Alfred Döblin
Babylonische Wandrung oder Hochmut kommt vor dem Fall
FISCHER E-Books
Mit einem Nachwort neu herausgegeben von Moritz Wagner
Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ›Berlin Alexanderplatz‹. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.
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Alfred Döblins 1934 im Amsterdamer Querido Verlag erschienener Roman ist nicht nur weitgehend unter den schwierigen Bedingungen des Exils entstanden, sondern erhebt darüber hinaus die Erfahrung des Exils zu seinem literarischen Thema. Während jedoch andere Exilromane zur Zeit des Nationalsozialismus den von Krisen geprägten Lebensalltag der Exilanten möglichst authentisch darzustellen suchen, erscheint das Exil bei Döblin in mythopoetisch verfremdeter Gestalt. Sein Protagonist nämlich ist der »himmlische Emigrant« und Gott-König Konrad alias Marduk, der wegen seines Hochmuts einen irdischen Bußgang antreten muss. In der Rezeption lange Zeit an den Rand gedrängt, gilt der Roman mittlerweile als eines der wichtigsten Werke der Exilliteratur: ein einzigartiges Zeugnis voller Trauer und Humor.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Coverabbildung: Coverabbildung: P. L. Urban
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ISBN 978-3-10-403814-8
Ein großer Herr ist in zeitgemäße Schwierigkeiten geraten und muß auf seinen bisherigen Aufwand verzichten. Er führt gemeinsam mit zwei anderen, die ihm anhängen und nicht besser als er sind, das Leben eines armen Schluckers, passiert viele Städte, von denen wir nur Bagdad, Konstantinopel, Paris nennen, um den Umfang ihrer Anstrengungen und der vorhandenen Widerstände anzudeuten.
Vieles aus dem Gebiet der Liebe, des Trunkes, der Betrügerei tritt dabei an sie heran, dem sie sich aktiv und passiv bisher nicht ausgesetzt hatten. Die herrlichen Städte zeigen ihre Baulichkeiten, ihre Tugenden und Laster, ihre geschichtlichen Hintergründe, ihr reges Geschäftsleben, woran sie sich in verschiedener Weise beteiligen.
Langsam gelingt es dem großen Herrn, auf den Schultern der beiden andern stehend, festen Fuß zu fassen. Er hält mit Seelenruhe durch.
Am Schluß muß er, der sich nicht freiwillig den Strapazen unterzogen hat, gestehen: die Reise war lang, aber es hat sich gelohnt.
Nebenbei ist es die Geschichte eines Adams, der viele Evas, aber keine Sünde trifft und schwer das Paradies verläßt.
Nebenbei die Geschichte eines Gewaltherrschers, der sich gottähnlich vorkommt, er wird durch den Spaß und das Elend unseres Daseins gejagt, sein Aufstieg zu einem armen Menschen.
Ein hochmütiger reicher Herr, Konrad mit Namen, erfährt zu seiner Bestürzung, daß er konkurs ist. Er muß, nur begleitet von einem Gefährten, sein kostbares Schloß verlassen und sich zu einer völligen Änderung seiner Lebensweise verstehen.
Konrad war ein babylonisch-chaldäisch-assyrischer Gott und saß mit hochgezogenen Beinen auf seinem gewaltigen Thron aus Stein. Auf dicken Polstern ruhte der struppige alte Räuber und rieb sich Kinn und Nase. Ganz zusammengeschrumpft saß er in einer Ecke seines Throns, wie ein altes Äffchen, und kämpfte gegen die schreckliche Müdigkeit, die ihn nicht losließ. Sein Kopf hing nach vorne, er schnarchte.
Eine Mütze mit zwei Hörnern hatte er auf. Die kollerte auf seinen Schoß. Da glaubte er, ihm küsse jemand die Hand. Er machte eine segnende Bewegung und streifte die Mütze von seinem Schoß herunter auf seinen nackten Fuß. Er zuckte, riß die Augen auf, gähnte: »Wie spät ist es?« Die Mütze gab selbstverständlich keine Antwort. Konrad stemmte sich hoch und befahl: »Mir ist die Mütze runtergefallen.«
Die Mütze bewegte sich nicht. Auch sonst bewegte sich nichts. Rätselhafte Stille.
