Rosa Riedl Schutzgespenst

Christine Nöstlinger

Rosa Riedl Schutzgespenst

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Christine Nöstlinger

Christine Nöstlinger (19362018) wurde in Wien geboren und wuchs im Arbeitermilieu der Wiener Vorstadt auf, wo sie nach eigener Aussage als ›besseres Kind‹ galt, da ihre Mutter einen Kindergarten leitete und ihr Großvater ein eigenes Geschäft besaß. Sie studierte Graphik und widmete sich seit 1970 ganz dem Schreiben. Sie hat über hundert Bücher für Kinder und Jugendliche veröffentlicht, die in viele Sprachen übersetzt und u.a. mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis und dem Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis für Literatur gewürdigt wurden.

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Erstmals erschienen 1979 bei Jugend & Volk Verlagsgesellschaft m. b. H., Wien-München

Umschlaggestaltung: Norbert Blommel, Vreden

unter Verwendung einer Illustration von Axel Scheffler

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-7336-0368-7

Hinweis

Die Autorin verwendet in diesem Buch den Begriff »Fräulein«. Dem Verlag ist bewusst, dass die Unterteilung in »Frau« und »Fräulein« heute nicht mehr gebräuchlich ist, um Frauen nicht zu diskriminieren. Es wurde aber entschieden, dieses Buch, das Christine Nöstlinger 1979 geschrieben hat, unverändert nachzudrucken, da die Autorin ihre Sprache nutzte, um das Umfeld, in dem ihre Geschichten handeln, so wirklichkeitsnah wie möglich zu schildern. So äußerte sie mit ihren Büchern oft auch Kritik an bestimmten sozialen Zuständen.

in dem erklärt wird, warum die Geschichte besser doch nicht im Jahr 1944 ihren Anfang nimmt.

Mit der Rosa Riedl hatte eine Menge Leute zu tun. Nicht nur Tina und Nasti. Ein ganzer Häuserblock war irgendwie und irgendwo in die Geschichte verwickelt. Die Frau Wokurka – zum Beispiel – auch. Die Frau Wokurka ist die Hausmeisterin vom 44er-Haus in der Geyergasse. Und wenn es nach der ginge, dann müsste die Geschichte im Jahr 1944 anfangen, an einem Sonntag um neun Uhr in der Früh.

Da haben nämlich sämtliche Marillenmarmeladegläser auf ihrer Kredenz oben zu wackeln angefangen. Und dann ist ein Marmeladeglas richtig hochgehopst – bis fast zum Plafond. Und dann ist es durch die Küche geschwebt, immer ganz knapp unter der Zimmerdecke, bei der Oberlichte von der Küchentür, die offen war, ist es auf den Gang hinaus und war einfach weg.

Die Frau Wokurka war, wie sie jetzt sagt, fix und fertig! Sie hat sich vor Schreck überhaupt nicht rühren können. Als ob ein eiskalter Blitz in sie eingeschlagen

Dreimal, sagt die Frau Wokurka, ist ihr so etwas Sonderbares passiert. Im Herbst darauf sind zwei Landeier bei der Oberlichte hinaus, und im Winter dann, da war es ein Stück Speck. Den Speck hat die Frau Wokurka im Kasten versteckt gehabt, weil damals Speck-Haben verboten war. (Den Speck hat man nur im Schleichhandel kaufen können, und der Schleichhandel war besonders verboten.)

Die Frau Wokurka hat genau gesehen, wie plötzlich die Kastentür von selber aufgegangen ist, und dann ist der Speck heraus. Die Frau Wokurka wollte den Speck festhalten. Der Speck war sehr wichtig für sie! Einen Wintermantel und ein ganz neues Seidennachthemd hatte sie dem Bauern dafür gegeben. Aber der Speck hat sich nicht festhalten lassen. Die Frau Wokurka hat sogar »Hiergeblieben!« geschrien. Es hat nichts genutzt. Der Speck ist bei der Oberlichte hinaus. Genauso wie die zwei Eier und die Marillenmarmelade. »Wär’n andere Zeiten gwesn«, sagt die Frau Wokurka, »hätt i natürlich ein G’schrei gemacht! Na, was glauben S’ denn sonst?«

