Love with Pride

Lea Kaib

Love with Pride

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Lea Kaib

Lea Kaib ist 1990 geboren und wohnt in Leverkusen. Die studierte Germanistin empfiehlt als »Liberiarium« unzählige Bücher, Filme und Serien auf ihren Social-Media-Kanälen, insbesondere Jugendbücher, New Adult und Fantasy. Freiberuflich arbeitet sie als Journalistin. Lea wünscht sich, dass es mehr Werke wie »Not that kind of girl« von Lena Dunham gäbe.

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

© Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag, Hedderichstraße 114, D-60596 Frankfurt am Main, September 2021

 

Covergestaltung: Alexander Kopainski

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-7336-0466-0

Dieses Buch enthält an einigen Stellen potenziell triggernde Inhalte. Eine Liste der potenziellen Trigger findet ihr am Ende des Buches.

Danach

Ich liebte einfach alles an ihr. Ihr seidiges langes Haar. Wie sie mich aus ihren hellblauen Augen ansah, während ihre zarten Finger über meinen Körper tanzten. Diese kleinen Grübchen, wenn sie zu einem Lachen ansetzte. Wie sie jeden Morgen ihren Kaffee trank: mit einem Schluck Hafermilch und zwei Löffeln Zucker. Süß und bitter zugleich.

Sie war perfekt. Perfekt für mich. Für uns.

Wie ein Wirbelwind war sie in mein Leben gekommen, hat mich aufgewühlt und alles und jeden Kopf stehen lassen. Sie hatte so viel verändert. Ohne sie wäre ich noch immer das stille Mädchen mit den mausbraunen Wellen im Haar, das nicht in der Lage war, ihre Stimme zu erheben. Das sich nicht traute, endlich die Worte auszusprechen, die ihr so unerbittlich auf der Zunge lagen. Dabei waren es nur Worte. Buchstaben, die aneinandergereiht einen Sinn ergaben. Und dieser Sinn bedeutete mehr als die Welt für mich.

Mit ihr fühlte ich mich sicher. Ich wusste, was Glück bedeutete. Jeder Tag war voller Sonnenschein, wolkenlos und warm.

 

Plötzlich war alles anders.

Davor

Nach und nach faltete ich einfarbige Shirts und legte sie in meine geräumige Umhängetasche. Es wanderten Jeans, Unterwäsche, Socken und auch ein schwarzes Kleid hinein. Bereits morgen um diese Zeit wäre ich nicht mehr hier in meinem Zimmer, sondern in dem kleinen Städtchen Haydensburgh an der Universität. Nur eine Autostunde von meinem Zuhause entfernt.

Es tat weh, meine gewohnte Umgebung zu verlassen, doch ich hatte es nicht anders gewollt. Ich packte ein paar Bücher in die Tasche und Kleinigkeiten, die mich an mein altes Leben erinnerten, wie meinen braunen Becher aus Kunstleder, in dem meine bunten Würfel umherklapperten. Ich ging zum Fenstersims und stellte meine Pilea, die ich Herbert getauft hatte, neben meine Reisetasche. Hoffentlich würde sie die Autofahrt morgen unbeschadet überstehen.

In diesem Augenblick drang ein Miauen an mein Ohr, und ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen.

»Hallo Mrs Smitty«, begrüßte ich unsere Katze, beugte mich hinab und streichelte ihr durch das fleckige weiße und schwarze Fell. Wie zur Erwiderung schmiegte sie sich an mich. Es würde mir schwerfallen, sie hier zurückzulassen. Ich kannte sie schon mein ganzes Leben lang. Achtzehn Jahre. Mrs Smitty war wirklich wahnsinnig alt, ihr war sogar schon ein Zahn abgebrochen. Sie kam allein kaum noch auf die Couch im Wohnzimmer. Am liebsten hätte ich sie einfach eingepackt und mitgenommen, doch in den Wohnheimen waren keine Haustiere erlaubt.

»Stella, kommst du zum Essen runter?«

Die glockenhelle Stimme meiner Mutter holte mich aus meinen Gedanken.

»Ich komme gleich«, rief ich durch den offenen Spalt meiner Tür nach unten.

Ich seufzte. Die Bücherfrage musste ich wohl vertagen. Stattdessen hob ich Mrs Smitty auf meine Arme, verließ mein Zimmer und ging die Treppen hinunter. Der wunderbare Duft des Abendessens stieg mir bereits in die Nase, und ich hörte, wie mein Bauch ein Knurren von sich gab. Ich ließ die Katze am Fußende der Treppe hinunter, und sie tapste mit langsamen Schritten ins Wohnzimmer.

Dass ich ein eigenes Zimmer nur für mich hatte, war ein Privileg, das ich sehr schätzte. Ich musste es mit keinen Geschwistern teilen. Manchmal war es ein Segen, Einzelkind zu sein. An der Universität würde ich mir mit jemandem das Zimmer teilen müssen, und ich war schon gespannt auf meine neue Mitbewohnerin. Ob sie wohl nett war? Würde ich mich gut mit ihr verstehen?

»Kannst du noch kurz den Salat mit rübernehmen?«, fragte mich meine Mutter.

»Klar doch.«

Wir tischten gemeinsam auf, und in diesem Moment kam auch mein Vater zur Haustür rein.

»Hey, Dad!«

Ich hörte, wie er seine Arbeitstasche auf dem Boden abstellte und sich die Schuhe auszog.

»Du kommst genau rechtzeitig, ich habe gerade gekocht. Es gibt Nudeln und Salat.« Es war nicht üblich, dass meine Mutter für das Abendessen zuständig war. Meist kochte mein Vater, wenn er nicht so spät von der Arbeit kam. Manchmal auch ich, obwohl ich kein großes Talent hatte. Sie würden sich daran gewöhnen müssen, dass ich demnächst nicht mehr in der Küche stand.