Da wurde der alte Held ganz wach, sog an seinen Zähnen, griff nach seinem Bart, schrie voll Zorn: »He, holla, keiner da, wer setzt mir meine Mütze auf? Mir ist die Mütze runtergefallen. Ich will frühstücken.«
Darauf bewegte sich nichts.
Er drehte den Kopf, sah an sich herunter. Gräßlich lang waren seine Fingernägel gewachsen, krumm wie Säbelscheiden. Er mußte schauerlich lange geschlafen haben. Sein rotes, mit Goldtressen besetztes, mit Tierfiguren besticktes Überkleid war zerdrückt, rissig, ausgebleicht. Es hing an ihm, er steckte drin wie in einem Gehäuse. Er ließ seine dürren Beine herunter. Ein Stock aus Pappelholz gehörte zu seinen Machtzeichen, der lehnte vorschriftsmäßig an seinem Stuhl. Danach langte er, stieß auf den Steinboden, krähte mörderisch: »Meine Mütze ist mir runtergefallen. Ich will frühstücken!« Ja, Konrad, der Pascha, der zur Ruhe gesetzte Löwe wollte seine Ordnung.
Und da kamen sie vom Estrich hoch, einer nach dem andern. Sie waren noch mehr verkommen und zusammengeschmolzen als er. Sie lagen wie trockene Äste, wie erstarrte Schlangen kreuz und quer auf dem Boden, und wanden sich jetzt hoch. Das Bild war so toll, daß dem Konrad oben auf seinem steinernen Thron der Mund offen stehen blieb und er nicht weiter schimpfte. Er stülpte sich die Mütze auf, schloß die Augen, öffnete sie entsetzt. Sie waren uralte Männer, an sechzig Stück, mit einem ganzen schimmlig weißen Haarwald an sich, der floß vom Kopf und den Bärten, mit langen tastenden Armen in weiten Überröcken. Eine Verwirrung befiel Konrad.
Das Lumpenpack unten fing an zu husten, sich die Mäntel zu raffen, die Bärte über die Schultern zu werfen, sich vor ihm zu verbeugen, durcheinander, windschief wie verregnetes Getreide. Sie wollten sich bücken, aber es ging nicht, sie machten gymnastische Übungen. Der alte Räuber oben tobte. Da stand der Chor still.
Nunmehr sann Konrad nach, schnüffelte um sich, besah sich den Schaden und knurrte: »Wie war das eigentlich? Wir haben wohl allesamt geschlafen?« Sie waren imstande das zu bejahen. »Eine tolle Sache!« brüllte Konrad, »warum habt Ihr denn geschlafen? He? Was? Wer hat hier gearbeitet? Wie war der Dienst verteilt? Wer hat die Sonne heraufgeholt, heruntergeführt? Wo ist sie überhaupt? Und wann bekomm ich zu frühstücken?«
Sie verbeugten sich stumm, krachten mit den Gelenken, es ging schon besser. Konrad beobachtete das Pack mit Wut. Aus den Kerlen war nichts heraus zu kriegen, man mußte mit ihnen Geduld haben. Nach einer Weile krähte er sie wieder an, sie blickten schon vernünftiger: »Wer ist der Türhüter? Wer hat die Sonnenpferde zu füttern gehabt, wer?« Und als sie sich ansahen, fiel der ganze Schreck auf ihn: »Die Pferde, die Pferde sind verhungert.« Und diese Sache und die ganze Situation war so ungeheuerlich, daß er schallend loslachte. Er lachte und schrie auf seinem Sessel. Er lachte helle Tränen. Die Kerle hatten die Pferde verhungern lassen, nicht auszudenken, und was sonst passiert war.
Er wischte sich die Tränen ab. »Ich bin doch,« sagte er still für sich und näherte sich der Zentralfrage, »ich bin doch Konrad und habe die Welt geschaffen?« (Wir bedienen uns des modernen Namens Konrad, weil wir ihm nicht gestatten wollen, sich hinter seinen großartigen alten Namen zu verstecken.)
