Nelly Möhle
Der Zaubergarten –
Abenteuer können fliegen
Mit Bildern von Eva Schöffmann-Davidov
FISCHER E-Books
© privat
Nelly Möhle liebte es als Kind, durch den riesigen Garten ihrer Großeltern zu streifen und sich Geschichten auszudenken. Zwischen Rosenranken und geheimnisvollen Tannen ließ sie ihrer Phantasie freien Lauf, und irgendwann begann sie, ihre Geschichten aufzuschreiben. »Abenteuer können fliegen« ist der zweite Band ihrer Kinderbuchserie »Der Zaubergarten« und so überbordend und fröhlich wie ein bunter Blumengarten. Die Autorin lebt mit ihrer Familie, einem Hund und einer hundertjährigen Schildkröte in Offenburg.
© Klaus Renner
Eva Schöffmann-Davidov, Jahrgang 1973, ist eine der renommiertesten Kinder- und Jugendbuchillustratorinnen Deutschlands. Nach ihrem Studium an der Fachhochschule für Gestaltung in Augsburg machte sie sich in der Kinder- und Jugendliteratur schnell einen Namen und gewann im Lauf ihrer Karriere zahlreiche Preise für ihre Gestaltungen. Als Fachhochschuldozentin gab sie ihr Wissen auch an junge Künstler weiter. Heute illustriert sie Kinderbuchserien und Jugendbücher unter anderem von Bestsellerautoren wie Kerstin Gier oder Tanya Stewner. Die Illustratorin lebt mit ihrer Familie in Augsburg.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage gibt es unter www.fischerverlage.de
Zu diesem Hörbuch ist bei Hörbuch Hamburg ein Hörbuch erschienen,
das im Buchhandel erhältlich ist.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114,
D-60596 Frankfurt am Main
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Michael Meller Literary Agency GmbH, München
Covergestaltung: Eva Schöffmann-Davidov
unter Mitarbeit von Norbert Blommel, MT-Vreden
Coverillustration: Eva Schöffmann-Davidov
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-5132-9
Für Marc
Hallo! Ich bin Tilda. Kennst du schon meine unglaubliche Geschichte »Geheimnisse sind blau«?
In dieser Geschichte hatten meine Freundin Anni und ich Herrn Bovist und seinen Hund Rupert kennengelernt. Die beiden leben in einem klitzekleinen Hexenhäuschen in einem riesengroßen und wild bewachsenen Garten. Und dort züchtet Herr Bovist Blumen. Aber keine gewöhnlichen Blumen, die man bei Blumen-Einstein an der Hauptstraße kaufen kann. Nein, wenn man an einer seiner prächtigen Blumen riecht oder davon isst, bekommt man unglaubliche Kräfte. Man kann zum Beispiel fliegen. Oder wird am ganzen Körper haarig wie eine Katze. Ich hatte eine Zeitlang eine Pflanze von Herrn Bovist als Haustier. Oder, besser gesagt, als Hausblume. Ludmilla! Sie war blauer als blau, und wenn man an ihr schnupperte, wurde man unsichtbar!
Und dann wollte Herr Bovist uns alles über seine Zauberpflanzen beibringen. Doch daraus wurde erst einmal nichts. Denn unsere Geschichte ging noch viel unglaublicher weiter.
Echt und ungelogen!
Aber meine beste Freundin Anni sagt, ich muss mit dem Erzählen an der richtigen Stelle anfangen. Also beginne ich mit dem Tag, an dem Herr Bovist spurlos verschwand …
Es war der Dienstagmorgen. Ich stand im Flur und suchte meinen zweiten Turnschuh. Da klingelte das Telefon.
Papa rief: »Geht mal jemand ran! Ich sitze auf dem Klo!«
Von oben hörte ich das Rauschen der Dusche. Mama konnte also auch nicht abnehmen. Kurz überlegte ich, das Klingeln nicht zu hören. Dienstags hatte ich in der ersten Stunde Sport. Und bei unserem Sportlehrer Herrn Höller darf man keine Sekunde zu spät vor der Turnhalle auftauchen, sonst muss man ewig an der verschlossenen Hallentür rütteln.
»Geht bitte mal jemand ans Telefon?!«, brüllte Papa noch mal.