Mein Vater wusch sich die Hände, ehe er zu uns stieß. Wir nahmen alle am Tisch Platz und schenkten uns gegenseitig Getränke ein.

»Und, bist du schon aufgeregt wegen morgen?«

Ich nahm einen großen Schluck Wasser, ehe ich ihm antwortete. »Ziemlich, wenn ich ganz ehrlich bin.« Dass ich mir vor lauter Nervosität die Fingernägel runtergekaut hatte, erzählte ich ihm lieber nicht.

»Das wird schon werden, mach dir da keine Sorgen«, warf meine Mutter ein und reichte mir den Topf dampfender Nudeln. »Du wirst bestimmt viel Spaß an der Uni haben.«

Das sagte sie so leicht. Aber meine Mutter hatte auch keine Ängste. Nicht so wie ich.

Ich nahm mir eine Portion und gab den Topf weiter an meinen Vater. Dann bediente ich mich an dem Salat.

Wir aßen immer zusammen, wenn es möglich war. Ich hatte eine gute Beziehung zu meinen Eltern, und beim Abendessen konnten wir uns erzählen, was wir tagsüber erlebt hatten. Manchmal spielten wir danach noch gemeinsam Karten oder sahen einen Film an. Am

»Hast du schon alles beisammen?«, meldete sich mein Vater mit dem passenden Stichwort.

»Nein, ich muss noch schauen, welche Bücher ich einpacken will.«

»Oh, also die ganz wichtigen Entscheidungen.« Er liebte es, mich ab und an zu necken. »Dabei will ich dich natürlich nicht stören.«

Meine Mutter erzählte von einem nervigen Kunden auf der Arbeit. Sie war Physiotherapeutin und konnte ihren Job einfach nicht im Büro lassen. Ständig ermahnte sie mich, gerade zu sitzen. Dad ging auf das neue Stichwort ein, auch er hatte heute im Büro des Autohauses nur mit seltsamen Kund*innen zu tun gehabt.

»Manchmal willst du den Tag einfach in die Tonne werfen«, schüttelte er den Kopf. Es tat gut zu wissen, dass auch meine Eltern schlechte Tage hatten. Dass es nicht nur mir so ging.

»Dafür schauen wir heute Abend diesen neuen Krimi, den du unbedingt sehen wolltest.« Meine Mutter strahlte über beide Wangen und schien sich schon auf den Filmabend zu freuen.

 

Als wir aufgegessen hatten, half ich meinen Eltern beim Abräumen und schrubbte zwei Pfannen. Anschließend ging ich wieder in mein Zimmer und kümmerte mich um das leidige Thema des Taschepackens.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich für die Bücher entschieden hatte, die mitkommen durften. Danach sortierte ich Schuhe aus. Es war schon leichte Herbststimmung, Anfang September, und es würde nicht mehr lange dauern, bis die Temperaturen sanken.

Als ich das nächste Mal auf mein Handydisplay sah, war es bereits zehn Uhr. Heute wollte ich nicht so spät ins Bett gehen, damit ich morgen fit wäre. Mir stand ein aufregender Tag mit vielen neuen Eindrücken bevor, und es würde wahrscheinlich ziemlich anstrengend werden.

Mit einem Ruck schloss ich die schwere Reisetasche und rieb mir danach zufrieden die Hände. Endlich war das erledigt.

Ich ging rüber ins Badezimmer, putzte mir die Zähne und wusch das Gesicht, ehe ich meinen Kulturbeutel für die Abreise vorbereitete. Die kleine durchsichtige Tasche mit Shampooflaschen und Toilettenartikeln würde ich erst morgen kurz vor der Abfahrt einpacken, da ich sie am Morgen noch mal benötigte.

Die Treppen knarzten, als ich sie hinunterstieg. Für eine halbe Stunde wollte ich mich noch zu meinen Eltern auf die gemütliche graue Couch setzen. Sie schauten noch immer den Krimi, von dem meine Mutter beim Abendessen berichtet hatte. Mrs Smitty hatte sich zu ihnen auf das Sofa gesellt und schlief. Sofort breitete mein Dad die Arme aus, und ich ließ mich neben ihn auf die Couch sinken. Er drückte mich fest an sich.

»Was werde ich dich vermissen, wenn du morgen schon nicht mehr bei uns bist, Spätzchen.« Ich rollte mit den Augen. Ich mochte es nicht, wenn mein Vater mir peinliche Spitznamen gab. Ich fühlte mich dann immer wie ein kleines Kind.

»Ich bin doch nicht aus der Welt«, gab ich zurück und wand mich aus seiner Umarmung.

»Du weißt, dass du jederzeit mit dem Bus zu uns fahren kannst, wenn du das möchtest, oder?«, schaltete sich meine Mutter ein.

»Hast du alles fertig gepackt?«, wollte mein Dad von mir wissen, und ich nickte.

»Super!«

Gemeinsam sahen wir uns den Krimi noch zu Ende an, auch wenn ich keine Ahnung hatte, worum es in dem Film ging. Am Ende wurde der Mörder gestellt und von der Polizei abgeführt, so viel bekam ich gerade noch mit.

Ich wünschte meinen Eltern eine gute Nacht und ging hinauf in mein Zimmer. Das würde endgültig die letzte Nacht zu Hause sein. In meinem alten Leben. Hoffentlich würde ich gut schlafen und nicht vor lauter Magenschmerzen und was-wäre-wenns wach liegen.