Zwei von den Bartträgern sahen ihn demütig an. Es schien, sie verstanden ihn. »Ich habe doch, ich, die Welt geschaffen?« Sie nickten. Er seufzte, schnüffelte wieder um sich: »Zeigt sie mir!«
Darauf zogen die beiden zwischen den Säulen ein paar Vorhänge hoch. Mörtel kollerte herunter, Ziegelsteine lösten sich, krachten in den Saal. Konrad brüllte: »Aufhören.« Sie sagten: »Da ist die Welt.« Konrad schnüffelte: »Das ist sie nicht.«
Er roch schon den Braten, aber der alte Wüterich wollte die Schuld auf sie abwälzen, das war seine Methode. Wie die zittrigen Dummköpfe noch mehr Vorhänge aufziehen wollten, klatschte er in die Hände.
Er saß auf seinem Platz. Ja, es war sein Thron, wenn auch eine Armlehne abgebrochen war. Wenn er schrie, er merkte es beklommen, donnerte es nicht. Wo waren seine Blitze. Da lagen zwei am Boden. Er langte danach, ließ sie heimlich fallen. Sie klirrten bloß, altes Eisen. Er richtete sich auf.
Es ist an dieser Stelle nötig, die Herrschaften, die wir in ihrer letzten Verkommenheit vorführen, zu beschreiben. Man kennt die Bilder, die von den babylonischen Oberherren überliefert sind. Ich verrate keine Neuigkeit, wenn ich mitteile, die Bilder stimmen nicht. Sie sind von einfältigen Menschen aus dem Kopf angefertigt. Sie sahen anders aus, diese ehemaligen Löwen, Verderber, Gewaltherren, Räuber und Prasser.
Ihre bärenstarke Brust, ihre gewaltigen Arme, die Beinmuskeln waren längst verkümmert. Allesamt waren sie aufgeschwemmt und hatten ein mächtiges Fettpolster an sich gesammelt. Sie saßen bei einander in ihrer schummrigen alten Halle, die sie sich in ihren starken Zeiten gezimmert hatten. Waffen und Streitwagen standen nebenan im Stall. Kaum daß sie noch ein paar Schritt gehen konnten. Einige von sich hatten sie dressiert, das Notwendigste für die Welt zu verrichten, die Sonne herauf und herunter zu führen, den Regenfall zu regeln, die Wolken entsprechend hin und her zu schieben, auch von Zeit zu Zeit mit Hagelschlag zu zeigen, daß man noch da war. Aber es wäre verkehrt anzunehmen, daß auf diese Bedienung Verlaß war.
Die Oberherren, Konrad der Hauptkämpfer an der Spitze, hatten damenhaft feine Arme, die sie zu eleganten Bewegungen beim Sprechen benutzten. Ihre Beine waren kurze dicke Klumpen, zum Stehen und für kleine Schritte ausreichend. Essen und Trinken, Schmausen war die Hauptsache bei der verrotteten Gesellschaft. Das sah man ihrem Gesicht an. Sie lebten von Opfern auf der Erde, besonders Rauch- und Brandopfern. Dafür hatten sie kolossale Augen, ferner ungeheure Nasen. Die Augen sprangen ihnen gewaltig wie Fäuste unter den Stirnen hervor, mit diesen Augen spähten sie unausgesetzt nach ausgelegten Speisen auf der Erde, besonders nach solchen, die ihre Nasen nicht bemerkten, wie rohes Gemüse und Obst, denn sie verschmähten nichts.
Das Hauptorgan in ihrem Gesicht war die Nase. Statt eines weisen Gehirns, eines gütigen Herzens hatten sie sich diese ungeheuren Nasen angeschafft, mit denen sie meilenweit und unausgesetzt rochen. Sie ähnelten darin dem Vieh auf der Weide, das, wenn es nicht schläft, auch unausgesetzt rupft und kaut. Konrad konnte aus jedem Geruch herausriechen, woher er kam, ob von einem gesunden oder kranken Tier, ob es ein Stier, eine Kuh, ein Schaf, ein Lämmchen war, ob es guter Wein war, den man ihm hinstellte, oder Gepansch, ob frisches oder altes Brot.