»Kannegießer«, sagte ich also freundlich in den Hörer. »Matilda am Apparat!«
»Matilda«, hörte ich eine leise Stimme. »Du musst mir helfen! Gunnar hält mich gefangen! Er will das Zauberbuch und die Samen!«
Herr Bovist!
Meine Stimme wackelte. »Wo bist du, Herr Bovist?«
»In Neustadt. In Gunnars Haus auf dem Löschberg! Ich bin …«
Plötzlich donnerte eine tiefe Stimme aus dem Hörer direkt an mein Ohr: »Konrad, leg sofort den Hörer auf!«
Tuuut, tuuut, tuuut!
Tot lag das Telefon in meiner zittrigen Hand.
Herr Bovist war in Gefahr. Er brauchte Hilfe. Oh, dieser böse Gunnar – warum hatte er das bloß gemacht?
Papas Stimme kam aus der Toilette: »Wer war das?«
»Niemand! Verwählt!«, rief ich.
Ich musste in die Schule. Mit Anni sprechen. Und zwar schnell.
Doch Anni kam nicht zum Unterricht. Schlimmer konnte der Tag eigentlich nicht mehr werden. In der Sportstunde rumorte es in meinem Bauch, als würde ein schneller Bär darin herumtoben. Und rauswollen. In Sachkunde musste ich sogar zweimal aufs Klo flitzen.
Frau Wonnemeier fragte: »Ist alles in Ordnung, Matilda? Ist dir nicht gut?«
Aber so nett Frau Wonnemeier auch ist, ich konnte ihr schlecht von Herrn Bovists Anruf erzählen. Also konzentrierte ich mich auf die Schnecken, die Frau Wonnemeier mit in den Unterricht gebracht hatte. Meine Schnecke kroch mir den ganzen Arm hoch. Meine Haut schillerte und glänzte von der Schneckenschleimspur. Schön sah das aus.
Aber dann musste ich wieder an Herrn Bovist denken. Warum hielt Gunnar ihn gefangen? Unser Freund Herr Bovist war erst gestern für ein paar Tage zu Gunnar gefahren. Weil er noch einiges mit ihm klären musste. Und Anni und ich sollten in der Zeit seinen Rupert, den größten Hund aller Zeiten, füttern und die Blumen im Gewächshaus gießen.
Noch vor dem Mittagessen rief ich bei Anni an.
»Anni war heute Morgen schlecht, da habe ich sie zu Hause gelassen«, erzählte mir Renate, Annis Mama. »Treffen könnt ihr euch also nicht. Aber es wäre schön, wenn du ihr die Hausaufgaben durchgeben könntest.«
Endlich hörte ich Annis Stimme: »Hallo, Tilda!«
»Anni, Herr Bovist ist in Gefahr! Gunnar hält ihn gefangen. Wir brauchen einen Rettungsplan!«, rief ich in den Hörer.
Anni flüsterte: »Mama geht gleich zur Arbeit. Um halb vier beim Schuppen?«
»Bis gleich«, wisperte ich zurück.
Ganz langsam atmete ich aus.
Anni hatte schließlich immer für alles eine Lösung!
Wenn ich etwas vorhabe, schaffe ich die Hausaufgaben in Windeseile. Auch an diesem Dienstag war ich ruck, zuck fertig.
»Und ihr schreibt diese Woche keine Klassenarbeit?«, fragte Mama beim Kontrollieren meiner Rechenaufgaben.
Mama ist Lehrerin, und leider hat sie dadurch richtig viel Ahnung davon, wie viele Klassenarbeiten ich zum Beispiel in Mathe schreiben muss.
»Nö!«, sagte ich. »Anni und ich wollen heute im Schuppen spielen.«
Das fand Mama bei dem herrlichen Wetter richtig gut.
»Aber zum Abendessen bist du wieder hier«, sagte sie.
Der Schuppen ist unser Geheimversteck. Er steht im riesigen Garten von Oma und Opa, nur eine Straße weiter.
Um halb vier schlüpfte ich durch das seitliche Gartentor. Opas Garten ist der schönste Garten, den ich je gesehen habe. Wie ein Park, mit kleinen Wegen, einem Rosengarten und vielen alten Bäumen. Und ganz hinten im Garten, direkt an der großen Gartenmauer, steht unser alter Schuppen.
