makar Iwanowitsch riß niemals ab. Wo sich die Werssilows auch aufhielten, ob sie mehrere Jahre an einem Ort blieben oder umzogen, Makar Iwanowitsch ließ in jedem Falle der »Familie« eine Nachricht zukommen. Es bildete sich ein seltsames Verhältnis heraus, das zum Teil feierlich und beinahe ernst zu nehmen war. Im gutsherrschaftlichen Alltag hätte dieses Verhältnis einen komischen Beigeschmack erhalten, das weiß ich; aber hier war das nicht der Fall. Die Briefe trafen zweimal jährlich ein, nicht öfter und nicht seltener, und waren alle außerordentlich ähnlich. Ich habe sie gesehen; sie enthielten kaum etwas Persönliches; im Gegenteil, sie beschränkten sich nach Möglichkeit auf feierliche Schilderungen allgemeinster Ereignisse und allgemeinster Gefühle, wenn man Gefühle so nennen darf: Sie begannen mit der Schilderung der eigenen Gesundheit, dann folgten Fragen nach unserem Wohlbefinden, dann gute

Ich vergaß zu sagen, daß er seinen Familiennamen »Dolgorukij« über alles liebte und achtete. Selbstverständlich, das war lächerlich und dumm. Das Dümmste war, daß ihm sein Familiennamen gerade deshalb gefiel, weil es das Fürstenhaus

Auch wenn die ganze Familie, wie ich gesagt habe, immer beisammen blieb, war ich die Ausnahme. Ich war der Ausgestoßene und wurde fast gleich nach meiner Geburt bei fremden Menschen untergebracht. Dahinter steckte aber keine besondere Absicht, es geschah irgendwie so, gleichsam von selbst. Als meine Mutter mich zur Welt brachte, war sie noch jung und schön, folglich brauchte er sie, und ein schreiender Säugling wäre häufig nur lästig gewesen, ganz besonders auf Reisen. Und so geschah es, daß ich bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr meine Mutter kaum gesehen habe, höchstens bei zwei, drei flüchtigen Gelegenheiten. Das lag nicht an den Gefühlen meiner Mutter, sondern an Werssilows Hochmut gegenüber den Menschen.

VII

Jetzt von etwas ganz anderem.

Vor einem Monat, das heißt einen Monat vor dem neunzehnten September, habe ich in Moskau beschlossen, mich von ihnen allen loszusagen und mich nun endgültig auf meine Idee zurückzuziehen. Ich halte auch an diesem Ausdruck fest: »Mich auf meine Idee zurückziehen«, weil diese Worte für meinen Hauptgedanken beinahe vollständig zutreffen – für das Eigentliche, um dessentwillen ich auf der Welt bin. Worin diese »eigene Idee« besteht, wird später noch oft zur Sprache kommen. Schon in der Zurückgezogenheit meines verträumten und langjährigen Moskauer Lebens ist sie in mir aufgekeimt, bereits in der sechsten Gymnasialklasse, und hat mich seither nicht einen einzigen Augenblick verlassen. Sie hat mein ganzes Leben absorbiert. Auch vorher hatte ich nur in meinen Träumen gelebt; ich lebte seit meiner Kindheit in einem Traumland besonderer Art; aber mit dem Auftauchen

Natürlich, plötzlich hatte ich einen Vater, den es früher niemals gab. Dieser Gedanke berauschte mich während der Reisevorbereitungen in Moskau und während der Eisenbahnfahrt. Daß er mein Vater war, das war nur halb so schlimm, auf Zärtlichkeiten legte ich keinen Wert, aber dieser Mann wollte von mir nichts wissen, er hatte mich erniedrigt, während ich im Laufe aller dieser Jahre von ihm träumte, ohne abzusetzen (wenn es erlaubt ist, diese Metapher für ein anhaltendes Träumen zu benutzen). Jeder meiner Träume seit meiner frühesten Kindheit umschwebte ihn, war ein Echo und endete zu guter Letzt bei ihm. Ich weiß nicht, ob ich ihn liebte oder haßte, aber seine Person erfüllte meine ganze Zukunft und meine gesamten Lebenspläne – das geschah ganz von selbst und begleitete mein Heranwachsen.

Es gab auch noch einen weiteren Grund für meinen Aufbruch aus Moskau, eine übermächtige Versuchung, die bereits damals, das heißt drei Monate vor meinem Aufbruch (folglich zu einem Zeitpunkt, als von Petersburg noch gar keine Rede war), mein Herz höher schlagen ließ! Mich zog dieser unerforschte Ozean auch noch deshalb an, weil ich dort unmittelbar als Herr und Gebieter fremder Geschicke erscheinen konnte, und welcher Geschicke! Aber es waren großmütige und keineswegs despotische Gefühle, die in mir brodelten – das sei vorausgeschickt, damit meine Worte nicht

Und nun, um mit dem Neunzehnten endgültig anzufangen, will ich zunächst in wenigen Worten und gleichsam nebenbei erzählen, daß ich sie alle, das heißt Werssilow, meine Mutter und meine Schwester (letztere sah ich zum ersten Mal in meinem Leben), in einer bedrückenden Lage, beinahe völlig verarmt oder am Vorabend der völligen Verarmung antraf. Davon hatte ich bereits in Moskau gehört, aber keineswegs mit dem gerechnet, was ich nun vor Augen hatte. Seit meinen Kindertagen war ich gewohnt, diesen Mann, meinen »künftigen Vater«, fast in einer Aureole zu sehen und ihn mir nicht anders vorzustellen als stets und überall in der ersten Rolle. Werssilow pflegte niemals die Wohnung mit meiner Mutter zu teilen, sondern stets eine separate zu mieten: Natürlich tat er das nach den üblichen, so niederträchtigen »Anstandsregeln«. Aber nun wohnten sie alle zusammen, in einem Hinterhaus, einem Holzgebäude, in einer Nebengasse des Semjonowskij-Polk. Alles Hab und Gut war bereits versetzt, so daß ich meiner Mutter, heimlich vor Werssilow, sogar meine

Indessen war die bittere Armut nur ein zehnter oder zwanzigster Teil seines Mißgeschicks, und ich wußte das nur allzu gut. Außer der bitteren Armut war es noch etwas ungleich Ernsteres – ganz abgesehen davon, daß immer noch die

ausgestoßen