Aber damals, sagt die Frau Wokurka, damals waren

»Man hat sich doch nichts zu sagen getraut!«, sagt sie. »Nicht, dass man den Krieg nimmer will. Und den Hitler nimmer will! Und eben auch nicht, dass die Marmelad herumgeflogen ist!« Außerdem hätte die Frau Wokurka ja eingesperrt werden können, wenn sie davon erzählt hätte. Entweder weil man sie für verrückt gehalten hätte oder weil sie Speck und Eier gehabt hat. Sogar den Zucker zum Marillen-Einkochen hätte man ihr vorwerfen können, denn die paar Dekagramm Zucker, die man auf die Lebensmittelkarte bekommen hat, die haben zum Marmeladekochen nicht ausgereicht.

Nein! Die Frau Wokurka und ihre schwebenden Fresssachen in Ehren – aber wenn die Geschichte im Jahr 1944 beginnt, wird sie zu kompliziert. Da müssen dann auch die Bomben und die Lebensmittelkarten in die Geschichte hinein und die Leute, die in den Kellern hocken und Angst haben. Und die Russen kommen dann und die Amerikaner auch, und das, was »Wiederaufbau« geheißen hat, und bis die Geschichte endlich bei Tina und Nasti ist, sind schon hundert Seiten um.

Es genügt wirklich, wenn wir uns merken, dass vor vielen, vielen Jahren einmal ein eiskalter Blitz in die Frau Wokurka gefahren ist. (Übrigens ist damals – dreimal hintereinander, einmal im Mai, einmal im Herbst

Die Frau Sedlak ist die Nachbarin von der Frau Wokurka gewesen. Und die drei feurigen Schrecke hat sie bekommen, wie ein Glas mit Marillenmarmelade, zwei Eier und ein echter Waldviertler Bauernspeck bei ihrer Oberlichte hereingeschwebt sind. »Wer in so lausigen Zeiten viel fragt, der verhungert«, hat die Frau Sedlak damals zu sich selber gesagt, und die Marmelade hat sie dem Hansi aufs Brot gestrichen, und die Eier hat sie der Kathi gekocht, und den Speck hat sie dem Großvater geschenkt. Aber erzählt hat sie niemandem davon. Damals, sagt auch die Frau Sedlak, war es immer besser, den Mund zu halten.)

 

Ich beginne also doch lieber mit der Geschichte im Jahr 1978! Die Frau Wokurka ist jetzt 62 Jahre alt. Tina und Nasti sind elf Jahre alt. Die Tina heißt auch Wokurka, weil die Wokurka ihre Großmutter ist. Die Nasti heißt Sommer. Und Großmutter hat sie keine.

Und jetzt erkläre ich noch schnell, wieso ich über die ganze Geschichte so gut Bescheid weiß. Weil ich neugierig bin. Und weil ich im Häuserblock neben dem Häuserblock wohne, in dem Nasti und Tina und die Frau Sedlak und Frau Wokurka wohnen, und alle anderen auch, die es mit der Rosa Riedl zu tun bekamen.

Im Haus mit der Nummer 2 wohnt Tina (und die Frau Wokurka und die Frau Sedlak).

Dort wo die Nummer 3 ist, da wohne ich (meine Wohnzimmerfenster sind genau gegenüber von Nastis Kinderzimmerfenstern. Ohne Operngucker kann ich das vordere Drittel von Nastis Zimmer überblicken. Mit einem Operngucker sehe ich einfach alles!).

in dem wichtige Kleinigkeiten erwähnt werden und Nastis Spezialproblem ausführlich behandelt wird.

Tina und Nasti waren Freundinnen aus Bequemlichkeit. (Weil sie gleich alt sind, weil sie in dieselbe Klasse gehen und weil sie im selben Häuserblock wohnen.)

Wenn Nasti langweilig war, schaute sie zum Küchenfenster hinaus und sah, genau gegenüber, das Küchenfenster von Tina. Dann rief sie: »Tina!« Mehr zu rufen wagte sie nicht. (Wegen der Dostal. Die wohnt unter Nasti und regt sich auf, wenn quer über die Hinterhöfe gebrüllt wird. »Das ist nicht fein«, sagt sie. Die Dostal nämlich ist sehr fein. So fein, dass sie auch im Sommer Handschuhe trägt. Sie spricht auch sehr fein. Zur Gemüsefrau sagt sie: »Eunen Bund Dülle und eun Külo Kölch, bitte!«)

Wegen dieser Frau Dostal haben Tina und Nasti eine geheime Zeichensprache erfunden. Eine Hand am Mund heißt: Mir ist fad! Ein Daumen nach unten: Kommst du in den Hof? Ein Daumen auf die Brust: Komm zu mir herüber! Und eine Faust gegen die Stirn

Im Sommer sah man Nasti und Tina, wenn sie bei den Küchenfenstern standen, meistens mit nach unten gerichteten Daumen. Und kurz danach konnte man sie dann im Hof unten sehen.