In meinem Zimmer schlüpfte ich in ein großes labbriges Shirt mit einem Einhornmotiv und eine hellblaue Schlafhose, ehe ich mich unter die Bettdecke legte. Auf meinem Nachttisch leuchtete ein kleines Licht, so dass ich noch ein oder zwei Kapitel in meinem Buch lesen konnte. Ich versank sofort zwischen den Seiten, und meine Ängste schienen plötzlich meilenweit entfernt. Es tat so gut, in eine andere Welt abzutauchen. Deswegen las ich auch am liebsten Fantasybücher oder Geschichten mit magischem Realismus. In meinem

Ich schulterte den Riemen meiner schweren Umhängetasche, als ich aus dem grünen Kleinwagen meiner Eltern stieg. In der Hand hielt ich meine Pilea, die die Autofahrt zum Glück gut überstanden hatte. Tief sog ich die frische Luft ein und freute mich über den Wetterumschwung, nachdem es drei Tage lang hintereinander geregnet hatte. Es war ein warmer Spätsommernachmittag, ideal, um den Anfang meines neuen Lebens zu feiern.

»Pass auf dich auf, Schatz«, rief meine Mutter mir vom Beifahrersitz aus zu, ehe ich die Autotür hinter mir schloss.

»Klar, immer doch.« Ich schenkte ihr ein aufgeregtes Lächeln.

»Vergiss nicht, nachher anzurufen.«

»Versprochen«, rief ich ihnen hinterher, als meine Eltern mit den Armen aus dem Fenster wedelnd davonfuhren.

»Wir haben dich lieb, Stella«, ertönte es noch einmal aus dem alten VW, bevor er um eine Ecke bog und mich alleine zurückließ. Dabei war ich nicht wirklich alleine. Hunderte Studierende gingen vor dem Hauptgebäude ihrer Wege. Sie suchten ihre neuen Zimmer, spazierten über das Gelände und konnten es kaum erwarten, dass das neue Semester endlich begann.

»Ich hab euch auch lieb.« Meine Stimme war nur ein leises Flüstern. Ich würde die beiden wirklich vermissen.

Seufzend wandte ich mich von der Straße ab und drehte mich um. Vor mir ragte das Hauptgebäude mit seinen Backsteinmauern und den wehenden Haydensburgh-Fahnen auf. Ein schwarzes Logo

Haydensburgh war ein kleines Städtchen in der Nähe von Charleston mit einer noch kleineren Universität, doch genau diese Intimität gefiel mir daran. Ich hatte mich überall im Bundesstaat South Carolina beworben. Charleston, University of South Carolina, Clemson – und dennoch hatte mich nichts mehr gefreut als die Zusage aus Haydensburgh. Ich konnte immer, wann ich wollte, nach Hause fahren, und dennoch fühlte es sich wie ein Neuanfang an, den ich so dringend brauchte.

Mit eiligen Schritten ging ich auf das Hauptgebäude zu, vor dem zahlreiche Infotische für uns Frischlinge standen. Stimmen erklangen aus allen Richtungen, warben für ihre Clubs und AGs. Aus der hinteren Jeanstasche zog ich mein Smartphone und rief die Karte des Universitätsgeländes auf. Mal sehen, wo ich meinen Wohnblock finden würde. Zum Glück war der Campus nicht riesig, so dass ich keine Schwierigkeiten hatte, mich durch die Massen an Studierenden und die Gebäude zu navigieren.

Alles sah genauso aus, wie im Internet beschrieben. Neben dem imposanten Hauptgebäude führten gepflasterte Wege zu den einzelnen Fakultäten, hinter denen die Wohnräume lagen. Egal, wo man hinwollte: In wenigen Minuten war man da.

Am Infoschalter der Wohnheime holte ich mir den Schlüssel für mein neues Zuhause ab. Zimmer 613. Vorsichtig klopfte ich an. Vielleicht war meine Mitbewohnerin schon eingezogen? Als ich kein Zeichen von innen vernahm, steckte ich den Schlüssel ins Schloss und trat ein.

Auf beiden Seiten des Zimmers stand je ein Einzelbett. Die Ausstattung war völlig identisch. Es gab je einen Schreibtisch und einen

Ich schloss hinter mir die Tür und suchte mir die linke Seite des Zimmers aus. Wenn ich schon vor meiner Mitbewohnerin hier war, musste ich diesen kleinen Vorteil nutzen.

Meine Reisetasche stellte ich auf dem Boden ab, Herbert, die Pilea, wanderte direkt auf den Nachttisch, dann ließ ich mich auf das Bett fallen. Die Matratze war weich, und ich wollte lieber nicht darüber nachdenken, wie viele Studierende vor mir die Nächte darauf verbracht hatten.

Erst morgen, Montag, würde mein Studium offiziell beginnen. Ich hatte also einen ganzen Tag, an dem ich die Universität auskundschaften und meine Mitbewohnerin kennenlernen konnte. Vielleicht würde ich sogar heute Abend zu der Erstiparty gehen, die auf dem Campus stattfand.

Ein Klopfen unterbrach meine Überlegungen.

»Ja? Herein«, sagte ich zögernd und beobachtete, wie sich die Tür langsam öffnete.

»Hi.« Aus braunen Augen sah mich eine Frau mit langen schwarzen Haaren an, von der ich sofort wusste, dass sie zehnmal cooler war als ich. Sie war ungefähr in meinem Alter, hatte schwarz lackierte Fingernägel und trug ein Bandshirt, das sie in abgetragene High-Waist-Shorts gesteckt hatte. Ihre Füße waren in dicke dunkle Stiefel verpackt, in denen sie bei dem Wetter doch bestimmt schwitzen musste. Aber das war zum Glück nicht mein Problem.

»Ich bin doch richtig in Zimmer 613, oder?«

Bekräftigend nickte ich und stand vom Bett auf.

»Vermutlich.« Ich machte einen Schritt auf sie zu und streckte ihr meine Hand entgegen, die sie nahm und schüttelte.

»Ich bin Stella«, stellte ich mich mit einem Lächeln vor.

»Du kannst mich Sue nennen.« Sie hatte ein ansteckendes Lächeln. Ich ließ ihre Hand los und wies hinter mich auf das Bett.