Anni war noch nicht da. Also legte ich erst einmal ein stinkiges Stück Käse vor Knox’ Mauseloch. Meine niedliche Hausmaus hat an der hinteren Schuppenwand einen Eingang geknabbert, und immer wenn ich daran denke, bringe ich Knox ein Leckerli mit.
Nach der Fütterung war Anni immer noch nicht da. Also nahm ich vorsichtig das Bild von der Schuppenwand. Es ist wunderschön mit einem blauen Pferd und einer bunten Wiese drauf. Und es steckt in einem schnörkeligen, goldenen Rahmen. Solche Bilderrahmen hängen eigentlich in prächtigen Schlössern oder Museen. Aber Opa hat ihn mir geschenkt und mit dem blauen Pferd darin an die Wand gehängt. Jedenfalls hatte ich Herrn Bovists Brief hinter den Rahmen geklemmt. Damit meine Brüder ihn nicht finden. Jetzt fingerte ich ihn hervor. Leider war er ganz zerquetscht. Dabei hatte Herr Bovist uns den Brief erst gestern gegeben. Als Abschied sozusagen, weil er ja zu Gunnar fahren wollte.
Lesen konnte ich die verschnörkelte Schrift aber noch:
Liebe Matilda, liebe Annemarie!
Ich werde für ein paar Tage verreisen, um Gunnar zu besuchen. Mir ist klar geworden, dass ich ihm mein Erbe nicht überlassen kann. Gunnar interessiert sich ausschließlich für meine Samen und das Familienbuch – und für sich selbst. Mein Garten, meine Häuschen und vor allem Rupert liegen ihm überhaupt nicht am Herzen. Und als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben und mich mit Gunnar abgefunden hatte, habe ich doch noch zwei wundervolle, schlaue Mädchen kennengelernt, denen ich mein ganzes Wissen und meinen Garten anvertrauen kann. Ja, ich bin mir sicher, dass Ihr gut auf meine Pflanzen achten und ihre Fähigkeiten richtig einsetzen werdet. Und eines Tages werdet Ihr die phantastischsten Pflanzen züchten. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, und genau deswegen fangen wir gleich nach meiner Rückkehr mit dem Unterricht an! Ich danke Euch, Matilda und Annemarie, dass Ihr in meinen Garten gestolpert seid.
Es grüßt Euch
Euer Konrad Bovist
Plötzlich wusste ich, warum Gunnar Herrn Bovist eingesperrt hatte. »Gunnar will nicht, dass Anni und ich alles bekommen. Er will die Blumensamen. Und das Zauberbuch! Das hatte Herr Bovist ihm eigentlich auch versprochen. Und deshalb hält Gunnar ihn nun gefangen.«
»Mit wem redest du?«, fragte Anni.
In einem kirschroten Kleid stand sie in der Schuppentür. Die langen pantherschwarzen Haare glänzten in der Sonne, und an Annis Ohren baumelten echte Kirschen wie Ohrringe. Sehr schick sah das aus! Sie setzte sich zu mir an den kleinen, runden Tisch und legte ein paar Kirschen in die Mitte. Und dann erzählte ich ihr endlich von Herrn Bovists Anruf am Morgen.
»Ich habe über Gunnar nachgedacht«, sagte ich. »Er ist ein listiger Fuchs. In der Schule haben wir mal die Fabel von dem Fuchs und dem Raben gelesen. Da ist der Fuchs immer um den Raben herumgestrichen und war ganz freundlich zu ihm. Aber nur, weil er den Käse haben wollte, den der Rabe im Schnabel hatte. Und Gunnar ist auch um Herrn Bovist herumgestrichen, weil er die Samen und das dicke Zauberbuch wollte. Jetzt will Herr Bovist das alles aber nicht mehr Gunnar geben, sondern uns beiden. Also schnappt Gunnar sich – zack! – Herrn Bovist und schleppt ihn in seinen Fuchsbau.«
»Na«, sagte Anni und spuckte einen Kirschkern zur Schuppentür hinaus. »Dann müssen wir die Höhle von Fuchs-Gunnar finden! Und Herrn Bovist befreien. Ganz einfach!«
»Aha!«, rief ich. »Und wie willst du Gunnars Höhle finden? Herr Bovist hat am Telefon nur gesagt, dass er in Neustadt ist. In Gunnars Haus auf dem Löschberg.«
»Weißt du«, sagte Anni und kratzte sich den kirschroten Bauch, »da ist es doch wunderbar, dass Herr Bovist so tolle Blumen züchtet. Wir brauchen nur die Pflanze mit der richtigen Zauberkraft, und ruck, zuck sind wir unterwegs, um Herrn Bovist zu retten!«
»Mhmmm!«, machte ich.