Zwischen dem Hinterhof von Tina und dem Hinterhof von Nasti ist ein Bretterzaun. Dem fehlt seit Jahren eine Holzlatte. Nasti kann durch diesen Spalt zu Tina hinüberschlüpfen. Umgekehrt geht das nicht, denn Tina ist doppelt so dick wie Nasti. Das macht aber gar nichts, denn Tinas Hof ist ohnehin der hübschere. Bei Nasti gibt es bloß drei Mistkübel, eine Klopfstange, einen Hackstock und einen mageren Fliederbusch.

Tinas Hinterhof aber ist ein richtiger Garten. Eine winzige Wiese ist da – so groß wie eine Küche ungefähr. Rosensträucher gibt es und einen gipsernen Gartenzwerg mit einer Laterne. Und dann gibt es noch die Laube. Die ist mit wildem Wein bewachsen. Bis spät in den Herbst hinein, bis die Weinblätter abfallen, kann kein Mensch in die Laube hineinsehen, so dicht sind die Blätter. Sie hängen auch über die Laubenöffnung, man muss sich bücken, damit man in die Laube schlüpfen kann.

Tina und Nasti saßen gern in der Laube. Oft war der alte Kater der Frau Sedlak bei ihnen. Manchmal kam auch der Hund vom alten Franz. Der alte Franz wohnt in Nastis Haus. Der Hund kam ebenfalls durch die Zaunlücke.

Nasti hatte leider immer Angst. Nicht nur vor kleinen und großen Hunden. Auch Angst vor Kellern, Angst vorm Alleinsein, Angst vor Dachböden und Angst vor unbekannten Geräuschen. Nasti bekam Angst, wenn sie am Abend im dunklen Zimmer lag und auf der Straße ein Auto fuhr, weil dann ein Lichtstreifen über die Zimmerdecke wanderte. Auch der Fußboden im Kinderzimmer machte ihr Angst. Der knackte und krachte manchmal. Ganz von selber.

Vor dem Klo hatte Nasti auch Angst. Sie meinte immer, von unten, aus dem Abflussrohr, könnte eine nasse, grausliche, glitschige Hand kommen und sie anfassen. Darum ließ sie immer die Klotür offen; auch wenn sich der Papa darüber beschwerte. (Nastis Papa hat eine empfindliche Nase.)

Besonders arg waren für Nasti die Abende, an denen ihre Eltern ausgingen. Früher hatte Nasti einen

»Wir bleiben nur zwei Stunden weg«, hatte die Mama gesagt.

Es sind zwei fürchterliche Stunden für Nasti geworden! Sie ist im Bett gelegen, hat sich vor dem Autolicht gefürchtet und vor dem knarrenden Fußboden. Aufs Klo hätte sie müssen, aber sie hat sich nicht getraut. Hunger hat sie gehabt, aber sie hat sich nicht in die Küche gewagt. Und dann hat das Telefon geläutet, und Nasti ist bei jedem Klingler vor Schreck zusammengezuckt. Um nichts in der Welt hätte sie aus dem Bett steigen und zum Telefon gehen können.

Wie dann die Eltern zurückgekommen sind – nach genau zwei Stunden und vier Minuten – haben sie gefragt: »Na, Nasti-Schatz, war es schlimm?« »Überhaupt nicht!«, hat Nasti geantwortet. Sie ist schnell aufs Klo gegangen und hat sich etwas zu essen geholt und hat so getan, als hätte sie zwei friedliche, schöne Stunden verlebt.

Von diesem Abend an gingen Nastis Eltern zweimal die Woche am Abend weg. Meistens am Dienstag und am Freitag. Und deshalb waren die Dienstage und die

Einmal, an einem Freitag, als Nastis Eltern auf einer Party waren und Tinas Eltern beim Heurigen, da hat Tina den Vorschlag gemacht, sich spät am Abend in der Laube zu treffen.