»Ich habe mir schon mal die linke Seite ausgesucht. Ist das okay für dich?«

Eifrig nickte Sue und stellte den Rollkoffer und ihren Rucksack, den sie über den Schultern getragen hatte, neben ihrem Bettgestell ab.

»Mir ist es egal, auf welcher Seite ich schlafe«, erwiderte sie, und ich hoffte, sie meinte das ernst.

»Dann ist ja gut.«

Sue begann sofort damit, ihren Koffer auszupacken, was ich zum Anlass nahm, mich selbst um mein Gepäck zu kümmern. Schweigend öffnete ich die Tasche, nahm den Stapel an Kleidung, der ganz oben lag, heraus und legte ihn auf die Matratze.

»Welche Kurse hast du belegt?«

Sues helle Stimme riss mich aus meinen Gedanken, während ich den Kleiderschrank auf meiner Zimmerseite einräumte.

»Vor allem amerikanische Literatur«, antwortete ich und konnte gar nicht anders, als breit zu grinsen. Ich freute mich schon sehr darauf, mit den anderen in den Seminaren und Vorlesungen zu sitzen und über ein Thema zu diskutieren, das mir am Herzen lag.

»Und du?«, hakte ich nach und hängte dabei ein schwarzes Kleid an den Schrank, das ich morgen zum Semesterbeginn anziehen wollte. Es war schlicht, aber gab mir den Mut, den ich für meinen ersten richtigen Unitag brauchen würde.

Eine Weile sortierten wir unsere Sachen in die Stille hinein, ehe ich die Hälfte meiner Tasche ausgepackt hatte.

»Hast du auch von der Party heute Abend gehört?«, wollte ich von ihr wissen, um das Eis zu brechen. Ich war fast ein bisschen stolz auf mich, dass ich mich zu diesem Schritt bewegen konnte. Vielleicht würde es mit diesem Neuanfang doch schneller klappen, als ich gedacht hatte.

»Klar, wollen wir vielleicht zusammen hingehen?«

Wow, ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich so schnell jemanden fand, der mit mir zusammen auf einer Party aufschlagen wollte. Dabei wusste ich ja noch nicht einmal, ob ich sie überhaupt besuchen sollte. Bisher hatte ich nur theoretisch darüber nachgedacht, jetzt schien plötzlich alles in Stein gemeißelt. Ich gab mir einen Ruck. Immerhin wollte ich das hier. Eine neue Stella!

»Wieso nicht.« Ich gab mir Mühe, meine Stimme betont locker klingen zu lassen, auch wenn ich innerlich ganz aufgeregt war.

»Dann haben wir ein Date heute Abend.«

Wir beschäftigten uns weiter mit unserem Gepäck, doch es dauerte nicht lange, bis ich alles eingeräumt hatte. Ich war ein genügsamer Mensch und kam mit wenig Schnickschnack aus. Meine Kleidung reichte für die nächsten Wochen, und ich konnte jederzeit in den Keller des Wohnheims waschen gehen, wenn es dringend war. Lediglich bei meiner Bücherauswahl sah es etwas anders aus. Meine Tasche war deshalb schwerer geworden als geplant. Ich hatte meine beiden Lieblingsbücher, Die unendliche Geschichte sowie den zweiten

Auf meinem Nachtschrank stellte ich ein gerahmtes Bild, das mich zusammen mit meinen Eltern im vergangenen Urlaub am Strand zeigte. Die Sonne spiegelte sich wunderschön im Meer, und ich dachte gern an diese gemeinsame Zeit zurück. Daneben kam ein Würfelbecher. Zuletzt hängte ich eine Lichterkette an die Wand neben meinem Bett, die alles etwas gemütlicher machte und mich an zu Hause erinnerte.

»Sag mal, schnarchst du eigentlich oder so?« Sues Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

»Ich schlafwandle, knirsche mit den Zähnen und jaule nachts den Mond an.«

Einen Augenblick lang sah sie mich regungslos an. Ich versuchte, keine Miene zu verziehen, doch dann lachten wir beide schallend los.

»Nein, keine Sorge«, versicherte ich ihr. »Ich rede nicht im Schlaf, und dass ich schnarchen würde, wäre mir auch neu.«

»Da bin ich echt froh.«

Ich bemerkte, dass auch Sue etwas an die Wand über ihrem Bett gehängt hatte. Es war eine Kette, die aus vielen kleinen Polaroids bestand.

»Sind das deine Freund*innen?«

»Ja, aus der Heimat. So habe ich sie immer bei mir.«

»Wie schön.« Ich dagegen hatte nur das Bild mit meinen Eltern mitgenommen. Aber ich hatte auch nicht wirklich viele Fotos mit Freund*innen.

Ich klappte meinen Laptop, der mit bunten Stickern beklebt war, zu und bemerkte, dass auch meine Mitbewohnerin mittlerweile ihre Klamotten fertig eingeräumt hatte.

»Hast du Lust, mit mir zusammen die Mensa zu suchen? Mein Magen knurrt schon«, fragte ich. Und als hätte mein Bauch zugehört, gab er ein leises Grummeln von sich. Seit dem Frühstück hatte ich nichts mehr gegessen. Dazwischen lagen gut fünf Stunden.

 

»Also, die Mensa müsste beim Hauptgebäude sein«, murmelte ich vor mich hin, während ich mein Smartphone gezückt hatte, um auf dem digitalen Geländeplan nachzusehen.

»Ich meine mich zu erinnern, dass ich daran vorbeigegangen bin, als ich ankam«, grübelte Sue.

Wir schlängelten uns durch die Flure und Menschenmassen, die uns entgegenkamen, und mit Hilfe des Lageplans fanden wir schließlich, wonach wir suchten.