Anni sagte: »Du musst jetzt sowieso die Rupert-Bestie füttern. Da durchsuche ich so lange schon einmal Herrn Bovists Zauberbuch nach brauchbaren Zauberpflanzen.«
»Wir hatten noch keinen Unterricht bei Herrn Bovist«, warf ich ein. »Eigentlich dürfen wir noch keine Zauberpflanzen züchten.«
»Tilda!«, rief Anni. »Das ist ein Notfall! Wenn wir Herrn Bovist wiederhaben wollen, brauchen wir die Hilfe der Zauberpflanzen. Und du bist in der Garten-AG. Du bist eine Fachfrau!«
Und da hatte Anni einfach recht. Wir hatten keine andere Wahl.
Ich futterte ein paar von Annis Kirschen, damit wir endlich loslegen konnten. Herr Bovists wilder Garten liegt nämlich genau neben dem Garten von Oma und Opa. Und wir dürfen eigentlich niemals nie über die Mauer in das verwilderte Nachbargrundstück klettern. Sagt Opa. Weil er Herrn Bovist nicht kennt und nicht weiß, wie nett er ist. Keiner der Nachbarn kennt Herrn Bovist. Aber alle erzählen unheimliche Geschichten über ihn. Nur Anni und ich kennen die ganze Wahrheit!
Wir flitzten zu Opas Obstbäumen, um die alte Leiter zu holen.
»Wir nehmen uns noch etwas Proviant mit«, erklärte Anni und pflückte sich ein paar Kirschen vom Baum. Meine Beine zappelten und zuckten. Ich wollte los.
»Wir haben keine Zeit, Kirschen zu pflücken. Rupert hat bestimmt Hunger. Und wir müssen Herrn Bovist retten. Und überhaupt: Wie willst du die Kirschen denn tragen und über die Mauer klettern? Mit deinem Gipsarm?«, fragte ich Anni.
Anni war vor ein paar Tagen von der großen Gartenmauer geplumpst. Weil sie an Herrn Bovists Flugblume gerochen hatte und eigentlich dachte, dass der Flugzauber noch wirken würde. Statt die wackelige Holzleiter hinunterzusteigen, wollte sie lieber elegant von der Mauer in den Garten hinabfliegen. Elegant war das dann nicht so. Aber gut.
»Anni!«, rief ich. Meine Geduld zerbröckelte wie trockene Erde. »Lass jetzt die blöden Kirschen und schnapp dir die Leiter!«
»Mein Kleid ist so was von praktisch«, sagte Anni. Sie stopfte alle Kirschen in die Taschen ihres Kleides.
Dann endlich packte sie mit der gipsfreien Hand die Leiter. Zu zweit hatten wir sie ruck, zuck zur Mauer geschleppt und standen wenig später in Herrn Bovists Dschungel.
Ich glaube, der Dschungel wächst jeden Tag ein riesiges Stück. Und wird jeden Tag noch grüner. Alle Äste wachsen ineinander und umeinander wie sich umschlingende Arme. Und die Baumriesen tragen hübsche Kleider aus Blättern und Nadeln und Efeu und Moos. Aus der Erde kriechen immer mehr Baumkinder hervor und versperren die wenigen Lücken, durch die wir uns durchzwängen können. Auch an diesem Tag zerzausten uns die Bäume und Büsche ordentlich. Ich freue mich immer, wenn der Dschungel mich wieder ausspuckt und ich auf der geblümten Lichtung stehe, wo das Gewächshaus in der Sonne funkelt wie Mamas Festtagsohrringe.
Anni und ich hüpften über die krümeligen Maulwurfhügel zur Gewächshaustür. Den Schlüssel hatte Herr Bovist für uns unter einem herzförmigen, mit einem Moosteppich bewachsenen Stein direkt an der Glastür versteckt.
»Potz Blitz!«, rief Anni. Und verschluckte sich an einem Kirschkern.
Und da sah ich sie auch: Drei Blumen standen prachtvoll auf ihren Hügeln.
»Wie wunder-, wunderschön ihr seid!« Ich kniete mich vor das Beet.