Wohl uns, meine Damen und Herren, wären auch wir mit solcher Nase begabt und wären auch unsere Ernährungsorgane so eingerichtet, daß sie schon durch den Geruch befriedigt würden! Denken wir an die Arbeitslosigkeit, diese Plage unserer Welt, welcher Sorge wären wir enthoben, wenn die Armen statt zum Stempeln auf das Arbeitsamt, vor die Verkaufsläden oder in staatliche Magazine gingen und da alles, was ihr Herz begehrt, bloß röchen, Brot, Braten, Schinken, Wurst, Käse, Suppen, Bier, Wein aller Sorten, Kognak und Champignons, Steinpilze, Bratheringe, gebackene Hühner, Tauben, Bratgänse mit Zwiebeln und Äpfeln, falscher und echter Hase, Krammetsvögel, jede Sorte Wildpret, und da steht man je nach Appetit eine viertel oder halbe Stunde und schlemmt. Kranken könnte man die Speisen in die Wohnung bringen, die Erfindung eines Fernriechers würde nicht auf sich warten lassen. Wie gut wäre das alles.
Statt dessen erzeugt uns der Geruch vermehrten Appetit. Um den Neid auf die himmlischen Prasser freilich zu dämpfen, muß ich auf etwas aufmerksam machen, was man auf den alten Bildern nicht erkennt; ihre Nasen waren wenig schön. Es waren, wie ihre Ernährungsweise verständlich macht, dicke Zwiebeln, Zinken, gewaltige Erker, die ihnen vor dem Mund hingen.
Es waren, seien wir offen, regelrechte scheußliche lappige Blumenkohlgebilde. Solche Gurken hindern natürlich direkt beim Sprechen. Aber darauf kam es ihnen auch garnicht an. Um ihrer Leidenschaft zu fröhnen, versteckten sie sich vielmehr in den äußersten Winkel des Himmels, damit ihnen auch ja kein Luftzug entginge.
Vernünftige Priester kannten diese Zustände und wußten auch von den furchtbaren Zwiebeln und Knollen, die die Götter an Nasenstatt im Gesicht trugen. Aber sie deckten einen Schleier darüber und verbreiteten die Lehre: jeder stürbe, wer der Gottheit ins Angesicht sähe. Und so blieb die Sache unter ihnen, und wiederum die Götter haben ihnen allerhand nachgesehen.
Es ist eigentlich in der ganzen Weltgeschichte nur ein einziger Fall bekannt geworden, wo Kenner gegen die Diskretion verstießen. Das war in der letzten Zeit des Regiments dieses Räubers Konrad, der es mit seiner Faulheit und Korruption wirklich arg trieb. Es war in Borsippa, wo die Priester frech wurden, Opfer unterschlugen, Konrad mit Donner und Blitz dazwischenfuhr und auf seinem Schein bestand. Da plauderten sie aus, Konrad hätte eine Riesengurke, er solle sich einer Nasenoperation unterziehen, dann würde es in der Welt besser werden. Wir wissen, was für einen Stich das Konrad gab. Er war an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. Er hat damals geschwiegen. Und das war schlecht. Das Nasengerede ging weiter, das Opferunterschlagen ging weiter, man unterdrückte noch einmal die Revolte, aber das Vertrauensverhältnis zwischen Konrad und der Welt war hin, zu einer autoritären Regierung langte es nicht, es war der Anfang vom Ende.