»Das ging schneller als erwartet«, freute ich mich über diesen kleinen Sieg.

Jedoch wurde unser Triumph sofort von einer kleinen Welle der Enttäuschung erfasst. Um überhaupt etwas in der Mensa bestellen zu können, brauchten wir unsere Universalkarte, und die bekamen wir erst am Infoschalter. Sue und ich legten einen Gang zu, holten im Hauptgebäude bei einer netten Frau am Servicepoint die Karten ab, die uns Zugang zur Mensa verschafften, und luden sie an einem Automaten mit je einem Zwanzig-Dollar-Schein auf.

»Dann auf ins Getümmel.«

Die Mensa war völlig überfüllt. Wir hatten uns die wohl schlechteste Zeit zum Essen ausgesucht, aber es nützte nichts, da mussten wir jetzt durch. Mit einem Tablett in der Hand passierten wir die einzelnen Essensstationen. Es gab Suppe, Pizza, das Tagesmenü und eine Nudeltheke. Sue wurde schnell bei der Pizza fündig, während ich ziellos die einzelnen Stationen musterte.

»Nichts für dich dabei?«, fragte meine Mitbewohnerin irritiert.

»Ich ernähre mich eigentlich vegan. Ich hatte gehofft, die haben

»Hast du geguckt, ob die Suppe vegan ist?«, schlug mir Sue vor, und gemeinsam gingen wir zum Suppenstand. Es gab eine Gemüsebrühe, die halbwegs in Ordnung aussah. Immerhin gab es keine Fleischeinlage, und man hatte auch auf Ei verzichtet. Es war kein Festschmaus, aber es würde reichen, um meinen Hunger zu stillen. Ich könnte sonst auch Nudeln ohne Sauce oder puren Reis essen, aber da war die Suppe die bessere Alternative.

Seufzend nahm ich einen der heißen Suppentöpfe entgegen, und wir bezahlten mit unserer Universalkarte am Check-out, ehe wir uns einen Platz suchten. Sue und ich saßen schließlich mit ein paar Fremden an einem Tisch. Ebenfalls etwas, an das ich mich erst gewöhnen musste, doch die Unbekannten waren so in ihre Konversation vertieft, dass sie uns kaum beachteten.

»Freust du dich schon auf die Kurse?« Ich war ein bisschen froh, dass mich Sue mit Fragen löcherte, denn so musste ich nicht selbst das Gespräch suchen.

»Ja, schon. Ich bin vor allem gespannt, wie die Professor*innen so sind und ob das Studium meinen Erwartungen entspricht.«

»Ich freue mich vor allem auf die Partys«, grinste Sue, und mir rutschte das Herz in die Hose. Ich hielt inne und wagte es kaum, den Löffel erneut in die Suppe zu tunken. Mit einem Mal stellte ich mir vor, wie sie jeden dritten Abend betrunken nachts in unser Zimmer kam und ich von den Geräuschen geweckt wurde. Sie musste mir meine Bedenken direkt angesehen haben, denn sofort ruderte sie zurück.

Ich hatte schon davon gehört, dass es sogar an unserer kleinen Universität einige Verbindungen gab, aber ich hatte mich mit dem Thema nie weiter beschäftigt.

»Du hast also Connections?«, hakte ich nach.

»Nein, so war das nicht gemeint. Bisher kenne ich auch noch niemanden. Aber das wird sich heute Abend ändern.« Sie ließ ihre Augenbrauen wie zwei Raupen tanzen, und wir mussten beide lachen.

Sue wirkte wirklich sehr aufgeschlossen. Sie schien unkompliziert zu sein. Wie jemand, mit dem man sich schnell anfreunden konnte. Ich hoffte, dass wir auch das ganze Semester über gut miteinander klarkämen. Bisher stand unsere mögliche Freundschaft unter einem guten Stern. Aber wer wusste schon, ob sie mich noch mögen würde, wenn sie mich näher kennenlernte. Wenn sie wusste, wer ich war. Welche Person sich hinter den blauen Augen und der spitzen Nase verbarg.

Okay, vielleicht hatte ich mir mit der Party doch zu viel vorgenommen. Völlig ratlos stand ich vor meinem Kleiderschrank und überlegte, was ich anziehen sollte. Sue hatte sich nicht extra umgezogen, aber sie hatte auch eine natürliche Lässigkeit an sich, mit der ich nicht mithalten konnte.

»Wie wäre es mit dem roten Holzfällerhemd da hinten? Das sieht cool aus«, schlug sie mir vor und fläzte sich auf ihre Matratze. Das war bereits ihre dritte Idee zu meiner Kleiderwahl. Sie war insgeheim bestimmt schon genervt von meiner Unentschlossenheit, auch wenn sie es mir nicht zeigte.

»Ne, das ist doch irgendwie zu langweilig«, murrte ich und suchte weiter in den Tiefen meines Kleiderschranks. Ich wusste ja nicht einmal, ob ich lieber ein Shirt oder ein Top tragen wollte. Das Dilemma hatte einen Namen: Stella Northam.

»Lass mal sehen.« Sue sprang vom Bett und stellte sich neben mich.

»Das Top da sieht gut aus.« Sie zog ein schwarzes Oberteil hervor und legte es mir in die Hände. Es war schulterfrei, also eigentlich ideal für die Temperaturen da draußen. Es war das erste Mal, dass ich nicht sofort verneinte.

»Und dann nimm einfach irgendwelche Shorts. Es ist verdammt nochmal so heiß, dass es mich nicht wundern würde, wenn da draußen zwei Hobbits mit einem Ring unterwegs wären!«

Sue hatte leicht reden, sie sah in ihrem Outfit phantastisch aus.