Die mittlere Blume hatte ihre Knospe gerade geöffnet. Mehrere orangefarbene Blütenblätter schauten heraus.
»Das ist die Flugblume!«, rief Anni.
»Neee«, sagte ich. »Die Flugblume hatte viele kleine orangefarbene Blüten. Und die Blüten sahen aus wie Schneeglöckchen. Diese Blume hier hat nur eine große Blüte.«
»Pah!«, machte Anni. »Eine Blüte oder fünf Blüten ist doch völlig egal. Sie ist orange wie die Flugblume, und ich will unbedingt wieder fliegen.«
Ehrlich, ich versuchte wirklich, Anni vom Riechen abzuhalten. Aber sie tauchte so blitzschnell ihre Nase in die orangefarbenen Blättchen, dass ich nicht einmal mehr Stopp rufen konnte.
Anni breitete die Arme aus und stieß sich vom Boden ab. Aber sie flog kein bisschen. Stattdessen hüpfte sie wie ein Flummi durch das Gewächshaus. Hoch und runter, hoch und runter. Ihre Haare wehten, die Kirschen rutschten von den Ohren, und ihr Kleid bauschte sich bei jedem Hopser auf wie ein Fallschirm. Ich konnte beim Landen ihre Unterhose sehen. Und – schwupps – kam der nächste Sprung.
»Oaaah!«, machte Anni und versuchte, mit den Armen die Balance zu halten. Ganz klar, sie konnte nicht mit dem Hopsen aufhören.
Ich rappelte mich auf und flitzte hinter ihr her. Aber ich bekam ihr Kleid nicht zu fassen.
Boing, boing, boing! Anni plättete mit jedem Hopser einen der vielen Maulwurfshügel im Gewächshaus.
»Stopp!«, brüllte ich.
»Geht nicht!«, brüllte Anni.
Der nächste Sprung machte eines der drei Pflänzchen platt, die ich vor zwei Tagen mit Herrn Bovist gepflanzt hatte.
Jetzt konnte ich überhaupt nichts mehr sagen. Stumm zog ich die Reste aus dem platten Hügel. Die Blüte war total zermatscht.
Boing, boing, boing, hüpfte Anni vorbei.
»Ich glaube, ich bin ein Känguru!«, rief sie.
In meinem Bauch tobte ein wütender Bär.
Annis Kopf war rot wie ihr Kleid. Die Haare um das Gesicht klebten an der verschwitzten Stirn. Und sie keuchte wie Bärbels Hund, kurz bevor er gestorben ist.
»Mann, ist das anstrengend! Kannst du mich vielleicht mal festhalten? Bitte!«, rief sie.
Mein wütender Bär packte sie am Bein. Es fühlte sich an, als ob Anni an einem gespannten Gummiseil an der Gewächshausdecke hing. Und wenn ich sie losließe, würde Anni mit Karacho gegen die Glasdecke wummern.
»Tja, äh«, sagte Anni außer Atem. »Es ist tatsächlich keine Flugblume. Wer hätte das gedacht!«
Ich hätte sie gerne ganz, ganz böse angeguckt. Aber das ging nicht, weil ich an ihrem Bein hing und mein Kopf unter ihrem roten Kleid steckte.
»Was ist das für eine Zauberblume, die ich da totgehüpft habe?«, rief Anni zu mir runter.
»Woher soll ich das wissen?«, rief ich unter dem Kleid hervor. »Herr Bovist wollte mir nichts verraten!«
Anni sagte: »Siehst du, jetzt kennen wir wenigstens die eine Zauberblume. Die mit dem Känguru!«
Wouuu!, machte es hinter uns.
Vor Schreck stieß Anni sich mit aller Kraft vom Boden ab. Und ich ließ ihre Beine los. Sofort setzte die Hüpferung wieder ein. Boing, boing, boing hüpfte sie durch das Gewächshaus.
»Rupert!«, rief ich glücklich.
Der graue Riesenhund kam zu mir und setzte sich. Ich umarmte meinen Lieblingshund. Und kraulte seinen langen Kinnbart. Das mag er am allerliebsten.
Zusammen schauten wir Anni zu. Kreuz und quer hüpfte sie durch das Gewächshaus. Die meisten Maulwurfshügel waren schon platt. Wenn sie in unsere Nähe kam, gab ich ihr einen Schubs. Damit sie nicht auch noch die restlichen Zauberblumen zerquetschte.