Wir kompletieren die Figur unserer babylonischen Oberherren mit der Schilderung ihrer Ohren. Es ist die gewaltigste Täuschung, der man sich über ihre Ohren hingibt, wenn man glaubt, sie hatten da, um Gebete zu hören, zu beiden Seiten des Kopfes mächtige Schalltrichter sitzen. Sie hatten gewiß kolossale Ohren, aber lappige wedelnde Elefantenohren, die ihnen wie Umhänge auf die Schultern herabhingen. Diese Organe wären an sich groß und empfindlich genug gewesen, um jedes Wort von der Erde aufzufangen. Aber grade daran lag den Herrschaften nicht. Die Riesenohren ließen sie nur dekorativ an sich herunter wallen, auch bedienten sie sich ihrer morgens und abends, wenn es zu heiß wurde, zu einem leichten Fächeln. Besonders aber traten die Ohren in Funktion, wenn die Nahrung knapp herauf kam. Dann fächelte jeder, was er fächeln konnte und suchte seinem Nachbar den Wind wegzuhaschen, ein klägliches, aber typisch babylonisches Schauspiel.
Wie der struppige Oberräuber da also saß, schnüffelte, nichts roch – es kam nichts Riechbares – und nur eine mäßige Helligkeit da war (waren nicht eigentlich die Sonnenpferde schon tot? Wie reimte sich das zusammen?), da dachte der Restbestand eines Großen, oh wäre er auf seiner Höhe, in der Blüte seiner Kraft dahingerafft worden; es hat mich einer überfallen, mir die Zügel aus der Hand genommen und ich liege mit meinem ganzen Troß unter den Rädern. Denn offenbar geht der Weltbetrieb noch weiter. Er dachte an eine Art Familienstreit unter seinesgleichen. Und da fiel ihm, irrsinniger, fantastischer Gedanke, ein gewisser Georg ein, mit dem er sich viel herumgezankt und den er schließlich hier in seiner Halle an eine Säule gebunden hatte. Wer kann es sein, dachte der Tropf, als Georg? Wollen mal gleich nachsehen. (Wieder eine Möglichkeit sich zu drücken.)
Da stand der große Babylonier, einstmals Schrecken verstreuend, glänzend, jetzt eine vertrocknete wacklige Figur, von seinem Riesenthron auf, stellte sich auf die Beine, so fest es ging, kletterte steif die Stufen herunter, und schräg marschierte er, den Überrock nachschleppend, die Hörnermütze bis auf die Ohren, mit bösem Gesicht durch seinen Chor. Er konnte sich nicht enthalten, sich zu legitimieren, indem er einem, der nicht rasch genug auswich, eins in die Seite gab.
Und dann sah er sich um, die beiden Säulen an der Tür, und siehe da, hab ichs doch gedacht, nichts von Georg. Der Schuft ist ausgerückt. (Der Mann, wir wissen es schon, roch den Braten, aber unangenehme Dinge ließ er schwer an sich herankommen. Wir werden diese Charaktereigenschaft bei ihm noch in voller Blüte sehen.) Schau mal an, luge mal, gucke mal, sprach der Held sich diplomatisch zu, der Bursche ist ausgerückt, soll ihm übel bekommen.
Und schleppte sich entschlossen zurück, hing wieder oben. Die Bande, die Klappergestelle hatten sich inzwischen Trompeten und Trommeln verschafft und fingen damit ein schändliches Konzert an. Erst gefiel das dem alten Knaben. Vielleicht, vermutete er, renkt sich alles wieder ein. Dann mußte er seine Wut von sich geben. Er schrie: »Aufhören! Die Sache draußen stimmt nicht. Georg ist weg. Georg, mein alter Feind. Ihr habt ihn weggelassen. Er wird uns aushungern. Er ist schon mitten dabei. Euch aber, Ihr Schlafmützen, was soll ich mit Euch machen. Ich sollte Euch anfassen und in die eisigste Hölle stecken (ihm fiel ein, die Hölle wird auch nicht mehr da sein, aber die Esel merken ja nichts). Ich sollte meinen Blitz nehmen und ihn Euch zwanzigmal von rechts nach links um die Ohren schlagen, – wollen mal sehen, was dann noch von Euch übrig bleibt, Ihr Strolche, Ihr Verräter!«
Und plötzlich wurde er so von Wut auf die Gesellschaft gepackt, dazu von Raserei und Verzweiflung, daß er sie verfluchte und selbst glaubte was er sagte.