»Oh, sorry«, murmelte sie beiläufig, und ich wechselte hinter ihrem Rücken das Oberteil. Das schwarze Top lag eng an, so dass es sich wenigstens ein bisschen nach Party anfühlte. Wie sie mir empfohlen hatte, wählte ich simple Shorts aus, aber ich kam mir in dem knappen Outfit so nackt vor, dass ich zurück in meine Jeans schlüpfte.

Das musste schon irgendwie reichen, selbst wenn ich nicht zufriedengestellt war.

»Okay, bin fertig.«

Sue drehte sich zu mir um und hielt sich zum Glück darüber bedeckt, dass ich die Shorts doch nicht tragen wollte.

»Dann lass uns losziehen.«

»Warte, ich wollte noch ein Namensschild an der Türe anbringen«, fiel mir plötzlich ein. Ich wollte es irgendwie offiziell machen, dass wir hier wohnten. Ich schnappte mir einen Collegeblock und einen Stift, nur um festzustellen, dass ich gar nicht wusste, wie Sue mit Nachnamen hieß.

»Sue Rodriguez«, lächelte sie mich an.

Schnell schrieb ich unsere vollen Namen auf den Block, ehe ich mir eine Schere griff und den Zettel ausschnitt.

Wir schnappten unsere Handtaschen, schlossen die Tür hinter uns ab, und ich klebte mit etwas Tesafilm den Zettel neben unsere Zimmernummer.

 

»Das ist zumindest das, was ich so gehört habe. Nicht, dass es mich sonderlich interessieren würde.« Sie schien tatsächlich nicht sonderlich begeistert zu sein. Natürlich war die Alpha Omega Psi eine rein männliche Verbindung – typisch konservativ eben. Die Leute standen in Gruppen vor dem Anwesen, das größer war als das Zuhause meiner Eltern.

Ein leises »Wow«, glitt über meine Lippen. Es sah aus wie in einem dieser Teenie-Filme. Die Menschen tranken aus roten Plastikbechern, es lief laute Musik, und irgendwer hatte sogar ein Planschbecken organisiert, in dem sich zwei Studierende mit Wasserpistolen abspritzten.

»Okay, wo fangen wir an?«

Ich bekam vor lauter Staunen gar nicht richtig mit, was Sue sagte. Mit ihrem Ellenbogen knuffte sie mich in die Seite, und ich kam wieder zur Besinnung.

»Sorry, ich war …«

»Ja, ja, schon klar.« Mit einem Grinsen packte mich meine Mitbewohnerin am Arm und zog mich ins Getümmel.

Wir entschlossen uns dazu, uns erst einmal etwas zu trinken zu besorgen, und gingen zu einem kleinen Stand, der einen Ausschank anbot. Für einen Dollar konnte man als kleine Spende an die Verbindung einen Plastikbecher bekommen und für niedrige Preise etwas zu trinken kaufen. Wenn man etwas Alkoholisches wollte, musste man seinen Ausweis vorzeigen. Da ich dafür nicht alt genug war und sowieso nur eine Cola trinken wollte, ließ ich mir einschenken und

»Hey, ich bin Sue, und das ist Stella«, stellte sie uns beide vor, und ich war völlig baff von diesem wahnsinnigen Selbstbewusstsein, das Sue an den Tag legte. Ich wäre niemals allein auf andere zugegangen – und dann auch noch auf Fremde.

Die anderen schienen weniger irritiert als ich und nannten ihre Namen. Chris, Shoshana und – schon bei der Dritten von ihnen wusste ich unmittelbar nach ihrer Vorstellung nicht mehr, wie sie hieß, und kam damit völlig aus dem Konzept, so dass ich die anderen beiden Namen verpasste. Verdammt!

Sue übernahm auch jetzt das Gespräch. Sie fragte nach ihren Studiengängen und stellte sogar fest, dass dieser Chris mit ihr gleich morgen gemeinsam einen Kurs besuchen würde. Er hatte genauso schwarzes Haar wie Sue, wenn auch sehr kurz geschoren. Seine Schultern waren breit, was man sogar über seinem blauen T-Shirt erkennen konnte. Ich wirkte wie eine ungewollte Randfigur, die nur beobachtete, anstatt etwas zu sagen. Was für einen Vorsatz hatte ich mir erst heute Mittag gemacht? Ich wollte dazugehören und nicht wieder den Kopf in den Sand stecken.

»Ich belege einige Seminare zur amerikanischen Literatur«, warf ich schließlich ein, nachdem ich all meinen Mut gesammelt hatte. Die junge Frau in einem roten Kleid mit einem hohen Afro Puff,

»Cool, bist du auch bei Professorin Simmons?«, hakte sie nach.

Ich glaubte, dass ich am Mittwoch einen Kurs bei ihr belegt hatte, doch hundertprozentig war ich mir nicht sicher.

»Ich meine schon. Ist sie nett?«

»Professorin Simmons ist die Beste«, warf Shoshana ein, was mich darauf schließen ließ, dass die beiden keine Erstsemester mehr waren.

»Sie hat wirklich geniale Ansätze.« Die Studentin im roten Kleid beugte sich zu mir rüber. »Du wirst sie lieben, das tun wir alle.«

Da konnte ich nur hoffen, dass diese Professorin Simmons tatsächlich so cool drauf war, wie die beiden hier versprachen.

Ich schenkte der Gruppe ein freundliches Lächeln, als plötzlich ein lautes Geräusch hinter mir ertönte und ich mich erschrocken umblickte. Jemand hatte sich mit einem Megaphon auf die Schultern eines muskulösen Riesen gehievt.

»Heyo, Studierende von Haydensburgh«, plärrte es schallend durch das Megaphon, das die Frau in den Händen hielt. Der Riese baute sich auf, so dass sie alle überragte.

»Willkommen bei Alpha Omega Psi!« Sie hatte auffällig blaues Haar. Hell wie das Wasser an einem karibischen Strand, wobei ihr dunkler Haaransatz herausguckte.