Aber dann hatte ich die Nase voll.
»Hüpf mal nach draußen!«, rief ich.
Wir hatten nicht ewig Zeit. Wir mussten Herrn Bovist retten. Und Rupert füttern.
Anni hüpfte zur Tür.
»Die Tür ist zu klein!«, rief sie.
Also hängte ich mich wieder an ihre Beine.
Und Rupert schleckte den Kirschsaft von Annis Kleid.
»Iiihhh!«, rief Anni. »Du oller Wurstschädel!«
Bei dem Gezappel konnte ich sie nicht mehr halten. Ein Monsterhüpfer schleuderte Anni aus dem Gewächshaus. Als feuerrotes Känguru hopste sie über die Wiese davon.
»Das hast du gaaanz fein gemacht«, sagte ich zu Rupert und tätschelte seinen Kopf. »Und jetzt gibt es Fressen.«
Rupert grunzte zufrieden. Aber zuerst schauten wir uns noch einmal die beiden Zauberblumen an. Die orangefarbene wippte freundlich mit dem Kopf.
Die Blüte der anderen Pflanze war hubbabubbarosa. Und hatte winzig kleine Blütenblättchen. So hübsch war die.
»Aber riech ja nicht an der Blüte, Rupert!«, warnte ich meinen Freund.
Anni war verschwunden.
»Such, Rupert! Wo ist Anni!«, sagte ich deshalb zu Rupert.
Aber Rupert hatte keine Lust. Klar, wenn ich Hunger habe, finde ich auch nichts lustig.
»Aaanni!«, rief ich.
Keine Antwort. Jetzt musste ich mich aber erst einmal um Rupert kümmern. Anni würde uns schon finden. Wir liefen durch das Tannenwäldchen und überquerten die Blumenwiese, auf der das kleine Hexenhäuschen von Rupert und Herrn Bovist steht.
Herr Bovist hatte die Hintertür extra für Rupert offen stehen lassen. So konnte er rein und raus, wie er wollte.
»Und sein Geschäft erledigen«, hatte Herr Bovist gesagt.
In der Küche fand ich die Dose mit dem Hundefutter sofort. Herr Bovist hatte sie auf den kleinen Küchentisch gestellt. Und er hatte einen grünen Zettel an die Dose geklebt. Darauf stand: Rupert = 1 Becher.
Rupert winselte und stupste mich an.
»Ich beeile mich ja!«, sagte ich.
Viel mehr konnte ich nicht sagen. Ein übler Geruch wehte mir aus der Dose entgegen. Und es ist nicht einfach, zu sprechen und gleichzeitig durch den Mund zu atmen. Wenn man nur durch den Mund atmet, riecht man nicht so viel Gestank. Den Trick habe ich von Emil. An unserem Gruppentisch sitzt nämlich außer Emil, Anni und mir noch ein Junge. Der Niklas. Und der muss immer ganz viel pupsen. Weil er zu Hause so viele Körner essen muss, sagt er. Da kommen manchmal so fiese Stinkewellen zu uns geweht, dass Frau Wonnemeier ganz schnell alle Fenster aufreißen muss. Auch im Winter. Aber gut.
Ich kippte einen Becher Stinkereien in Ruperts roten Napf. Rupert schlürfte und schmatzte. Da konnte ich nur staunen. Aber wenn man nur einmal am Tag Essen bekommt, stört einen das vielleicht gar nicht.
»Tilda!«, kam es da von draußen.
Am Küchenfenster erschien Annis roter Kopf. Boing, boing, boing!
Ich setzte mich auf die Stufe vor der Hintertür und schaute Anni beim Hüpfen zu.
»So viel Sport am Stück habe ich noch nie gemacht«, rief sie japsend und wischte sich mit ihrem Kleid übers Gesicht.
»Anni«, sagte ich. »Als Känguru bist du gerade keine große Hilfe.«
»Weißt du was?«, rief Anni keuchend. »Das Känguru sieht gerade eine wunderhübsche Dose. Direkt über dir in der Regenrinne.«
Ich sprang auf. Und versuchte, an die Regenrinne zu kommen. Aber da war nichts zu machen.
»Bahn frei!«, rief Anni.
Boing, boing, boing