»Nasti, das ist romantisch«, hatte sie behauptet. »Wir nehmen eine Taschenlampe mit und Kekse und Cola. Und dann erzählen wir uns Gruselgeschichten!«

Den ganzen Freitag über hatte sich Nasti fest vorgenommen, am Abend in die Laube zu kommen. »Ich trau mich schon, ich trau mich schon«, hatte sie sich dauernd selber beschwörend zugeflüstert. Aber als dann die Eltern weg waren, ist Nasti im Vorzimmer hinter der Wohnungstür gestanden und hat die Tür bloß einen Spalt weit offen gehabt. Das verschnörkelte Stiegengeländer hat fürchterlich anzusehende Schatten auf die Stufen geworfen. Und jemand hat vergessen gehabt, die Dachbodentür zu schließen. Die Dachbodentür, einen Stock über Nasti, ist offen gestanden, und weil auch ein Fenster im Stiegenhaus offen gewesen ist und ein bisschen Wind geweht hat, ist die

Tina war am nächsten Tag sehr böse. »Du Kuh, du«, hat sie auf dem Schulweg geschimpft. »Eine halbe Stunde hab ich gewartet, und gepfiffen hab ich auch nach dir!«

Nasti hat behauptet, dass leider ein Besuch zu ihr gekommen ist. Ein lustiger Onkel, den sie schon lange nicht mehr gesehen hat. Der war ihr wichtiger. »Aber wenigstens Bescheid hättest du mir sagen können!«, hat Tina geschimpft. »Auf die zwei Minuten kann’s dir doch nicht ankommen!«

Den ganzen Samstag und den ganzen Sonntag war Tina deswegen böse. Erst am Montag hat sie wieder normal mit Nasti geredet. Aber auch da hat sie noch ein paarmal gesagt: »Das mit Freitag vergess ich dir nicht! Dass du so gemein sein kannst, das hätte ich von dir nicht gedacht!«

Nasti hat bloß mit den Schultern gezuckt und ein hochnäsiges Gesicht gemacht. (Das gelingt ihr leicht. Nasti schaut sogar manchmal hochnäsig drein, wenn sie es gar nicht will. Irgendwie liegt das an ihrem Gesicht. Nastis Gesicht ist zwar sehr hübsch, aber es ist kein freundliches Kindergesicht. Der Schestak-Pepi,

Auf alle Fälle war es Nasti lieber, man hielt sie für hochnäsig, als dass man sie für einen Angsthasen hielt. Vor allem Tina durfte nichts von ihrer Angst erfahren, denn Tina machte sich über Kinder, die Angst haben, lustig. Tina machte es auch Spaß, den Schestak-Pepi zu erschrecken. Manchmal lauerte sie ihm im Flur auf, hinter dem Haustor, und wenn der Pepi beim Haustor hereinkam, machte sie »wuuuuuu« oder »uaaaaaa« und freute sich, dass der Pepi kreischend davonrannte.

»Nasti, das bringt sogar unter Umständen was ein«, sagte sie unlängst zu Nasti. »Wie ich den Pepi das letzte Mal erschreckt habe, da hat er im Davonrennen ein Packerl Kaugummi verloren!«

Tina zeigte Nasti das Kaugummi-Packerl. Sie wollte Nasti auch einen Kaugummi schenken, aber Nasti verzichtete darauf.

in dem Nasti dahinterkommt, warum Tina nie Angst haben muss!

Nasti hatte keine Erklärung dafür, warum sie vor allem und jedem Angst hatte, aber sie wusste seit kurzem, warum Tina so gar keine Angst hatte. Wäre Tina nicht so kugelrund und voll Speckfalten gewesen, wäre Nasti sicher schon längst dahintergekommen. Aber wegen der vielen Speckfalten trug Tina immer hochgeschlossene Kleider. Sogar ihr Turnanzug hatte einen Rollkragen.