»Und an all die Frischlinge geht ein besonders herzliches Willkommen raus!« Auf einmal klatschten einige in die Hand, jubelten, und andere hoben ihre Becher in die Höhe.

»Bevor morgen das Semester offiziell beginnt, wollen wir heute noch mal so richtig die Sau rauslassen. Also bedient euch am Alkohol, wenn ihr volljährig seid – oder lasst euch nicht erwischen.«

»Also, jetzt haut mal so richtig rein!«

Die Blauhaarige stellte an ihrem Megaphon die Sirene an, die über den ganzen Hof erklang, und stimmte die Menge an, laut mitzugrölen. Ich beobachtete, wie sie von den Schultern kletterte und ihr jemand wütend das Megaphon aus der Hand nahm, ehe sie in der Menge verschwand.

»Und ein Applaus an Ellie, die mal wieder jegliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen muss«, seufzte die Frau vor mir im roten Kleid.

»Ellie?«

»Ja, die mit den blauen Haaren. Studiert Sozialwissenschaften im dritten Semester und kann es nicht lassen, überall das Maul aufzureißen. Selbst bei den Alphas, bei denen sie eigentlich nichts verloren hat.«

So wie sie die Unbekannte vorstellte, schwang ein bitterer Beigeschmack mit. Dabei schien mir diese Ellie eigentlich ganz nett zu sein. Mal davon abgesehen, dass ich nie im Leben auf die Schultern dieses Typen geklettert wäre, um eine Ansage auf einer Party zu machen.

Der Mann mit dem Megaphon hatte sich eingeschaltet. »Und jetzt auch ein Willkommen von uns, den wahren Alpha Omega Psis!« Einige Leute riefen mehrfach den Namen der Verbindung, und dann wurde die Musik aufgedreht.

»Wie auch immer«, schweifte Chris ab und begann, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken, doch ich hörte kaum zu. Ich konnte Ellie nicht mehr in der Menschenmenge ausmachen. Die meisten Gruppen hatten sich aufgelöst und waren zu einer tanzenden Masse

Die Musik wurde mit jeder Minute lauter, so dass man sich kaum noch unterhalten konnte.

»Ist das eigentlich erlaubt, dass die hier die Musik so aufdrehen?«, wollte ich von Sue wissen, die nur mit den Schultern zuckte.

»Das ist Alpha Omega Psi«, versicherte mir Chris. »Die dürfen sich alles erlauben.«

Dann wusste ich schon mal, welche Menschen ich in Zukunft meiden würde. Ich mochte es nicht, wenn man sich mit erhobenem Haupt über andere stellte, nur weil man in einer Verbindung war.

 

Ich wich Sue nicht von der Seite, doch als sie nach einer Stunde tanzen wollte, musste ich mir schnell eine Ausrede einfallen lassen. Ich hatte zwei linke Füße und wollte auf keinen Fall Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Chris und seinen Freund*innen konnte ich mich aber auch nicht anschließen, denn sie teilten eindeutig Sues Interessen.

»Ich denke, ich hole mir noch etwas zu trinken«, sagte ich schnell und wandte mich von den anderen ab. Gerade noch mal hatte ich den Kopf aus der Schlinge gezogen. Ich ging zum Getränkestand zurück und bestellte mir eine neue Cola.

Vermutlich würde ich noch einen Moment bleiben und dann nach Hause gehen, um ausreichend Schlaf für morgen zu tanken. Anstatt allein hier herumzustehen, konnte ich noch ein paar Seiten in meinem Buch lesen.

Ich sah zu Sue hinüber, deren dunkles Haar aus der Masse herausstach, und lächelte sie an, doch sie war ganz und gar ins Tanzen vertieft. Sie bewegte sich so geschmeidig zur Musik, dass sie die Blicke auf sich zog. Chris machte ein paar Schritte auf sie zu, doch Sue ging

Plötzlich entdeckte ich auch den blauen Schopf, den die anderen Ellie genannt hatten.

Ich hatte erst geglaubt, sie würde ein graues Kleid tragen, doch unter dem langen Shirt hatte sie schwarze Shorts an, die so knapp waren, dass man beinahe ihren Hintern sehen konnte. Schnell wandte ich mich peinlich berührt von dem Anblick ab und schämte mich sogleich dafür, dass mir so etwas auf einmal so unangenehm war. Dabei war es doch völlig okay, rumzulaufen, wie man wollte. Ich hatte anstatt der Shorts ja auch meine lange Jeans angezogen. Es war meine Entscheidung gewesen. Und genauso hatte sich diese Ellie auch für ihr Outfit entschlossen.

Etwas verloren nippte ich an meiner Cola und beobachtete meine Kommilitonen beim Feiern. Ihnen fiel es so leicht, sich fallen zu lassen. Die einen spielten Trinkspiele, die ich nicht kannte, weil ich mich nie zu so etwas hatte hinreißen lassen. Die anderen bespaßten sich gegenseitig am Mini-Pool. Ich wünschte, ich könnte mich einfach zu ihnen stellen und mitmachen, doch als würde mich ein unsichtbares Seil immer wieder nach hinten ziehen, regte ich mich kein Stück vom Fleck.

Mein Blick fand den von Sue, die mir zuwinkte. Sie wollte, dass ich wieder zu ihnen stieß, doch ich wollte auf keinen Fall tanzen. Ich würde mich nur zum Affen machen.

Vielleicht war es wirklich an der Zeit, dass ich zurück in mein Zimmer ging.

Langsam setzte ich mich in Bewegung und versuchte, mich durch die Menschenmenge zu schieben, was gar nicht so einfach war. Ich wollte Sue wenigstens Bescheid sagen, dass ich mich bereits auf den

»Komm, lass uns tanzen.«

»Nein, ich will gar nicht –«, aber weiter kam ich nicht, denn schon war ich im Tanzkreis gefangen und fühlte mich unbehaglich. Hatte Sue mich nicht verstanden?