»A-aggazu« fluchte er, »o kibaka ammte kasaxaten gales.«
Das wiederholte er siebenmal. Wir lesen es als mexikanisch oder als Druckfehler, aber es war babylonisch, jetzt freilich völlig wirkungslos. Die 60 Mann glaubten, nun wäre es aus mit ihnen. Konrad hatte genug Besinnung die ausbleibende Wirkung vorauszusehen, sodaß er rasch das Notwendige tat, um sein Renommee zu wahren: Er sagte denselben Spruch rückwärts auf, wodurch er wieder aufgehoben wurde. In Grimm über sein vielfaches Pech befahl er der Männerriege jetzt aufzustehen und gab ihnen auf, koste es was es wolle, tot oder lebend, den Georg her zu schleppen. Er würde dann die ganze Angelegenheit untersuchen. So sagte er, redete er, der alte Räuber, der sich in der Falle sah. Er schickte sie übrigens auch weg, um festzustellen, was denn draußen überhaupt los war. Er selbst traute sich nicht.
Was die sechs, die zum Erstaunen Konrads wirklich abfuhren, sich eigentlich bei ihrem Flug dachten, ist schwer zu sagen. Wahrscheinlich garnichts. Denn, daß die Bedienung des faulen alten Konrad die Intelligenz besonders schärft, ist nicht anzunehmen. Sie marschierten jedenfalls, sechs Mann hoch, ausgetrocknet wie die leibhaftige Hungersnot, ohne Waffen los, verließen sich, scheint es, auf den Schreck, den ihr bedauernswerter Anblick einflößen mußte.
Und wie sie nun draußen vor der Tür standen, bemerkten sie als erstes: es war so ziemlich alles weg, die Hallen für die Sonnenpferde, die großen Einfahrtstore, die Beratungsräume, besonders die Treppe und der große Fahrweg auf die Erde herunter. Man hing buchstäblich in der Luft. Es war eine verzweifelte Situation, bei der auch stärkere Nerven versagt hätten. Aber die Alten sagten sich mit Recht: Um so mehr müssen wir machen, daß wir hier wegkommen.
Sie schlichen an die Hinterseite des Baus und holten sich aus der Vorratskammer Flügel, schwarze riesige Fledermausflügel, die man unten gelegentlich bösen Geistern abgenommen hatte, so daß sie nur noch ein bescheidenes Dasein als Spaziergänger führen konnten. Diese Flügel schnallten sie sich um und flogen ab.
Was sie nun sahen, war hocherfreulich. Sie fielen von einem Staunen ins andere. Hier war massiv aufgeräumt. Die Reise war zwar alles eher als eine Märchenfahrt, aber hatte, je länger sie flogen, einen stark märchenhaften Charakter. Sie kamen durch riesige Räume und trafen nichts. Gelegentlich erkannten sie an einem Brummen, daß noch irgend etwas da war, ein einsamer großer Stern, sie hielten inne, langsam näherte er sich, der Lärm wurde gewaltig, die Helligkeit nahm schrecklich zu, dann sauste er ernst vorbei, ohne Notiz von ihnen zu nehmen. Sie setzten sich auf einen Kometen, die staunenden alten Herren in den verschossenen babylonischen Überröcken, und hielten sich umschlungen wegen des Gleichgewichts, die Beine angezogen. Obwohl sie froren, war es herrlich. Gleichmäßig sauste der Komet, dunkel lag das Weltall um sie. Mit einmal ruckte der Komet, als wenn er bremste, sie hielten sich fest und wollten schon abspringen, da bäumte sich der Vorderteil des Kometen, machte einen Bogen, streckte sich wieder. Die sechs drehten sich um, was da hinten war. Und herunter von dem Kometen, wie Schwimmer ins Wasser.
Und da lag auf einem sehr langsamen kleinen Stern etwas wie ein großer Müllhaufen und bewegte sich. Sie erkannten sofort, dies ist eine Filiale unserer Firma. Und bei einem gab es den entscheidenden Ruck: dies ist Georg. Und drauf und dran.