Heuer im Winter aber hatten Tina und Nasti statt des Nachmittagsturnens Schwimmunterricht. Da blieb Tina gar nichts anderes übrig, als den Rollkragenpullover auszuziehen, und da merkte Nasti, dass Tina zwischen den beiden Speckfalten am Hals ein Goldkettchen trug. Ein dünnes Kettchen mit einem Anhänger. Das war ja noch nicht weiter sehenswert. Viele Kinder haben Kettchen mit Anhängern: einen silbernen Charlie Brown, einen goldenen Fußball, einen emaillierten Asterix. Sogar winzige Riesenräder und Mini-Spielkarten hatte Nasti schon an Kettchen baumeln gesehen.

Nasti hatte den Anhänger aus den Speckfalten herausgezogen und bestaunt. Er hatte ihr gut gefallen, aber sie hatte überhaupt nicht gewusst, was dieser geflügelte Kopf bedeuten sollte.

»Das ist mein Schutzengel«, hatte Tina gesagt. »Der beschützt mich! Aber das verstehst du ja nicht, du gehst ja nicht in Religion!«

Nasti hatte nicht weiter gefragt. Sie hatte wieder –  diesmal absichtlich – das hochnäsige Gesicht gemacht.

Auch zu Hause hat Nasti nicht nach Schutzengeln gefragt. Nastis Eltern glauben nicht einmal an Engel. Was sollen sie da über die Unterabteilung Schutzengel wissen?

Nasti ist mit der Schutzengel-Frage zur Frau Berger gegangen. Das ist die Nachbarin. Die ist alt und lieb. Die hat über Schutzengel Bescheid gewusst. Sie hat Nasti drei Exemplare gezeigt. Der eine war auch auf einem Anhänger und hat dem von Tina wie ein Zwilling ähnlich gesehen. Die anderen zwei – die waren in Büchern – waren lange, bleiche, dünne Schutzengel mit großen Federflügeln. Der eine hat neben einem Gitterbett gewacht. Der andere ist neben einem kleinen Kind einhergeschwebt, das vergnügt über einen schmalen

Nasti hat sich an den letzten Sommerurlaub in Schottland erinnert. Dort, wo sie gewohnt haben, gleich hinter dem Hotel, da war auch so ein Wasserfall mit einem Steg drüber. Nur war der Steg breiter und der Wasserfall kleiner als in dem Schutzengelbuch – Nasti hat daran gedacht, wie sie sich immer gefürchtet hat, auf diesem Steg über den Wasserfall zu gehen. Nur an der Hand vom Papa ist es ihr gelungen. Nicht einmal die Hand der Mama hat ausgereicht.

Nasti hat eine unheimliche Sehnsucht nach so einem Schutzengel bekommen. Ganz egal, ob das ein kleiner dicker pausbäckiger oder ein langer dünner gewesen wäre. Aber die Frau Berger hat ihr erklärt, dass es nicht genügt, einfach in ein Geschäft zu gehen und dort so einen Anhänger zu kaufen. »Man muss dran glauben!«, hat sie gesagt.

»Aber ich glaube ja dran!«, hat Nasti gesagt. Doch die Frau Berger hat erklärt, man kann nicht nur an Schutzengel glauben. Wenn der Schutzengel richtig wirken soll, dann muss man an alles glauben, was mit der Religion zu tun hat. Dann muss man ein frommer, gläubiger Mensch sein. Einer, der jeden Sonntag in die Kirche geht, einer, der beichten geht und zur Kommunion und überhaupt ein christliches Leben führt. »Aber ihr seid ja konfessionslos!«, hat die Frau Berger gesagt. »Ihr habt ja überhaupt keine Religion!« Doch weil sie

Nasti hat gemerkt, dass das nur ein Trost sein soll. Nasti ist ja nicht dumm. Die merkt gleich, ob es die Leute ehrlich meinen. Und darum ist sie traurig geblieben – obwohl ihr die Frau Berger die beiden Schutzengelbücher geschenkt hat. Und obwohl ihr die Frau Berger den Schutzengel-Anhänger zum nächsten Geburtstag versprochen hat.

Nasti ist nach Hause gegangen und hat sich in ihr Zimmer gesetzt und hat die Schutzengelbücher gelesen. Aber von Schutzengeln ist da nicht viel drinnen gestanden. Da waren nur Verse und kleine Gebete. Später dann hat Nastis Mutter die Schutzengelbücher gesehen und sehr darüber gelacht. »Komischer alter Kitsch!«, hat sie sie genannt.