»Sue, ich …«, setzte ich neu an, doch mir fehlten die Worte. Chris und seine Leute schienen nur darauf zu warten, dass auch ich mich zum Takt der Musik bewegte, doch in meinen Gedanken tobte ein Feuer, und ich wäre am liebsten einfach davongestürmt.

»Alles okay, Stella?«, hakte Sue auf einmal nach, allerdings war meine Kehle mittlerweile wie ausgetrocknet. Ich konnte einfach alles abstreiten und sagen, es wäre schon okay für mich. Was war schon dabei, ein bisschen zu tanzen? Aber auf einmal tauchten die Schatten meiner Vergangenheit auf. Was, wenn sie mich auslachten, weil sie meinen Tanzstil albern fanden? Ich kannte diese Menschen doch noch gar nicht. Nein, ich musste hier weg, dringend. Ein Abgang war mir in diesem Moment lieber, als mich vor allen beim Tanzen zu blamieren.

»Ich gehe lieber«, brachte ich dann doch irgendwie über die Lippen und schaffte es, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dass ich Sue mit einem irritierten Blick zurückließ, war mir in dem Moment egal. Ich hoffte nur, die anderen würden mich jetzt nicht seltsam finden.

Ich lief durch die Menge und als ich plötzlich über etwas stolperte, kam ich ins Straucheln. Panisch griff ich nach dem ersten Gegenstand, der vor mir lag, nur um zu bemerken, dass sich meine Hände in grauen Stoff gekrallt hatten.

»Alles okay bei dir?« Ich schien keinen guten Eindruck zu machen.

Irgendwie kam ich wieder auf die Füße, ließ mein Gegenüber los und klopfte mir den Staub von der leicht verschmutzten Jeans.

»Ja, danke, geht schon«, log ich knapp und schluckte schwer.

Als Ellie so vor mir stand, konnte ich ihren blauen Augen kaum ausweichen. Sie hatte stark betonte Augenbrauen und ein herzförmiges Gesicht, das von ihren bunten Haaren umrahmt wurde. Lippen und Lider waren hübsch geschminkt.

In dem Moment trat Mister Muskelmasse zu uns.

»Alles klar, Ellie?«

Er hatte blondes Haar und trug eine grüne Haydensburgh-College-Jacke.

»Ja, ich hab hier nur dem Tollpatsch geholfen, schon okay. Dir geht’s gut, oder?«

»Alles in Ordnung, danke.«

Den Typen schien mein Wohlbefinden dagegen weniger zu interessieren, denn er wandte sich sogleich von mir ab und zog Ellie mit sich.

Völlig starr konnte ich mich inmitten der Menschen für einen Herzschlag lang nicht mehr regen. Es war, als würde die Musik, die Studierenden, einfach alles stillstehen.

Ich beobachtete, wie Ellie mit dem Kerl abzog, doch dann drehte sie sich noch einmal zu mir um, als wollte sie sich versichern, dass ich tatsächlich in Ordnung war.

Aber war ich das wirklich?

Am nächsten Morgen klingelte mich mein Wecker aus dem Bett. Irgendwie hatte ich es geschafft, mich zurück in mein Zimmer zu schleppen. Völlig erschöpft, weil meine sozialen Batterien aufgebraucht waren, hatte ich mich nur noch auf mein Bett fallen lassen und mich am liebsten keinen Zentimeter mehr bewegen wollen. Ich hatte ganz gut geschlafen, auch wenn es ungewohnt gewesen war, in einem fremden Bett aufzuwachen. Ich blinzelte, öffnete langsam die Lider und bemerkte trotz zugezogener Vorhänge, dass Sue in ihrem Bett schlief. Sie war also irgendwann in der Nacht ins Zimmer gekommen und nicht bei jemand anderem versackt. Bei ihrem Anblick wurde mir wieder bewusst, was gestern geschehen war. Wie ich weggelaufen war. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so schnell in alte Verhaltensmuster fallen würde. Vor allem aber dachte ich darüber nach, was die anderen nun von mir denken würden. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, mich beim Tanzen zum Affen zu machen, dann hätte ich das bestimmt irgendwie ins Lächerliche ziehen und damit großartige Selbstironie zum Besten geben können.

Es nützte ja nichts. Behutsam schälte ich mich aus den Federn und stattete dem Gemeinschaftsbadezimmer einen Besuch ab, um mich fertig zu machen. Auf leisen Sohlen schlich ich in meinem schwarzen Kleid zurück, um Sue nicht zu wecken. Hoffentlich hatte sie sich einen Wecker gestellt, damit sie pünktlich zur Vorlesung kam. Schließlich machte ich mich auf den Weg zum Hauptgebäude.

 

Den Trakt für Geisteswissenschaften fand ich direkt auf Anhieb, genau wie den richtigen Seminarraum. Ich suchte mir direkt in den vorderen Reihen einen Platz. Kurz darauf traf dann auch der Professor ein. Er war ein älterer Mann mit grauem Bart, der mich mit seinem Auftreten sofort einschüchterte.

»Ich hoffe, Sie haben die gestrige Party alle gut überstanden?«, scherzte er und brachte meine Kommiliton*innen damit zum Lachen. Vielleicht war er doch nicht so ernst, wie er aussah. Als ich mich umblickte, bemerkte ich, dass nicht alle so fit waren wie ich. Einige hatten dicke Ringe um die Augen. Wie gut, dass ich rechtzeitig nach Hause gegangen war.

Der Professor stellte sich vor, und mein erstes Seminar über »Literatur in der frühen Republik« verging wie im Flug. Ich machte mir fleißig Notizen und konnte es kaum abwarten, über den Tag verteilt meine anderen Professor*innen und Kurse kennenzulernen.