Mit Gebrüll gingen sie vor, mit Steinen bombardierten sie den Haufen. Der schüttelte sich bald, und aus dem braunen Ascheberg steckte einer seine rostrote Pfote, mit langen unnatürlich gewucherten Krallen wie ihre eigenen, alsdann kam eine zweite Pfote und zuletzt eine lange, zum Skelett abgemagerte fuchsartige Person, die schniefte, kroch hervor und legte sich oben zum Schlafen. Sie gaben keine Ruhe, er sei erkannt, es würde ihm schlecht gehen, diesmal gebe Konrad keinen Pardon. Da stellte sich dieser Fuchs auf die Beine, schüttelte ungläubig den klugen Kopf: »Höre ich recht, Konrad? Den gibts noch?« »Wirst es bald merken.« Der Fuchs blickte zweifelnd von einem zum andern und nickte: »So so. Wenn es denn stimmt, dann also weiter.« Er leistete sonderbarerweise keinerlei Widerstand. Es stellte sich heraus, daß er hier herumlag, weil er nicht weiter konnte. Sie mußten ihn auf den Rücken nehmen. Er roch grauenhaft und verhielt sich entsprechend ruhig. Als sie aber beim Abtransport ihm die Schönheiten des neuen Himmels zeigten und Konrad deswegen lobten, fiel er von einem Lachkrampf in den andern und war schwer zu tragen.
Wie sie oben stolz mit ihrer Beute antraten, hatte sich da ein Hochbetrieb entwickelt. Man feierte – man höre und staune, – den Sieg über Georg. Die Halle scholl von Siegeshymnen. Die Bartträger, kaum fähig sich auf den Beinen zu erhalten, glaubten einen Beweis ihrer Existenz liefern zu müssen, indem sie durcheinander krähten, paukten und posaunten: »Du bist der Große Konrad. Du hast den Himmel über die Erde gewölbt, mit Pflöcken hast du ihn am Meer befestigt. Im Staub liegt der schreckliche Georg, der Widersacher. Heil dir, großer Konrad, wir haben Hunger, was geht hier vor, heil dir.«
»Herr über Akkad, Elam, Amurru bist du, Herr über Akkad, Elam, Amurru bist du, die Pflöcke hast du befestigt, wir haben Hunger, was geht hier vor, wir fallen um, in Staub mit Georg, dem Widersacher.«
Der Fuchs an der Schwelle bewegte sich nicht. Das gabs also immer noch: den alten Räuber und Oberregierer Konrad, wie sah der aus, Hymnen, die Sternbilder.
Konrad blies sich auf, rückte seine Hörnermütze zurecht und legte frech und schallend los:
»Wir, Konrad, sehen dich, Georg, unsern schändlichen Widersacher. Du bist ausgerückt. Du hast vermeint, unserer Hand zu entrinnen. Es ist dir nicht gelungen. Mit unserer strahlenden Macht sind wir über dich gefallen und haben dein schändliches Werk zunichte gemacht. Wir werden nunmehr alles, was du angerichtet hast, ferner dich selber und deinen Anhang mit Stumpf und Stiel ausrotten. Gestehe, daß du geschlagen bist. Falle nieder!«
Darauf ungeheures Hallo, Begeisterung. Georg kroch näher. Er legte sich unten am Thron hin und sagte gleichgiltig: »Ich beuge mich.« Darauf neues Hallo. Nunmehr kletterte Konrad von seinem Thron und wollte sich auf den Fuchs setzen. Das war altbabylonische Göttersitte. Aber Georg rutschte beiseite und meinte: »Kommt nicht in Frage.« Konrad kreuzte die Arme: »Warum nicht? Bin ich Konrad, der Herr, oder bin ichs nicht? Bitte.« Es war ihm selber nicht klar. Der Männerchor tobte drauf los: »Akkad, Elam, Amurru, die Pflöcke eingesetzt, den Himmel befestigt.« Er unterbrach sie, die Sache war ihm schon bekannt: »Also,« und wollte sich abermals auf den Fuchs setzen. Der rutschte noch weiter: »Kommt nicht in Frage.« »Warum nicht?« »Die Zeiten ändern sich. Ich bin froh, wenn ich allein sitze.«
Daß den alten Held dieser Ton beleidigte, läßt sich nicht verschweigen. Immerhin, die 54